PNR: La Bella Vita - Sibylle Berg - E-Book

PNR: La Bella Vita E-Book

Sibylle Berg

0,0
22,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Revolution machen kann (fast) jeder. Eine neue Gesellschaftsordnung aufbauen: das schaffen nur ein paar Nerds. Und Sibylle Berg. Nach einer gelungenen Revolution, die das Finanz- und Gesellschaftssystem sanft beseitigt hat, wird sie endlich errichtet: die schöne neue Welt nach dem Kapitalismus. In dieser Welt ist alles verschwunden, woran die Menschen zu glauben gelernt hatten, in der jeder erstaunt bemerkt – dass es möglich ist, ohne Angst zu existieren und ohne sein Leben an einen Arbeitgeber zu verkaufen. Vom Wohnen bis zur Landwirtschaft, von der Art Urlaub zu machen bis zu der Frage: Wohin mit der Bürokratie? erfindet sich Europa neu. Aber:  Was interessiert Don Europa? Sie ist in Italien, dem besten Ort, um auf Ruinen etwas Neues zu errichten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 418

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sibylle Berg

PNR: La Bella Vita

Roman

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Über Sibylle Berg

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

zur Kurzübersicht

Über Sibylle Berg

Sibylle Berg lebt in Zürich. Ihr Werk umfasst 27 Theaterstücke, 15 Bücher und wurde in 34 Sprachen übersetzt. Berg ist Herausgeberin von drei Büchern und verfasst Hörspiele und Essays. Sie erhielt diverse Preise und Auszeichnungen, u. a. den Schweizer Buchpreis, den Grand Prix Literatur, den Bertolt-Brecht-Preis und den Johann-Peter-Hebel-Preis. Seit 2024 ist sie Mitglied des Europäischen Parlaments. Bei Kiepenheuer & Witsch erschienen zuletzt die Romane »GRM/Brainfuck« (2019) und »RCE« (2022) sowie der Gesprächsband »Nerds retten die Welt« (2020) und der Gedichtband »Try Praying« (2024).

zur Kurzübersicht

Über dieses Buch

Es gibt die klügsten Analysen zur Zeit des Spätkapitalismus, man kann sie auf einen Satz verkürzen: Das System ist nicht besonders nachhaltig, es frisst seinen Wirt und damit – uns. Es gibt viele kleine Ideen, die Welt zu retten, kleine Reformen, großartige Erfindungen, Entwürfe und Reformversuche, aber es gibt innerhalb des bestehenden Systems keinen Ausweg: Es muss etwas Neues her, ein neues Gesellschaftssystem, ein letzter Versuch. Und hier beginnt die Hoffnung. »La Bella Vita« ist eine mögliche Utopie, eine Anleitung zum Überleben. Der literarische Versuch dessen, was menschenmöglich wäre. Ein Europa ohne Wohnungsnot, ohne Arbeitgeber, steigende Preise und dauernde Panik. Hier ist sie, die erste Bauanleitung eines Lebens ohne Klassen, Hierarchien, ohne Machtverhältnisse, Staatsgewalt, ohne Kriege, Politiker und Kapital.

Uff, geschafft, endlich! Da ist es, das schöne Leben.

KiWi-NEWSLETTER

jetzt abonnieren

Impressum

Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KGBahnhofsvorplatz 150667 Köln

© 2025, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung und -motive: © Claus Richter

 

ISBN978-3-462-31075-7

 

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt. Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen der Inhalte kommen. Jede unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt.

 

Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.

 

Alle im Text enthaltenen externen Links begründen keine inhaltliche Verantwortung des Verlages, sondern sind allein von dem jeweiligen Dienstanbieter zu verantworten. Der Verlag hat die verlinkten externen Seiten zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung sorgfältig überprüft, mögliche Rechtsverstöße waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Auf spätere Veränderungen besteht keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Inhaltsverzeichnis

Ich bin Don

0. Kapitel

1. In Anerkennung der Würde jedes fühlenden Wesens, im Geist der gegenseitigen Hilfe, der freiwilligen Assoziation und der Ablehnung jeder Form von Herrschaft, erklären wir diese Verfassung der Freien Kommunen.

2. Jeder Mensch hat das Recht auf sicheren Wohnraum. Die Pflicht der Bewohner besteht in der Verwaltung und im Unterhalt des von ihnen genutzten Wohnraumes.

3. Wohnraum darf nie zur Bereicherung und zur Spekulation genutzt werden.

4. Glaubt, woran ihr wollt.

5. Es gibt weder Zensur noch Diffamierung unterschiedlicher Ansichten.

6. Und nun gelten sie wieder: Die Menschenrechte!

7. Es gibt keine Normalität.

8. Es findet keinerlei kognitive Manipulation der Menschen statt.

9. Europa fördert die regionale, soziale, kulturelle Integration zwischen den ehemaligen Staaten, die heute zu einer europäischen Anarchie verschmolzen sind. Oder verschmelzen werden.

10. Die kleinste Einheit ist die selbst verwaltete Kommune.

11. Keine Einzelperson und kein Teil des Volkes kann die Ausübung der Souveränität beanspruchen.

12. Jedem Menschen steht das Recht auf eine selbstbestimmte Tätigkeit zu. Jeder kann Unternehmen gründen, Produktionsstätten bauen, Geschäfte eröffnen. Keinem steht das Recht zu, andere für den eigenen Profit auszubeuten.

13. Es gibt keinen Grund, Bargeld abzuschaffen, außer die Gesellschaft entscheidet sich für ein Leben ohne Geld.

14. Künstliche Intelligenz gibt es nicht.

15. Keine Herrschaft, keine Eigentumstitel, nur geteilte Verantwortung.

16. Es gilt die Dreieinhalb-Tage-Woche.

17. Die Basis des Zusammenlebens ist der radikale Universalismus!

18. Europa ist neutral. Wir belehren andere Länder nicht, mischen uns nicht in Konflikte ein, urteilen nicht.

19. Jeder Versuch, Menschen auszubeuten, wird zerschlagen.

20. Europa bekennt sich zur Anarchie und respektiert jeden Einzelnen, jedes Kollektiv, jede autonome Gruppe und bekämpft jedes Herrschaftsbestreben.

21. Digitale Tools dienen der Mitbestimmung, nicht der Überwachung.

22. Jeder Mensch hat das Recht auf einen erholsamen Schlaf.

23. Jeder hat das Recht, Drogen zu nehmen, jeder hat das uneingeschränkte Verfügungsrecht über seinen Körper.

24. Diese Gesellschaft erkennt die Gleichwertigkeit allen Lebens an und stellt sich in den Dienst der Erde.

25. Patente werden nicht erteilt. Jede Erfindung, jede Neuentwicklung ist Eigentum der Bevölkerung, kann von anderen verbessert und genutzt werden.

26. Seid, was immer ihr wollt.

27. Das uneingeschränkte Recht am eigenen Körper beinhaltet das Recht zu sterben, wie und mit wessen Hilfe man will.

28. Es gibt keine Gesetze, nur gemeinschaftlich entwickelte Vereinbarungen.

29. Jede Gemeinschaft kann autonom agieren, solange sie andere nicht unterdrückt.

30. Alle Macht über die Gestaltung von privatem und gesellschaftlichem Leben liegt bei den Menschen.

31. Jedem steht es frei, Güter zu besitzen, wenn sie weder von der Gemeinschaft entwendet wurden und/oder die Gemeinschaft für den Unterhalt privaten Besitzes verantwortlich gemacht werden soll.

32. Das Ziel ist: Die Abschaffung des Geldes.

33. Jede Meinung ist gleichwertig. Der Diskurs wird unterstützt.

34. Keine Religion oder Weltanschauung darf offizielle Religion oder Weltanschauung sein.

35. Die nationalen Embleme Europas sind die Flagge, das Wappen und die Europahymne. Weil es lustig ist.

36. Der Mensch ist frei, wenn er spielt. Eine Gesellschaft der Spielenden ist eine Gesellschaft der Freiheit, Kreativität und Liebe.

37. Wir sind keine Wähler, Patienten, Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Steuerzahler. Wir sind weder Volk noch Bevölkerungen, wir sind Menschen.

38. Niemand wird gezwungen, keiner ausgeschlossen.

39. Europas AnarchistInnen erkennen die Würde, die Freiheit, die substanzielle Gleichheit des Menschen und seine untrennbare Beziehung zur Natur als intrinsische und unveräußerliche Werte an.

40. Die Medien sind von jedem Einfluss unabhängig und frei in allen ihren Inhalten.

41. Es gibt weder Zwang noch Zwangsmittel.

42. Es gibt keinen Staat, der Regeln durchsetzen kann. Ordnungssysteme müssen von den Menschen erstellt und gewollt werden.

43. Es gibt keine Institution, keine Gruppierung, die das Recht hat, die privaten Meinungen und Ansichten der Menschen auf Faktengehalt und auf Richtigkeit zu überprüfen und zu werten.

44. Kunst darf alles.

45. Kein Kollektiv darf ein anderes beschränken.

46. Effizienz ist unter keinen Umständen ein ernst zu nehmender Faktor.

47. Europa erzeugt ausreichend Nahrung, um seine Bevölkerung ohne Mangel zu versorgen.

48. Produktionsmittel gehören allen; Arbeit wird solidarisch organisiert.

49. Der Boden gehört allen!

50. Auch deutsche Menschen sind Menschen.

51. Jede Form von Denunziation und Bespitzelung ist abstoßend und abzulehnen. Das inkludiert auch PrivatdetektivInnen.

52. Kein Mensch darf off- oder online ausgespäht, überwacht, beurteilt werden. Kein Mensch darf durch eine AI beurteilt, bewertet, kategorisiert werden.

53. Der Zugang zur Natur, zu Seen, dem Meer, Wäldern an jeder Stelle ist allen Menschen zu gewährleisten.

54. Nicht nur Menschen, auch nicht menschliche Wesen haben Rechte.

55. Eine Welt ohne Staat, Kapitalismus, Patriarchat, Rassismus, Sexismus zu denken ist die Aufgabe.

56. Waffen werden nicht mehr hergestellt. Armeen werden abgeschafft.

57. Entscheidungen werden im Licht der Vergangenheit getroffen.

58. Von Europa wird kein Krieg ausgehen, noch wird sich Europa an Kriegen beteiligen.

59. Um in Freiheit zu leben, darf es keiner Form von Zwang bedürfen.

60. Niemand spricht »im Namen des Volkes«, außer den Menschen, die ihren Willen durch die Art des Zusammenlebens ausdrücken.

61. Gerechtigkeit heißt Wiederverbindung, nicht Ausschluss.

62. Es gibt keine Policy, keinen Staat, keine Staatsgewalt, keine Politik, Parteien. Die Menschen leben ohne eine leitende Macht.

63. Gemeinschaft entsteht aus gemeinsamem Erinnern. Diese Verfassung ersetzt Strafe durch Wahrheit und Teilhabe.

64. Wasser ist für das Leben und die Ausübung der Menschen- und Naturrechte unerlässlich. Wir schützen das Wasser in all seinen Zuständen und Phasen sowie seinen Wasserkreislauf.

65. Regeln sind Vorschläge, sie dürfen verändert, ignoriert oder ersetzt werden.

66. Freiheit ist die Fähigkeit, freundschaftliche Beziehungen ohne Zwang zu leben. Diese Verfassung basiert auf Freiwilligkeit.

67. Keine Religion oder Weltanschauung darf offizielle Religion oder Weltanschauung sein, unbeschadet ihrer Anerkennung und freien Ausübung.

68. Technische und mechanische Produkte müssen reparierbar sein.

69. Jeder Mensch hat das unbedingte Recht auf Wohnen, Essen, Wasser, Tätigkeit, Gesundheitsvorsorge, Bildung, Kleidung und Transport.

70. Gedanken, Meinungen, Aussagen sind frei.

71. Migration ist ein Recht, kein Privileg.

72. Es gibt keine Nationalität, nur Zugehörigkeit durch Wahl.

73. Strafen sind durch gemeinschaftliche Wiederherstellung ersetzt.

74. Entscheidungen werden temporär getroffen und regelmäßig überprüft.

75. Über die Einhaltung der Verfassung wacht ein Gericht, das für vier Jahre per Losverfahren gebildet wird.

76. Europa ist pazifistisch. Das Ziel ist die Überwindung von Kriegen.

77. Gesellschaften, Nationen, Grenzen, Staaten und Ideologien sind Erfindungen der Menschen sowie Realität und Normalität. Die Welt ist Chaos.

78. Das Netz gehört den Menschen. Sie sind im alleinigen Besitz ihrer Daten.

79. Die Pflege von Kranken, die Betreuung von Kindern und Schwachen ist eine gesellschaftliche Aufgabe.

80. Es wird in der europäischen Anarchie nie eine Gewalt geben, die Menschen zum Tode verurteilt und hinrichtet. Todesstrafen sind der Ausdruck staatlicher Gewalt. Staatlicher Hilflosigkeit.

81. Jede Form von kriegerischen Handlungen ist ein Verbrechen.

82. Bildung erfolgt durch Neugier, nicht durch Druck.

83. Strukturen entstehen aus Bedarf und verschwinden, wenn sie nicht mehr gebraucht werden.

84. Diese Verfassung gründet sich auf das Prinzip der gegenseitigen Hilfe, auf Föderation statt Zentralismus und auf Kollektiveigentum statt Privatbesitz.

85. Jedem Menschen steht es frei, Handel zu treiben, seine Produkte zu verkaufen, in Läden, Märkten, von zu Hause. Die Waren unterliegen einer Qualitätsprüfung durch Fachgruppen.

86. Beziehungen sind freiwillig und jederzeit auflösbar.

87. Jede gesellschaftliche Entscheidung wird öffentlich und dezentral getroffen.

88. Europa hat Sicherheitsgruppen, die nicht bewaffnet sind. Gewalt ist zum Schutz anderer Personen einsetzbar. Die Sicherheitsgruppen werden von ausgelosten Komitees beaufsichtigt.

89. Die Welt besteht nicht mehr aus dem »Westen«, dem »globalen Süden«. Die Welt ist eins.

90. Freiheit bedeutet Verantwortung, nicht Herrschaft. In dieser Gesellschaft verpflichten sich Menschen zur freiwilligen Fürsorge.

91. Macht, was ihr wollt, aber geht anderen nicht auf den Geist.

92. Trauer ist ein Krankheitsfall.

93. Tote Menschen erfahren den gleichen Respekt wie Lebende. Sie hören nie auf, Teil der Gemeinschaft zu sein.

Ein Jahr später.

Dank

Ich bin Don

Und ich habe keine Wut mehr.

Ich hatte geglaubt, dass ich sie als Motor, der mich überleben lässt, brauche.

Dass sie mir diese Pitbullhaftigkeit meines Äußeren und Inneren verleiht, mir eine Gefährlichkeit gibt, vor der Menschen zurückweichen.

So wie manche Künstler aus Angst um ihre Kreativität auf Psychopharmaka verzichtet haben, habe ich immer gedacht, ohne Wut zu sein, würde mich zu einem Nichts mutieren lassen.

Und nun –

habe ich keine Wut mehr.

Ich verachte die Welt, in der ich lebe, nicht mehr, und die Anderen nicht,

die vermutlich keine Angst mehr vor mir haben.

Sie sehen mich als jungen Menschen, der bei einem Meter und sechsundfünfzig das Wachstum eingestellt hat,

und von dem keine Gefahr ausgeht. Ich glaube, mehr denkt sich keines, wenn es mich sieht. Ein Mehr gibt es auch nicht.

Ich hatte nie Pläne, weil ich es lächerlich fand. Morgen kann ein Weltkrieg ausbrechen, der ein anderes Vorgehen von mir erfordern würde, als Selbstgespräche zu führen. Schützengräben ausheben, um mal nur eine Weltkriegsaktivität zu erwähnen. Albern sind sie, die Menschen, die sich in zehn Jahren an bestimmten Orten in bestimmten Situationen sehen. Ich habe keine Ahnung, wie es mir morgen gehen wird.

Ich habe immer gehandelt, wenn es mir unwohl wurde, um zu erreichen, dass mich die Welt nicht stört. Ich bin als Kind von zu Hause weggelaufen, ich habe mit anderen wütenden Kindern zusammengelebt, ich habe vieles gemacht, was sich als ordentlicher Bürger nicht gehört, wenn man an das System glaubt.

Das habe ich nie getan. Umgekehrt dito.

 

Ich habe nie viel von meinem Leben erwartet.

Das ist ein fantastischer Satz. Er klingt nach einer Frau, die zehn Kinder allein versorgt, in der Waschküche steht, eine fleckige Schürze trägt und versonnen über ihre Krampfadern streicht.

Und nun – wohne ich im angenehmsten Land der Welt und halte mich in einem Leben auf, das wie zu schön für mich scheint. Ich bin jeden Morgen erstaunt, dass ich so viel Glück gehabt habe.

Meine Aufzeichnung beginnt. Jetzt.

0.

Es ist die Zeit nach der Revolution gewesen.

Erstaunlich.

Dass da noch eine Zeit ist,

oder menschliches Leben,

denn der Kapitalismus sei alternativlos, hatte es doch immer geheißen, und nach ihm stünden nur schwarze Löcher bereit, um die Welt aufzusaugen, und nicht einmal etwas übrig zu lassen, um es ins All zu spucken.

Das alte System ist tot, und kein neues da.

Hatte es geheißen.

Als ob neue Gesellschaftssysteme in einem Endlager bereitlägen, und man sie nur aufschütteln müsste, um sie benutzen zu können.

In den letzten Jahren, in denen Kapitalisten sich vor dem Zusammenbruch der Börsen in Aufrüstung versucht hatten,

in denen die Menschen zu erschöpft gewesen waren, um überhaupt irgendetwas zu versuchen oder gar eine Vision zu entwickeln – machten sie einfach weiter, die Kapitalisten, aus denen Oligarchen geworden waren, denn ihnen gehörte die Welt, machten weiter, immer irrer agierend, der Rest lief wie ferngesteuert durch das Sein.

So schlimm war es nicht. Sie lebten noch. Kind of.

Sie hatten verlernt, ohne Angst zu existieren, die Leute, denn Angst war der Motor gewesen, um sich durch die Multikrisen zu bewegen.

Es war

die Zeit des massiven Angriffes auf jedes Wohlgefühl gewesen. Und niemand hatte gedacht, dass es etwas anderes geben könnte als Materialermüdung.

 

Und – und jetzt – steht fast alles noch.

Nun ja.

Ein paar Börsen, Banken und Nato-Haupt-Nebenquartiere sind weg. Zusammen mit einigen Plattformmilliardären. Ehemalige Königsfamilien, Dynastien, die entspannen jetzt auf Inseln nahe ihren Briefkastenfirmen.

Ein wenig anarchistische Energie, ein guter Plan, und fast über Nacht war das alternativlose System verschwunden. Implodiert, in die Knie gegangen, eingesackt und Ciao!

So einfach ist das, wenn sich Menschen dafür entscheiden, das System nicht neu zu erschaffen, am Laufen zu halten, mit jedem Tag, mit ihrem Leben, ihrer Arbeit, die sie nicht mehr für sich erledigt hatten, sondern für

irgendwen, um Lebensersatzstücke erwerben zu können mit dem Verkauf ihres Lebens.

Nun musste etwas Neues her.

Viel Spaß!

1. In Anerkennung der Würde jedes fühlenden Wesens, im Geist der gegenseitigen Hilfe, der freiwilligen Assoziation und der Ablehnung jeder Form von Herrschaft, erklären wir diese Verfassung der Freien Kommunen.

Lotta Continua, wie die Italiener sagen.

Es ist fast noch Nacht, minimal koloriert, in der Zwischenphase, in der sich ein Mensch kaum seines Körpers bewusst ist, kein Ego hat oder etwas will. Ein perfekter Zustand, wenn die Prädatoren nicht versuchen, die Welt zu verstehen, oder zu tun, als wüssten sie –

irgendetwas.

Erträglich sind sie, so liegend und brabbelnd, die Kissen getränkt von den kleinen Seen aus ihren Mündern, auf denen Bakterien auf Stand-up-Paddelbords herumfahren.

 

Gerade als ich die Welt mit Liebe umarmen möchte, beginnen die morgendlichen Sportgeräusche.

Stöhnende Entäußerungen, mit denen Leute sich selbst auf ihre ertüchtigte Existenz hinweisen. Dieser Drang, sich zu spüren, ist mir am frühen Morgen wesensfremd. Ich bin dankbar für jede Minute, in der ich mich nicht als Körper wahrnehme, keine Schmerzen, kein Muskelzucken, kein Hinweis auf Vergänglichkeit.

Vor nicht so langer Zeit mussten alle Menschen Überwachungsarmbänder tragen, die aufzeichneten, ob eines sich ausreichend bewegte und quälte, und wenn nicht, dann wurde es vom Service der Telemedizin ausgeschlossen.

Dann eben sterben.

Heute könnte man sich den Luxus eines behutsamen Starts in die Munterkeit gönnen – aber schon wieder scharren einige Menschen mit den Füßen, um sich der eigenen Diktatur zu unterwerfen.

Das Stöhnen wird eins mit dem leisen Grauen, das der Traum in mir zurückgelassen hat. Der Traum, der vielleicht eine Art Realität ist und auf der unverständlichen physikalischen Theorie basiert, dass Menschen parallel in verschiedenen Zeitebenen existieren. Der Traum wiederholt sich. Alle paar Tage wache ich auf, weil ich mich im Schlaf an den Tränen verschlucke.

Oder mich mein Schluchzen weckt.

Ich erzähle das schnell, ja? Schließlich liebt es doch jeder, wenn Menschen von ihren Träumen erzählen. Witz. Es gibt kaum etwas Langweiligeres, als diese Bruchstücke von nächtlichen Gedanken in halluzinogenen Farben erzählt zu bekommen. Aber ihr, liebe Zuhörer, habt euch dazu entschieden, mich durch die Anfänge einer neuen Welt zu begleiten. Selbst schuld.

 

Also

 

Karen, Hannah, Pjotr und ich.

Wir halten uns.

WIR WAREN IMMER DA GEWESEN. Die vier aus dem Sozialblock, die Trash-Kinder, die traumatisierten Kindersoldaten. Karen, die Intellektuelle der Gruppe, hatte versucht, alle Männer Londons mit Adenoviren zu sterilisieren, der ehrenhafte Versuch misslang. Später studierte sie Biochemie oder weiß der Teufel was. Pjotr oder Peter, er nannte sich immer anders, je nach Zugehörigkeitsgefühl zu seiner alten polnischen oder der neuen britischen – jetzt hätte ich fast – Heimat gesagt, ist der Autist der Gruppe. Er war von seiner Mutter mit sechs verlassen worden, weil sie einen reichen Mann ohne Kinderwunsch getroffen hatte. Hannah ist die Frau, in die alle sich sofort verlieben. Ihre Mutter starb durch einen Gang-Querschläger in Liverpool, ihr Vater ist ihr wenig später gefolgt, motiviert durch eine der sadistischen Suizid-Apps.

Und ich. Reden wir nicht über mich, ich hasse das.

Wir hatten uns damals an allen gerächt, die uns als Kinder gequält hatten. Wir haben den App-Entwickler, Pjotrs Mutter, den Russen, meinen sadistischen Stiefvater, Karens Vergewaltiger zur Rechenschaft gezogen. Um es nett auszudrücken. Und wir haben Schläger, Sadisten, die UK-Regierung, den Überwachungsfaschismus und eine Revolution überlebt, und vermutlich werden wir einander immer eine Familie sein. Und –

da ist es also,

das Unerwartete.

Der Unfall, die Sekunde, die alles verändert hat.

Der Moment, von dem keines geglaubt hatte, dass er eintreten könnte, die Sekunden, in denen Systeme beseitigt werden oder sogenannte Lebensumstände.

Diese Ausnahme, da sich Menschen in andere Menschen einfühlen können, in ihr Leid, ihr bodenloses Erstarren.

Alles weg, flüstern sie,

ihre Welt ist untergegangen.

Das Zuhause weg, das aus Mauern und Menschen bestanden hatte. Die Menschen, die dich real sein lassen, die dir eine Grenze geben, einen Umriss, eine Wichtigkeit in der Beliebigkeit von Milliarden.

Nur in Sicherheit gibt es eine Routine, etwas verlässlich Stabiles in diesem fragilen Leben mit all den Rissen in der Welt, die jeder für sich entstehen lässt, die wird nicht mehr heilen.

Die Welt, die sich beschädigt weiterdrehen, immer wieder erhellt und verdunkelt werden wird, Generationen, die geboren werden, die nichts mehr wissen werden von irren Feldherren, vom Kampf um Land und Macht, der Rüstungsindustrie, von Religion, Hass, Wahn –

Dieses kurze Leben, dieses traurige Leben, so zerbrechlich alles, was uns atmen lässt.

Wie hält man es aus, dieses unsichere Sein, wenn man nicht glauben kann, dass es einen Sinn gibt, dass alles gut wird, wir uns alle wiedersehen an einem besseren Ort. Unendlich sein in dieser wundervollen Einmaligkeit, ein jeder.

 

Wir schütteln uns und fühlen eine kleine Erleichterung – wir wurden verschont.

Ausgebrannte Gebäude, verwüstete und verdorrte Parks.

Das ist wie, sage ich –

sag jetzt nicht: wie in einem Film, sagt Hannah.

Dann eben Schweigen. Wir laufen durch die Straßen, in denen vertrocknete Haustiere liegen, zerschnittene Bilder, zerstörte Brunnen, Statuen, Birkenstock-Sandalen, Artefakte einer Hoch- na ja, Kultur.

Es sieht aus wie eine Küche, aus der die Bewohner gerannt sind, bevor die Lava in die Räume dringt, die Suppe dampft noch in den Tellern.

Karen redet mit sich. Jedes redet mit sich, wir hören uns nicht.

Da stehen – Reste von Serverfarmen, noch immer in Betrieb, angetrieben von der unermüdlichen Kraft des Wassers und von der Sonne, die am Morgen schon brennend heiß auf die Oberflächen fällt. Hier lagern die Geheimnisse, gespeichertes Wissen und Erleben von Wearables, Siris, Alexas, Trackern, biometrischen Kameras und Nanobots, die in den Gehirnen wohnten. Die Revolution hat nicht funktioniert, sagt Karen.

Sieht so aus, sagt Peter.

Vier Jahre Vorbereitung, Tausende Nerds, Pläne von der Abschaffung des Euro bis zur Umnutzung von Kasernen – alles umsonst. Denke ich.

Ein paar Geräte scheinen noch zu summen, ein paar Vögel, Vögel gehen immer – und dann: wache ich auf.

2. Jeder Mensch hat das Recht auf sicheren Wohnraum. Die Pflicht der Bewohner besteht in der Verwaltung und im Unterhalt des von ihnen genutzten Wohnraumes.

Ich erinnere mich an den Tag nach der Revolution – wie immer, wenn ich mich in eine gute Königin-der-Welt-Laune bringen will. Dieser Tag,

an dem die Menschen ins Licht getreten waren wie Schimpansen, die, befreit aus einem Labor, zum ersten Mal den Kerker der Versuchsanstalt verlassen.

Erstaunlich.

Daran, dass man ein System auch einfach abschaffen kann, hatte niemand gedacht.

Wie auch, wenn die Gehirne gehackt waren von Fußball, Skandalen, Inflationen, Katastrophen, die, zu einer großen Krise zusammengerührt, den Untergang beschworen hatten, in all den Medien, all den besorgten Reden der Politiker über den großen Krieg, die große Panik.

Und keine Idee, niemand.

Bei all den »bewilligten« Demonstrationen, bei dem Sich-vor-Gebäude-Kleben, den Streiks und der Ratlosigkeit war es um Symptome gegangen. Wir brauchen Wohnungen, mehr Geld, niedrigere Preise, mehr Ärztinnen, mehr Krankenhäuser, mehr Grün, weniger Angst, mehr Tierschutz, Landschaftsschutz, Menschenschutz, mehr Migranten, weniger Menschen, Abtreibungen oder keine, viele Geschlechter oder wir schaffen alle ab.

Nur wenige hatten die ketzerische Idee, eine andere Gesellschaftsform als die des theoretischen, unendlichen Shoppingspaßes zu denken.

Es gab nur ein paar, die mit Waffen, Leichensäcken und Löschkalk die Vergangenheit revitalisieren wollten. Ihre Welt sollte in einer Kneipe mit Wurst stattfinden, und zu Hause stünde derweil ihre Frau seit dem Morgen am Herd. Regungslos. Hauptsache Herd.

Die anderen sprachen von demokratischen Prozessen. Oh ja, lass uns für die Demokratie auf die Straße gehen, nachdem wir unseren organisierten Unmut beim Amt eingereicht und eine Genehmigung erhalten haben, ihn zu entäußern.

Kleine Reformen. Vielleicht sollten wir eventuell bitte den Milliardären ein Prozent von dem wieder wegnehmen, was sie zuvor der Mehrheit geraubt hatten. Das könnten wir bitte eventuell, wenn es genehm ist, in Krippenplätze investieren. Oder in Bildung, ja Bildung, für – egal.

Oder Biofarmen und Selbstversorgung, und hey Leute, wählen ist cool, Wahlen sind Demokratie.

Kommt wählen und da spielt eine linke Rockband und reimt

Freiheit auf –

Na?

Gleichheit, ja genau. Dafür lohnt es sich zu kämpfen – also mal einen Satz ins Netz zu stellen, da, du pentagonfinanzierter Plattformheini, nimm meinen Protest!

Demokratische kleine Tanzschritte, die daraus bestanden, den Müll zu trennen für den Frieden, und eine Solaranlage auf den Balkon zu nageln. Sie haben keinen Balkon, weil sie in einer Kellerwohnung leben? Glückwunsch – Sie leben bereits bewusste Minimalisierung.

All die guten Ansprachen, die kapitalismuskritischen Bücher, Filme, Dokumentationen, Reden, Aktionen konnte man in leichter Sprache und in 0,003 Sekunden Lesezeit zusammenfassen: Okay, wir wissen, dass Kapitalismus dazu führen wird, dass Kapitalisten uns dezimieren, damit sie mehr Platz zum Golfspielen haben, aber

was jetzt?

Genau.

Dachten sich die Menschen, ehe sie sich wieder ihrer Empörung im Netz zuwandten.

Das System, um zu diesem großen, diffusen Nullwort zurückzukommen – also die Gesellschaftsordnung, die sämtliche Gehirne besetzt hatte, ließ keine Zelle übrig, um sich eine Alternative vorzustellen, die nicht mit kratzenden Wollpullovern und einer Wohnwagen-WG zu tun hatte.

Der Segen des Trickle Down war nicht nur für eine überschaubare Gruppe von Milliardären hervorragend gewesen. Mithilfe von Aktien, IT-Jobs und irgendwas mit Supervisor in der Jobbeschreibung hatte sich eine neue Schicht von Businessclass-Reisenden gebildet. So etwas wie die frühere Mittelschicht, nur reicher. Sie charterten mit einem Bündel Kollegen Jachten, besaßen ihre Wohnungen und Häuser und noch ein paar dazu, die sie auf einer Plattform an Touristen vermieteten. Pech gehabt, liebe Natives!

Der normale Mensch konnte sich einen Urlaub in einer auf einer Plattform angebotenen Wohnung leisten, sich Essen liefern lassen, sich neue Trikotagen kaufen. Die alten Klamotten kamen in den Müll, und Weihnachten reiste man irgendwohin, wo es Outletshops gab, um mit anderen Touristen Trikotagen im Sale zu kaufen.

Das Elend fand irgendwo anders statt, weit weg in der Welt oder in dunklen Wohnungen am Stadtrand. Hauptsache Wohnung. Alle träumten von der Demokratie, die irgendetwas bedeutete, was eventuell mit Wellness zu tun hatte – also von einer Erfindung von PR-Agenturen.

Sie träumten von der guten Regierung, die irgendwann an die Macht käme und den kleinen Wohlstand sichern wollte.

Und die kamen dann, sie waren ein wenig faschistisch, aber irgendwas ist immer.

Fast jedes Land Europas hatte sich seine mehr oder weniger reaktionäre, faschistische, wertkonservative, libertäre, unternehmerfreundliche Regierung, die plötzlich das Wohl der kleinen Leute (unter 1,50 m) in einfacher Sprache und mit guten Lösungen bewirtschaftete, zurechtgewählt.

 

Und nun, mitten während dieser wunderbaren Retrospektive, steht die Sonne genau zwischen meinen Augen. Heute wird ein großartiger Tag, ich sehe meine Familie wieder!

3. Wohnraum darf nie zur Bereicherung und zur Spekulation genutzt werden.

Ich wohne im Monumento Vittorio Emanuele II, einem hübschen Wohnhaus, wenn man auf Marmorpferde steht. Man kann das Haus auch als steingewordenes Aufreißer-Gebäude bezeichnen.

OMG, du wohnst im Monumento Vittorio Emanuele II., fragen mich attraktive, muskelbepackte Frauen und betteln um eine Besichtigung.

Welch prachtvolles Gebäude, sagen sie dann und legen sich aufs Bett.

Da liegen sie dann, Dutzende imaginärer, herber Schönheiten, die darauf warten, von mir in Beschlag genommen zu werden. Nach hinreißenden Vereinigungen werde ich mit einigen zusammenleben. Wir werden uns lieben und Hunde halten, abends Spaghetti kochen, im Pool schwimmen, ans Meer fahren, Ballspiele machen. Alles nackt.

Ich habe mir das Gebäude nicht ausgesucht, weil ich eine Vorliebe für Tonnen verbauten Marmors habe – vielmehr war es der kurze Triumph, dass ich mich als Kellerkind täglich durch einen Palast mit quadratkilometerlangen Innen- und Außenflächen bewegen würde, Freitreppen hoch- und runterrollen, Ansprachen von den Terrassen-Brüstungen halten und so weiter.

Das Marmorgeschwür war eines der Lieblingsprojekte des Duces, der sich in ihm repräsentiert sah: Wohnraum für 78 große Zyklopen. Nach der Beendigung des Faschismus durch die Amerikaner und der Beendigung des Kommunismus durch die Amerikaner liefen ermattete Touristenherden über die zu hellen Marmorböden, viele verstarben und wurden in den Untiefen des Gebäudes nie gefunden. Das Monstrum ist 70 Meter hoch, 135 breit und 130 Meter tief, es übertönt alle Gebäude im näheren Umkreis mit einem Schrei nach Respekt.

Das Monument wird seit der Revolution, wie Tausende anderer sinnloser Gebäude in Europa, umgenutzt. In den Denkmälern, Mahnmalen, Banken, Börsen, Versicherungen, Werbe- und PR-Agenturen, Geheimdienstgebäuden, Gefängnissen, Autohäusern, Munitionslagern, Botschaften, BlackRock-Filialen, Militärstützpunkten wohnen jetzt – Menschen.

Die meisten der Gebäude waren von den Steuergeldern der ItalienerInnen auf ihrem Grund errichtet worden. Die Menschen hatten für den Unterhalt der Gebäude bezahlt, für die Straßen, die zu ihnen führten, die Renovierungen, die Bewachung, die Gärten … und so ist es folgerichtig, dass jetzt bekiffte Jugendliche Partys auf den Dächern von Geheimdienstgebäuden feiern.

Meine Wohnung kostet 100 Lire. Früher wären das 100 Euro gewesen. Die schönen Währungen, entkoppelt von Öl, Schuld, den Börsen und Amerika, hatten wir grundlegend neu denken müssen.

Die revolutionären Finanzgruppen unter der Leitung einer Schweizer Zentralbankerin hatten allen Ländern Europas ihre alten Währungen zurückgegeben. Sie riechen so schön nostalgisch, die alten Scheine – doch auch sie sollen, wenn der Mensch bereit ist, auf Geld zu verzichten, in ein bis zwei Generationen, verschwinden.

Meinen Beitrag zahle ich, wie alle Bewohner, für Renovierungen und den Unterhalt der Wohnungen, für Gartenarbeit, Poolpflege, Kinder- oder Krankenbetreuung. Jeder, der in einem Mehrpersonenhaus wohnt, leistet Hausarbeit. Manche reparieren Dinge, andere putzen das Treppenhaus, wechseln Glühbirnen, und die meisten tun es gerne, denn die Gebäude gehören uns.

Damit alles seine Ordnung hat – die Menschen lieben Regeln und klare Ansagen – ist das Recht auf günstigen Wohnraum, das jede Spekulation mit Wohnraum untersagt, in die Verfassung eingegangen, für den Fall, dass doch irgendwann noch mal ein Begehren entstehen sollte. In vielen Grundgesetzen hatte es vor der Revolution das Recht auf Vergesellschaftung von Konzernen, wenn es dem Gemeinwohl diente, gegeben. Man hätte auch ohne unsere Revolution das Elend beenden können, aber die Angst der Menschen, ihr geborgtes Zuhause zu verlieren, obdachlos zu werden, hatte sie sehr leise werden lassen, willig allen Schikanen der Besitzer folgend: ausgeschaltete Heizungen und kaltes Wasser im Winter, na immerhin Wasser, nicht abgeholter Müll, nicht renovierte oder reparierte Wohnungen, was man halt so macht, um den Gewinn der Aktionäre zu erhöhen.

Was fangen sie wohl jetzt mit ihrer Freizeit an, die Menschen, deren Lebensinhalt es gewesen war, mehr Besitz, Kapital, Reichtum anzusammeln, denn mehr war immer gut gewesen, es machte einen unsterblich.

Und die Menschen, die Leidtragenden des nicht regulierten letzten Systems, hatten mitgemacht. Parteien gewählt, die ihnen ein Überleben versprachen, Kleingeld in Rentenfonds eingezahlt, die in Immobilien investierten und Kleinsparer um ihre Mietwohnungen brachten, Flüchtlingen die Schuld für alles gegeben, oder Homosexuellen.

Und nun –

sind sie nicht über Nacht besser geworden, die Menschen. Sie tun nur bessere Dinge, und vielleicht wirkt sich das neue Außen auf das menschliche Innen aus.

Stichwort für einen Schrei.

Unten vor dem Gebäude springen vermutlich Kinder in den Pool, und meine Nachbarn kommen aus ihren Wohnungen, sie begrüßen einander, immer ein wenig ängstlich prüfend, ob alles noch da ist.

Vielleicht waren über Nacht ein Autobahnzubringer und Rechenzentren errichtet worden – aber

… Glück gehabt.

Ich höre sie über die Nacht reden, die zu heiß war oder zu kalt, sie reden über ihre Familien, die Kinder, das neue Leben und die verwegene Wohnsituation.

 

Die Wohnungen hängen in den gigantischen Hallen wie Bienenwaben. Es gibt Rutschen von den oberen Etagen, Paternoster, verschachtelte Treppen, Balkone nach innen und außen, das Innendesign scheint nach Vorlage von Kinderzeichnungen aus einer fernen Zukunft zu stammen.

Die Wohnraum-Waben sind aus Pilz-Holzabfall-Bausteinen gemauert, für tragende Teile wurden Elemente aus Ruinen wiederverbaut.

Und das wäre doch alles auch vorher möglich gewesen.

Man hätte die Welt nicht zubetonieren müssen, keine Glasbetonkästen entlang geteerter Straßen, an deren Rändern verkümmerte Bäume und Büsche gefangen standen, keine Autobahnen bis in die Stadt – aber profitabel wäre das nicht gewesen.

Nun muss alles wieder aufgeräumt werden, die Betonburgen begrünt, die Paläste für Menschen umgebaut.

Man kann das in meinem Haus sehr gut besichtigen: Die kilometerlangen steinernen Terrassen, Treppen, Emporen sind durch großzügige Bepflanzung fast wieder menschengerecht. Die Innen- und Außenräume sind durch Cafés, Pools und Kioske, eine Bar, Clubräume, Werkstätten, Kindergärten, ein Restaurant zu einem kleinen Dorf geworden.

Der architektonische Ausdrucksbogen spannt sich vom Marmor-Prunkbau der vorletzten Jahrhundertwende zum gehäkelt wirkenden Mad-Max-Traum. Hier herrscht pure Schönheit für Menschen, die es gebastelt lieben, es gibt bepflanzte Autoreifen für ein top Gartendesign, Blumenampeln aus Makramee, die in einem Dialog mit Sitzmöbeln aus Europaletten stehen, und da hinten sehen wir mit Fingerfarben bemalte Marmorsockel.

In der knappen Lebenszeit der neuen Gesellschaftsordnung haben die RömerInnen es geschafft, aus der Stadt des touristischen Daueruntergangs etwas zu formen, das dem Bühnenbild einer Laientheatergruppe in einem besetzten Hippie-Dorf gleicht.

Alles ist im Aufbau, Umbau und die Stadt Ausdruck der Euphorie, mit der die Leute Zeuginnen und Gestalter eines einmaligen Versuchs werden –

dem Überleben der Spezies.

4. Glaubt, woran ihr wollt.

In der Nachbarwohnung sind zwei junge Männer damit beschäftigt, ein solarbetriebenes Fluggerät zu erfinden. Ab und zu hört man sein Auftreffen auf die Wasserfläche des Pools, die Entwicklung scheint noch nicht ausgereift.

Eventuell erwägen die beiden, ihr autonomes Fluggerät zur Marsbesiedelung zu schicken.

Apropos –

Wenig von den großen Fortschrittsversprechen der letzten Jahrzehnte hatte sich eingelöst. Die Flugtaxis, Hyperloops, die Teleportation, das Leben auf dem Mars oder unter Wasser, die netten Roboter, die den Abwasch machen, waren zu Maschinen geworden, die den Menschen ersetzten, waren zu AI geworden, die das Denken durch Code ersetzten, und die Energie mehrerer Länder verbrauchten,

war zu Digitalisierung geworden, die den Menschen dazu zwang, sich selbst zu verwalten. Und als die Menschen merkten, dass ihr Glaube an eine prächtige Zukunft zu einer Realität geworden war, die sich gegen sie richtete, war es zu spät gewesen.

Nun sind sie verschwunden: die Überseekabel, Kryptowährungen, Wallets, Social-Score-Punkte, Telemedizin, Überwachungskameras, Funkmasten, Rechenzentren, die sozialen Medien, die Pushnachrichten, die 89 verschiedenen Klingel- und Messengertöne, die Städte und Baustellen und Staus und Hupen, die sich zu einem runden musikalischen Gesamtkunstwerk der Lärmüberforderung arrangiert hatten. Und niemandem scheint diese Manifestation des Fortschritts zu fehlen.

In der neuen Ruhe basteln sie wieder, die Menschen, und leimen, schrauben, sägen, erfinden, so, als ob es die Märkte als Triebfedern menschlicher Entwicklung nie benötigt hätte.

Ich habe ihn selten gespürt, diesen Drang, die Welt mit Dingen von mir zu bereichern. Ich wollte eigentlich – nichts. Außer ohne Schmerzen und Angst zu leben. Ich bin und war umgeben von Menschen, die die Welt retten wollen, oder zumindest erforschen und verstehen, aber mir hat es genügt, mir ihre Lebensinhalte zu borgen.

 

An der Decke leuchten, da nun die Sonne höher steht, Reiche-Menschen-Flecken, die entstehen, wenn Licht auf Wasser trifft.

Die Pools sind ein wichtiger Baustein des gesellschaftlichen Glücks.

Sie waren neben Hubschraubern und Kaviar der Inbegriff dessen, was Arbeiter früher für Kapital hielten. Fast jeder hatte geglaubt, wenn er sich nur anstrengen und alle Regeln befolgen wollte, dann käme auch er in den Genuss so einer funkelnden Badefreude.

Die meisten waren dann am Ende ihres Lebens froh gewesen, ein Bett zu besitzen, ein paar wenige hatten ein aufblasbares Planschbecken hinter ihrem nicht abbezahlten Reihenhaus gehabt.

 

Neid – das boshafte Brennen im Magenbereich, das auf der Erkenntnis, zu kurz gekommen zu sein, beruht, war Ursprung sinnlosen Einkaufens, großer Autos, absurder Gardinen gewesen, es war schuld an Messerstechereien, Geschrei, brennenden Flüchtlingsunterkünften, Mord, Totschlag und Randale. Er hatte zu Magengeschwüren, schlechtem Atem und zu vulgären Äußerungen geführt.

Ich weiß alles über Neid, denn ich habe ihn erfunden.

Er hat mich aufgefressen in einem Alter, in dem ich das Wort zu dem Gefühl noch nicht kannte,

er wuchs,

wenn ich mit meiner Mutter in Rochdale an den Essensausgaben für Verlierer wartete, während ordentliche Kinder mit ordentlichen Eltern in sauberen Autos vorüberfuhren. Wenn sie mich ansahen – oder ich das glaubte – mit einem Ekel, wie man Ratten eben betrachtet, dann bekam ich kaum Luft vor Hass. Die guten Kinder schliefen, während ich in Jogginghosen und Socken auf dem Doppelstockbett hockte und Bohnen aus der Dose aß, in Häusern mit Kaminen, in eigenen Zimmern, umgeben von Wolldecken und Spielzeug, und verzehrten von morgens bis zum Schlafengehen, mithin auch schlafwandelnd, Kekse, Kuchen, Pudding und große Fleischbrocken. Ich neidete anderen alles. Ihre Selbstsicherheit, Wollpullover, ihr Essen, ihre Fahrräder und ihr Gefühl der Sicherheit, das ich erst vor vier Jahren kennenlernte.

Heute beneide ich nur Paare.

Die Steigerung: Paare mit Hunden.

Und vielleicht Menschen, die 1,90 m groß sind. Und Schachgenies.

Und Leute, die schneller aus dem Bett kommen als ich.

Früher war die Vereinsamung der Europäer so groß gewesen, dass die Regierungen Schwerpunktwochen gegen Einsamkeit veranstalteten, fällt mir beim Anblick meiner Füße ein, die immer weit entfernt vom Restkörper leben. Da waren Luftballons an Depressive und Einsame verteilt worden, die dann in einem Kreis saßen, Kuchen aßen und weiter einsam waren. Einfach mit Luftballons.

Was stand zu erwarten, damals, da es keine Post mehr gab, keine Bank, keine Kinos und Theater, um andere wie sich zu sehen. Was konnte außer Einsamkeit die Folge sein, da das Dasein online stattfand, allein, auf einem Sofa, das schon mit dem Gewebe verwachsen war. Einsam saßen die Leute in ihren Wohnungen und streichelten Endgeräte.

Jetzt sitzen sie auf Decken an den Flüssen und Teichen und Bächen, die früher unter Zement begraben lagen.

Ich könnte vor der Arbeit schwimmen gehen – energisch und kraftvoll an der Gymnastikgruppe vorbei zum Haupteingang, und von einem der Balkone mit einem Kopfsprung ins Bassin gleiten.

Dann würde ich mich umziehen, stünde auf einem Bein, fiele um, mein nacktes Gesäß würde in die Luft ragen. Die Nachbarn würden mich anstarren. Da, sieh nur, das Gesäß der Ausländerin, der Fremden. Denn ich gehöre nicht zu diesen lauten, albernen, hübschen Menschen, ich kenne ihre Kinderlieder nicht, die Speisen und ihre Bedeutung, die Auskennerwitze, ich kenne ihre Fernsehstars nicht und die Skandale im Land, ich habe keine Ahnung von ihrer – wie sagt man – Kultur, Tradition, dem Slang, der Bedeutung von Orten und Menschen und ihrer Vorurteile. Ich bin eine Touristin, eine Beobachterin, eine Eingereiste und das werde ich immer bleiben, denn das Recht auf eine sogenannte Heimat verliert ein Mensch, sobald er sich von seinem Geburtsort entfernt. Nur Eingeborene können Witze über ihre Heimat machen und wissen, in welchen Häusern das Böse wohnt –

Meine Heimat ist Rochdale, die zugige Stadt im Dauerregen mit ihren Betonbauten, der alles dominierenden Elendigkeit von Wettbüros und Caritasläden und der Abwesenheit von Grün. Und Hoffnung.

Die Angst, als Ausländerin aufzufliegen, basiert auf der großen Furcht, wieder heimgeschickt zu werden.

5. Es gibt weder Zensur noch Diffamierung unterschiedlicher Ansichten.

Ich habe vergessen, wohin ich heute gehen werde, aber mein Bein scheint Bescheid zu wissen. Es hängt aus dem Bett und sieht aus wie ein Grundnahrungsmittel für Wölfe.

Die Gymnastikgruppe in der Halle stößt unvermindert Laute aus, um sich ihrer Lebendigkeit zu versichern. Es sind vornehmlich alte Menschen am Turnen, und wir respektieren das. Alter war früher das letzte Ressort, in dem ein aufgeschlossener junger Mensch ein wenig Menschenhass ausleben konnte. Wir hatten darauf geachtet, Menschen nicht aufgrund irgendeiner Hautfarbe, Religion, ihres Geschlechts, ihrer Sexualität oder Herkunft zu diskriminieren, doch irgendwo musste man seinen Ekel vor nichteigenen Erscheinungsbildern einen Ausdruck verleihen dürfen.

Wir Jungen hassten die Alten, die uns für Verfall und Schuld standen.

Sie waren grau und glichen Schildkröten, man konnte sie Oma und Opa oder Nazis nennen, wenn sie über 40 waren. Die meisten jüngeren Menschen damals hatten sich darauf verlassen, ohne Widerspruch und Shitstorm Alte hassen zu können, sie als nicht menschlich wahrzunehmen, all die öden Leute, die irgendwo putzten oder vor Einkaufszentren wachten, oder die Straßen reinigten, oder in Fleischfabriken Gammelfleisch produzierten.

 

Ich habe alte Menschen früher nicht wahrgenommen. Ich sah durch sie hindurch oder um sie herum, so wie Kinder eben nur Kinder als ihresgleichen betrachten. Manchmal waren sie mir doch aufgefallen, die Alten, wenn sie allein in einem traurigen Imbiss saßen, oder auf einer Bank, und ich die Ratlosigkeit sah, mit der sie die Welt betrachteten, der sie sich nicht mehr zugehörig fühlten –

zu den Jungen, die mit ihren Endgeräten dumm wie kleine Hunde durch dieses Leben sprangen, von dem die Alten bereits wussten, welche Widrigkeiten es bereithielt.

Heute fallen alte Menschen nicht mehr auf, sie stören die hysterische Geschwindigkeit der Arbeiter nicht mehr, lähmen den Fluss im Supermarkt nicht, stehen mit ihren Rollatoren der Zukunft nicht im Weg. Die Geschwindigkeit, die zu schnell für Menschen war, ist verschwunden. Die Älteren wissen, wie man Dinge repariert und anbaut, wie man Konflikte löst und Kassetten überspielt, und

es ist altmodisch geworden, Menschen zu unterscheiden, sie in Lager zu teilen, in Gruppen zu sortieren. Man macht sich lächerlich mit seinen Vorurteilen. Mit seinen inneren Überschriften, die jeder hat, doch wenn man sie nicht mehr aussprechen mag, weil es in einer Anarchie keinen Raum für Spießigkeit gibt, dann trocknen Vorurteile vielleicht aus wie Pflanzen, die man nicht gießt.

 

Apropos Anarchie – die Gesellschaft ohne Herrschaft, die Selbstorganisation des Zusammenlebens von Menschen ohne Ausbeuter, Parteien, Politiker, hat einen schlechten Ruf. Viele Menschen würde man mit dem Wort Anarchie, als Bezeichnung für das neue Gesellschaftssystem, verunsichern, denn sie verstanden darunter Aufruhr, zottelige Punks, die Pkw anzünden, Chaos. Und wenig fürchten die Massen mehr, denn sie wissen nicht, dass die Erde Chaos ist. Und dass jeder Versuch, es durch Bürokratie, bewaffnete Ordnungskräfte und Gesetze einzuhegen, zu nichts führt außer zu mehr Chaos: Flüsse, die Landschaften überschwemmen, Tierseuchen, die auf Menschen übergehen, einstürzende Brücken.

Gleichsam – ich liebe dieses Wort – wären die Leute von den Begriffen: realer Sozialismus, neuer Kommunismus, Sozialsozialismus, Postkapitalismus, Realkommunismus auch nicht begeistert, die nur Variationen bereits bekannter Begriffe sind. Unklare Fakten. Schlechte Gefühle.

Wir haben die Namenssuche in unserer RCE-App geteilt und darauf gehofft, dass ein paar Hundert Millionen Europäer eine gute Idee haben würden. Die KI zeigte den Siegernamen an – es war: Freiheit. Mir gefiel das Wort nicht, es war zu besetzt von Cowboybildern, Zigarettenwerbung, Büchern, die ehemalige Staatsoberhäupter in ihrer Rentenzeit verfasst hatten. Und vor allem war Freiheit komplett vom alten System beschlagnahmt worden.

Freiheit hatte früher vor allem die Freiheit der Märkte und die Steuerbefreiung von Kapitalisten bedeutet.

Und die Massen wussten gar nicht mehr, was sie damit meinten, wenn sie mit glasigem Blick sagten: wir leben in einer Demokratie, in Freiheit. Fragte man sie, ob diese Freiheit ihnen auch half, wenn sie ihren Job verloren, ihre Wohnung, ihre Gesundheit, das Recht auf einen Hauch von Privatsphäre, dann sah man in leere Teiche, da, wo ein Blick hätte sein müssen.

Wir entschieden, dass Anarchie unser Arbeitstitel wäre – unsere Philosophie, der Überbau, die Seele – der offiziell würde, wenn die Menschen sich an ihr neues Leben gewöhnt hatten.

Warum nehmen wir nicht den Arbeitstitel »Das schöne Leben«, hatte mich Karen gefragt.

Wir stellten den Begriff in den Europa-Chat und

89 % von ungefähr 400 Millionen Menschen, die sich äußerten, liebten die Idee, in einer Gesellschaft mit so einer netten Überschrift zu leben. Ein wenig Kitsch, ein wenig Versprechen – und weiter entfernt von den bekannten »ismen« konnten wir nicht sein.

Auf Platz 2 der Umfrage kam der Begriff

PNR.

Vermutlich ausschließlich von Italienern gewählt, die sich an eine frühere Hoffnung erinnerten.

Piano nazionale di ripresa e resilienza, PNRR, war der Plan zum Wiederaufbau des einst wirtschaftlich halb erledigten Italiens. Kein Italiener nutzte die vier Buchstaben, sie nannten den Widerstandsplan: PNR.

Ausgearbeitet von Mario Draghi und seinen Beraterinnen, hatte er bedeutet: Geld drucken, Schulden machen, Unternehmen stärken, Digitalisierung und Überwachung.

In dem Plan war auffallend oft von Arbeitsplätzen die Rede gewesen, die Menschen mochten das. National mochten sie auch, also hieß unsere neue Gesellschaft: Das schöne Leben. PNR. Nachdem der Name und der kleine Untertitel gefunden waren, nach Wochen, in denen sich die Europäer millionenfach über den Namen der neuen Zeit gestritten hatten, wurde überall gefeiert. Nun, da man einen Namen für das, was wir bauen wollten, gefunden hatte, würde es sicher gut werden. Alles. Die Zukunft und das Leben, das kein Ende haben würde,

und jetzt stehe ich auf, um dieses neue Leben zu archivieren.

Ich arbeite als Buchhalterin der neuen Zeit, als Chronistin der Freude, als Dokumentarfilmerin für die Nachwelt.

Die nachfolgenden Generationen werden dann den Urknall betrachten können –

vielleicht wird man meine Aufzeichnungen finden, irgendwann, nach dem Untergang Europas, und erstaunt sein.

Eventuell wird es Geschichtsbücher geben, in denen sie Platz finden wird, die Zeit des schönen Lebens.

6. Und nun gelten sie wieder: Die Menschenrechte!

Ich möchte mich bei mir selbst für den morgendlichen Gedankenschwall, die Entäußerungen, die ich vielleicht sogar laut an meine Hand gerichtet vorgenommen habe, entschuldigen. Ich weiß nicht, ob ich mich jeden Morgen um das Wachsein, das Aufstehen, Mich-verhalten drücke, weil ich mich nicht bewegen will oder weil ich denke, dass kreative Ausnahmegenies den Tag mit ihren Gedanken im Bett verbringen können, die innere neonfarbene Zeile: »mein Gehirn ist mein bester Freund« betrachtend.

Immerhin, jetzt stehe ich, meine Füße unten auf dem Sisalteppich sind erstaunt über die plötzliche Aktivität.

Das bin ich, ein energiegeladener Mensch mit einer prächtigen Zukunft.

Ich würde gerne jemandem für dieses Leben danken, das ich, gegen alle Wahrscheinlichkeit, bisher unbeschadet überstanden habe. Da kann doch so viel schiefgehen – Unfälle, Depressionen, einstürzende Bauten, Verluste, Trennungen, Verhungern, Ableben durch unbehandelte Lungenentzündung, Messerstechereien – die waren die Haupttodesursache junger Menschen damals in England gewesen.

Junge, vom Kapitalismus nicht benötigte Männer – es sei denn, es träte ein Krieg ein – töteten andere junge Männer mit ähnlicher Verwertbarkeit. Sie ersparten damit dem Staat – wer auch immer das war, wir waren es nicht – die Zahlung von Sozialhilfen, gesundheitserhaltende Maßnahmen und Regelvollzug.

Wie auch immer.

Die Verfassung, die wir gerade sammeln, wird irgendwann fertig sein. Im Moment filtert eine von unseren Nerds programmierte KI die sechs Millionen Verfassungstext-Vorschläge von BürgerInnen.

Allen Vorschlägen muss Respekt widerfahren, darum begründen Bots im Chatroom, warum es kein Gesetz geben wird, das das Halten von Dackeln anordnet oder Religion verbietet.

Die Verfassungspunkte, die von der KI und der Juristengruppe als nicht kompletter Quark beurteilt werden und gefiltert im Müll landen, werden in einem Sub-Kanal der Mehrheit vorgelegt. Viel Spaß beim Diskutieren. Irgendwann also wird es eine Verfassung geben und sie

wird die Menschen nicht vor sich schützen.

Weil wir von Gott reden –

für mich ist die Abwesenheit von Feiertagen eine der großen Errungenschaften der neuen Zeit. Endlich frei von verordneten Ruhetagen zu sein, an denen Menschen sich umbringen, weil sie amerikanischen Lifestylepropaganda-Filmen glauben. Die lustigen Familien, die Rentiernasen, der Schnee, die Liebe – und im Leben der meisten war doch tatsächlich nur das Sitzen an Küchentischen in überheizten oder zu kalten Räumen.

Wer irgendeine religiöse Sache feiern will, kann sich Bäume aufstellen, Chanukka-Kerzen anzünden, Fastenbrechen zelebrieren, zen-buddhistisch herumsitzen oder einfach nur irgendetwas anbeten, ohne andere zu nötigen, es ihm gleichzutun.

Ich fand es früher absurd, wie meine Mutter an einen Gott zu glauben, jeden Sonntag in die Kirche zu gehen, zu singen, zu weinen, sich auf den Boden zu werfen, ohne jedes Resultat.

Meine Mutter und mein Bruder, die Reste meiner sogenannten Familie, sind nun im Himmel.

Eventuell werden Religionen später nicht einmal mehr Erinnerungen erzeugen, so wie der Dreißigjährige Krieg oder die Pest, von denen man liest, im guten Fall, und sich nur Straßen vorstellen kann, in die Fäkalien entleert wurden, und Menschen in Hütten, und Kleider aus Sackmaterial, das durch den Schlamm und die Fäkalien matschte. Jene Zeit, in der den Massen ein Glücksversprechen nach dem irdischen Leiden gemacht wurde, wenn man nur recht beten wollte.

Vielleicht hat alles so stattgefunden, wie es weiße Männer erdacht oder erlebt haben, eventuell basiert die Welt wirklich nur auf den Leistungen dieser Männer, so wie es der Almanach des Weißen-Männer-Weltwissens Wikipedia nahegelegt hatte.

Doch auch dieses Weltwissen, das so viel exkludiert hatte, ist nun verschwunden, zusammen mit den Türstehern der Geschichte.

Das neue große freie Lexikon des Weltwissens, das entsteht, enthält neben nachprüfbaren Fakten auch Sagen, Erzählungen, mündliche Überlieferungen, Traditionen, Filme und Tonaufnahmen, kuratiert – ein schön blödes Ende-2020er-Wort – von ständig wechselnden Teams aus WissenschaftlerInnen und Historikern. So viele Arten gibt es, Geschichte zu erzählen, Fakten zu deuten, selten wird es eine absolute Wahrheit geben, auf die sich alle einigen können. Alles, was ich jetzt sammle, aufzeichne, wird später ein Teil der Geschichtsschreibung sein, und das macht mich ein wenig stolz, obwohl ich weiß, dass es albern ist.

Überall in Europa sind Leute wie ich unterwegs, um die kommende Geschichte zu dokumentieren. Ich habe das Gefühl, ich bin mit dieser Aufgabe gewachsen. Meine Haare stehen immer noch wie Antennen in die Luft, meine Muskeln sind beeindruckend, und ich vermute, niemand hält mich mehr für ein älteres Kind. Jetzt bin ich eine von ihnen, von den Erwachsenen, ich muss mir unbedingt ein paar khakifarbene Bekleidungsstücke zulegen und Dante Alighieri lesen.

7. Es gibt keine Normalität.

Es ist neun Uhr noch was. Vielleicht lernen wir irgendwann auch noch, nicht mehr auf Uhren zu sehen, die Wecker wegzuräumen, die mechanischen Wunderwerke, die neben unseren Betten stehen, weil die wenigsten noch ihr Mobilgerät neben sich liegen haben wollen. Das sanfte Ticken, das den Raum erfüllt, dem Leben einen Rhythmus gibt, ist beruhigend, wenn ich nicht darüber nachdenke, dass es das Schrumpfen meiner Lebenszeit dokumentiert.

Ich kann mir nicht vorstellen, ohne eine Zeiteinteilung und Geld als Tauschmittel sein zu können. Diese Worte, hinter denen sich für mich weißes Rauschen verbirgt, an die ich zu glauben gelernt hatte, warum auch immer, wie wir alle: Märkte, Inflation, BIP, Produktion, Staatshaushalt, Gewinn, stagnierende Wirtschaft, Handelsbilanz, Sozialleistungen.

Ich bin froh, dass nicht ich die Ökonomie, oder Wirtschaft, oder das Geld, oder den Handel neu denken musste. Ich bin mehr für praktische Dinge zu haben, Sachen, die ich anfassen kann. Die Heizungen zum Beispiel. Bald werden die Menschen in Italien sich keinen Frühling und Herbst in der Kälte mehr vorstellen können.

Früher hockten sie in ihren meist schlecht isolierten Wohnungen und hatten Angst vor dem April, denn der bedeutete: Die Heizungen wurden abgestellt. Viel Spaß mit deinen Steinböden, Mensch, der du nicht genug geleistet hast, um dir eine Villa oder Wohnung mit autonomem Heizsystem zu gönnen.

Der Verfassungsvorschlag:

Der Mensch hat ein Recht darauf, nicht frieren zu müssen, stammt von mir.

Ich vermute, er wird aussortiert. Denn das Heizen der Wohnung ist eine Selbstverständlichkeit geworden. Bei mir ist es immer warm, die Sonne heizt die nicht ausufernde Grundfläche auf, die Fußbodenheizung kann ich sogar im Sommer einschalten, falls es einen Kälteeinbruch geben sollte. Ich habe zwei Zimmer, mit Türen zum Balkon, eine kleine Küche, eine Badewanne, Schränke sind in den Wänden eingebaut, es ist –

ein Nest mit Blick über die Stadt, und ich habe außer im Tessin, wo wir in einem abgelegenen Tal die Revolution vorbereitet hatten, noch nie so schön gewohnt.

Damals dachte ich, es würde keine Zeit in meinem Leben mehr geben, in der ich so begeistert von allem wäre. Mitten im Dschungel (oder was ich dafür hielt), ein Fluss zum Baden, statt Straßen: Wasserfälle und Palmen.

Ich erzähle die jüngere Geschichte schnell für alle, die nicht dabei gewesen sind.

Vier Jahre vor der Revolution waren fünf Hacker um den Anführer Ben in die Schweiz gegangen, weil es dort die schlechtesten Geheimdienste in Europa gab. Ich kannte die jungen Nerds aus London, wo ich aus Gründen, die man nach meinem Ableben in meinen Memoiren nachlesen kann (Armut, Horror zu Hause, Obdachlosenheim), mit meinen Freunden Karen, Peter und Hannah in einer alten Fabrik gelandet war. Ich war 8 oder 9 und mein Blick auf die Welt nicht besonders differenziert. Ich kannte das Wort Armut nicht, sondern nur mein Leben.

In der Fabrik lebten wir zufrieden als Kleinkriminelle, feierten jeden Tag Spaghetti-Partys und lernten irgendwann auf einer anderen Brache eine Gruppe Hacker kennen, die geringfügig älter waren. Sie hatten das Ziel, die Menschheit zu retten.

Dann folgten ein paar Jahre, an die ich mich nicht erinnere. Unsere Kinder-Gang wurde fast erwachsen, wir gaben es auf, gegen den Tech-Faschismus zu kämpfen, denn die Feinde waren zu übermächtig.