Neon Pink & Blue - X Schneeberger - E-Book

Neon Pink & Blue E-Book

X Schneeberger

0,0

Beschreibung

In NEON PINK & BLUE findet sich eine Drag Queen in einem Klimasommer obdach- und papierlos am Zürisee wieder. Ohne Garderobe out the closet, ohne Badezimmerspiegel und Kostüme ergreift X ein Gefühl der Nacktheit. Geschichten zu in Frage gestellter Identität und schwer belegbarer Herkunft drängen sich ins untergehende Postkartenbild des Alpenpanoramas. Es ist das erste Buch von X Schneeberger. Kaum erschienen, wurde es auf die Hotlist (beste neue Bücher aus den unabhängigen Verlagen der Schweiz, Österreichs und Deutschland) 2020 gewählt. Und 2021 wurde es mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 281

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



X Schneeberger

NeonPink &Blue

Roman

verlag die brotsuppe

INHALT

Teil 1: Schneeberger Vogelsang Ein Ende des Lieds

Teil 2: Die Schule der Melancholie von X Noëme

Dank

Anmerkungen

Der Autor

Impressum

Teil 1:

SchneebergerVogelsang

Ein Endedes Lieds

»Die Welt ging unter, am Zürichsee,bei 30° im Schatten.«

Michael von der Heide nach Hildegard Knef

Meist schweige die Landschaft schön. Doch sei gerade etwas passiert: X, eben unter dem vollkommen unnützen Schatten einer Kunststoffpalme hervorgetreten, habe ein wenig auf den erhitzten Steinen der Hafenmauer herumgetänzelt. Der Boden war zu heiß, um barfuss stehen zu bleiben. Mit Blick über das Gewässer auf die Berge, ein tropfendes Glacecornet in der Hand, als wär’s ein schmelzendes Mikrophon – und als gäbe es in dieser Hitze etwas zu singen. Als ob die Welt an diesem späten Sommernachmittag ein riesen Freiluftcabaret sei.

Meine lieben Menschen und Vögel am See! Der Winter und mein Leben als hässliche, verschlafene Larve dauerte nun länger – es dauere ungemäss länger als jener Tag im Sommer, an dem ich meine irisierend glitzrigen Flügel entfalte. Wenn ich mich unter dem Morgenstern aus meiner speckigen Daunenjacke schäle, die bald wächserne Kapuze zurückwerfe, für einen Tag, eine Nacht mich aus dem Sumpf erhebe.

Ich bin eine Eintagsfliege

Geboren in den Tag hinein

Und so lange mein Tag

So lange mach ich Liebe

Ja, das ist mein ganzes Sein

Und dachte dabei an Spaziergänge als Kind, zwischen Graslilien, Wegwarten und kupferfarben blühendem Gras. Da, auf dem Damm, aus dem Aushub des Kraftwerkskanals, am Ende der kurzen Limmet, die am Zürisee beginnt und da, im Vogelsang, zwei Arme voraus in der Aare aufgeht. Gern hätte es als Kind im Vogelsang Ballett getanzt, gelernt wohl weniger; die Ballettschule hinter den Bäumen mahne es hier am Platanenquai am Zürisee stets an. Un, deux, trois.

Und es wäre gern, bei ergebender Gelegenheit, ein Mädchen gewesen, geworden wär es es allerdings nicht so leichtfüssig, wie vermeintlich persönliche Fürworte vorgeben. Was wiederum mit einem einzigen Blick auf diesen allfeierabendlichen Laufsteg Züriseepromenade hoch und runter unschwer festzustellen wäre; ganz das Gegenteil der Spaziergänge zwischen Rüss, Limmet und Aare. Zuhause sage man gar en Frau wie en Maa – e Frau und en Maa, heisse es natürlich richtig, hier am See vorne, auch auf Mundart. E Frau, en Maa, es Chind.

Es gebe genügend artige wie natürliche Gründe zur Flucht ins, eigentlich fremde, Landschaftsbild vor glacebetupfter Nase. Wo man sich negieren könne, bis von einem nicht mehr viel bliebe, ein Sepiatönchen Saharastäublein im Bild gewaltiger Naturschönheit — eines dieser Tage in seltener Weite ausgebreiteten Alpenkamms. Oder, in sich verziehende Kreise im Seespiegel, 406 Meter über Meer. Man befände sich künstlerisch in bester Gesellschaft einer ringelreihetanzenden Selbstmörderkappelle im Seetangtütü, zähneklappernd eingereiht in der Compagnie eines Gebirges aus lauter Schweigen; zwischen Endmoränen purer Sprachlosigkeit abgelegen gelegen, ab und an bockspringend über Scheiterbeigen geschwärzter Zeilen.

Der Föhn habe die Berge gross und zum Greifen nah an die Stadt im darob flacher werdenden Land gebracht. Sie seien derart unmittelbar ins Gesicht gerückt, die Berge da, als hätten sie einem etwas zu sagen. Inzwischen gab es davon Panoramakopfweh. Man habe den Strohhut mit dem anderen Bündel, Stoffschuhen und Kapuzenpulli noch dort hinten unter der Trauerweide abgelegt, man sei barfuss und barhauptes in abgerissenen Hosen und in einem löchrigen Unterhemd getänzelt. In dieser Hitze. In der Stadt am See könne man sich einiges einbilden – dass einer sich vergessen könne; bis zum folgenden Kater in der Landschaft eben, in höhlelenden Echos föhnig verblasen. Man tanzte in der Stadt, als ginge es ums Leben. Und genau darum sei es gegangen. Kind eher künstlicher, denn natürlicher Gestalt, eine Rückgratverkrümmung, Skoliosis, mechanisch korrigiert im weichen Säuglingsknochen; sozusagen ein aufrechtes Menschlein aus Lehm, Knätt in anderen Händen. Un, deux, trois. Ein Kunststückli. Betäubungsmittel habe es derzeit keine gegeben für Säuglinge – in der Erinnerung sei diese Zeit wüst und leer.

Manipulationen am lebenden Objekt seien notwendig, gar existenziell erschienen, sonst wären richtig gehen und richtig stehen, richtig liegen und richtig sitzen unmöglich vor lauter Verdrehtheit. Geradezu unmenschlich – kein Leben, wie man leichthin zu sagen pflegt, scheine ein Leben ein schadhaftes Leben zu sein, also nicht richtig. Man tanzte aber. Um sein Leben. Damit der gerade Rücken nicht einzig das Tragen einer Uniform bedeute. Eins, zwei, drei, und. Es gab den Militärdienst, das Gefängnis oder ein Untauglichkeitszeugnis. »Gute Arbeit«, habe der Arzt gesagt, zum aufgerichteten Rücken. In der Rekrutenschule würde noch aus jedem ein richtiger Mann, war die stete wie behände Drohung am Stubenhimmel, egal, wo man gerade zu Besuch gewesen, und sicherlich als Trost an die Eltern des immer noch etwas verdrehten Wesens gut gemeint.

Man sei dann nicht hingegangen, ins Militär, und habe sich folgendermassen auf eine Flucht vorbereitet: Man würde eine internationale Drag-Künstlerin werden und ginge auf langen Beinen nach Amerika, samt Rücken. Nicht ganz kopflos, man habe auch Kontakte zu pazifistischen Untergrundkirchen gesucht, die einen sofort ins Herz geschlossen hätten; man musste nur erwähnen, dass man Schweizer sei, und die Blicke füllten sich mit echtem Bedauern. Refugee or Political prisoner, we understand. Immer wieder lief es auf das selbe hinaus, Travestie und Kirche. Nicht-zu-gehen sei dann aber bald einfacher geworden als gedacht, man habe also äusserlich zuhause bleiben können. Doch wäre man auf der Flucht und wäre man es nur in Gedanken, ein paar wenige Jahre lang, man bliebe innerlich auf der Flucht. Ewig wandernd in den Tropen Amerikas. Das Glück schiene immer woanders zu sein. Um gewisse Besuche zuhause käme man so allerdings kaum herum. Im besten Fall hätte es nun geheissen, man sei halt ein schöner Künschtler. Und dabei vertraulich die Hand getätschelt, gäll.

Also, aus einer gewissen Natürlichkeit im Verhältnis zur Künstlichkeit wollte es sich Schriftsteller und Artist schimpfen, habe aus sprachlicher Verlegenheit sich dann Poet genannt – Grammatik ist nicht tutto –, aus stimmlicher bald Diseuse, Proben gelangen selten. So wurde jeder Auftritt zur Probe. Es war, als träumte es einer. Unpünktlichkeit schien glamouröse Pflicht im Land vom PÜNKTLICH. Die sprichwertliche Pinktlichkeit sei ja kein Wunder, wenn man all die Umlaute betrachte, sagte mal bei Gelegenheit ein Auslender unter der Kunststoffpalme vom Glacestand am Hafen unten. Man habe also hebchläb sich etwas auf sich eingebildet. Glamour sei aber wörtlich von Grammatik abzuleiten und eben nicht von lässigem Versäumnis. Das Grammar oder eben Glammar, die lateinische Grammatiksammlung, habe den Analphabeten des Mittelalters erscheinen müssen, als ob es den kundigen Besitzer mit magischen Kräften ausstattete, wie eine Zauberformelsammlung. Aber Deklination, Konjugation und Flexion haben auf gut deutsch allesamt Beugung zur Bedeutung. Glamour wäre also durchaus das Versäumnis der anderen –, Kreuz- und Knieschmerzen, Wadenkrampf jedoch seien höchsteigene Pflichten zur Kür. Un, deux, trois.

Es sei einem genug der Korrektur gewesen, genug Anpassung an richtige Grammatik und nur Unmittelbares wäre echt, wie richtig eben. Man stürzte sich ins Leben und blieb doch nur Zitat. Zusammengestiefelt. Ein einziger Phantomschmerz, der sich nicht auseinanderdividieren liess. Wie eine Defizitaufrechnung der Schöpfung. Alles sei immer WIE.

Was man erlebt habe, habe man erst in der Lektüre begriffen. Sich darin wiedergefunden, bis man selbst in diesem Sommer nur mehr literarisch gewesen sein würde. Dazu komme es noch. Oder, sei man das Korrigendum eines verdrehten Wortes, richtig gebeugt. Buchstabe für Buchstabe. Die Natur verbessern, hiesse, sie zu vergessen. Doch sie vergesse nicht. Man sei widerspenstig ein Bild von einem Mann, im Wortsinn. Nun, grad wie ein Baum. Und in etwa so nackt und ausgesetzt, wie die Bäume in der Hitze dieses Sommers schlagartig entlaubt.

Vom krummen Rückgrat sei ein krummer Phantomschmerz geblieben, den man nur tief schlafend oder lange tanzend nicht empfunden. Man sei eine stete Mahnung geblieben, an die Wüste und Leere hinter allem. Umgekehrt gemahnte eine die Einsamkeit in den Kulissen – immer öfters als letzter Mensch auf dem Tanzboden, nach dem letzten Ton – an Phantomschmerz. Als sei die Welt untergegangen und nur eine tanze noch. Keine Liebschaften würden mehr das Morgengrauen vertreiben wollen. Man tanze gegen den unabwendbaren Fall des, meist imaginierten, Theatervorhangs an. Egal, wie weit sie gegangen, davon gäbe es kein Fortkommen. Aus der Lücke zwischen Erinnerung und Bild.

Eher untergründig unterwegs, hätten sich über Zeit wie von selbst kleine, poetische Diseusenauftritte ergeben, in illegalen Bars, in Industrieruinen, in Kellertheatern und an privaten Künstlerinnenfesten in Abbruchhäusern mit helfender, ausgleichender, ja, zugegebenermassen korrigierender musikalischer Begleitung, meist des treuen, verspielten Phil. Dem besten Pianisten selbigen Alters weit und breit. Sein Studio sei neben dem eigenen Atelier im stillgelegten Starkstromlabor gelegen. Sein Gesicht habe mindestens die Hälfte des Liedes gespielt, seine Hände die andere, man habe die ganz eigene, aufgetakelte Wenigkeit spielen gedurft, dabei. Den Text mitsprechen, mithauchen, mitschreien, wie vermeintlich allein vor dem Badezimmerspiegel. Einmal habe man so um die sieben Kostümwechsel an einem Abend geschafft. Und etwa zehn Lieder. Für die Einsätze habe Phil einem zunicken müssen. Manchmal laut zunicken. Das Publikum sei der Badezimmerspiegel. Oder, tiefer gespiegelt, jener vom Kleiderschrank im Elternzimmer, in Mamas Kleidern und Schuhen. Und mit dem Nagellack des Hütemädchens aus der Fabrikkantine.

Oder dann sei man mutterseelenallein gewesen, Geschichten und Gedichte lesend, von einem Tonträger begleitet. Manchmal einem Tonträger ergeben, war der technoide Auftritt derart improvisiert, dass der Diseuse besonders gelungene Liedzeilen von Leuten aus dem Publikum nach- beziehungsweise vorgesungen, beziehungsweise gesprochen wurden – nach dem Auftritt, in der Garderobe, und sie habe erst nicht gewusst, wen sie da zitieren würden. Oh, süsses Selbstvergessen! – für einen kleinen Augenblick, in der Garderobe.

Keine Zeit für ich will ich muss ich kriege

Ich wende mich stets hin zum Licht

Dass ich nicht lache, was ich mache ist Liebe

Geld und Krieg meine Sache nicht

Ich bin eine Eintagsfliege

Geboren in den Tag hinein

Und so lange mein Tag

So lange mach ich die Fliege

Ja das isss … t mein ganzesss Sssein

Die Orte ihrer Freakshows schlossen quasi hinterrücks über Nacht, einer nach dem anderen, diese Räume oder eben Szenen, oder sie wurden politisch und oder polizeilich geschlossen. Keine Heimat in der Zwischennutzung. Und so seien auch die Liebschaften gewesen. Es liege nicht an ihr. Es liege am Leben, das sie lebe. Jedes Projekt eine neue Liebschaft. Jedes traurige Liebeslied ein richtiger Abschied, Tanzaff im Off. Aus einem goldigen Käfig abgeschlichen. Vom Karren gefallen. Ausgewildert jetzt. Kleinkünstler eigentlich, sagte man sich; man sei halt Transvestit. Ob als Mann oder Landsmann, ob als Dichter oder Künstler – eben als ob. Ein Kunstwesen. In eigener, wie mit fremder Feder. Travestie sei eine literarische Kategorie, dies die einzige aufzutreibende lexikalische Auskunft zu Anfang im Aargau. Man sage das eine und rede im jeweilig Anderen. Selbst als Transvestit wäre man als ob ein Transvestit. Mehr Vorstellung denn Darstellung. Mehr Pose als Haltung, mehr Geste als Bedeutung. Quatre, cinque, six.

»O läck du mir, o läck du mir, o läck du mir am – Tschöpli« (1). Wenn ein Mann weniger gelten wolle, müsse er lediglich Frauensachen anziehen, das reiche vollauf. Dass ausgerechnet Quentin Crisp, die Urgrossmutter aller Drag Queens, so etwas geschrieben habe, machte eine erst fassungslos (2). Doch ein Transvestit sei das aufgeschlagene Schwarzbuch der Verhältnisse. Travestien, das seien die gezeigten Nähte und aufgeworfenen Raufen der Schöpfung, aber auch die überbrückten Sollbruchstellen der Körperbilder; nach aussen gekehrt, auf links gedreht. Glieder, verpuppt. Am meisten passiere dabei allerdings in der Garderobe.

»O rutsch du mir de Buggel ab …«(1) Travestie sei das zelebrierte Scheitern an den eigenen Bildern in aller Narrenfreiheit. Mehr Medium denn Botschaft. Travestie sei Transzendenz als Pose sowie der Traum der Transzendenz durch Pose. Und, Travestie sei zum Heulen, spätestens morgens nach dem Tanz, wenn der Laden bis aufs Personal, das nur noch nach Hause will, leer, die Transe besoffen und allein in der verspiegelten Bar, beziehungsweise vor dem einzigen Spiegel der Bar, zwischen den Wischbewegungen des bemüht putzenden Personals mit eingefallenem Kreuz und gespreizten Beinen an künstlichen Nägeln kauend sich selbst zuprostend auf einem Barhocker sitzen geblieben »… o blas du mir, o blas du mir, o blas du mir« eis … zwöi … drüü … – »id Schueh«(1).

Falls dir de Absatz nöd z’höch. Dann, wenn einem im blendend hellen Putzlicht nur mehr ihr grünlich spriessender Bart unter sich schuppenförmig ausbildenden Tränensäcken anlächelt – ach Schwester Wimpertierchen, das Honorar wohl … ja, zum Wohl! … bereits versoffen und verschnupft, selbst die Hämorrhoidensalbe ausgegangen – ohne es zu wollen, wie nur der ungewollte Schimmelpelz der Männlichkeit ungewollt anlächeln kann. Spätestens dann habe man an einer gelungenen Schau des melancholischen Tieres geheult wie in einer x-beliebigen Kirche beim gemeinsamen Vaterunser und habe sich als Letztes aus dem morgendlichen Cabaret zurückgezogen, aus der Wüste und Leere, die geblieben waren von allen Wachträumen vergangener Nacht; zurückgezogen samt dem Geschlecht, nun Neutrum. Und zwei würden sich schluchzend selbstversöhnt der Selbstbefriedigung im Spiegel unter wechselnden Namen hingeben, in schneckengleichen Anflügen von Geschlechtlichkeiten; die Träume künstlicher Wesen beweinend. Das Spiel würde eben vollends flüchtig, sobald Tageslicht drohte, Fluchtbewegungen rundum. »An dem Tag, an dem ihr eins geworden seid, seid ihr zwei geworden: Wenn ihr aber zwei werdet, was werdet ihr dann tun?«(3) So ergehe es den Paradiesvögeln der Nacht. Am Morgen nach dem Tanz, wer ist noch da?

Man sei Kunstpause. Ein selbstverständliches Verkehrshindernis. Königin inkognito. Man sei nun noch abschätzigeren Blicken und noch offensiverer Ignoranz ausgesetzt gewesen als im Fummel, im Dichtermäntelchen, im Künstlerkimono – als parkbankresidierende, zigaretten- und bierschnorrende, berufsspazierende Vagante. Dabei hasse sie Bier. Aber Bier sättige günstiger und länger als Brot und um Prosecco zu schnorren. Das wäre allerdings würdelos. Ersch na z’Züri.

Meine Schwestern die Mistfliegen

Nennen mich einen Tagedieb, ’n verludertes Ding

Doch sie – sie kleben an ihrer Scheisse

Und ich – ich schmeisse mich der Liebe hin

Ich bin eine Eintagsfliege

Geboren in den Tag hinein

Und so lange mein Tag

So lange such ich Liebe

Ja, das ist mein ganzes Sein

Ein halbes Jahr her, dass man tanzte, bis die Arbeit verloren war vor lauter Unpünktlichkeit, und dass man tanzen statt auf Arbeitssuche ging, bis auch ein Zimmer wenige Monate später nicht mehr zu halten war. Es sei halt so eine Ahnung gewesen, und wäre sie nicht auf längeren Spaziergang, bald eine Wanderung, wäre die Gefahr sehr gross geworden, dass sie aus einem geschlossenen Raum gar nicht mehr herauskommen wollen würde, bei Tag.

Graslilien und Wegwarten, auch das kupferfarben blühende Gras würde man draussen nicht mehr finden, bei noch so viel Taglicht. Die Erde leere sich sichtbar. Ein düstereres Blenden schien sich quer durchs Bild am See auszubreiten. Ein Blenden, das habe einem allmählich die Sicht geraubt, erst auf die Tageszeiten, dann auf die Tage. Auf die Berge selbst, und endlich auf ein Bild.

Es sei einem da längst die Zivilisation aus Kleid- und Hautfalten gebrösmelet. Sie habe noch auf einer Petrollampe aus dem Stützliladen Wasser für Pulverkaffee und eingeweichte Teigwaren erwärmt, auf dem Küchentisch, der Strom bereits weg. Die Fensterbank habe noch den ganzen Frühling als Kühlschrank gedient, sofern es was zum Kühlen gegeben habe oder die Krähen, mit denen sie manchmal in die Luft gekrächzt – es sei unheimlich ruhig ohne Strom, selbst am Hardplatz – sofern die lauten Vögel es nicht runtergeworfen und nach indignierter Begutachtung den Katzen überlassen hatten. An diesen Tagen hätten die Hauskatzen mehr von der Milch und dem Budgetfleischkäse gehabt als sie selbst, in- wie auswändig, wenn die Rabenvögel es wieder, und voller Verachtung scheints, fallen liessen. Gewaschen habe sie, was es so zu waschen gegeben habe, Körper, Kleider, Geschirr, alles mit kaltem Wasser und Seife in derselben Badewanne. Schminke und Cosmetica schon längst ausgegangen oder auf den Tanzböden verloren. Man schlief oder ging tanzen, tanzte in den Träumen und träumte in den Tänzen. Als sei alles ein riesen Camping.

Wenig brauche es und Weniges müsse fehlen, und zwischen drinnen und draussen wäre kaum ein Unterschied. Oben und unten. Tag und Nacht. Männlich oder weiblich. Heimisch oder aussätzig. Ein Blenden, dass selbst das erste Bild noch geschwärzt. Nun schwiegen alle Bilder. Da, an diesem schiefen, gelben, klappbaren Blechtisch in einer Küche im fünften Stock, habe man an das Aus-dem-Fenster-Springen gedacht.

Ganz anders die Luft am See. Sie habe in diesem Sommer einen verschwindenden Rest Verheissung, wie knisternde Zuckerwatte getragen, dass sich die Nasenhärchen sträubten. Manchmal biete ihr nun hier, am Hafeneck vorne, etwas expatriiert auf Campingstühlen und sengend heissem Zementboden unter der Kunststoffpalme des Glacestandes in der, wie es scheine, schützenden Stille von keiner Musik und gespielter Unauffälligkeit, jemand an, heimlich mitzurauchen. Oder gar auf dem Divan übernachten zu können, wieder einmal etwas zu essen, sich etwas zu waschen und etwas zu schlafen. Sie habe so manche Male diesen Sommer über zivile Uniform und verschwitztes Selbst waschen und frische Kleider ausleihen können. Auch habe sie angefangen, alle Auffälligkeiten abzulegen. Alles in einem einzigen Sommer.

Die Absätze, die Strümpfe, die Strapsen, die Art-Déco-Spitzenkleider aus der Rue St. Denis zu Paris – man habe sich vorgestellt, sie seien einst von Josephine Baker getragen worden – in einem Anfall von trauriger Raserei, alles aus jener Vergangenheit rasender Traurigkeit, verbrannt, die Federboas und Pfauenfedern, die Strumpfbänder und Lackschuhe. Alle Tanzaffigkeit beerdigt, die Transvestitenalias in den Bühnentod vorgeschickt. Gelöscht. Solch Zeugs wolle sie nicht mehr tragen, sei sie doch nicht der Eulenspiegel einer Industrie, die inzwischen selbst Mädchen und Jungs gegen ihre Gesichts- und Körperhaare ins Feld ziehen lässt, bevor sie überhaupt da seien. Die Mädchen. Die Jungs. Die Haare auch. Un, deux, trois. Den Körper zum Feld umgegraben, bevor das Gras grün geschossen. Die Zichorie schon pulverisiert, bevor’s ihr himmelblau geblüht, schon das Gras siliert, bevor eine Lilie je schneeig herausgegleist. Spielend rekrutiert, bevor sie in Bleistiftabsätzen und Marschstiefeln korrekt eingewachsen wären. Körper seien die Schlachtfelder der Bilder und Worte.

Inzwischen Transvestit in Zivil und selbst allmählich im Verblühen begriffen, ziemlich verpulvert, etwas fermentiert, schnorrte man, doch nur bei Freunden, ganz der Homeboy und Bettelmönch; dann wieder dem Vertrauen überlassen, ganz die Tanz- und Betschwester, Derwisch in ein paar Tagen reinster Meditation über die Vergänglichkeit, vorzugsweise unter Fremden. Dafür war die Stadt grad gross genug. Ein Selbstbild wäre wichtig, wenn sonst schon nichts. Grad in einer kleinen Stadt. Man würde ja am allerliebsten in Unterhosen im Baumschatten der Hitze darben, nur, dass man jene Unterhosen vor ein paar Tagen, ohne zu fragen, sich ausgeliehen hatte. Was solche Dinge anginge, sei das eine ganz kleine Stadt. Man sei schon lange nicht mehr rasend, auch weit über die Trauer hinaus – himmeltraurig sei man, frohen Mutes in grundtiefer Melancholie und fremder Unterwäsche, die Deklination von Little Big City(4). Am Morgen nach dem Tanz, wer ist noch da? Erst die Betten von Geliebten, bald die Sofas von Freunden, bald Bänke am und um den See; bald im See, wenn das Hochwasser weiter steigt. Es sei ein Tanz, der Zeit enthoben. Ein Morgen danach sei nicht unbedingt an einem Morgen. Und da habe die Eintagsfliege über Randgranit ins ewige Alpenpanorama geweint. Ganz ohne Travestie und Kirche war die Trauer nun unmittelbar gewesen. Es sei der heisseste Sommer seit Menschengedenken, solange der dauere, würde es gerade noch gut gehen in diesem Camping sauvage. Man möge nun einwenden, es gebe keine wilden Transvestiten, ohne Dach kein Putz. Doch ihr Dach sei dr Himmel vo Züri(5).

Man schlafe ja kaum noch und tanze noch so oft wie möglich. Man erzähle sich um Kopf und Kragen, um auf Gästelisten oder sonstwie noch reinzukommen, kopf- und kragenlos. Lange könne es nicht mehr gehen. Man erzählte, wollte auf Spaziergängen Geschichten haben, spazieren, bis man wieder an einen Tanz unter freiem Himmel heranstreunt, Hönggerberg, Üetliberg, Allmend, Saffainsel, GZ Wollishofen, Kibag, Sihlpapier, wenn der Wind günstig gelegen und einem die Bässe zugetragen. Um nicht darüber nachdenken zu müssen, wie man abhanden gekommen; sei es, wie es sei.

Nachtvögel leben, altern und veralbern schneller, nicht nur auf Krähenfüssen – dazu sei nun dieser heisse Sommer und das stete Tageslicht gekommen. Die Zeit sei in Kürze gedehnt worden, wie ein flüssiger Kaugummi zwischen Fusssohle und Spazierweg, sei einem nachgeschlichen. Dann, etwas angeekelt abgeklaubt, wieder gestaucht, zusammengerollt, dem Nächsten unter die Füsse geworfen. Alle Spuren des Vorhergehenden wie der Vorübergehenden als Teil mitgenommen. Zuletzt verflossen und verdampft zu einer stehenden Wolke aus Eukalyptus, Sonnencreme und Urin. So wie in der Terpentinausdünstung im Atelier eines grösseren Gemäldes, an dem gemalt wird. Einem selbst unsichtbar, als Teil davon. Lediglich in Luftspiegelungen etwas zu erkennen, vermeintlich, schon verliere sich die Form.

Und geht mein Tag schon zur Neige

Wenn das…sss nun alles…sss war

Auf dass es…sss morgen sssich zzzeige

Der Liebe dient’ ich ganzzz und gar

Ich bin eine Eintagsss…sss…fliege

Geboren in den Tag hinein

Und ssso lange mein Tag

Ssssssso lange liebe ich die Liebe

Ja, dassss isssssst mein ganzzzesssssss…

ssssss…sss…Sein

»KOMMEN SIE SOFORT ZU MIR INS BÜRO«, HIESS ES, ALS ICH, IN DIESEM SOMMER DA, AUF DEM POLIZEIPOSTEN AN DER MILITÄRLANGSTRASSE FROHGEMUT DAS FEHLEN SÄMTLICHER PAPIERE MELDEN WOLLTE. SELBSTVERSTÄNDLICH UM ERSATZPAPIERE SELBIGEN NAMENS ZU ERLANGEN – MEINETWEGEN MIT ALLEN PFLICHTEN UND VERSÄUMNISSEN, DIE MIR BEI DIESER GELEGENHEIT GLEICH AUFGERECHNET WERDEN WÜRDEN. DOCH WAS DANN ZU VERMELDEN WAR, ÜBERSTIEG ALLE MÖGLICHEN ERWARTUNGEN. WIE MIR DAS WIDERFAHREN KONNTE, BLEIBT WOHL FÜR IMMER EIN RÄTSEL, ALS VAGANT VERLÄUFT SICH DAS LEBEN. ABER DAS RÄTSEL WURDE DURCH MEINE PFLICHTBEWUSSTE MELDUNG NICHT KLEINER, ES IST DADURCH ERST ZU TAGE GETRETEN. AUF DER BÜROTÜR STAND ZWAR »WACHTMEISTER« – ABER, HERR POLIZIST?

KAUM DASS ER DIE TÜRE HINTER MIR GESCHLOSSEN HATTE, SAGTE SEINE STIMME IN MEINEM RÜCKEN, UND MEHR ZU SICH SELBST ALS ZU MIR, »SO EIN FALL IST MIR JETZT NOCH NIE UNTERGEKOMMEN, DAS GIBT’S GAR NICHT. ALS TRÄUMTE ES UNS.«

Der Tag sei noch nicht ganz zu Ende, sein Lied schon. Der sich angekündigte Untergang liesse auf sich warten, der Spaziergang ginge weiter und so habe das abhanden gekommene Kind nachgedacht, Schritt für Schritt. Wohin es nun solle mit dem Rest der Zeit eines langen Tages, eines langen Sommers am See. Es hätte aus dem Fenster springen sollen, als man noch in einem hohen Haus gewohnt habe. Da, an diesem schiefen, gelben, klappbaren Blechtisch in einer Küche im fünften Stock, da habe es sich gut an das Aus-dem-Fenster-Springen denken lassen. Wie die Grosstante, die in Bern-Betlehem aus dem fünfzehnten Stock gesprungen ist – als Kind sei die Frage geblieben, wieso in Betlehem?

Warum nicht am Hardplatz. Es sei etwas dazwischengekommen. An diesem gelben Tisch, in Gedanken verloren, dem Leben abhanden, da sei durch das Krähenkommando vor dem Fenster hindurch, völlig furchtlos, ein Paar Ringeltauben auf dem Fensterbrett im fünften Stock gelandet, der eine Vogel aufmerksam wachend, der andere dem traurigen Menschen zugewandt, durchs offen stehende Fenster äugend, fragenden Blicks den Blick suchend, so gut, wie es halt für eine Taube so gehe. Und, betroffen von diesem unmittelbaren Ausgesetztsein zur Betrachtung, im fünften Stock, zwischen lachen und weinen, sei man auf andere Gedanken gekommen, vor der Petrollampe als Campingkocher auf dem Blechtisch. Man hatte noch ein Zündholz. Man habe sich also einen weiteren Pulverkaffee gemacht und sei dann nach draussen gegangen. Durch Tür und Stegenhaus. Und habe die Tauben dankbar wohlbehalten von der Strasse her gegrüsst. »Ihr sollt Vorübergehende werden«(6).

Es sei mit immer mehr Lektüre, mit neuen Freunden, weiteren Szenen und auch den angeregten Gesprächen an der Kantonsschule die Sprachebene immer schiefer geworden, es sei gar ein zunehmender Abstand, eine schmerzliche Entfremdung mit Zuhause damit einhergegangen. Wie diese Campingtische, die einfach immer weniger stimmen wollen, man konnte sie noch so nach- schüstieren und korrigieren, irgendwann musste man sich einfach wieder an den vorhandenen Tisch setzen. Man sei im Wohnhaus gleich neben einer der beiden Giessereien Vogelsangs aufgewachsen. Das morgendliche Stampfen der Formenpressen, dass die Häuser tanzten. Der Tiegel mit der flüssigen und sonnengleich blendenden Bronze und der Tiegel voll ebenso flüssigem und ebenso sonnengleich blendendem Aluminium. Der Rauch, der Rauch, der Rauch. Es habe da am Hardplatz gar nicht so anders ausgesehen wie im Vogelsang. Vor dem geschwärzten Fenster die Fabrik, die Fabrikkantine mit Frau Pansen als Vorsteherin, was namentlich sinnvoll geschienen habe, die ums Haus fahrenden Lastwagen, der Appell und die Übungen der Betriebsfeuerwehr, ihre Besäufnisse in der Kantine – und die Schritte der Nachtwächter, Schritte, mit Namen bekannt, nach ihren je eigenen Schrittmustern.

Nachts sei es aber sonst still gewesen und man habe die wilden Katzen gehört, die vor allem von toten Fischen aus dem Kraftwerksrechen gelebt und die mit den Hauskatzen, den Ratten, Mardern und Wieseln gekämpft hätten. Den nächtlichen Güterzug habe man pfeifen gehört, jeweils bei Station Siggenthal. Und man habe gewusst, welcher Zugführer seiner Tochter damit Gute Nacht wünschte. Oder es sei vielleicht auch eine Legende eines einsamen Kindes gewesen, vom Kind selbst in der Schule herumerzählt. Es war das selbe Mädchen, das dann später von einer missglückten Alienentführung berichtete, das gab es hier oft, geglückte wie missglückte, ein Licht habe sie samt Bett zum Fenster hinausziehen wollen, doch ihr Bett sei breiter gewesen als der Fensterrahmen und sie sei vom schräg stehen gebliebenen Bettgestell mit der Matratze auf den Zimmerboden zurückgerutscht. Sicher sei, einer der Nachtwächter der Fabrik habe manchmal unter dem eigenen Kinderzimmerfenster auf den Pfiff des Nachtzuges die Melodie von Azzurro(7) gepfiffen. Man habe ihm mal durch die halbgeschlossenen Fensterläden zugeschaut, wie er unter den Resten der einst stolzen Lindenallee im Kandelaberlicht auf das U-wü-wüüh des Zuges unmittelbar auf seinem Rundgang stehen geblieben sei, und darauf Darada-dada-dada-da-da gepfiffen, den rechten Zeigefinger in die Luft gestreckt, auf das zweite U-wü-wüüh gewartet habe, um es mit Dadaa und dem Zeigefinger in der Luft fuchtelnd pfeifend abzuschliessen, dabei seinen Kontrollrundgang wieder aufnehmend. Als hätten der Nachtwächter und der Zugführer diese Improvisation schon lange eingeübt.

Es sei dann durch die zunehmende, sogenannt höhere Bildung die Muttersprache wie ausgewechselt worden, obwohl sie noch gleich geheissen, fremd geworden in Versächlichung – das Deutsche. Man schien sich nicht mehr zu verstehen, verstehen zu wollen, habe um Worte und ihre Bedeutung und Richtigkeit gestritten. Nichtstudieren habe umgekehrt aber auch nichts mehr genützt. Den Ort, von dem man komme, gebe es so nicht mehr.

Ginge man später zu Stilz nach Hause, schriebe ein paar Zeilen, um seinem Auftrag im Tausch zum Obdach Genüge zu tun und endlich mal was Gescheites zu schreiben. Man schriebe nun die Geschichten zu den Bildern in der Zigarrenschachtel, die man bei ihm, zusammen mit ein paar Kleidern, zur Aufbewahrung abgelegt. Und erzählte auch zu jenen Bildern, wie Kleidern, die fehlen täten. Die gefehlt hätten. Die noch fehlen würden. Man habe einzig eine Zigarrenschachtel mit ein paar Sachen gerettet, die Ateliers an Lofts verloren, die Kostüme in die Kehrrichtverbrennung gegeben, die Bücher auf das Trottoir vor die Tür gelegt, all die Glausers, Chandlers und Hammetts, gratis zum Mitnehmen – die Zigarrenkiste befand sich im Haus eines Freundes, Stilz, einem ziemlichen Spinner, in Sicherheit also. Spinner würden Spinner verstehen, in gewissen Dringlichkeiten. Man habe darin schier Vergessenes gesammelt, Seltsames und Denkwürdiges, Ausrisse, Liednotate, Photographien und Collagen; zum Beispiel die alte Zensurmarke für den bewilligten Plakataushang, fein säuberlich Plakat um Plakat aufgeklebt und auf dem Polizeiposten abgestempelt, die Plakate häufig an Telefonstangen und Bushaltestellen angeschlagen. Die gewerbepolizeiliche Zensurmarke war zig Jahrzehnte in Verwendung – der Grafiker habe dem posaunenden Engel ein Aargauer Wappen mit vier statt drei Flüssen vor die Lenden gestellt. Als seien es die Flüsse des Paradieses. Man habe diese Marke als Kind von einem Plakat an einer Telefonstange abgelöst. Bevor alle hölzernen Telefonstangen abgebaut waren und nachher die Frage geblieben sei, auf welchen Zeilen die Spatzen nun ihre ungelenken Melodien annotieren würden.

Es gebe darin auch ein paar Bilder von Bootsausflügen, verschiedener Herkunft. Eines sei ein Polaroid mit wehender Schweizerfahne am Heck eines Ausflugsschiffes auf irgendeinem Schweizer See, man wisse nicht mehr, auf welchem. Anlegestellen mit Säulenpappeln und Berge im Horizont gebe es viele. Dahinter, hinter der Fahne, fast wie Gespenster, seien zwei Personen auf einem Boot knapp zu erkennen. Als man das Bild geschossen habe, seien die einem nicht aufgefallen. Sie täten nun wiederum an das Bild der beiden unbekannten Soldaten auf Ausflug samt Berghorizont erinnern, das man aus Finns Vorlass erhalten habe. Wobei Vorlass sehr gestelzt klinge, es sei damit vor allem das Gegenstück zum Nachlass gemeint, was hier doch ein grosser Unterschied gewesen wäre.

Ein anderes Bild zeige hingegen das tägliche Morgenboot von der Petersinsel nach Biel/Bienne, je nach Passagier ein Ausflugs- oder Arbeitsboot. Es sei eines seiner wenigen Photos mit Finn selbst im Bild, dies aus seinem Nachlass jetzt. Man studiere da an diesem Bild herum, das in der Zigarrenkiste mit den Zeitungsausschnitten und anderem aufbewahrt sei. Das Hochwasser trage es einem in gewisser Weise auf dem Spaziergang zu. Man sollte es bei Gelegenheit sich wieder anschauen. Das Bild vom Morgenboot, das den Milchbuben und Gärtnerlehrling Finn, im Arbeitsgwändli und mit Chäppi links vom grossen Milchchessi auf dem Seeweg zwischen Petersinsel und Biel zusammen mit drei weiteren Passagieren, einer samt Velo, und mit dem Bootsfahrer auf dem kleinen, ungedeckten Boot mit Aussenbordmotor zeige.

Daneben – habe man sich schon manches Mal vorgestellt und stelle es sich eben jetzt vor –, neben ihm sitze da im Bild auf dem Boot unter dem Herrenhut der Berufsspaziergänger Walser Robert, vor der Deportation in die Heilanstalt der Gegend seines Heimatortes, des Heimatortes auf dem Papier, sich einen Ausflug genehmigend in seinem geliebten Seeland; seiner Heimatortschaften seiner höchstselbst beschriebenen Papiere. Aus der Berner Heilanstalt Waldau ausgeflogen für einen Tag und eine Nacht, in frischer Wanderung gegen Abend am See, am Kanal vorbei, vorbei an dem Durchstich mit den Regulationsschleusen der Gewässerkorrektur bis zum Ende des Sees, auf den Schilfweg, der bei eben jenem Eingriff in die Landschaft und einhergehender Absenkung des Seespiegels erst zutage getreten, der Petersinsel zuwandernd. Die Gastwirtschaft habe schon Licht gemacht.

Den dunklen Tanzpavillon besuchend, jener, in dem schon lange kein Tanz mehr stattgefunden hatte ausser in seiner, zu Papier gebrachten Vorstellung, dann erst im Gasthaus des ehemaligen Insel-Klosters eingekehrt, wie wohl einst der Denker des retour à la nature, inselspazierenderweise, confessionierend, als die Insel noch eine Insel gewesen sei und doch schon lange eine Kulturlandschaft. Und als wie ein freier Mann, freier als jener Denker, der hier sein Exil gefunden – sich ein Zimmer genommen, ein freier Mann für einen Tag und für eine Nacht, Einzelzimmer mit Frühstück. Frühestmöglich, das Frühstück. Und dann pressiert mit dem Milchboot am Morgen, den Zug bemühend in die Waldau zurück gerauscht. Als sei nichts passiert. Seeland sei überall, habe er gemeint. Nein, das habe man selbst gemeint, er habe in einem seiner Briefe geschrieben »Seeland kann in der Schweiz oder überall sein, in Australien, Holland oder sonstwo«(8). Doch nach der gewaltsamen Umsiedlung soll er nie mehr geschrieben haben. Keinen Schatten einer Schrift, kein Fitzelchen. Dabei sei er in Schattenspielen und Fitzelchen geradewegs ein Meister gewesen. Es wäre ihm zu erdichten, ein solcher letzter, heimlicher Ausflug in die Landschaft, die er erspaziert hat, wie erzählt, eine unsichere Photographie als zufälligen Anlass.

Auch für Finn sei diese Halbinsel jener Zeit ein Ort der Flucht und Zuflucht gewesen, der den, buchstäblich herrenlos Herangestreunten, in eine Gärtnerlehre aufgenommen, wo er all die lateinischen Namen der Pflanzen und Bäume gelernt habe. Auch einen Freibrief habe er erhalten, für die Botengänge, den Milchtransport über den See in die Zentralmolkerei der Stadt, der zu seinem Dienst als Milchbub der Halbinsel gehörte. Und womit er sich seine Lehre abverdient habe. Ohne Freibrief wäre er wie ein streunender Hund gejagt, gefangen und in den Verding zurückgebracht worden, wie schon die letzten Male, die Gewässer im Seeland auf und ab. Das sei noch mit seinem besten Freund und Leidensgenossen Negus gewesen, der aber dann auf der letzten Flucht verloren gegangen sei.

Sein einziger Freund, wie es geschienen habe. Auch diese Erzählung habe von gemeinsamen Spaziergängen an der Aare hergerührt. Für eine Weile sei das Finns und diesem Enkel gemeinsames und einziges Spiel gewesen, die Namen der Bäume am Wegrand zu rufen, einer auf Deutsch, der andere darauf auf Latein, der andere wieder auf Latein und der eine wieder auf Deutsch. Manchmal gar auf Welsch, das habe er auch auf der Petersinsel gelernt. Da, auf diesen Spaziergängen unter den Bäumen am Fluss, habe er sich in einer Verbundenheit zu allem empfunden. Selbst Männern der Familie. In den Litaneien an der Aare, in der Benennung der Welt, angefangen bei den Bäumen. Nun aufgehört mit den Bäumen, die anderen Pflanzen überflutet oder verdorrt.

Dann habe es bei den Litaneien passieren können, dass, wenn der Naseweis Finn korrigieren wollte, zum Beispiel mit Salix baylonica versus Salix sinensis – das babylonische Exil als Bild, das der mittrauernden Bäume und die vermutliche Herkunft aus einer jahrtausendealten chinesischen Gartenzüchtung –, der Grossvater Finn wieder davon gesprochen habe, dass der belesene Bub doch Prediger werden solle. Für etwas anderes tauge er kaum. Und da könne er dann mit reden das Leben verdienen, und noch reich werden, wie der Gotthelf. Mit nichts als Geschichten. Unter erfundenem Namen, erst noch. Dass diese wiederkehrenden Sticheleien etwas zu bedeuten gehabt hätten, der Gotthelf mit dem Ueli, dem Knecht und Ueli, dem Meister, das sei einem selbst erst ein paar Tage nach der Beerdigung des Grossvaters aufgegangen.

Zuvor sei aber der Anruf gekommen, der Pfarrer frage nach einem passenden Spruch, da sei es einem wie aus der Pistole geschossen, Psalm 23(9).

Als Papa wieder zurück war aus der nun leeren Winterwohnung in Dogwil, im Sommer, nach der Beerdigung, und jenes Notizbuch gebracht habe, das genau dort gelegen habe, wie beschrieben. Da seien seine Memoiren drin, alles aufgeschrieben, über den Verding,