Nerds retten die Welt - Sibylle Berg - E-Book

Nerds retten die Welt E-Book

Sibylle Berg

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Beschreibung

Verloren in der Gegenwart kurz vorm Untergang? Dieses Buch hilft! Permanent sind wir mit Meldungen aus aller Welt konfrontiert, die wir weder einordnen noch anständig bewerten können. Und zum Handeln befähigen sie uns auch nicht. Was soll man gegen den aufkommenden Faschismus tun? Gegen schmelzende Gletscher? Gegen Überwachung und Verknappung des Wohnraums? Sibylle Berg versucht es in Gesprächen mit Wissenschaftler*innen herauszufinden. Während der Arbeit an ihrem Roman »GRM« sprach Sibylle Berg über zwei Jahre hinweg mit Expert*innen aus den verschiedensten Disziplinen – mit Systembiolog*innen, Neuropsycholog*innen, Kognitionswissenschaftler*innen, Meeresökolog*innen, Konflikt- und Gewaltforscher*innen. Über den Zustand in ihren Fachgebieten. Und über Ideen für eine Zukunft, die sich nicht wie ein Albtraum ausnimmt. Wie sich wehren gegen Parolen, die den Verstand beleidigen? Wie verhalten wir uns zu der Politik des Spaltens und Herrschens, die gerade weltweit ein Erfolgsmodell zu sein scheint? Was bedeutet die digitale Revolution, und gibt es eigentlich noch Hoffnung? Dieses Buch ist das Richtige für alle, die sich auch solche Fragen stellen und besser gewappnet sein wollen für das, was auf uns zukommt. Gespräche mit: Lorenz Adlung – Jens Foell – Odile Fillod – Hedwig Richter – Lynn Hersham Leeson – Dirk Helbing – Jutta Weber – Iddo Magen – Valerie M. Hudson – Avi Loeb – Carl Safina – Robert Riener – Wilhelm Heitmeyer – Emilia Zenzile Roig – Rolf Pohl – Eliszabeth Anne Montgomery

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Seitenzahl: 285

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Sibylle Berg

Nerds retten die Welt

Gespräche mit denen, die es wissen

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Sibylle Berg

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Valerie M. Hudson

Wilhelm Heitmeyer

Robert Riener

Elizabeth Anne Montgomery

Lorenz Adlung

Iddo Magen

Dirk Helbing

Abraham (Avi) Loeb

Odile Fillod

Hedwig Richter

Carl Safina

Rolf Pohl

Jens Foell

Jutta Weber

Lynn Hershman Leeson

Emilia Zenzile Roig

Dank

Hinweis

Inhaltsverzeichnis

»Wir haben die Gewalt gegen Frauen so normalisiert, dass es fast unmöglich ist, zu erkennen, dass es sich schlicht und ergreifend um Terrorismus handelt.«

Gespräch mit

Valerie M. Hudson

Professorin für Internationale Angelegenheiten an der Bush School of Government and Public Service der Texas A&M University. Forschungen zu nationaler Sicherheitspolitik, sozialwissenschaftlicher Methodologie, Gender und Geschlecht in den internationalen Beziehungen sowie zu den Auswirkungen von gezieltem Frauenmord (Femizid) auf die Gesellschaften

Guten Morgen, Frau Professor Hudson. Haben Sie sich heute schon um den Zustand der Welt gesorgt?

In der Tat sind meine Nebennieren von den nationalen und internationalen Turbulenzen der letzten Jahre ziemlich geschafft, und so ist letztlich auch mal die Sicherung in meinem Besorgnisschaltkreis durchgebrannt. Sagen wir einfach, ich bin jeden Tag sehr besorgt!

Das Aussterben der Menschheit ist ja auch kein Spektakel, dem man öfter beiwohnt. Bis es so weit ist – können Sie Ihre Tätigkeit in drei Sätzen beschreiben?

Ich bin Politikwissenschaftlerin und habe einen Stiftungslehrstuhl an der Bush School of Government and Public Service an der Texas A&M University. Meine beiden Forschungsschwerpunkte sind die außenpolitische Entscheidungsfindung und WPS – women, peace and security, also Frauen, Frieden und Sicherheit. Was Letzteres betrifft, so interessiere ich mich dafür, wie sich die Situation, der Status und die Sicherheit von Frauen auf die Sicherheit, Stabilität und Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft, in denen sie leben, auswirken.

Sie haben es wirklich in drei Sätzen geschafft. Hut ab. Mich interessiert heute hauptsächlich Ihre Forschung zu den Folgen des Geschlechterungleichgewichts. Erinnern Sie sich, wie Sie zu diesem speziellen Gebiet fanden?

Als ich während der letzten Jahre des Kalten Krieges meinen Doktor in Sicherheitspolitik machte, hätten Sie sämtliche Seminare des Studiengangs besuchen können und dabei nicht einmal mitbekommen, dass es Frauen auf dem Planeten Erde gibt. Das war eine völlig frauenlose Welt, in die ich da eingetaucht war. Auf meinem Lebensweg als Frau wurde mir klar, dass es sich hierbei um eine Karikatur handelte. Und ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass sich viele der Wurzeln dessen, was wir schätzen – Frieden, Freiheit, Demokratie –, aus der grundlegenden politischen Ordnung zwischen Männern und Frauen in der Gesellschaft ergeben. Man kann keinen Frieden auf der Welt haben, wenn es keinen Frieden zwischen Männern und Frauen gibt. Solange Frauen unfrei sind und kein Mitspracherecht bei der Entscheidung über ihre eigenen Lebensräume haben, wird es keine Freiheit und keine Demokratie geben.

Es gibt verschiedene Theorien zu den Ursachen von Misogynie. Manche besagen, sie begann mit dem Entstehen der monotheistischen Religionen. Dem gegenüber stehen jedoch die Initiationsriten junger Männer, die sich vom Weiblichen reinigen, um ein Mann zu werden. Wissen Sie mehr?

Aus meiner Sicht ist es eine Verknüpfung aus Evolution und kollektiven Entscheidungsprozessen innerhalb der Gemeinschaft. Religionen und Bräuche ergeben sich direkt daraus. Unser evolutionäres Erbe hat Männern einen Körper vermacht, der meist deutlich größer und deutlich stärker ist als jener der durchschnittlichen Frau. Darüber hinaus hat es die Evolution Männern ermöglicht, sich außerhalb ihres Körpers fortzupflanzen, während Frauen sich unter hohen körperlichen Belastungen in ihrem eigenen Körper fortpflanzen. Und schließlich hat es die Evolution Männern ermöglicht, Frauen gewaltsam zu befruchten.

Dennoch resultiert aus diesen drei Tatsachen keineswegs automatisch eine Ungleichstellung zwischen Männern und Frauen. Man könnte sich eine Gesellschaft vorstellen, die in diesem evolutionär bedingten Kontext lebt und dabei die Gleichstellung von Männern und Frauen anerkennt und sogar institutionalisiert. Doch wie wir sehen, herrschen in den meisten Gesellschaften der Welt Männer aufgrund dieses Sachverhalts über Frauen, und zwar ganz einfach, weil sie es können.

Die Erklärung für fast alles, was an Schwachsinn auf der Welt passiert. Weil sie es können. Frauen können eben oft leider nicht. Wenn sie schreien, klingt es schrill, wenn sie sich wehren, brauchen sie Waffen oder jahrelanges Kampftraining.

Ja. Für Männer sind andere Männer die wirkliche Bedrohung, nicht Frauen. Ein einzelner Mann in einer Welt von Männern, die bereit sind, Gewalt anzuwenden und Zwang auszuüben, um das zu bekommen, was sie wollen (und die diese Fähigkeiten durch die Dominanz über Frauen gelernt haben), ist de facto ein sehr unsicherer Mann.

Die Lösung für diese Art von männlicher Unsicherheit ist der Männerbund. Männer verspüren den Drang, zu irgendeiner Art von Männerbund zu gehören, und historisch gesehen wurde dies durch die männliche Familienlinie geschaffen. So stellen wir in den meisten Gesellschaften eine Betonung der Patrilinearität und der patrilokalen Ehe sowie der männerzentrierten Erb- und Eigentumsrechte fest. Diese sozialen Mechanismen bilden und stärken den Männerbund. Menschengruppen haben sich auf männlich geprägte, erweiterte Verwandtschaftsnetzwerke gestützt, um eine grundlegende physische Absicherung gegen andere Netzwerke zu gewährleisten – denken Sie an Clans, Stämme usw.

Um einen Männerbund zu etablieren, müssen sie ihm jedoch die Interessen sämtlicher Frauen unterordnen. Der Männerbund wird auf dem Rücken unterworfener Frauen errichtet. Und so umfassen die gesellschaftlichen Normen, die Patrilinearität, Patrilokalität, männerkontrolliertes Eigentum mit sich bringen, die Bevorzugung des Sohnes, das niedrige Heiratsalter für Mädchen, Brautpreis, Mitgift, Verwandtschaftsheirat, Polygamie, die Tötung weiblichen Nachwuchses, diskriminierendes Familienrecht und andere Praktiken, die Frauen entwerten und sie den Männern unterstellt halten.

Es ist alles ein großes Ganzes – entscheidet man sich für den Männerbund als Sicherheitsmechanismus in der Gesellschaft, so werden sich all diese anderen Dinge einstellen, die zur Subordination von Frauen führen.

Wenn man sich die Zahl der Vergewaltigungen und Morde, der Gewalt und der religiös begründeten Diskriminierung von Frauen weltweit ansieht, kann man von einem Krieg gegen Frauen sprechen.

Der Krieg gegen Frauen ist ein Nebenprodukt der gesellschaftlichen Entscheidung, den Männerbund gegenüber allen anderen Beziehungen zu begünstigen. In vielen solchen Gesellschaften ist beispielsweise die eheliche Bindung im Vergleich zur »Bruder«-Bindung recht schwach.

Darüber hinaus arbeiten Frauen häufig den Interessen der Männerbünde zu, nur um zu überleben; so ist beispielsweise die Feindseligkeit, die eine Schwiegermutter in solchen Gesellschaften gegenüber einer Schwiegertochter empfindet, geradezu mythisch.

Vermutlich könnte man mit Erziehung und einem Neu-Framing in einer bis zwei Generationen eine wirkliche Gleichberechtigung erreichen, oder?

Ich fürchte, die psychischen Kosten für die Abkehr vom Männerbund sind für viele Männer zu hoch. So geben zum Beispiel auch im Silicon Valley Risikokapitalgeber – und das sind fast ausschließlich Männer – den »Brüdern« Geld, selbst wenn deren Geschäft ein deutlich schlechteres Ergebnis aufweist als das von Frauenunternehmen.

Ist alles wieder einmal ganz einfach und nur durch das Kapital zu ändern. Also – wenn Frauen einen größeren Anteil am Weltkapital besäßen, stellte sich die Frage der Gleichberechtigung nicht mehr?

Ich denke, Sie haben recht, dass dies durchaus als eine Machtfunktion und nicht rein als Funktion des Geschlechts angesehen werden kann. Die Forschung zeigt uns, dass Menschen mit größerer Macht beispielsweise an Empathie verlieren. Wären Frauen körperlich doppelt so stark wie der Durchschnittsmann, würden sie die Männer unterordnen? Es ist sicherlich wertvoll, darüber nachzudenken.

Frauen, die im Besitz von Macht, und das heißt auch immer Kapital, sind, interessieren sich nur in Ausnahmefällen für feministische Themen.

Wenn Macht den Menschen die Fähigkeit zur Empathie nimmt, kann ich mir vorstellen, dass mächtige Frauen sehr leicht das Interesse am Leben der »normalen« Frauen verlieren könnten.

Abrupter Themenwechsel – Sie sind zu den Mormonen konvertiert, einer Glaubensgemeinschaft, über die populär nicht sehr viel bekannt ist. Wie legen Sie die Inhalte dieser Religion aus, und wie vertragen die sich mit Ihren Überzeugungen als Feministin?

Ich bin Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Es ist die einzige christliche Lehre, die den Standpunkt vertritt, dass Gott gleichermaßen den Himmlischen Vater und die Himmlische Mutter meint, welche miteinander verheiratet sind. Es ist die einzige Glaubensrichtung, die lehrt, dass Mutter Eva im Garten Eden nicht gesündigt hat, sondern dass sie mutig und weise war, als sie sich entschied, an der Frucht des Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse teilzuhaben, und dass Adam dafür zu danken ist, dass er auf sie gehört und ebenfalls mitgemacht hat. Es ist eine christliche Glaubensrichtung, die lehrt, dass Männer und Frauen voreinander und vor Gott als Gleichgestellte stehen und dass die Ehe eine aufrichtig gleiche Partnerschaft sein soll. Als Feministin in der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage setze ich mich dafür ein, dass meine Glaubensgemeinschaft den Privilegien dieser Lehre über die Beziehungen zwischen Mann und Frau gerecht wird, die auf der Erde eingerichtet wurde, damit wir in größerem Frieden und Glück leben können.

Sehr vereinfacht habe ich Religionen beziehungsweise deren Auslegung durch Männer immer für eine Mitursache für die Diskriminierung und Abwertung von Frauen gehalten. Ist das falsch?

Nein, Sie haben recht: Es ist so. Es ist wirklich seltsam, dass Religionen, die angeblich das Glück der Menschen anstreben, derart grobe Unwahrheiten vermitteln – dass Frauen den Männern unterlegen seien und dass Gott die Unterordnung von Frauen respektiere oder sogar begrüße –, denn diese Unwahrheit kann nur zu Elend für alle führen, für Männer und Frauen gleichermaßen. Es ist wirklich erstaunlich.

Gehen wir weiter zur gezielten Beseitigung weiblicher Babys beziehungsweise Abtreibung weiblicher Föten in Ländern, die oftmals auch als sehr religiös gelten. Ich vermute, die Anleitung zum Femizid steht selten in den alten Schriften. Basierte und basiert dieser Massenmord vornehmlich auf wirtschaftlichen Realitäten? Oder welche Ursachen gab und gibt es dafür?

Die unmittelbaren Ursachen sind natürlich wirtschaftlicher Natur, aber diese unmittelbaren Ursachen wurzeln in dem, worüber wir bereits gesprochen haben – dem Fokus auf die Bildung von Männerbünden als Instrument zur Gewährleistung der Sicherheit für die Gruppe. Haben Sie Patrilinearität, patrilokale Ehe und männlich orientierte Eigentumsrechte eingeführt, folgt umgehend die Abwertung der Töchter. Darüber hinaus wird die gesellschaftliche Norm angesichts der patrilinearen, patrilokalen, männlichen Kontrolle der Ressourcen-Situation zwangsläufig darin bestehen, dass es Söhne sind, die für die Betreuung ihrer Eltern im Alter verantwortlich sind. Sehen Sie, wie das alles auf ganz natürliche Weise zusammenhängt?

Ja. Ich muss gestehen, dass ich auf diese zwingende Erklärung noch nie gekommen bin. Da zeigt sich, wozu so eine wissenschaftliche Karriere gut ist.

Richtig.

Und anzumerken wäre noch: Warum sollte eine wirtschaftlich rationale Familie in einem solchen Kontext den Töchtern einen Wert beimessen? Selbst in Brautpreis-Gesellschaften haben Frauen nur einen instrumentellen Wert – ihnen wird nicht per se ein Wert zugeschrieben, sondern allein der Brautpreis, den sie beisteuern können.

In welchen Ländern ist der Mangel an Frauen besonders dramatisch, und wo wird weiterhin Femizid betrieben?

2015 haben meine Co-Autorin Andrea Den Boer und ich 19 Nationen mit abnormalen Geschlechterverhältnissen im Kindesalter identifiziert.

[Eine Liste der Länder mit einer markant hohen Rate an männlichen Jugendlichen, 1995 und 2015,finden Sie hier.]

Der Mangel an Frauen führt zum Beispiel in vielen ländlichen Gebieten Deutschlands, aus denen Frauen mangels Perspektiven weggezogen sind, zu einem drastischen Zuwachs an rechtsradikalem Gedankengut. Vermutlich ist das – wie so oft bei Rechtsradikalismus – der verzweifelten Suche nach männlicher Selbstbehauptung und dem homoerotischen Aspekt von Männerbünden geschuldet.

Welche Folgen können Sie aus anderen Ländern belegen?

Die Schlussfolgerung, die ich ziehe, ist, dass Nationen stabiler sind, wenn es ein ungefähr gleiches Verhältnis zwischen den Geschlechtern gibt. Sowohl Gesellschaften, in denen Frauen die Männerzahl deutlich übertreffen (z.B. Russland), als auch solche, in denen Männer die Frauenzahl deutlich übertreffen (z.B. China), leiden unter Instabilität. Die Anthropologin Barbara D. Miller hat vorgeschlagen, dass ein normales Geschlechterverhältnis zum Gemeinwohl zählt, das von der Regierung geschützt werden sollte, und ich stimme ihrer Einschätzung zu.

Deshalb war auch die große Zahl an Migranten 2015 unbeabsichtigt schädlich für Frauen, denn das waren überwiegend Männer und männliche Jugendliche, und das veränderte das Geschlechterverhältnis in einigen europäischen Ländern, beispielsweise in Schweden. Besonders Schweden hätte wachsam sein müssen, was diese potenzielle Beeinträchtigung seiner Errungenschaften in Sachen Gleichstellung von Männern und Frauen betrifft.

Ein hoch aufgeladenes Thema im Moment. Nicht nur in Schweden. Um das faktische Zahlenverhältnis von männlicher und weiblicher Population der Länder des Westens aufzuzählen, die in den letzten Jahren eine starke Zuwanderung von Geflüchteten erfahren haben, fehlt hier der Platz.

Gesellschaften mit Männerüberschuss zeichnen sich oft durch autokratische oder despotische Systeme mit besonders steilen Hierarchien aus.

Wir stellen fest, dass Gesellschaften mit einem großen Überschuss an Männern oft eine höhere Kriminalitätsrate und eine höhere Rate an Protesten, Aufständen, Bandenaktivitäten usw. aufweisen. Eine solche Instabilität führt in der Regel zu Forderungen nach Wiederherstellung der Ordnung, und ich denke, Europäer wissen sehr wohl, dass das Streben nach »Wiederherstellung der Ordnung« oft zur Förderung von Autokraten führt.

Ebenso haben Regierungen in solchen Gesellschaften oft Schwierigkeiten, sich dauerhaft den Respekt ihrer männlichen Bürger zu bewahren, und ahmen daher häufig stereotypes männliches Verhalten nach, etwa erhöhten Nationalismus, Anfälligkeit für Beleidigungen, strenge Gegenmaßnahmen bei vermeintlichen Unrechtmäßigkeiten usw. Auch dies nährt autokratische Anwandlungen.

Welche anderen Auswirkungen hat ein Männerüberschuss noch?

Eine ganze Menge – angefangen bei der zunehmenden Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten, dem Handel mit Frauen und Mädchen inner- und außerhalb der nationalen Grenzen über erhöhte Kriminalitäts- und Protestraten bis hin zu höheren Depressionsraten bei Männern usw. Auch das regierungsseitige Verhalten ist zu beachten, wozu Autokratie, Förderung der Auswanderung von Männern, große öffentliche Bauvorhaben und sogar ein verändertes Kalkül bei der Abschreckung gerechnet werden können, das heißt, dass Staaten weniger abgeneigt sein können, Zermürbungskriege zu führen.

Aus China ist bekannt, dass teilweise ein staatlich geleitetes Umdenken erfolgt. Eine Art Werbekampagne für das Leben von Frauen. Zeigen sich Erfolge? Welche Maßnahmen kann man noch ergreifen, um die Abwertung und Zerstörung weiblichen Lebens zu beenden?

Ja, das gab es – es hieß »Care for Girls«. Neben Methoden zur Bewusstseinsbildung gab es wirtschaftliche Anreize für Familien mit Töchtern – um der Zurückhaltung entgegenzuwirken, Töchter zu bekommen. So zum Beispiel der Erlass des Schulgeldes für solche Familien, die Option einer kleinen Elternrente, die bevorzugte Zulassung zu besseren Universitäten für Frauen aus Familien mit nur einer Tochter usw. Bekanntlich hat sich China 2015 für eine Zwei-Kinder-Politik entschieden, die auch dem sozialen Druck, einen Sohn zu bekommen, ein wenig entgegenwirkt. Ich sage »ein wenig«, denn wenn Ihr erstes Kind ein Mädchen ist, werden Sie mit ziemlicher Sicherheit wollen, dass Ihr zweites Kind ein Junge ist, und so wird es in diesen Fällen immer noch eine gewisse Manipulation des Geschlechterverhältnisses geben.

Aber das Entscheidende sind immer noch die Renten für ältere Menschen. Chinesische Eltern wissen, dass sich Töchter besser um sie kümmern werden als Söhne, aber die Norm ist, dass Söhne die erforderliche »Rente« erbringen. Wenn China seinen Senioren eine lebenswerte Rente gewährt, könnte es meiner Meinung nach den Rückgang seiner Geschlechterverteilung auf ein normales Niveau beschleunigen. Wir haben das zum Beispiel in Südkorea gesehen.

Männer, die nicht von Frauen reguliert werden, neigen noch mehr als sonst zu Gewalttaten. Gibt es dafür eine biologische Erklärung, oder ist das eher ein soziales Phänomen?

Es ist wahrscheinlich beides. Ungebundene Männer haben einen signifikant höheren Gehalt an zirkulierendem Testosteron, das stark mit Aggression und Dominanz zusammenhängt. Gleichzeitig gibt es eine soziale Komponente, weil ungebundene Männer normalerweise mit anderen ungebundenen Männern abhängen, und die subtile one-upmanship – die Praxis, einen Konkurrenten sukzessive zu übertreffen –, die der Hierarchie in rein männlichen Gruppen zugrunde liegt, beinhaltet in der Regel Anzeichen von Risikobereitschaft, Antisozialität, Dominanz und Gewalt, um Status zu erlangen.

Es wird relativ wenig über Femizid und dessen Auswirkungen berichtet, weil es sich »nur« um Frauen handelt.

Ja, wir haben die Gewalt gegen Frauen so normalisiert, dass es fast unmöglich ist, zu erkennen, dass es sich schlicht und ergreifend um Terrorismus handelt. Wenn wir es Terrorismus nennen – denn das ist es wirklich –, würden die Nationen dem Thema mehr Aufmerksamkeit widmen? So zeigen zum Beispiel Studien, dass die große Mehrheit der Amokschützen in den USA in der Vergangenheit entweder formelle oder schwere Anschuldigungen wegen häuslicher Gewalt hatte – warum wird das vom FBI nicht als auffällig taxiert? Warum gibt es keine »Überwachungsliste für inländischen Terror«, auf der sich auch inländische Missbrauchstäter befinden?

Sind Sie mitunter wütend, wenn Sie an die unglaublichen Gewalttaten denken, die Frauen erfahren, oder schützt Sie Ihr wissenschaftliches Denken vor Gefühlen, die nichts zu einer Veränderung der Welt beitragen?

Oh, als ich anfing, diese Art von Forschung zu betreiben, gab es Zeiten, in denen ich die Tür zu meinem Büro schloss, auf den Boden fiel und einfach weinte. Aber im Laufe der Zeit wurde mir klar, dass ich mindestens zwei Dinge tun konnte. Erstens konnte ich auf ewig dokumentieren, was mit Frauen geschieht, damit alle Welt es sehen und nicht behaupten kann, dass niemand davon Kenntnis hätte. Deshalb haben wir unsere Datenbank, The WomanStats Database, online gestellt und sie komplett kostenlos zugänglich gemacht. Zweitens kann ich diese Datenbank nutzen, um aufwendige Forschung zu ermöglichen, was dazu beitragen kann, »Frauenfragen« auf der Liste der Prioritäten politischer Entscheidungsträger auf nationaler und internationaler Ebene nach oben zu rücken.

Ich kann die Frauen, von denen ich gelesen habe, nicht retten, aber ich kann sicher sein, dass sie nie vergessen werden und dass das, was mit ihnen geschieht, dazu beitragen kann, unser Verständnis darüber zu verändern, warum Nationen instabil sind. Aber es gibt noch genügend Gelegenheit zum Weinen, trotz alledem … Meine wissenschaftlichen Mitarbeiter durchlaufen alle Phasen der Trauer, wenn sie sich WomanStats anschließen – Trauer, Zorn, Entschlossenheit. Diese Gefühle sind lebenswichtig und sollten nicht unterdrückt werden.

Ich reiche Ihnen die Hand über den Atlantik. Und danke Ihnen für Ihre Arbeit.

 

Apropos Liebe: Es ist möglich, Nachkommen komplett ohne Spermien – und also ohne männliche Teilnahme – bei Mäusen zu züchten. Könnte das Wissen, die Ahnung der Männer um ihre Ersetzbarkeit einen Anteil am aktuellen patriarchalen Backlash der Systeme haben?

Na ja, nein, denn es gibt auch Gruppen von überwiegend männlichen Wissenschaftlern, die die Ektogenese perfektionieren wollen – also Empfängnis und Geburt, ohne dass Frauen involviert sind. Sie tun dies, indem sie männliche Stammzellen zwingen, zu pluripotenten Zellen zu werden, die in der Lage sind, Eierstöcke zu werden, und auch durch die Schaffung künstlicher Gebärmütter.

In einem dystopischen Albtraum ist unklar, welche Seite die andere zuerst überflüssig macht. Deshalb ist es für Männer und Frauen so wichtig, herauszufinden, wie sie in Gleichheit und Frieden zusammenleben können. Es muss keinen Geschlechterkrieg geben.

Jetzt haben Sie meine Hoffnung zerstört. Ich hatte angenommen, die Fortpflanzung ohne männliche Beteiligung wäre ein angenehmer Ausweg. Wobei – vielleicht gibt es ja ohnehin bald ein erfreuliches Aussterben unserer Spezies. Oder fällt Ihnen noch etwas Positives ein?

Seit der Jahrhundertwende sind mehrere wichtige positive Entwicklungen für Frauen zu verzeichnen. Wir haben die Müttersterblichkeit um fast die Hälfte gesenkt (Lob an China, dass es hier die Verantwortung dafür übernommen hat), wir haben weltweit eine praktisch paritätische Einschulungsrate für Jungen und Mädchen, und der Frauenanteil in den nationalen Parlamenten scheint in fast jeder Nation (wenn auch langsam) im Laufe der Zeit zu steigen.

Gleichzeitig ist aber auch deutlich geworden, dass diese Fortschritte nicht ausreichen, um die Geschlechtergleichstellung zu erreichen.

Nein, im Gegenteil. Mit jedem kleinen Fortschritt – etwa die von Ihnen angesprochene Beteiligung von Frauen an Regierung und Wirtschaft – folgt, wie es scheint, eine Welle von Rückschlägen. Autokraten, die auch in Europa wieder über Frauenkörper bestimmen, Gewalt gegen Frauen usw.

Glauben Sie, dass es irgendwann eine wirkliche Gleichberechtigung aller Menschen geben wird, oder entspricht das nicht der eingeschriebenen Neigung der Menschen, andere zu beherrschen, sich zu erhöhen, und letztlich auch ihrem Hang zu Brutalität und Grausamkeit?

Ich bin eine ausgelaugte Optimistin. Das heißt, als Gläubige glaube ich, dass es einen Tag geben wird, an dem alle in Frieden leben werden, sogar der Löwe und das Lamm, der Mann und die Frau. Als Ehefrau und Mutter glaube ich, dass mein Zuhause ein Ort ist, an dem die Gleichstellung von Mann und Frau jeden Tag praktiziert wird; deshalb habe ich diese Möglichkeit mit meinen eigenen Augen gesehen.

Und doch sehen wir auf der ganzen Welt Gesellschaften, die von Traditionen und Kulturen durchdrungen sind, die Dominanz und Gewalt rechtfertigen, ja sogar aufwerten – insbesondere jene gegen Frauen. Ich sehe Statistiken, die darauf hindeuten, dass 80 Prozent unserer jungen Männer täglich oder wöchentlich Pornografie konsumieren, und das erschüttert mich. Ich kann nur meinen Kindern und meinen Schülern beibringen, dass der Weg zu einer sicheren Gesellschaft der Weg der Gleichstellung von Männern und Frauen ist. Es gibt keinen anderen Weg.

Haben Sie einen tröstlichen positiven Schlussappell?

Kein männliches Baby wird auf diesem Planeten mit der Veranlagung geboren, Frauen zu verletzen und zu unterwerfen. Es ist tatsächlich eine Frau, die diesen Jungen geboren hat, ihn geliebt und am Leben erhalten hat. Kein weibliches Baby wird auf diesem Planeten mit der Bereitschaft geboren, sich unterzuordnen und Gewalt zu akzeptieren. Unsere Kinder werden frei geboren; wenn wir ihnen beibringen, ohne das Elend und das Leid zu leben, das durch die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen verursacht wird, können sie frei bleiben. Die Zukunft, die stromabwärts liegt, könnte klar und rein sein. Ist das nicht den Preis wert?

Frau Professor, ich danke Ihnen für den Trost und Ihre Zeit.

Inhaltsverzeichnis

»Es gibt keine ›alternativlose Politik‹, wie uns jahrelang in Deutschland eingehämmert worden ist. Deshalb ist auch der Kampf nicht aussichtslos, und sei es nur, um Schlimmeres zu verhindern.«

Gespräch mit

Wilhelm Heitmeyer

Soziologe und Gründer des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld (als Direktor: 1996 bis 2013). Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher – zuletzt: »Autoritäre Versuchungen« (2018)

Guten Morgen, Herr Heitmeyer, haben Sie sich heute schon um den Zustand der Welt gesorgt?

Den tatsächlichen Zustand der Welt kann man eigentlich gar nicht kennen, sondern bekanntlich nur das, was man »geliefert« bekommt – und was man wahrnehmen kann und will. Und selbst diese kleinen Ausschnitte müssen in Wut versetzen angesichts der strukturellen Gewalt, wie es Johan Galtung ausgedrückt hat. Es sind dann nicht nur die Gewaltakteure, die es bekanntlich zuhauf gibt, sondern auch die gezielt geschaffenen Strukturen, die aus sich selbst heraus die Bedingungen eines menschenwürdigen Lebens tagtäglich zertrümmern. Und dies sind nicht nur die materiellen Bedingungen, sondern auch immer mehr die kulturellen und informationellen Strukturen, die potenziell die Gewalt in sich tragen.

Nun wäre es anmaßend, mich als Gewissen der Welt aufzuspielen, über alles zu fluchen, was gerade passiert. Auch deshalb, weil ich das meiste, was an Scheußlichkeiten passiert, ja gar nicht begreife und nicht im Entferntesten kenne. Selbst bei meinen intensivsten Informationsanstrengungen, die ich jeden Tag unternehme.

Die innere Feinabstimmung zwischen der Notwendigkeit, informiert zu sein, um in der Zeit verankert zu bleiben, und der absoluten Überforderung ist heikel.

Man muss vorsichtig sein. Es gibt die präventive Wirkung des Nichtwissens, damit man nicht handlungsunfähig wird. Lähmung ist ja ein Element des Geschäftsmodells, um nicht tätig werden zu können.

Sie begannen in den 1980er-Jahren mit Ihren Forschungen zu gewaltbereitem Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Sie prägten den Begriff »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« und entwickelten die Theorie sozialer Desintegration, um Gewalt zu erklären. Erinnern Sie sich an die Auslöser für Ihre Forschungen?

Einen Auslöser wie etwa einen Schalter, durch den plötzlich etwas angeknipst wird, gab es nicht. Es waren Alltagsbeobachtungen bei Jugendlichen mit ihrer Sprache und den dahintersteckenden Einstellungen – ohne dass sie rechtsextremen Gruppen angehörten.

Die erste empirische Untersuchung zu rechtsextremistischen Orientierungen von 1987 hat dann für viel öffentliche Aufmerksamkeit und Widerstand gesorgt. »Das ist alles Unsinn. Unsere Jugend hat ihre historische Lektion gelernt«, hieß es etwa. Für einen damals relativ jungen Wissenschaftler war das keine angenehme Situation. Ich war offensichtlich zu früh mit solchen Ergebnissen.

Oder die Institutionen waren noch mit zu vielen Mitarbeitern besetzt, die in Hitlers Regime auch Gutes gesehen hatten?

In der Nachkriegszeit gab es in zahlreichen Institutionen der neuen Bundesrepublik bekanntermaßen alte Nazis, die aus heutiger Sicht geradezu unvorstellbare Karrieren gemacht haben, etwa als Juristen in den Verwaltungen und auch in den Geheimdiensten.

Nun ist diese Generation längst außer Dienst beziehungsweise verstorben. Auf diese Weise hat das natürlich kein politisches Ende genommen, denn das kam ja für die Personen biologisch zu einem Ende.

Heute ist wieder sehr genau zu beobachten, was sich in den mit dem Gewaltmonopol ausgestatteten Institutionen wie Polizei und Bundeswehr vollzieht. Die aufgedeckten Fälle werden immer wieder als Einzelfälle deklariert – wie eh und je –, obwohl wir es nicht wissen und doch mit guten Gründen bezweifeln können. Unabhängige Untersuchungen dazu gibt es nicht und würden wahrscheinlich auch nicht zugelassen. Und der deutsche Inlandsgeheimdienst, die Verfassungsschutzämter der Länder und des Bundes haben gerade auch im Zusammenhang mit den Verbrechen des Nationalsozialistischen Untergrunds, des NSU, ja absolut versagt. Bis heute werden zum Teil die Akten nicht öffentlich, mit denen man die Rolle der verschiedenen staatlichen Akteure aufklären könnte.

Gab es noch mehr Ablehnung außer der behördlich-institutionellen?

Ja, zum Beispiel bei den frühen Forschungen zu den Verbindungen von Rechtsextremismus und Hooligans in den Fußballstadien. Auch da war der öffentliche Widerstand, vor allem von den gewinnmaximierenden Profivereinen, immens: »Der will uns unsere Fans diffamieren.«

Und schließlich löste die erste – sehr frühe – empirische Untersuchung in Deutschland zu islamistischen Einstellungen bei türkischstämmigen muslimischen Jugendlichen, die ich 1997 veröffentlicht habe, das Härteste an Angriffen und Diffamierungen aus, was ich bisher erlebt habe. »Das ist ein Kulturrassist« war noch die gnädigste Charakterisierung.

Kurz gesagt war die möglichst frühzeitige, sensible Wahrnehmung von aufkommenden Problemen der Hintergrund dieser Arbeit. Aber: Wer zu früh bestimmte Probleme aufwirft, der muss mit Abstrafungen rechnen durch Medien, Wissenschaftler und auch die Politik.

An einem typischen Tag wird man beispielsweise mit diesen Nachrichten konfrontiert: Alabama verabschiedet ein Gesetz gegen Abtreibung. Egal, ob es sich um eine Schwangerschaft nach einer Vergewaltigung oder einem Inzest handelt, egal, ob das Ungeborene schwere Missbildungen aufweist. Weiter lese ich, dass Schweizer Krankenkassen diverse Krebstherapien sowie die Rehabilitation nach Schlaganfällen und Infarkten nicht mehr ohne Weiteres bezahlen. Wie kann ich verhindern, mich angesichts dieser Fülle von Schwachsinn zum hassenden Menschen zu entwickeln?

Es fällt schwer, das zu verhindern. Aber es ist gerade aus der Perspektive der Akteure kein Schwachsinn, sondern reines Machtkalkül, mit Gewalt angefüllt. Ihr erstes Beispiel ist religiös aufgeladen, das zweite Beispiel die kapitalistische Gewaltdemonstration gegenüber Leiden. Der Weg in den eigenen Hass ist dann nicht weit.

Aber es ist Vorsicht geboten, weil man sich damit selbst verletzt und sich gemeinmacht mit jenen Akteuren, die solche Gesetze durchsetzen oder solche Kalkulationen anstellen. Um sich dem nicht auszuliefern, muss man sich meines Erachtens auf die Reichweiten des eigenen Tuns besinnen. Also auf seinen Alltag, und dort massiv die Stimme erheben, damit man morgens noch in den Spiegel sehen kann – ohne zu erschrecken. Es kostet viel Kraft, im Verwandtenkreis, im Freundeskreis, im Sportverein, in der Kirchgemeinde die Stimme zu erheben – und ohnehin, wenn man Zugang zu Medien hat. Gerade im nahen Umfeld kostet das enorm viel Energie und ist mit hohen sozialen Kostenrisiken verbunden. Übrigens viel höhere als bei großen Demonstrationen – die zweifellos notwendig sind, um die Grundnormen der Gesellschaft immer wieder öffentlich zu befestigen –, denn dort ist man »unter sich« mit wohligem Gefühl, während man bei Interventionen im sozialen Nahraum immer Gefahr läuft, allein dazustehen, und viel verlieren kann. Dazu muss man schon hart trainieren.

Apropos hart bleiben: Haben Ihre vor dreißig Jahren begonnenen Studien zu irgendeiner Reaktion der Regierung geführt?

In der Regel kann ich sagen, dass die Reichweite von Wissenschaft doch sehr gering ist. Das gilt vor allem für missliebige Themen, die zeigen, was schiefläuft. Das liegt zum größten Teil daran, dass alles, was eine Regierung tut, als Erfolg dargestellt werden muss. Da waren meine Forschungen, insbesondere bei konservativen Parteien, immer störend. Also am besten: ignorieren, zurückweisen und diffamieren. Damit haben wir reichliche Erfahrungen gemacht.

Die Wissenschaftsfeindlichkeit ist keine Erfindung der neuen Rechten.

Nun, Wissenschaft, zumal Sozialwissenschaft, hat immer »kurze Arme«, weil sie keinen finanziellen Mehrwert in unserer kapitalistischen Gesellschaft verspricht. Sie ist störend. Ja, sie muss störend sein, man muss Sand ins Getriebe werfen. Und man muss insistieren. Immer wieder, trotz aller Frustrationen. Ich kann nicht verhehlen, dass es auch zermürbend sein kann, dass die inzwischen jahrzehntelangen, empirisch belegten Warnungen vor den politischen Entwicklungen nach rechts in ihren unterschiedlichen brutalen Formen bis hinein in die vornehme »rohe Bürgerlichkeit« immer wieder aggressiv als »Nestbeschmutzung« der deutschen Gesellschaft zurückgewiesen werden.

Entwicklungen verlaufen oft wellenförmig, vorwärts, rückwärts. Aber am Ende hat sich doch viel zum Besseren verändert auf der Welt.

Ja. Sie erwähnten den Begriff der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Damit ist gemeint, dass Menschen allein aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit und unabhängig von ihrem individuellen Verhalten zum Ziel von Abwertung, Diskriminierung und auch Gewalt werden. Es ist ein Konzept, das über Rassismus hinausreicht, also auch Obdachlose, Schwule und Lesben, Muslime, Juden, Behinderte, Flüchtlinge etc. umfasst.

Dazu habe ich mit einer Forschungsgruppe von 2002 bis 2011 jährliche, repräsentative Bevölkerungsbefragungen über Ausmaße, Entwicklungen und Erklärungen durchgeführt und in der Reihe »Deutsche Zustände« jedes Jahr publiziert – neben vielen wissenschaftlichen und journalistischen Artikeln und Hunderten von Vorträgen in allen möglichen gesellschaftlichen Institutionen.

Durch dieses Insistieren ist es gelungen, dass der Begriff der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in die Institutionen gewissermaßen »eingedrungen« ist und eine neue, breite Sensibilisierung erzeugt hat, die sich nicht nur auf Rassismus begrenzt.

Aber auch da gab es Widerstände. Die Wochenzeitung »Die Zeit« hat zum Beispiel 2008 die langjährige Zusammenarbeit abrupt beendet mit dem Hinweis, ich würde mit den empirischen Ergebnissen die wunderbare deutsche Gesellschaft gewissermaßen »kaputtschreiben«. So viel zu angeblich weitsichtigen journalistischen Intellektuellen.

In der empirischen Forschung geht man davon aus, dass in jeder Gesellschaft ein Teil der Bevölkerung eine faschistische Einstellung aufweist. Momentan hat man das Gefühl, die Rechtsnationalen würden die Welt beherrschen. Verzerrte Wahrnehmung durch Hysterie befeuernde Medien oder Realität?

Dass es aktuell so aussieht, als ob ein großes Unterstützungspotenzial vorhanden ist, hat mit mehreren Faktoren zu tun. Da sind zum einen die realen Probleme der großen Unsicherheiten durch die schnellen Wandlungsprozesse und Krisen, etwa die Flüchtlingskrise. Dadurch sind in weiten Teilen der Bevölkerung eine Nervosität und eine Aufgeregtheit entstanden, die durch die ständigen Provokationen und Grenzüberschreitungen der rechten beziehungsweise rechtsextremen Akteure in immer neuen sprachlichen Eskalationsschleifen in die öffentliche Agenda gelangen, sei das in Nachrichten oder in Talkshows. Hier setzt das Marktmodell der konkurrierenden Medien als Vervielfältigungsmechanismus ein. Da Medien nur dann »mehr vom Gleichen« berichten, wenn an der sprachlich-provokativen Eskalationsschraube mit immer neuen Diffamierungen etwa von Flüchtlingen und Bedrohungsszenarien (»Der große Bevölkerungsaustausch in Deutschland und Europa«) gedreht wird, erscheint das Unterstützungspotenzial so hoch.

Hinzu kommt im Alltag die Gefahr der sogenannten »Schweigespirale«. Diese Theorie besagt, dass Menschen ihre eigenen gruppenbezogenen menschenfeindlichen Einstellungen für sich behalten oder nur im privaten Kreis äußern, solange sie den Eindruck haben, sie seien nur eine Minderheit in der Gesellschaft. Gewinnen sie aber den Eindruck, sie seien Teil einer Mehrheit, die so denkt, also im Freundes- und Verwandtenkreis, am Arbeitsplatz oder in der Kirchengemeinde, dann »hauen« sie ihre Sprüche lautstark raus und erzeugen dadurch neue Normalitätsstandards. Dieser Prozess ist gefährlich, weil er den Alltag verändert, den dann auch große Massendemonstrationen (»Wir sind viele«) nicht mehr drehen können, denn alles, was als normal gilt im Alltag, kann man zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr problematisieren.

Wenn Bevölkerungsschichten die Demokratie ablehnen, sich einen Führer wünschen, wenn es die Machtbesessenheit einiger Männer schon immer gab, warum bedroht sie humanistische Menschen heute so sehr?

Weltweit gab es immer rechte und rechtsextreme Gruppierungen und Regimes wie in Südamerika oder die Milizbewegung in den USA. Das relativ Neue und Überraschende vollzieht sich in Europa, das sich als entwickelte Zivilisation begreift. Der amerikanische Politologe Francis Fukuyama hat sogar Anfang der 90er-Jahre vom »Ende der Geschichte« gesprochen und von der Vollendung der liberalen Demokratie. Ich habe das schon 2001 in einem Aufsatz zu den Schattenseiten der Globalisierung als gefährlichen Unsinn bezeichnet und die These vertreten, dass ein autoritärer Kapitalismus im Zusammenwirken mit sozialer Desintegration und Demokratieentleerung zu einem Aufkommen eines rabiaten Rechtspopulismus führen würde.

Diese These gewinnt inzwischen immer mehr an Gewicht, zumal wir seit der Jahrtausendwende »entsicherte Jahrzehnte« erleben müssen. Dazu gehören vor allem die verschiedenen Krisen, wobei nicht alles, was sich verändert, eine Krise ist. Sie ist dann gegeben, wenn die sozialen und politischen Routinen nicht mehr funktionieren und der Zustand vor der Krise nicht wiederherstellbar ist. Solche Konstellationen ergaben sich beginnend 2001 mit dem Anschlag auf das World Trade Center, dann 2005 mit der Hartz-IV-Krise, dann 2008/2009 mit der Finanz- und Bankenkrise sowie 2015 mit der Flüchtlingskrise. Hier setzen Kontrollverluste ein, die für gesellschaftliche Entwicklungen sehr gefährlich sind und von denen primär alle politischen Varianten im rechten Spektrum profitieren. Das Geschäftsmodell funktioniert dann so, dass einerseits die Kontrollverluste besonders betont werden und mit Szenarien des Untergangs, etwa des deutschen Volkes, operiert wird und andererseits die Wiederherstellung der Kontrolle propagiert wird mit dem Konzept einer geschlossenen Gesellschaft und einer autoritären, illiberalen Demokratie.

Die genannten Krisen haben einen globalen Hintergrund und sind kein »Naturereignis«, für das niemand verantwortlich ist. Der neoliberale Kapitalismus hat in den vergangenen Jahrzehnten einen ungeheuren Kontrollgewinn erzielt, das heißt, er konnte seine Prinzipien überall ungehindert durchsetzen, mit immer neuen »Landnahmen« in der Ökonomie, und damit in die Gesellschaft eindringen. Dagegen musste die nationalstaatliche Politik – auch aufgrund eigenen Zutuns – riesige Kontrollverluste hinnehmen gegenüber dem »gefräßigen« Kapitalismus, und die internationalen Institutionen waren nicht in der Lage, diesen Prozess einzuhegen, wie das zum Beispiel nach dem Zweiten Weltkrieg noch möglich war.

Nicht zu vernachlässigen ist die Überforderung des Einzelnen in einer Zeit, die sich exponentiell beschleunigt, als Ursache für die Sehnsucht nach Ordnung und Überschaubarkeit – glauben Sie, es gibt den einen großen Plan, also das Pendant zum Kampfbegriff der Umvolkung der Rechten?

Ob es einen Plan hinter dem Ganzen gibt, zielt auf die Frage nach Verschwörungstheorien. Von solchen Ansätzen halte ich gar nichts, weil diese aufgezeigten Krisen nicht planbar sind.

Gleichwohl muss es besorgt machen, mit welcher Vehemenz sich Verschwörungstheorien heute verbreiten, insbesondere mit antisemitischer Zielrichtung. Dahinter liegt bei denjenigen, die diesen Theorien folgen, vor allem ein subjektiv wahrgenommener Kontrollverlust, der Unsicherheit erzeugt. Die Verschwörungstheorien suggerieren ihnen Sicherheit durch die Feindbilder. Hier setzen die Vertreter des rechten und rechtsextremen Spektrums erfolgreich an.

Die Unterstützung durch Milliardäre wie die Koch-Brüder [David H. Koch, R. I. P.] und Bob Mercer, das organisierte, fast paramilitärische Agieren im Netz, die geschickte Auslegung der demokratischen Grundrechte, um die Demokratie abzuschaffen: Das klingt nach lange vorbereiteter Organisation, auf die humanistische Kräfte bisher nur verspätet reagieren konnten.