Nehmen ist seliger als geben - Christoph Fleischmann - E-Book

Nehmen ist seliger als geben E-Book

Christoph Fleischmann

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Beschreibung

In seinem neuen Buch unternimmt Christoph Fleischmann einen höchst aufschlussreichen und unterhaltsamen Gang durch die Geschichte der Tauschgerechtigkeit – von Aristoteles über die Scholastiker des Mittelalters und der frühen Neuzeit zu Thomas Hobbes und den neoliberalen Ökonomen. Dabei stellt er viele Selbstverständlichkeiten der europäischen Moderne infrage und denkt pointiert darüber nach, wie unsere Wirtschaft wieder fairer werden könnte. Früher galt ein Handel als gerecht, wenn Waren beziehungsweise Ware und Geld gleichen Werts getauscht wurden. Und heute? Ist das neuste Smartphone wirklich 800 Euro wert? Oder das T-Shirt made in Bangladesh bloß 5? Wohl nicht. Spielt aber keine Rolle, denn seit dem Aufkommen kapitalistischer Wirtschafsformen im Mittelalter wird kaum noch Gleiches gegen Gleiches getauscht. Vielmehr gilt ein Handel als gerecht, wenn beide Seiten ihm freiwillig zustimmen – unabhängig davon, ob der Preis dem Wert der Ware entspricht. "It's the economy, stupid", Angebot und Nachfrage: Der "gerechte Preis" ist der, den wir zu zahlen bereit sind. Fleischmanns Blick geht weit zurück, aber nur, um schließlich in die Zukunft zu schweifen – auf der Suche nach einem Jenseits des Kapitalismus.

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ChristophFleischmann

Nehmenistseligeralsgeben

Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

© 2018 Rotpunktverlag, Zürich

www.rotpunktverlag.ch

Lektorat: Adrian Flückiger

eISBN 978-3-85869-810-0

1. Auflage 2018

In Erinnerung anmeinen Freund Andreas Henkel (1968–2018),mit dem ich gemeinsam in Indien war.

Inhalt

Einleitung: Was ist eine Ananas wert?

1. Urbilder der Gerechtigkeit

Gleich gegen gleich

Schutz der Armen und Schwachen

»Es rettet uns kein höh’res Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun«?

2. Konzepte der Tauschgerechtigkeit

Aristoteles und die Gleichheit im Austausch

Der Freiwillige leidet kein Unrecht?

In Rom entscheidet der Konsens

3. Tauschen ohne Zwang

Die mittelalterliche Stadt als Geburtsort des modernen Bürgers

Auf der Suche nach dem gerechten Preis

Die Vertragsgerechtigkeit der Juristen

4. Vertragsfreiheit statt Gleichheit im Tausch

Der freie Wille freier Eigentümer

Der Markt wird gerecht

Mit Rechten handeln

5. Gerechtigkeit nur jenseits des Marktes?

Wachstum schlägt Gerechtigkeit oder die Erfindung der Knappheit

Subjektive Rechte und Kapitalismus

Gleich tauschen – geht das?

6. Jenseits der Tauschgerechtigkeit

Eine bessere Gerechtigkeit?

Das Lebensnotwendige als Maßstab der Tauschgerechtigkeit

Jedem nach seinem Bedürfnis

Dank

Anhang

Quellen

Literaturhinweise

Der Autor

Vor dem Campus in Madurai verkaufte eine Frau Ananas. Sie bot ihre Ware auf einem einfachen Holzpritschenwagen an, der am Straßenrand stand. Mit anderen Studenten aus europäischen Ländern verbrachte ich ein Semester am Tamilnadu Theological Seminary in Südindien. Wir hatten gelernt, dass man von Weißgesichtern Touristenpreise verlangte; und wir hatten uns von unseren indischen Kommilitonen sagen lassen, was die Sachen, die wir kaufen wollten, für Einheimische kosteten. Mit diesem Wissen und dem Stolz, keine dummen Touristen zu sein, handelten wir die zuerst ausgerufenen Preise immer noch etwas runter – auch bei der Ananas-Verkäuferin.

Eines Abends, als ich spät zum Campus zurückkam, sah ich, dass die Frau unter ihrem Verkaufswagen schlief, auf dem Boden, in eine einfache Decke gehüllt. Sie lebte, wie viele andere Menschen in den großen Städten Indiens damals, buchstäblich am Straßenrand. Ich kam mir schlecht vor, gegenüber dieser Frau den Ananas-Preis um ein paar Rupien heruntergehandelt zu haben. Seitdem ich sie dort schlafen sah, habe ich immer lächelnd den von ihr verlangten Preis gezahlt: Die Ananas war ja immer noch billiger als bei uns im Supermarkt. Ich konnte den teureren Preis problemlos zahlen. Nicht nur beim Ananas-Kauf, sondern bei allen Käufen erlebte ich, dass ich als Student aus Europa in Indien ein reicher Mann war: Mit meinen wenigen Dollar konnte ich hier Waren und Dienstleistungen kaufen, die ich mir zu Hause nicht hätte leisten können. Alles war hier viel billiger – nicht nur die Ananas, die durch den Export nach Europa noch im Preis zulegen kann. Alles war günstiger, weil das verfügbare Pro-Kopf-Einkommen in Indien viel geringer war als in Deutschland. Ich spürte, was die Statistik sagt: dass ich – wiewohl zu Hause ein bescheiden lebender Student – global gesehen zu den Reichen gehörte. Und dieses materielle Gefälle zwischen mir und den meisten Menschen in Indien fühlte sich ungerecht an. Warum bin ich im Wohlstand groß geworden und sie in Armut? Warum ist der Abstand zwischen mir und ihnen, hinsichtlich dessen, was wir uns an materiellen Gütern leisten können, so enorm? Das Bezahlen eines leicht überhöhten Ananas-Preises war da nur der hilflose Versuch, diese von mir empfundene Ungerechtigkeit ein klein wenig auszugleichen.

Meine Studienzeit in Indien war Mitte der Neunzigerjahre. Inzwischen verkünden diejenigen, die den Wohlstand der Nationen am Bruttoinlandsprodukt ablesen, dass gerade bevölkerungsreiche Schwellenländer wie Indien und China mächtig aufgeholt hätten. Durch wachsende Wirtschaftsleistung dort ist in den letzten Jahrzehnten die relative Ungleichheit im Pro-Kopf-Einkommen zwischen dem obersten und dem untersten Zehntel der Weltbevölkerung geschrumpft: War das oberste Zehntel 1989 noch hundertmal reicher als das ärmste, so ist der Faktor bis 2006 auf neunzig gesunken, nachdem davor seit Beginn des 19. Jahrhunderts diese Ungleichheit fast ununterbrochen gewachsen war. Freilich ist der Unterschied damit gegenwärtig immer noch riesig. Außerdem heißt relative Angleichung nicht auch absolute Angleichung: In absoluten Zahlen – also in Dollar und nicht im Verhältnis zueinander dargestellt – ist der Unterschied zwischen den Ärmsten und Reichsten auf der Welt auch seit 1989 weiter gewachsen! Und zuletzt erleben wir derzeit eine Verlagerung der Ungleichheit: Während sie zwischen einzelnen Schwellen- und Industrieländern abnimmt, wachsen die Unterschiede innerhalb der Nationen – sowohl im globalen Süden wie im globalen Norden. Kurz: Es besteht wenig Anlass zu glauben, dass die Ungleichheiten sich mit der Ausweitung des globalen Marktes wirklich abmildern. Dass diese Ungleichheit von vielen spontan als ungerecht empfunden wird, zeigen die auf Empörung zielenden Veröffentlichungen dieser und vergleichbarer Zahlen. Mehr noch als Zahlen aber wirkt die Begegnung mit einem Menschen wie der Ananas-Verkäuferin.

Aber meine Erfahrung mit der indischen Verkäuferin bestand ja nicht nur darin, dass mich ihr Leben am Straßenrand erschütterte. Meine Scham entstand dadurch, dass ich gegenüber der Frau einen für mich günstigeren Preis rausgehandelt hatte, obwohl sie augenscheinlich des Geldes viel mehr bedurfte als ich. In unseren Breiten verhandeln wir meistens nicht mehr beim privaten Einkauf, sondern zahlen den Preis, mit dem die Ware ausgezeichnet ist; oder wir kaufen die Ware eben nicht, wenn sie uns zu teuer ist. Aber hinter den Produkten mit scheinbar festen Preisen stehen immer – und mitunter auch schwierige – Preisverhandlungen: Die Lebensmitteldiscounter drücken Milch- und andere Preise, die zumindest für Landwirte mit geringer Fläche oder Viehbestand kaum mehr auskömmlich sind; die Textilmarken lassen dort produzieren, wo die Zulieferer noch günstigere Preise, also billigere Arbeitskräfte anbieten können. Die Löhne der Arbeitnehmer werden ausgehandelt, sei es individuell oder kollektiv durch Gewerkschaften. Bauherren, die Bauprojekte ausschreiben, Autofirmen, die Zulieferer beauftragen, oder Krankenkassen, die Verträge mit einzelnen medizinischen Dienstleistern abschließen: Fast überall, wo gekauft beziehungsweise verkauft wird, werden Preise mehr oder weniger frei verhandelt. Heutzutage werden aber solche Kauf- und Verkaufsprozesse nur noch selten mit der Frage nach Gerechtigkeit in Verbindung gebracht.

Wenn heute über Gerechtigkeit in wirtschaftlicher Hinsicht gesprochen wird, dann redet man in der Regel über »soziale Gerechtigkeit«. Das ist freilich ein etwas hilfloser Begriff, denn Gerechtigkeit setzt immer schon Sozialität voraus, also das Verhältnis von mindestens zwei Personen, zwischen denen ermittelt werden muss, was als gerecht gilt. Allein auf der einsamen Insel stellen sich keine Gerechtigkeitsfragen. Normalerweise bezeichnet der Begriff heutzutage das, was früher verteilende oder austeilende Gerechtigkeit genannt wurde. Diese als iustitia distributiva bezeichnete Form der Gerechtigkeit regelt das, was dem Einzelnen von der Gemeinschaft her zusteht. Die gegenwärtig populärsten Formen sind die Verteilungsgerechtigkeit und die Chancengerechtigkeit. Erstere bezeichnet den Versuch, die Verteilungsergebnisse, die sich auf dem Markt durch Kauf und Verkauf ergeben haben, zu korrigieren, zum Beispiel durch Steuern oder Sozialtransfers. Die Chancengerechtigkeit hingegen führen diejenigen an, die versuchen, die Zugangsbedingungen zum Markt gerechter zu gestalten, zum Beispiel durch eine bessere schulische Bildung für alle. Beide Formen setzen also nach beziehungsweise vor den eigentlichen Marktprozessen an. Das Geschehen auf dem Markt, was zu welchen Preisen ge- und verkauft wird, scheint hingegen kaum mehr auf Gerechtigkeitsfragen ansprechbar.

Das war nicht immer so. Die verteilende Gerechtigkeit hat in der philosophischen Tradition ihr Gegenstück in der ausgleichenden Gerechtigkeit, iustitia commutativa. Diese Form der Gerechtigkeit ist für den Verkehr zwischen den Bürgern zuständig, regelt also, wie die Einzelnen untereinander handeln sollen. Klassischerweise trennt man sie noch in die Strafgerechtigkeit und die Gerechtigkeit bei freiwilligem Tausch, wie es Kauf und Verkauf sind. Deswegen spricht man auch von Tauschgerechtigkeit.

Aus dieser Fülle von Gerechtigkeitsthemen geht es auf den folgenden Seiten um die Tauschgerechtigkeit. Denn diese Vorstellung von Gerechtigkeit hat sich signifikant gewandelt: Galt einst ein Handel dann als gerecht, wenn Waren gleichen Wertes oder Ware und Geld gleichen Wertes getauscht wurden, so ist diese Vorstellung abgelöst worden durch die Idee: Gerecht ist ein Handel, wenn beide Vertragspartner ihm freiwillig zustimmen – unabhängig davon, ob das gezahlte Geld dem Wert der Ware entspricht. Dieser Wandel hat, grob gesprochen, im späten Mittelalter begonnen und sich im Laufe der frühen Neuzeit weitgehend durchgesetzt – und er hängt mit dem Aufkommen kapitalistischer Wirtschaftsformen zusammen.

Der emeritierte Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, Wolfgang Streeck, hat diesen Wandel sehr gut auf den Punkt gebracht. In einem Aufsatz mit dem schönen Titel »Taking Capitalism Seriously«, also: den Kapitalismus ernst nehmen, spricht er von der »legitimen Gier« als einem Charakteristikum kapitalistischer Gesellschaften. Und er konturiert das durch den Vergleich mit früheren Zeiten: »Die unendliche Vermehrung von materiellem Besitz galt in vorkapitalistischen Zeiten als moralisch minderwertig und blieb ein Randphänomen, das bestenfalls als leider unausrottbar toleriert wurde. Wenn im Kapitalismus, im Vergleich dazu, materielle Gier durch freiwillige Vereinbarung zum Ziel kommt anstatt durch Gewalt, wird sie als normal und legitim angesehen.«1 Die Gier, von der Streeck spricht, wurde in »vorkapitalistischen Zeiten« als das Laster angesehen, das Ungerechtigkeit zur Folge hat, indem einer mehr beansprucht, als ihm zusteht beziehungsweise durch seine »Vermehrung von materiellem Besitz« anderen etwas wegnimmt. Hier hat mit dem Aufkommen kapitalistischer Wirtschaftsformen tatsächlich ein Normwandel stattgefunden; und für diesen Wandel sind die Kategorien Freiwilligkeit und Vertrag (Streeck spricht etwas unbestimmt von »Vereinbarung«) entscheidend gewesen.

Von daher wird die folgende Darstellung einen Schwerpunkt im scheinbar so fern liegenden Mittelalter haben (Kapitel 3); denn hier sind sowohl die vorkapitalistischen Rationalitäten noch zu greifen wie bereits die ersten Ansätze neuer Legitimationsformen. Die ersten beiden Kapitel nehmen Traditionen in den Blick, die das Mittelalter wesentlich geprägt haben. Die Kapitel 4 und 5 zeigen, wie sich in der frühen Neuzeit und dann nochmal zu Beginn der industriellen Revolution das Verständnis der Tauschgerechtigkeit gewandelt hat. Es geht nicht um eine komplette Geschichte der Tauschgerechtigkeit, sondern darum, die Wahrnehmung für den entscheidenden Wandel im Verständnis des gerechten Tausches zu schärfen. Was mir zum Verständnis dieses Bruches wichtig erscheint, findet Berücksichtigung. Umfassende Lehrbücher müssen andere schreiben. Mit dem Thema Gerechtigkeit ergänze ich meine Überlegungen zur Veränderung des Wirtschaftsdenkens im Übergang zur Neuzeit, die ich in dem Buch Gewinn in alle Ewigkeit angestellt habe.

Wichtig scheint mir, dass dieser Normwandel schon angesichts der ersten kapitalistischen Unternehmensformen in Europa, also noch in einer überwiegend feudal strukturierten Gesellschaft, begonnen hat. Neue moralische und rechtliche Ideen, die sich auch in Gesetzeswerken manifestiert haben, standen daher bereits zur Verfügung, als der Kapitalismus mit der industriellen Revolution Fahrt aufnahm und schließlich die gesamte Gesellschaft prägte. Mit anderen Worten: Man versteht vom Kapitalismus zu wenig, wenn man meint, er habe erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts begonnen; seine geistigen (und materiellen) Wurzeln reichen viel tiefer. Der Tübinger Jura-Professor Wolfgang Forster fasste dies in die markante Frage, ob jeder Kapitalist ein Bartolist sei.2 Ein was? Ein Bartolist? Bartolus de Saxoferrato war ein großer Jurist des 14. Jahrhunderts, der aber außer unter Juristen kaum bekannt ist; er taucht in der Regel weder in einer Philosophiegeschichte noch in einer Darstellung zum ökonomischen oder politischen Denken auf. Aber zur Zeit des Bartolus wurden Kategorien geschaffen, die später von Kapitalisten genutzt wurden, auch wenn die über den Ursprung ihrer Ideen keine Klarheit hatten.

Die Zeit der Entstehung der dem Kapitalismus entsprechenden Ideen ist auch deswegen interessant, weil die Ideen, die uns heute als selbstverständlich erscheinen, damals noch lebhaft diskutiert wurden. Es gab noch andere, eben vorkapitalistische Rationalitäten. Und wenn man in diesen früheren Denkformen nicht nur den Ausdruck von »bornierten Verhältnissen« sieht, sondern schlicht alternative Denkformen zur kapitalistischen Rationalität, dann könnten sie auch heute unter veränderten Bedingungen wieder interessant werden, wenn man nach einem Jenseits des Kapitalismus Ausschau hält. Um es deutlich zu sagen: Ich schreibe hier nicht über ferne Zeiten, weil ich glaube, im Mittelalter sei es gerechter oder besser zugegangen. Was mich an diesen Zeiten interessiert, sind die Denkformen, die quer stehen zu unseren heutigen Selbstverständlichkeiten. Es geht nicht darum, irgendwohin zurückzukehren, sondern darum, unser Repertoire, über Gerechtigkeit nachzudenken, ein wenig zu erweitern. Nicht alles, was verloren gegangen ist im Prozess der Modernisierung, war wert, dass es zugrunde ging; manches könnte sich auch als Baustein für etwas Neues erweisen. Diese Möglichkeit sollte wenigstens offengehalten werden.

Gleich gegen gleich

»Auge um Auge, Zahn um Zahn« – diese Formel aus dem Gesetz der hebräischen Bibel1 gilt vielen Menschen immer noch als Ausweis für ein archaisches, zum Glück längst überwundenes Rechtsverständnis: Hier gehe es um Vergeltung oder gar Rache, heute aber ziele unser Strafrecht auf Entschädigung und Resozialisierung. Wenn man aber nach den Wurzeln der Tauschgerechtigkeit fragt, dann ist diese alte Formel aus dem Bereich ihrer Zwillingsschwester, der Strafgerechtigkeit, sehr wichtig: Hier ist sehr früh und mit auffallend weiter Verbreitung ein Prinzip formuliert worden, das später auch für die Tauschgerechtigkeit leitend wurde. Das sogenannte Talionsrecht, also die Festlegung einer Strafe, die der Schädigung entspricht, ist demnach gar nicht so weit weg von uns, wie es zuerst scheint.

Talionsformeln kommen nicht nur in der jüdischen Überlieferung vor, sie sind altorientalisches Allgemeingut. Wichtigstes Vorbild ist die Stele mit dem Gesetz des babylonischen Königs Hammurapi († 1750 v. u. Z.): Nach diesem Gesetz sollen die Schädigungen, die an freien Bürgern begangen werden, mit der gleichen Schädigung des Täters bestraft werden: »Wenn ein Bürger ein Auge eines (anderen) Bürgers zerstört, so soll man ihm ein Auge zerstören.« (§ 196) Dies unterscheidet sich aber von einem früheren Recht aus Mesopotamien, dem Kodex Eschnunna (ca. 20.–19. Jh. v. u. Z.), der für Köperschädigungen nur Ersatzleistungen in Geld (Silber) nennt (§ 42): Für eine Nase ist eine Mine (ca. 500 Gramm) Silber fällig, für ein Auge ebenso, für Zahn und Ohr nur jeweils eine halbe Mine und für einen Schlag auf die Wange nur zehn Schekel Silber (ca. 83 Gramm).2 Die Entschädigungszahlung ist also historisch früher belegt als die Strafe am gleichen Körperteil. Das sollte davor bewahren, vermeintlich klare Entwicklungslinien von der Vergeltung zur Entschädigung zu konstruieren. Beide Logiken existierten nebeneinander; und manchmal scheinen die Grenzen zwischen beiden zu fließen.

So taucht in der hebräischen Bibel die Talionsformel im Kontext von Entschädigungszahlungen auf. Im sogenannten Bundesbuch (Ex 21,1–23,19), einem Gesetz, das wohl Ende des 8., Anfang des 7. Jahrhunderts v. u. Z. aus zum Teil älteren Rechtssätzen zusammengestellt wurde, werden verschiedene Fälle von Körperverletzung bei Mensch und Tier aufgelistet, bei denen Ersatzleistungen zu zahlen sind. Etwas unvermittelt heißt es dann: »Entsteht ein dauernder Schaden, so sollst du geben Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Beule um Beule, Wunde um Wunde.« (Ex 21,23–25) Danach werden aber wieder Fälle aufgeführt, bei denen körperliche Schädigungen mit Geldzahlungen beglichen werden sollen. Von daher kann man wohl sagen: Die oben zitierten Verse »haben Ersatzleistungen im Blick und formulieren ein Strafzumessungsprinzip, das auf eine gleichwertige Ersatzleistung, nicht auf einen gleichartigen Schaden zielt«.3 Nicht die Täter zu verstümmeln, sondern Ersatz für die Opfer zu schaffen, ist hier wohl das Ziel. Aber der Ersatz soll eben gleichwertig sein, also der Schädigung entsprechen – das ist entscheidend und wird durch die Formel »Auge um Auge, Zahn um Zahn« unterstrichen.

Dahinter steht die Vorstellung von einer Welt, die in einer vorgegebenen Balance gehalten werden soll: Wenn diese Balance oder Ordnung der Welt gestört wird, dann muss der Störung ausgleichend entgegengetreten werden, um die Welt wieder ins Lot zu bringen. Die altorientalischen Begriffe, die wir heute mit »Gerechtigkeit« übersetzen, hatten zu ihrer Zeit oft eine weitere Bedeutung. Für das altägyptische Wort Ma’at hat der Ägyptologe Jan Assmann »Gerechtigkeit« als Grundbedeutung angegeben, aber mit dem Hinweis, dass es dabei auch um die Vorstellung einer kosmischen Weltordnung gehe: »Im Rahmen dieses Denkens wird die kosmische Sphäre in den Begriff der Gerechtigkeit einbezogen. […] Der Begriff Ma’at bezeichnet das Programm einer politischen Ordnung, die nicht nur unter den Menschen soziale Gerechtigkeit herstellen, sondern dadurch Menschen- und Götterwelt in Einklang bringen und die Welt insgesamt in Gang halten will.«4 Die Ordnung der Menschen soll der Ordnung des Kosmos entsprechen. Genauer gesagt, eine gerechte Ordnung unter den Menschen ist Teil der kosmischen Harmonie und damit notwendig um die Welt in Ordnung zu halten.

Diese Ordnung oder Balance der Welt galt als gewährleistet, wenn es dem, der Gutes tut, auch gut ergeht. Als »Definition der Gerechtigkeit« zitiert Assmann immer wieder einen Text aus einer Inschrift des ägyptischen Königs Neferhotep (um 1700 v. u. Z.): »Der Lohn des Handelnden liegt darin, dass für ihn gehandelt wird. Das hält Gott für Ma’at.«5 Man kann in dieser positiven Wiedervergeltung quasi das Gegenstück zur negativen Vergeltung des Talionsrechts sehen. Assmann nennt diese Gerechtigkeit »konnektive Gerechtigkeit«: Die Menschen sollen eine Verbindung zwischen gutem Tun und Wohlergehen herstellen. Wer gut handelt und sich für andere einsetzt, dem soll es von den anderen Menschen vergolten werden. Oder andersherum gesagt: Wer »tut, was geliebt wird«, dem soll daraus kein Nachteil entstehen, und wer andere schädigt, soll nicht mit einem Vorteil davonkommen.

Insbesondere dem jeweiligen König wurde die Aufgabe zugeschrieben, für Gerechtigkeit zu sorgen: »Re [der Sonnengott] hat den König eingesetzt / auf der Erde der Lebenden / für immer und ewig / beim Rechtsprechen der Menschen, beim Befriedigen der Götter, / beim Entstehenlassen der Ma’at, beim Vernichten der Isfet«,6 heißt es in einem ägyptischen Text. Isfet ist das Gegenprinzip zur Ma’at: Gewalt, Unrecht. Das Mittel, mit dem der König für Gerechtigkeit sorgen soll, scheint demnach die Rechtsprechung zu sein. Der Topos vom König, der für Gerechtigkeit sorgt, war keineswegs nur auf Ägypten beschränkt. Auch König Hammurapi erklärte am Ende einer langen Einleitung auf sein Gesetzeswerk unter Berufung auf den Gott Marduk: »Als Marduk mich beauftragte, die Menschen zu lenken und dem Lande Sitte angedeihen zu lassen, legte ich Recht und Gerechtigkeit in den Mund des Landes und trug Sorge für das Wohlergehen der Menschen.«7 Dass der König für »Recht und Gerechtigkeit« einstehen muss, ist auch die Erwartung, die in der jüdischen Geschichte immer wieder formuliert worden ist (z. B. 2 Sam 8,15; Ps 58,2; Ps 72,1–4; Spr 16,12). Dieses Begriffspaar macht deutlich, dass man erwartete, dass Gerechtigkeit sich durch Gesetze beziehungsweise Rechtsprechung realisiert.

Das altorientalische Königsrecht war – im Gegensatz zum Recht in Stammesgesellschaften – immer auch Herrschaftsinstrument, Gesellschaftssteuerung von oben; aber der König und sein Recht legitimierten sich auch als Schutzmacht für die Schwachen. In einer Gesellschaft aus Ungleichen war das Recht dazu da, die Schwachen vor der Übervorteilung durch die Starken zu schützen. Zumindest tauchen entsprechende Aussagen wiederum in verschiedenen altorientalischen Kulturen auf: »Das Waisenkind habe ich nicht dem Starken ausgeliefert, den Mann mit einem Schekel habe ich nicht dem Mann mit einer Mine ausgeliefert, den Mann mit einem Lamm habe ich nicht dem Mann mit einem Ochsen ausgeliefert […]. Ich habe Gerechtigkeit durchgesetzt im Lande Sumer.«8 So steht es im Vorwort zum Kodex des Königs Ur-Nammu von Ur († 2094 v. u. Z.), dem ältesten erhaltenen orientalischen Gesetzestext überhaupt. Auch König Hammurapi sieht es als seine Aufgabe, »den Schwachen vom Starken nicht schädigen zu lassen«.9 Und in Ägypten soll der König »Recht sprechen zwischen dem Schwachen und dem Starken«, wie es im berühmten Totenbuch heißt.10 Der Schutz der »Witwen und Waisen« wird zur wiederkehrenden Wendung in Gesetzestexten – bis heute vertraut durch die biblische Überlieferung.

Das heißt, man sah zu Beginn der westlichen Rechtsgeschichte sehr deutlich, dass die Schwachen des Rechts bedürfen, weil ohne Recht sich die Macht des Stärkeren durchsetzt. Das Recht galt als Machtausgleich für die Schwächeren. Ja mehr noch: Es gab durchaus ein Bewusstsein dafür, dass nach der Ordnung des Kosmos die Menschen eigentlich gleich geschaffen, aber durch ihre bösen Bestrebungen ungleich geworden seien. So wird in einem ägyptischen Sargtext Isfet als Ungleichheit konkretisiert. »Ich habe jedermann gleich seinem Nächsten geschaffen«, wird dort der Schöpfergott zitiert, »ich habe verboten, dass sie Isfet tun sollten. Aber ihre Herzen haben mein Verbot übertreten.«11 Wenn das Übel in der realen Ungleichheit zwischen den Menschen gesehen wurde, konnte sich die Forderung nach »Recht und Gerechtigkeit« auch auf einen materiellen Ausgleich beziehen: Davon zeugen diverse Sozialgesetze im Altertum.

Schutz der Armen und Schwachen

Besonders in der hebräischen Bibel finden sich überraschende Gesetze zum Wohl der Schwächeren: Schon das Bundesbuch, die älteste Gesetzessammlung der hebräischen Bibel, enthält das sonst in der Antike nicht belegte Zinsverbot: »Wenn du Geld verleihst an einen aus meinem Volk, an einen Armen neben dir, so sollst du an ihm nicht wie ein Wucherer handeln; du sollst keinerlei Zinsen von ihm nehmen.« (Ex 22,24) Außerdem findet sich ein sehr soziales Sklavenrecht im Bundesbuch, das mehr auf den Schutz der Sklaven als auf die Ansprüche des Eigentümers schaut. Nach der oben zitierten Regel »Auge um Auge, Zahn um Zahn« folgt im Bundesbuch eine überraschende Konkretion, die eine strikte Gleichheit zugunsten des Schwächeren verlässt: Wer einem Sklaven oder einer Sklavin das Auge verletzt oder einen Zahn ausschlägt, der muss sie freilassen »um des Auges« beziehungsweise »des Zahnes willen« (Ex 21,26f.). Im späteren Recht, das im Buch Deuteronomium aufgezeichnet ist (ca. Ende des 7. Jh. bis Mitte 6. Jh. v. u. Z.), werden die Themen Verschuldung und Versklavung gemeinsam angesprochen in der Erlassjahr-Institution: Alles sieben Jahre sollen die Schulden erlassen und die Landsleute, die sich (aufgrund von Verschuldung) als Sklaven verkauft haben, freigelassen werden (Dtn 15,1–18). Man hat ausgerechnet vonseiten der Theologen immer wieder versucht, diese Bestimmungen kleinzureden, als seien es nur freundliche Mahnungen gewesen, aber keine Gesetze mit staatlicher Erzwingungsgewalt. Oder man hat den vermeintlich utopischen Charakter der Texte betont. Dies sagt zweifellos etwas darüber aus, was Forscher unserer Zeit für möglich oder für utopisch halten. Aber nicht nur die hebräische Bibel berichtet von Schuldenerlassen aus der Zeit sowohl vor als auch nach dem babylonischen Exil (Jer 34,8–22; Neh 5,1–13), Schuldenerlasse waren in der gesamten Antike keine außergewöhnliche Maßnahme, sondern sind häufig und gut bezeugt. Eine Übersicht hat der amerikanische Ökonom Michael Hudson zusammengestellt.12 Der einzige Unterschied zum biblischen Gesetz ist, dass Schuldenerlasse in anderen antiken Ländern wahrscheinlich nicht als eine vom Gesetz vorgeschriebene regelmäßige Maßnahme vorgesehen waren, sondern eher als besondere Außerkraftsetzung des bestehenden Vertragsrechts, wie es zum Beispiel ein Edikt des babylonischen Königs Ammi-aduqa († 1626 v. u. Z.) belegt: »Wer Gerste oder Silber einem Akkader oder Ammuräer als Darlehen, auf Zins oder zur Entgegennahme […] ausgeliehen hat und sich eine Urkunde hat ausstellen lassen: Weil der König Gerechtigkeit für das Land aufgestellt hat, ist seine Urkunde zerbrochen; Gerste oder Silber kann er nach dem Wortlaut der Urkunde nicht eintreiben lassen.«13 Die Gerechtigkeit besteht hier im Erlassen von Schulden. Eine Verarmungsdynamik, also das Wachsen der materiellen Ungleichheit, ist damit unterbrochen, und ein Neuanfang für den Schuldner wird möglich.

Im biblischen Gesetz wird das Erlassjahr mit dem Erbarmen gegenüber den Armen begründet und dem Hinweis, dass »überhaupt kein Armer unter euch sein« soll (Dtn 15,4). In einer noch weiter gehenden Maßnahme aus dem priesterlichen Recht, dem Jobeljahr (Lev 25), wird sogar die Vision einer radikalen Wiederangleichung der Lebensverhältnisse deutlich: Im Jobeljahr, jedem fünfzigsten Jahr, soll alles Land wieder seinem ursprünglichen Besitzer zurückgegeben werden. Dahinter steht die Fiktion einer gleichmäßigen Landverteilung an alle Stämme Israels nach der Eroberung des Landes Kanaan. Die sozialen Unterschiede, die durch Verlust und Zugewinn des Hauptproduktionsmittels Land entstanden sind, sollen wieder zurückgenommen werden: Alles zurück auf die anfängliche Verteilung.

Hinter diesen Gesetzen steht eine bestimmte soziale Entwicklung in den beiden Staaten Israel (Nordreich) und Juda (Südreich). Ab Mitte des 8. Jahrhunderts v. u. Z. entwickelten sich dort deutliche soziale Unterschiede, die die bäuerlichen Stammesgesellschaften zu einer antiken Klassengesellschaft transformierten. Dabei spielte der Mechanismus der Verschuldung eine zentrale Rolle. Die Aufnahme von Krediten war für Bauernhaushalte durchaus normal: Bei Missernten, Ausfall von Arbeitskräften durch Unfall, Krankheit oder Tod mussten Darlehen aufgenommen werden, die in der Regel aus der nächsten Ernte zurückgezahlt wurden. Wenn dies aber nicht mehr möglich war, setzte eine Verschuldungsspirale ein. »Die entscheidende Veränderung, die zu den Verhältnissen führt, die ab dem 8. Jahrhundert zu beobachten sind, ist der Übergang von ›normaler‹ Verschuldung zu unumkehrbarer Überschuldung.«14 Die Pfandgewährung war dabei ein wichtiges Moment: Konnte das Darlehen nicht zurückbezahlt werden, fiel das Pfand an den Gläubiger. Das konnten Personen oder Sachen sein. Mitglieder aus der Familie des Verschuldeten oder er selber gerieten in Schuldknechtschaft, oder sein Land fiel an den Gläubiger. Diese Entwicklung spiegelt sich auch in der Sozialkritik der biblischen Propheten: »Weh denen, die ein Haus zum andern bringen und einen Acker an den andern rücken, bis kein Raum mehr da ist und sie allein das Land besitzen.« (Jes 5,8)

Vor diesem Hintergrund ist die Idee einer institutionalisierten Landreform alle fünfzig Jahre, wie sie im priesterlichen Recht (vielleicht im Exil) entworfen wurde, revolutionär. Allerdings existiert für so eine umfassende Landreform in der jüdischen Geschichte tatsächlich kein Beleg; insofern ist dieser Text vermutlich Programm geblieben. Es ist aber denkbar, dass hier ausgesprochen ist, was auch beim Schuldenerlass mitgemeint war: nämlich dass zum Zerbrechen der Schuldkontrakte und der Freilassung aus Schuldsklaverei auch die Rückgabe von Land gehörte, das als Pfand für geliehenes Geld verloren gegangen war. Solch eine Landrückgabe ist zumindest auch beim Schuldenerlass durch den Statthalter Nehemia in der Zeit nach dem Exil geschildert (Neh 5,1–13).

Das Jobeljahrgesetz zieht aus der turnusmäßigen Rückgabe des Landes die Konsequenz, dass das Land überhaupt nicht verkauft, sondern lediglich bis zum nächsten Jobeljahr verpachtet werden kann. »Darum sollt ihr das Land nicht verkaufen für immer; denn das Land ist mein, und ihr seid Fremdlinge und Beisassen bei mir.« (Lev 25, 23) Die Begründung, dass Gott der wahre Eigentümer des Landes ist, ist wichtig. Sie hat weit in die christliche Theologiegeschichte gewirkt und das Verständnis des Eigentums bis in die frühe Neuzeit mitgeprägt, wie auch das jüdische Zinsverbot durch seine Aktualisierung im Neuen Testament (Lk 6,34f.) die Lehre der Kirche zum Geldverkehr bestimmt hat.

Ein weiterer Beleg, dass es Schuldenerlasse in der jüdischen Geschichte gegeben hat, ist eine Regelung, die eine Umgehung des Schuldenerlasses zum Ziel hat: der sogenannte Prosbul. Dieser geht auf Rabbi Hillel († ca. 10 u. Z.) zurück und war eine vertragliche Vereinbarung, mit der sich ein Kreditnehmer verpflichtete, dass seine Schuld nicht mit dem nächsten Erlassjahr verfiel. Eine quasi privatrechtliche vertragliche Regelung hebt das öffentliche Recht des Schuldenerlasses auf. Was hier noch als cleverer Trick erscheint, ist ein Vorausblick auf das, was uns an der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit als kulturhistorische Wandlung von großer Tragweite begegnen wird.

Wirtschaftshistoriker zeigen Verständnis für den Prosbul, geben sie doch abgeklärt zu Protokoll, dass der Kreditverkehr beschränkt werde, wenn Schuldenerlasse zu befürchten seien. Für heutige Ökonomen ist das ein wirtschaftliches Gesetz: Bei schwacher Rückzahlungssicherheit gibt es weniger Bereitschaft zur Kreditvergabe. Für die antiken Menschen aber war das eine Frage der Moral: Das Erlassjahrgesetz in Deuteronomium 15 mahnt deswegen die potenziellen Kreditgeber: »Hüte dich, dass nicht in deinem Herzen ein arglistiger Gedanke aufsteige, dass du sprichst: Es naht das siebente Jahr, das Erlassjahr –, und dass du deinen armen Bruder nicht unfreundlich ansiehst und ihm nichts gibst; sonst wird er wider dich zu dem HERRN rufen und bei dir wird Sünde sein.« (Dtn 15,9) Im deuteronomischen Gesetz wird der Schuldner aus dem eigenen Volk als Bruder vorgestellt, dem gegenüber man in besonderer Weise verpflichtet sei. Aus heutiger Sicht mag so eine Mahnung naiv wirken oder ein Zeichen dafür sein, dass das Recht durch Moral gestützt werden musste. Aber man täusche sich nicht: Hinter der heutigen ökonomischen, vermeintlich wissenschaftlichen Sichtweise steht die Annahme, dass es selbstverständlich sei, dass jeder Mensch seinen Nutzen maximiere. Dies mag in einer kapitalistischen Wirtschaft plausibel erscheinen, weil es ein vorherrschendes Verhalten ist. Zu unterstellen, dass Menschen zu allen Zeiten nach diesem Muster gehandelt hätten, wird der Vielfalt historischer und ethnologischer Befunde aber kaum gerecht.

Das deuteronomische Bruderethos lebt von der Vorstellung einer gemeinsamen Abkunft vom Stammvater Abraham. Es weitet die Solidarität, wie sie sonst nur in der Familie üblich ist, auf alle Volksgenossen aus und zielt auf eine Gleichheit zwischen den Menschen. So beschweren sich die Verarmten gegenüber dem Statthalter Nehemia: »Nun sind wir doch wie unsere Brüder, von gleichem Fleisch und Blut, und unsere Kinder sind wie ihre Kinder; und siehe, wir müssen unsere Söhne und Töchter als Sklaven dienen lassen, und schon sind einige unserer Töchter erniedrigt worden, und wir können nichts dagegen tun, und unsere Äcker und Weinberge gehören andern.« (Neh 5,5) Die soziale Ungleichheit verträgt sich demnach nicht mit dem Bewusstsein, »von gleichem Fleisch und Blut zu sein«, wobei hier offenbleiben kann, ob mit dieser Wendung die Zugehörigkeit zur eigenen Volks- und Glaubensgemeinschaft gemeint ist (was wahrscheinlich ist) oder die Zugehörigkeit zur Spezies Mensch (was heute Grundlage einer Gleichheitsvorstellung sein sollte). Soziale Ungleichheit verstößt in dieser Sicht gegen eine vorgegebene Gleichheit.

Wie schon erwähnt hat auch ein guter Teil der biblischen Propheten auf die Scherenentwicklung zwischen Reich und Arm reagiert. Auch bei ihnen taucht immer wieder das Begriffspaar »Recht und Gerechtigkeit« auf als Maßstab, dem gegenüber die aktuelle Ungleichheit skandalös erscheint. Dabei machen die Propheten deutlich, dass ihrer Meinung nach der Reichtum der einen auf der Armut der anderen beruht, was angesichts von Verschuldungsmechanismen, die den Besitz der einen in die Hände der anderen gelangen ließ, nicht unplausibel ist. Aber es werden auch direkte Formen von Rechtsbeugung und Betrug zum Nachteil der Armen beklagt. Ein häufig auftretender Topos ist der Vorwurf, die Wohlhabenden würden die Waage beziehungsweise die darauf liegenden Gewichte oder das Hohlmaß manipulieren (z. B. Am 8,5).

Aber »Recht und Gerechtigkeit« richten sich nicht nur gegen die Ungleichbehandlung derer, die doch gleich sein sollten. »Recht und Gerechtigkeit« übt auch derjenige, der sich denen zuwendet, die gar nichts haben, die »hungrig« und »nackt« sind (z. B. Ez 18,5–7). In heutiger Begrifflichkeit könnte man vielleicht sagen, dass der Ruf nach Gerechtigkeit nicht nur aus der relativen Armut der Menschen seine Dringlichkeit bezieht, also aus dem, was die Armen im Vergleich zu ihren Mitmenschen entbehren, sondern auch aus der absoluten Armut, bei der es den Menschen am Lebensnotwendigen mangelt. Es gibt Menschen, die haben so wenig zum Leben, dass es als ungerecht empfunden wird. Ihnen zu helfen ist ein Akt der Gerechtigkeit. Tatsächlich hat die Klassengesellschaft nicht nur Gläubiger und Verschuldete hervorgebracht, sondern auch Landlose, die auf Tagelöhnerarbeit angewiesen waren. »Tagelöhnerfamilien, die von der (gelegentlichen) Arbeit ihrer Familienangehörigen leben mussten, waren zwar frei, aber wirtschaftlich in einer prekäreren Lage als Schuldsklaven«, so der Marburger Alttestamentler Rainer Kessler, »man kann nachvollziehen, dass sich Schuldsklaven und -sklavinnen gelegentlich lieber in Dauersklaverei begaben, als in die prekäre Freiheit des Tagelöhnerdaseins entlassen zu werden.«15 Diesen Armen und den »Witwen und Waisen« und den Fremden gelten auch weitere Sozialgesetze wie die Forderung nach pünktlicher Auszahlung des Lohnes noch vor Sonnenuntergang, das Verbot, einen Mantel als Pfand über Nacht zu behalten, das Recht zur Nachlese auf den Feldern und in den Weinbergen oder die Verteilung des Zehnten als öffentliche Unterstützung (Dtn 14,28f.; 24,6–29). Die Begründung für den pünktlichen Lohn ist die, dass der Tagelöhner »bedürftig« ist und nach dem Lohn »verlangt« (Dtn 24,14f.). Dahinter wird die Situation derer deutlich, die von der Hand in den Mund leben und kaum Vorräte anlegen können. Damit wird Bedürftigkeit, das Verlangen nach dem Lebensnotwendigen, als ein Kriterium für Gerechtigkeit genannt.

Dieser Aspekt wird in einer neutestamentlichen Geschichte noch einmal deutlich herausgehoben: Es ist das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, das im Matthäusevangelium aufgeschrieben ist (Mt 20,1–16). Demnach gleicht das Himmelreich der folgenden Begebenheit, dass nämlich ein Weinbergbesitzer früh am Morgen Tagelöhner anheuert und mit ihnen einen Lohn von einem Silbergroschen (Denar) vereinbart. Sie schlagen ein und arbeiten im Weinberg. Zur dritten Stunde des Tages geht er noch einmal zum Marktplatz und heuert wiederum Leute an, die noch keine Arbeit haben. Ihnen sagt der Patron: »Ich will euch geben, was gerecht ist.« (Die Lutherbibel von 1984 übersetzt hier »was recht ist«, aber das griechische Wort dikaios macht klar, dass es um ein Gerechtigkeitsthema geht.) Nun, der Vorgang wiederholt sich noch zur sechsten, neunten und elften Stunde. Die letzten müssen also vom vorausgesetzten Zwölf-Stunden-Arbeitstag nur noch eine Stunde arbeiten. Am Abend zahlt der Verwalter des Weinbergbesitzers den Lohn aus und fängt mit den zuletzt Eingestellten an: Sie bekommen einen Silbergroschen, was man als großzügig ansehen muss. Ein Silbergroschen oder Denar war ein üblicher Tageslohn. Ein Tagelöhner konnte bei guter Beschäftigungslage zweihundert Denare pro Jahr verdienen; das reichte (da streiten sich die Gelehrten), um entweder einen Mann oder eine ganze Familie halbwegs zu ernähren. Auch die zuletzt Eingestellten bekommen also, was zum Leben notwendig ist. Aber die Pointe des Gleichnisses geht noch weiter: Als bei der Auszahlung diejenigen an der Reihe sind, die den ganzen Tag geschuftet haben, bekommen auch sie nur einen Denar. Sie beschweren sich prompt und fordern mehr; der Weinbergbesitzer aber lässt sie abblitzen: »Mein Freund, ich tu dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Silbergroschen? Nimm, was dein ist, und geh!«

Gerechtigkeit bemisst sich hier nach der Bedürftigkeit, nicht nach dem, was der Einzelne als Gegenleistung – in diesem Fall Arbeit – bietet. Diese Dimension der Gerechtigkeit wird uns auch später begegnen: als Prinzip, das eine reine Tauschlogik transzendiert, aber dennoch verbunden ist mit der Suche nach einem gerechten Preis. Die Geschichte vom Weinbergbesitzer mit der ungewöhnlichen Entlohnungspolitik ist ein Gleichnis: Im Himmelreich, oder Reich Gottes, soll jedem nach seinen Bedürfnissen gegeben werden. Für Jesus und die frühen Christen war das Himmelreich kein Jenseits, sondern eine soziale Realität, die in ihrer Vergemeinschaftung bereits anfing – die aber doch erst in einer kommenden Welt vollendet würde. Oder anders gesagt: Die Gerechtigkeit, die in dieser Welt noch nicht erlebt wird, verlangt eine Erfüllung in einer anderen Welt.

»Es rettet uns kein höh’res Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun«?