Neue Chance fürs Happy End - KD Williamson - E-Book

Neue Chance fürs Happy End E-Book

KD Williamson

0,0

Beschreibung

Von der Vergangenheit eingeholt: Werden zwei Frauen der Liebe eine zweite Chance geben? Seit ihre letzte Beziehung in die Brüche gegangen ist, konzentriert sich Dr. Dani Russell ausschließlich auf ihre Karriere. Sie ist fest überzeugt, dass sie neben ihren Patienten und ihrem besten Freund Rick niemanden in ihrem Leben braucht. Detective Rebecca Wells kehrt nach vier Jahren in ihre Heimatstadt zurück, um endlich wieder glücklich zu sein. Doch als sie ihre Ex Dani wiedersieht, stellt sie geschockt fest, dass aus der einst warmherzigen Ärztin eine kalte, unnahbare Zynikerin geworden ist. Können die beiden Frauen das Feuer wiederentdecken, das sie einst verbunden hat? Und wird es eine zweite Chance für ein Happy End geben?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 417

Veröffentlichungsjahr: 2022

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Weitere Bücher von KD Williamson

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Epilog

Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen

Über KD Williamson

Sie möchten keine Neuerscheinung verpassen?

Dann tragen Sie sich jetzt für unseren Newsletter ein!

www.ylva-verlag.de

Weitere Bücher von KD Williamson

Was es uns bedeutet

Was zwischen uns steht

Kapitel 1

Dani brauchte einen Moment, um sich an die Dunkelheit ihres Schlafzimmers zu gewöhnen. Gott, sie liebte diese Verdunklungsvorhänge. Beste Investition aller Zeiten. Sie gähnte laut und streckte sich, die Arme zur Decke erhoben. Ihre Zehen lugten über die Bettkante heraus. Dani war immer noch müde, ein Dauerzustand, an den sie sich allerdings mittlerweile gewöhnt hatte. Gut ausgeschlafenwar sie nie, aber sie hatte gelernt, die Tage zu genießen, an denen sie mehr als ein paar Stunden in ihrem eigenen Bett schlafen konnte.

Etwas streifte sie.

Dani erschrak.

Eine weiche Hand, die Hand einer Frau, glitt über ihren Oberkörper. »Die letzte Nacht war wohl nicht besonders denkwürdig. Hast du vergessen, dass ich hier bin?«

Dani stöhnte innerlich. Das hatte sie in der Tat. Sie lachte leise. »Ja, entschuldige.« Dass eine Frau wie Sandra in ihrem Bett lag, hätte sie wirklich nicht so leicht vergessen dürfen. Sandra hatte verführerische Lippen und einen Schlafzimmerblick, der die ganze Nacht voll unverhohlener Lust auf Dani gerichtet gewesen war. Wie lange war es her, dass eine Frau sie so angesehen hatte? »Falls es das besser macht, ich habe geschlafen wie ein Stein.«

»Mmm. Wie spät ist es? Ich habe noch eine Schicht angenommen. Eine andere Stationsschwester geht zu einer Hochzeit. Um halb neun muss ich im Krankenhaus sein.« Sandra drückte sich von hinten an sie – eine Kombination aus heißer Haut, Kurven und verführerischen Brüsten.

Dani erschauerte wohlig. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete sie den Wecker auf ihrem Nachttisch. 06:03 Uhr, vielleicht? Ohne ihre Brille konnte sie das nicht mit Sicherheit sagen. Sie tastete neben dem Wecker herum, bis sie fündig wurde, und setzte sich die Brille auf. Es war 07:13 Uhr. Mist. »Es ist kurz nach sieben.«

»Verdammt.« Sandra seufzte. »Aber vielleicht reicht die Zeit noch, um einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.« Sie strich mit der Hand über Danis Brust.

Dani atmete tief durch und lehnte sich der Berührung entgegen.

Sandra umspielte Danis Nippel, während sie ihre Zähne sanft in die Schulter vor ihr vergrub.

Danis Körper sog die Berührungen in sich auf, als wäre sie kurz vor dem Verdursten. Es war wirklich viel zu lange her gewesen, seit sie eine Frau im Bett gehabt hatte.

Weniger als eine Stunde später schob Dani Sandra lachend aus ihrem Schlafzimmer. »Du kommst zu spät.«

»Das wäre dann deine Schuld. Du musst mir nur antworten, dann gehe ich.« Sandra grinste. Das Funkeln in ihren Augen ließ sie intensiver blau als gewöhnlich wirken.

Dani verschränkte die Arme vor der Brust. »Schön. Ja, vielleicht können wir das wiederholen, aber ich weiß nicht wann. Ich bin –«

»Beschäftigt. Ich weiß, du bist in deiner Assistenzzeit. Aber sei nicht überrascht, wenn ich dich irgendwann in eines der Bereitschaftszimmer zerre.«

»Ähem.«

Sandra drehte sich um.

Dani blinzelte ihren Mitbewohner und besten Freund an. Ricks behaarte, bronzefarbene Brust und seine Beine waren nackt. Der Rest seines Körpers steckte in grauen Boxershorts. Er saß grinsend in der Frühstücksecke und sein Stuhl knarzte, als er sich bewegte, um seinen Löffel in den Mund zu stecken.

»Oh, hey, Rick.«

Rick legte den Kopf schräg und lächelte träge. »Morgen, Sandra.« Er sang die Worte förmlich.

Dani funkelte ihn finster an.

Anstatt etwas zu sagen, hob Rick bloß die Augenbrauen.

Sandra drückte Dani schnell einen Kuss auf die Lippen und verschwand.

Dani schwieg, als sie sich neben Rick setzte. Er drehte sich zu ihr, während er sich weiterhin seinem Frühstück widmete.

»Ist das mein Rosinen-Nuss-Müsli?«, fragte sie schließlich.

Rick grinste. »Verdammt richtig. Ich könnte eine ganze Schüssel nur von diesen Rosinen essen.«

Sie griff nach seiner Schüssel. »Die Packung war fast leer.«

Er zog sie weg. »Nun, jetzt ist sie ganz leer.«

Danis Magen knurrte. Ricks Leben war in Gefahr, wenn sie nichts zum Frühstücken hatte. »Du könntest zumindest teilen.«

Er seufzte. »Schön, aber du nimmst deinen eigenen Löffel. Ich weiß, womit dein Mund heute Nacht beschäftigt war.«

Dani stöhnte. »Du kannst es einfach nicht sein lassen, oder?«

»Nein, kann ich nicht. Ich bin einfach froh, dass jemand den Staub abgepustet hat.«

Ihr Gesicht wurde heiß. Und war sicher mehr als feuerrot. Manchmal hasste sie es, so blass zu sein. Obwohl Rick sie angewiesen hatte, sich selbst Besteck zu holen, nahm Dani seinen Löffel und die Schüssel und stürzte sich auf den Rest des Müslis. »Halt die Klappe«, murmelte sie mit vollem Mund.

»Ich wette, als du die Beine gespreizt hast, sind Fledermäuse rausgeflogen. Haben sie gequietscht?«

Dani stieß ihn fest mit der Schulter an.

Rick lachte. Es war ein tiefer, herzlicher Laut, dem man nur schwer widerstehen konnte.

Dani lehnte sich an ihn und stimmte in das Lachen ein, bemüht, das Müsli dabei im Mund zu behalten.

Ein paar Minuten später hatte sie die Schüssel leer gegessen. Als sie den Blick hob, stellte sie fest, dass Rick sie beobachtete.

Er kniff die Lippen zusammen und rieb sich über seinen kahlen Kopf.

»Was?«

»Ähm, vielleicht sollte ich dich erst etwas verdauen lassen.«

»O mein Gott, was?« Dani stellte die Schüssel auf die Anrichte. »Spuck’s einfach aus.«

Rick schnaubte. »Okay, versprich mir nur, dass es dich nicht davon abhält, dein Ding zu machen.«

»Mein Ding?«

»Mit Sandra, wenn es darauf hinausläuft. Weißt du? Etwas Arsch, wenn du welchen brauchst.« Rick hob Daumen und Zeigefinger zu einer vulgären Geste.

»Ich brauche nicht jederzeit Frauen auf Abruf. Ich habe weder die Zeit noch das Interesse daran.«

»Ich bin einfach nur froh, dass du überhaupt mal wieder irgendein Interesse gezeigt hast.« Rick sah sie sanft an.

Dani zuckte mit den Schultern. »Egal, wie oft oder in welcher Form wir diese Unterhaltung führen, ich bin nicht in der Lage, irgendjemandem genug Konzentration und Aufmerksamkeit zu schenken. Nicht bei meinen Arbeitszeiten. Ich habe zumindest gelernt, mich besser um mich selbst zu kümmern.«

»Wenn du das sagst.«

»Hey! Was soll das heißen?« Dani funkelte ihn an.

»Willst du wirklich, dass ich darauf antworte?«

Nein, wollte sie nicht. Dani wechselte das Thema. »Egal. Ich weiß nicht, woher du die Energie nimmst, Frauen nachzujagen.«

»Ich manchmal auch nicht, aber darum geht es nicht.«

»Worum dann?« Dani stützte die Ellbogen auf die Anrichte.

»Ich weiß, dass das kein Problem für dich ist, aber du weißt, dass Sandra bi ist, richtig?«

»Ja, und? Was hat das …« Die Erkenntnis stieg langsam in ihr auf und hinterließ einen komischen Geschmack in ihrem Mund. »Nein … Das hast du nicht getan! In unserer Wohnung?«

Rick zuckte mit den Schultern. »Doch. Es ist ein paar Monate her. Wir hatten irgendwie über einen längeren Zeitraum was am Laufen, bis es im Sande verlaufen ist. Hin und wieder hier, aber größtenteils im Krankenhaus.«

Sandra stand also auf Bereitschaftszimmer. »Oh, igitt. War ihr Mund an deinem …« Dani warf einen Blick auf seinen Schritt.

Rick sah ebenfalls an sich herunter und lächelte.

Dani wand sich innerlich. »Gott, das ist, als hätte ich dir stellvertretend einen Blowjob gegeben.« Sie hatten schon einmal eine ähnliche Situation erlebt, aber Rebecca war für sie beide ein besonderer Fall gewesen. Es fiel ihr nur ein kleines bisschen schwer, die Gedanken an Rebecca zur Seite zu schieben, dann sah sie Rick wieder an.

»Das ist irgendwie viel zu inzestuös.« Rick rümpfte die Nase.

»Nicht wahr?«

»Ich wollte nur, dass du es von mir hörst, für den Fall, dass sie es erwähnt. Also, ich wünsche euch beiden –«

»Kein weiteres Wort.« Dani schüttelte den Kopf.

»Ja, ernsthaft.«

»Warte. Eine Sache noch. Habt ihr verhütet?« Dani musste einfach fragen.

Rick riss die Augen auf. »Ich lasse mich regelmäßig testen. Ich habe nichts, aber, scheiße ja! Ich hoffe, ihr hattet auch Safer Sex?«

»Auf jeden Fall.«

Er stand auf. »Gut. Ich sollte jetzt gehen.«

»Wohin gehst du? Es ist früh. Wir haben kaum noch am selben Tag frei und heute ist auch noch Samstag.«

Rick drehte sich um und lächelte. »Aah, du vermisst mich.«

»Tue ich. Bis auf ein paar Schwestern bist du der Einzige, den ich –«

»Und wessen Schuld ist das?«

Ihre. Ganz allein ihre. Aber wem ging es in seinem letzten Assistenzjahr schon anders? Wobei sie gar nicht daran denken durfte, dass ihr danach noch drei zusätzliche Jahre für die Spezialisierung in der Kinderonkologie bevorstanden. »Ja, na ja.«

»Die anderen Assistenzärzte sind gar nicht so schlimm, wenn du dich nicht in ihre Dramen reinziehen lässt.«

Dani zuckte mit den Schultern. »Ich will nicht –«

»Du hast keine Energie für Nettigkeiten, schon klar. Ich habe das schon oft genug gehört und gesehen«, beendete Rick den Gedanken für sie. »Es wirkt vielleicht nicht so, aber du wirst immer noch gemocht, obwohl du so gut wie allen die kalte Schulter zeigst. Sie erinnern sich daran, wie du mal gewesen bist.«

Sie runzelte die Stirn. Was andere dachten, war ihr egal.

»Bei allem, was passiert ist, glaube ich manchmal wirklich, dass es besser gewesen wäre, wenn du dich in ein anderes Assistenzprogramm hättest versetzen lassen. Für einen Neustart.« Ricks Stimme klang bestimmt, aber warm.

Flucht war für Dani nie eine Option gewesen. Sie hatte nur noch ein paar Monate vor sich und es war viel zu spät, um sich irgendwo anders für eine Weiterbildung zu bewerben. Außerdem würden ihre Dämonen ihr wahrscheinlich sowieso folgen. War das nicht immer so?

Sie seufzte. Diese Unterhaltung verdarb ihre Stimmung. Sie konnte es gerade nicht ertragen, über all das nachzudenken. Humor war der bessere Ausweg. »Das sagst du jetzt, aber was würdest du ohne mich machen?«

Rick schluckte den Köder. »Sandra noch mal einladen?« Er zog die Augenbrauen hoch.

Dani schätzte seine Angewohnheit, witzig und gleichzeitig ein Arsch zu sein. »O Gott, hör auf.« Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen. Dass er auch mal etwas mit Sandra gehabt hatte, würde sie nur schwer vergessen können. Sie hatte sowieso nicht vorgehabt, sich auf irgendeine Affäre am Arbeitsplatz einzulassen. Aber obwohl Dani von ihren Karrierezielen angetrieben wurde, war sie immer noch ein Mensch und sie hatte Sandras exzessivem Flirten schließlich nachgegeben. Dani hielt das nicht für Schwäche. Sex war eine biologische Notwendigkeit und Sandra, nach einer langen Trockenphase, erfreulich verfügbar gewesen.

Rick zog ihre Hände herunter. »Du kommst drüber hinweg.«

»Also, wohin gehst du?«

»Ich treffe mich mit einem Freund. Sollte nur ein paar Stunden dauern.«

»Wen?«

Rick wandte den Blick ab. »Niemanden, den du kennst.«

Interessant. »Kann ich mitkommen?«

»Es ist eine Beerdigung.«

»Oh.« Sie war ziemlich sicher, dass es unhöflich wäre, uneingeladen auf einer Beerdigung aufzutauchen.

»Ja, ich bin für die moralische Unterstützung da, also könnte es eine Weile dauern. Aber wenn ich zurückkomme, gehöre ich ganz dir. Versprochen. Vielleicht koche ich und wir sehen uns endlich einen unserer Filme an? Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, war der Festplattenspeicher nahezu voll.«

»Moment. Du ziehst mich dem Basketball mit den Jungs vor?«

Rick zuckte mit den Schultern. »Sie kommen gut ohne mich klar, da bin ich sicher.«

»Na ja, dein Team wird wahrscheinlich sowieso gewinnen.« Dani konnte nicht widerstehen, ein wenig zu sticheln. »Ich weiß, dass sich zumindest alle nach euch umdrehen, weil ihr oben ohne rumlauft.«

»Wie auch immer.« Er schnaubte und winkte ab. »Die anderen Teams sind einfach nicht so gut.«

»Wie du meinst. Also, machst du dann dein Hühnchengericht?«

»Welches?«, fragte Rick.

»Das mit den kleinen grünen salzigen Dingern?«

»Kapern?«

»Wenn du das sagst.«

»Okay, kannst du einkaufen gehen, wenn ich dir eine Liste schreibe?«

Dani sackte stöhnend auf ihrem Stuhl zusammen. »Du bist doch sowieso unterwegs.«

»Oh, sicher, und soll ich dann gleich auch dein Zimmer putzen? Wenn ich schon alles andere erledige.«

»Nein, schon gut.« Sie lächelte.

Rick lachte und ging dann in sein Zimmer.

Verdammt. Na ja, sie konnte immer noch lesen, um sich ein paar Stunden lang die Zeit zu vertreiben. Vielleicht etwas Medizinisches. An diesem Punkt in ihrer Karriere war ihr Kopf so voll, dass er bald platzen musste, aber trotzdem musste sie es schaffen, noch mehr zu lernen. Aber vielleicht wäre es besser, sich erst morgen wieder mit dem ganzen Kram zu beschäftigen. Selbst sie musste hin und wieder mal Luft holen und tief durchatmen.

»Hey?«

Dani sah auf.

Rick streckte den Kopf aus seiner Zimmertür. »Lässt sich das, was Sandra mit ihrer Zunge macht, gut auf Frauen übertragen?« Rick grinste so breit, dass sich kleine Fältchen an seinen Augen bildeten.

»Halt die Klappe!«

Er warf laut lachend den Kopf zurück.

Dani sah sich nach etwas um, das sie nach ihm werfen konnte.

Kapitel 2

Der Wind toste durch die skelettartigen Bäume des Friedhofs. Nackte Äste ächzten und schlugen geräuschvoll aneinander. Sie übertönten beinahe die Worte des Priesters.

Rebeccas Gedanken schweiften ab. Sie hatte sich schon vor drei Tagen verabschiedet. Für Tante Felicia musste ihr Tod nach so viel Leid eine willkommene Erleichterung gewesen sein.

Die Beerdigung war nur noch eine Formalität. Eine eher kleine Beerdigung war alles, was sich Rebecca mit dem Geld leisten konnte, das ihre Großtante für diesen Fall gespart hatte. Rebecca hätte sich für eine Einäscherung entscheiden können, aber der Gedanke, dass Tante Felicia für immer auf ihrem Kaminsims oder Couchtisch stand, war ihr unangenehm. Eine Zeremonie am Grab kostete immerhin tausend Dollar weniger als Glanz und Gloria in einer Kirche.

Ihre Tante war nie religiös gewesen: Rebecca konnte sich nicht daran erinnern, dass Felicia jemals sonntags in die Kirche gegangen war. Nur einmal im Jahr, zu Weihnachten, machte sie sich auf den Weg. Der Priester heute war also ein Fremder und gehörte zum Service des Beerdigungsinstituts.

Eine Handvoll Menschen hatte sich um den einfachen Holzsarg versammelt und beugte sich über die Öffnung des frisch ausgehobenen neuen Ruheplatzes. Rebecca kannte drei von ihnen sehr gut, darunter die Pflegerin, die sich seit der Diagnose im letzten Jahr um Tante Felicia gekümmert hatte. Freunde der Familie, die aus ihren Löchern gekrochen waren, als sie die Nachricht gehört hatten, waren da. Zum Glück hatte sich keiner der Verwandten die Mühe gemacht, zu erscheinen. Sie hatten schon seit Jahren nichts mit Felicia zu tun gehabt und jetzt auch keinen Grund mehr dazu.

Rebecca hielt sich abseits von dem kniehohen Haufen Erde, der mit einer grünen Plane abgedeckt war. Sie war nicht sicher, warum man die Erde abdeckte. Sie sichtbar zu zeigen, würde die Endgültigkeit der Situation auch nicht zerstören.

Sie ließ ihren Blick über die Gesichter der Anwesenden gleiten. Niemand weinte und auch Rebecca blieb stoisch.

Tante Felicia hätte es so gewollt. Ein Schniefen und sie würde wahrscheinlich aus der mit Satin ausgekleideten Kiste auferstehen und alle anschreien.

Beinah hätte Rebecca gelächelt. Sie sah hinauf in den Himmel. Die Sonne bemühte sich heldenhaft, durch die Wolken zu brechen. Im Kontrast zum Rest des grauen Himmels wirkten die wenigen Sonnenstrahlen fast weiß. Doch selbst die Sonne würde das trübe Bild, das sich Rebecca bot, nicht ändern. Es war Mitte September und für die Jahreszeit untypisch kühl.

Ihre Augen brannten, als die Trauer sich doch langsam ihren Weg an die Oberfläche bahnte. Tante Felicia war eine harte Frau gewesen, niemals warmherzig oder übermäßig freundlich. Rebecca war ihr für vieles dankbar, obwohl es nicht einfach gewesen war, bei ihr aufzuwachsen. Manchmal war es sogar schrecklich gewesen. Ihre Tante war streng und glaubte daran, die Wahrheit so offen aussprechen zu müssen, wie sie sie wahrnahm – was auch ihre Meinung über Rebeccas Sexualität eingeschlossen hatte.

Nur einmal hatten sie darüber gesprochen, als Rebecca noch zur Schule gegangen war und mit ihrer ersten Freundin erwischt wurde. Obwohl gesprochen den Eindruck vermitteln würde, dass es eine Unterhaltung gegeben hatte. Tatsächlich war es eher Geschrei gewesen. Seitdem hatte Rebecca diesen Teil ihres Lebens vor ihrer Tante versteckt gehalten. Allerdings hatte sie sich geweigert, ihr Leben nicht mehr zu leben. Man musste ja nicht über alles reden oder alles mit jedem teilen.

Die Sonne verlor ihren Kampf und verschwand völlig hinter der Wolkendecke. Rebecca richtete den Kragen ihrer Lederjacke, um ihren Hals zu bedecken. Sie hätte etwas Dickeres anziehen sollen, aber die schwarze Lederjacke passte besser zu ihrem Hosenanzug und der Beerdigung. Sie schob die Hände in die Taschen und schimpfte mit sich selbst dafür, keine Handschuhe angezogen zu haben.

Jemand trat langsam neben sie. Instinktiv bewegte Rebecca sich einen Schritt zur Seite.

Die Person legte eine Hand auf ihren unteren Rücken. Sie kannte diese Wärme und das unverwechselbare Parfum. Sie drehte sich ein Stück und sah zu Rick auf. Seine Augen waren dunkel und er sah sie sanft an. Rebecca entspannte sich. Sie hatte nicht wirklich erwartet, dass er kam. Dankbar, dass er es doch getan hatte, legte sie ihren Arm um seinen und drückte ihn.

»Entschuldige, ich wurde im Verkehr aufgehalten«, flüsterte er und drückte ihr einen Kuss auf den Kopf.

Rebecca nickte und ließ sich noch weiter gegen ihn fallen.

Einige Minuten später kam der Priester zu ihr, um ihr die Hand zu schütteln. »Ms. Wells, ich möchte Ihnen noch einmal mein Beileid aussprechen.«

»Danke«, erwiderte Rebecca. Anschließend kam eine Person nach der anderen zu ihr, um ihre Anteilnahme zu bekunden. Diejenigen, die sie kannten, wollten sie umarmen, aber Rebecca tat ihr Möglichstes, um dem aus dem Weg zu gehen.

Als sie allein waren, trat Rick wieder an sie heran. »Geht’s dir gut?«

Rebecca nickte. Sie nahm eine Handvoll Erde und ließ sie auf den abgesenkten Sarg rieseln.

»Ich muss hören, dass du es sagst.«

Sie klopfte sich die Hände ab. »Ja.« Ihre Stimme war belegt und rau. Rebecca räusperte sich. »Ja, es wird schon wieder.«

Rick legte den Kopf schräg und musterte sie einen Moment. »Okay. Also, ich weiß, dass du noch nichts gegessen hast. Lass mich dich zum Frühstück einladen.«

Sie gingen langsam zum Parkplatz. Der ältere, dunkelblaue Toyota Camry stach unter den hübscheren Autos heraus, die gerade wegfuhren. »Du hast das letzte Mal gezahlt, als ich hier war, und ich verdiene mehr als du.«

Rick schnaubte. »Das wird nicht für immer so sein.«

Sie brummte zustimmend.

»Lust auf Home Grown?«

Rebecca lief tatsächlich das Wasser im Mund zusammen. Kein Südstaatler, der etwas auf sich hielt, würde je Nein zu Biscuits and Gravy sagen. Auch wenn der Rest der Welt diese Vorliebe für das Gericht aus weichen Brötchen und einer mit Mehl und Milch angedickten Bratensoße nicht verstand. »Mhm.«

»Wir treffen uns da und ich reserviere einen Platz, wenn ich vor dir da bin. Theke oder Tisch?«

»Tisch«, antwortete sie.

»Wird gemacht.«

~ ~ ~

Rebecca fuhr auf der Suche nach einem Parkplatz um den Block. Gerade als etwas frei wurde, zischte ein anderes Auto vor ihr in die Parklücke. »Verdammtes Arschloch!« Sie fuhr langsamer und sah den Kerl, der aus dem Auto stieg, finster an. Er schenkte ihr jedoch absolut keine Aufmerksamkeit, was sie nur noch mehr grummeln ließ.

Ihr Handy piepte. Als sie an einer roten Ampel hielt, nahm sie es in die Hand.

Bin gerade angekommen. Habe eine Sitzecke bekommen. Ist auf meinen Namen reserviert.

Etwas weiter die Straße hoch fand sie schließlich doch einen Parkplatz. Rebecca stieg aus und gab ihre Autonummer in die mobile Parkingapp ein, um für ein paar Stunden zu bezahlen, ehe sie schnell zum Restaurant ging.

Als sie das Home Grown betrat, lächelte die Empfangsdame sie an.

»Ich bin mit Rick Turner verabredet.«

Die Empfangsdame sah auf die Liste mit den Reservierungen und richtete ihren ausdruckslosen Blick dann wieder auf Rebecca.

»Sehr groß, Glatze, etwas dunkler als ich und gutaussehend?«

Die Frau drehte sich um und musterte die sitzenden Gäste. Als sie sich wieder zu Rebecca umdrehte, hob sie eine Augenbraue.

Rebecca musste lächeln. Sie hatte gerade mehr als die Hälfte der anwesenden Personen beschrieben.

Ein Mann trat hinter die Empfangsdame. »Ich übernehme, Jamie.«

Die Frau nickte. »Kevin weiß vielleicht, von wem Sie sprechen. Ich kann seine Handschrift nicht lesen.«

Rebecca ließ ihren Blick erneut durch den Raum gleiten, während Kevin den Sitzplan betrachtete. Das Restaurant war voll. Die verschiedenen Unterhaltungen, das Lachen und der Geruch von frisch frittiertem Essen gaben diesem Ort eine einladende Atmosphäre. Selbst im Eingangsbereich hielten sich eine Menge Leute auf. Rick musste heftig geflirtet oder jemanden bestochen haben, um so schnell einen Tisch zu bekommen.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Kevin.

»Rick Turner?«

Kevin strahlte.

Also hatte Rick wahrscheinlich geflirtet und ihn bestochen. Er hatte wirklich kein Schamgefühl.

»Jaime, kannst du noch eine Minute hierbleiben?«, fragte Kevin seine Kollegin, die nickte. Er bedeutete Rebecca, ihm zu folgen.

Als sie den Tisch erreichten, an dem Rick grinsend saß, richtete Kevin seine Aufmerksamkeit auf Rick. »Kann ich Ihnen noch etwas bringen?« Sein Lächeln war breit und strahlend.

Rick schüttelte den Kopf. »Nein, aber danke, dass Sie das gemacht haben.«

Kevins Lächeln verblasste ein wenig. »Sehr gern geschehen.«

Rebecca beobachtete die Szene schweigend und presste die Lippen zusammen, um nicht zu lachen.

Als Kevin weg war, sah Rick sie mit einem Lächeln an. »Also, warum hast du so lange gebraucht?«

Rebecca nahm sich die Speisekarte, obwohl sie wusste, was sie wollte. »Jemand hat mir den Parkplatz vor der Nase weggeschnappt.«

Er lachte leise. »Sag mir, dass du niemanden erschossen hast. Oder hast du ihm die Meinung gegeigt? Für eine so winzige Person kannst du verdammt angsteinflößend sein. Deine aggressive Fahrweise ist so undamenhaft.«

Sie sah ihn finster an. »Ich bin nicht winzig, Bigfoot. Und ich trage keine Waffe, wenn ich nicht im Dienst bin.«

Er schnaubte. »Den Blick hat mir Dani heute Morgen schon mehrmals zugeworfen. Ich brauche ihn nicht auch noch von dir.«

Dani. Etwas in Rebeccas Magen zog sich zusammen. Eine fast harmlose Reaktion. Es hatte lange gedauert, bis der Klang dieses Namens sich nicht mehr wie ein Schlag in die Magengrube angefühlt hatte. »Sie ist wütend auf dich?«

»Nein, nicht wirklich.«

»Ah.« Rebecca biss sich auf die Innenseite ihrer Wange, um nicht weiter nachzufragen. »Wie geht’s ihr?« Die Worte entschlüpften ihr trotzdem.

Rick trank einen Schluck Wasser. Mehrere Sekunden vergingen. »Mir gefällt deine neue Frisur. Steht dir. Warum hast du dich für kurz entschieden?«

Rebecca war heiß, also zog sie ihre Jacke aus und hängte sie über ihre Stuhllehne. Sie wusste, was er tat. Er lenkte vom Thema ab, um sie zu beschützen. Manchmal musste sie ihm die Informationen förmlich entreißen. Obwohl sie wusste, dass Dani sie nichts mehr anging. Rebecca entschied sich, auf seine Ablenkung einzugehen. »Ich brauchte eine Veränderung.« Sie strich über ihren Pony und den Nacken. Sie hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass nichts mehr da war. Die verbliebenen Haare waren weich und am Nacken und an den Seiten kurz geschoren. »Ich war versucht, sogar noch kürzer zu wagen.«

»Wie Lupita Nyong’o, als sie angefangen hat?«

»Ja.«

Er musterte sie. »Nein. Aber du hättest die Farbe etwas aufhellen sollen. Damit deine haselnussbraunen Augen betont werden.« Er verzog das Gesicht. »Dani hat seit einer Ewigkeit dieselbe Frisur. Ich glaube, sie würde mit kurzen Haaren und vielleicht sogar blonden besser aussehen, aber sie ist immer noch damit zufrieden, einen Pferdeschwanz zu tragen, wenn es sein muss.«

Rebecca lächelte. Manche Dinge änderten sich nie. Sie hatte ein Bild von Dani im Kopf und wollte nicht, dass die Vorstellung von dunklen, zerzausten, schulterlangen Haaren und gefühlvollen braunen Augen zerstört wurde. »Vielleicht hast du den falschen Beruf. Ich kenne niemanden, der so ein Händchen für Stil hat.«

»Ich bin stolz darauf, diese Dinge zu wissen.«

Rebecca schluckte. »Rick?«

»Hm?«

Der Kellner tauchte auf. »Guten Morgen. Ich bin Andy. Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen?«

»Cola mit extra viel Eis und die Biscuits bitte. Viel Soße.«

»Orangensaft ohne Fruchtfleisch und die Hühnchenpastete mit selbstgemachten Pommes.« Rick lächelte den Kellner an.

Orangensaft wäre besser für sie gewesen, aber sie brauchte eine Ladung Zucker. Außerdem passte Cola zu allem. Als sie wieder allein waren, fuhr Rebecca fort. »Also, ist sie mit jemandem zusammen? Es ist vier Jahre her. Ich werde nicht zusammenbrechen, falls es so ist.« Rebecca selbst hatte die ganzen Jahre auch nicht wie eine Nonne gelebt.

Rick lehnte sich seufzend zurück. »Warum fragst du dann? Ich habe nur versucht –«

»Ich weiß und es war auch anfangs ganz lieb, aber …«

Er hob eine Hand. »Okay, ich verstehe. Es geht ihr gut. Sie überfordert sich immer noch.«

»Hm.« Er hatte ihre Frage nicht direkt beantwortet, aber selbst das war vielsagend.

Nach der Trennung war Rick neutral wie die Schweiz gewesen und war es noch immer, wenn es nötig war. Andernfalls hätte ihre Freundschaft nicht überlebt.

»Sie hat sich nicht stark verändert. Du hingegen …« Rick beendete den Satz nicht. Musste er auch nicht.

»Das ist gut.« Rebeccas Kehle war plötzlich trocken. Sie griff nach seinem Wasser und trank einen Schluck. Anscheinend hatte Andy vergessen, ihr auch ein Glas zu bringen. »Ich weiß, dass du ihr nicht von Tante Felicia erzählt hast, aber man könnte doch denken, dass sie es auf Facebook oder so gesehen hat.« Sie fischte im Trüben. Das war nicht das Klügste, aber jetzt konnte sie es nicht mehr zurücknehmen.

»Dani hat nicht mal einen Facebook-Account.« Er nahm sein Glas wieder zurück. »Lass dich nicht unterkriegen. Sie wäre sowieso nicht gekommen. Sie hat sie nicht wirklich gekannt und auch nach all der Zeit kann ich mir nicht vorstellen, dass sie in deiner Nähe sein will.«

Der Kellner brachte ihre Getränke. Rebecca packte ihren Strohhalm aus und steckte ihn in ihr Glas. Ricks Worte taten weh, aber sie hatte sie verdient. Das Ziehen in ihrem Bauch kehrte zurück. »Ja.«

Rick schwieg einige Minuten und dafür war Rebecca dankbar. Da sie den Koffeinkick brauchte, trank sie ihre Cola aus, während er sich mit seinem Handy beschäftigte.

Schließlich sah er auf. »Also, wie lange bleibst du?«

Rebecca atmete tief durch. »Felicia hat mir das Haus hinterlassen. So wie es ist. Da sie die Behandlung verweigert hat, sind nicht viele Rechnungen offen.«

»Wirst du es trotzdem verkaufen?«

Erneut tauchte der Kellner auf und stellte die Teller vor ihnen ab.

Rick hielt seinen Blick weiter auf sie gerichtet.

Rebecca nahm den Pfefferstreuer und konzentrierte sich darauf, eine schöne Menge des Gewürzes auf die in Gravy getränkten Biscuits zu verteilen. Anschließend sah sie auf und stellte den Streuer wieder auf den Tisch. »Nein, ich werde bleiben.«

Seine Augen weiteten sich und langsam breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Du lügst.«

»Ich wollte nichts sagen, bis ich wusste, dass ich einen Job habe. Anfang der Woche hatte ich ein Bewerbungsgespräch für einen Arbeitsplatz in der Vermisstenstelle für Jugendliche im Atlanta Police Department. Mein Captain hat von oben erfahren, dass es so gut wie beschlossen ist. Ich sollte nächste Woche einen Anruf bekommen.«

»Wahnsinn!« Rick grinste weiter.

Seine Reaktion ließ sie strahlen. »Ich weiß, nicht wahr? Ich hatte Glück.«

»Warum wolltest du zurückkommen?«

Auf seine Frage gab es so viele Antworten, kleine und große. Vielleicht sollte sie sich für die großen entscheiden. »Als ich wusste, dass ich Polizistin sein wollte, habe ich alles getan, um dieses Ziel zu erreichen. Ich habe den Kopf unten gehalten und einfach meinen Job erledigt. Diese Konzentration hat mich auf der Polizeiakademie und in der Zeit danach weit gebracht. Ich war bereit, alles zu tun und überall dahin zu gehen, wo sie mich wollten. Als ich Detective wurde, war die einzige offene Stelle in der Einheit für vermisste Personen. Ich habe es nicht lange gemacht, aber es stellte sich heraus, dass es genau mein Ding ist. Ich will das weitermachen. Meine Einheit … Größtenteils waren es gute Leute, denke ich.« Rebecca sah auf ihren Teller. »Aber es ist nicht zu Hause. Ich habe hier nicht mehr viel …«

»Hör auf.«

Ihre Blicke trafen sich.

»Du hast eine Menge.« Rick schob seine Hand mit der Handfläche nach oben über den Tisch.

Rebecca ergriff sie.

»Du hast gerade mehr gesagt als üblich. Bist du müde?« Er lächelte sie schief an.

Rebecca bog seine Finger zurück.

»Autsch! Hey …« Er fing an zu lachen. »Tut mir leid. Schlechter Witz und schlechtes Timing.«

»Stimmt.«

»Ich meine es aber ernst.« Er drückte ihre Hand.

»Manchmal kann ich nicht glauben, dass ich dich mal attraktiv fand.«

Rick wand sich. »Ich erinnere mich noch an diese Party. Während des Studiums hatte ich nicht oft die Chance, zu feiern, aber der Abend war klasse. Ich bin so froh, dass ich zu betrunken war, um mit dir zu schlafen.«

»Ich auch.« Stattdessen hatten sie mehr und mehr Zeit miteinander verbracht, waren Freunde geworden und schließlich hatte Rick sie seiner besten Freundin vorgestellt.

»Aber ernsthaft. Ich bin froh, dass du bleibst.« Er leckte sich die Lippen. »Aber du weißt, sie wird es nicht gut aufnehmen, dass du wieder hier bist, oder?«

»Du hast gesagt, dass sie eine Weile nicht nach mir gefragt hat.« Der Gedanke löste die Hoffnung in ihr aus, dass sie nach all dieser Zeit noch Wirkung auf Dani haben könnte. Rebecca genoss den Gedanken.

»Hat sie auch nicht, aber es war leichter, mit euch beiden befreundet zu sein, als du vier Stunden weit weg in Savannah warst.« Rick rieb sich über den Kopf. »Sie weiß, dass wir Kontakt haben, aber ich bin nicht sicher, warum ich sie jedes Mal angelogen habe, wenn ich dich besucht oder getroffen habe, wenn du in der Stadt warst.«

»Ich glaube, du hast gerade deine eigene Frage beantwortet. Es war einfacher.«

»Vielleicht. Atlanta ist vielleicht groß, aber ich glaube nicht, dass es gut ist, so etwas vor ihr zu verheimlichen. Und vor allem das hier.« Rick deutete zwischen ihnen hin und her.

»Ja, das denke ich auch. Da ich wieder herziehe, ist es vielleicht das Beste, es öffentlich zu machen.«

Er atmete aus und seine Schultern sackten etwas nach unten. »Ich sollte es ihr wohl sagen.«

Rick klang nicht begeistert, aber Rebecca konnte ihm keinen Vorwurf machen. Die Versuchung, alles in seine Hände zu legen, war beinahe unwiderstehlich. Aber das wäre unfair ihm gegenüber.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich werde es tun, wenn ich so weit bin.« Ein kalter Schauer der Angst lief ihr bei diesem Gedanken über den Rücken. »Sie wird so schon sauer genug auf dich sein.«

»Ich weiß.« Rick sah auf seinen Teller und schob mit der Gabel das Essen darauf herum.

»Aber sie wird dir verzeihen«, sagte Rebecca. »Es wird ein oder zwei Minuten dauern, aber sie wird dir verzeihen.« Allerdings würde Dani sie wahrscheinlich noch mehr hassen. Vielleicht bildete sich Rebecca aber auch zu viel ein. Mittlerweile war sie an einem Punkt, an dem sie Dani keinen Vorwurf mehr machen würde, wenn diese sich einen Scheiß für sie interessierte. All die Wärme, die sich vor einer Minute in ihr breitgemacht hatte, verschwand angesichts dieser Gedanken.

Rick sagte nichts und sah sie auch nicht an.

Ihre Schuldgefühle schmerzten immer noch. Es war der Schmerz einer Klinge, die mit der Zeit zwar stumpfer geworden war, aber nie von ihr abließ.

Sie legte ihre Hand auf Ricks. Er drückte ihre Finger. Rebecca wollte ihn nicht verlieren.

Sie zog ihre Hand zurück und machte sich über ihr Essen her. Es war immer noch warm, aber die Köstlichkeit vor ihr hätte genauso gut Asche in ihrem Mund sein können.

Ricks Besteck fiel klappernd auf den Teller. »Nein, Becca.«

Sie sah ihn an. Er war der Einzige, der in den letzten vier Jahren die Abkürzung ihres Namens benutzt hatte. Er war der Einzige, dem sie es erlaubt hatte. »Nein was?«

Er richtete sich auf seinem Stuhl auf. »Hör zu, ich will das auch nicht machen, aber dass du einfach aus heiterem Himmel auftauchst, hört sich das für dich wirklich richtig an?«

»Andernfalls wird sie mich wahrscheinlich nicht sehen wollen.«

»Wahrscheinlich.« Rick zuckte mit den Schultern. »Aber kannst du es ihr vorhalten? Ich muss sowieso reinen Tisch mit ihr machen. Da kann ich ihr genauso gut alles sagen und mich den Konsequenzen stellen.«

Rebecca sah ihn einen Augenblick lang an. Sein Sinneswandel stürzte ihre eigene Entschlossenheit ins Chaos. Aber ein Teil von ihr war auch erleichtert, während der andere Teil von Angst umklammert wurde. Sie versuchte, den Kloß in ihrer Kehle herunterzuschlucken, hatte aber nur wenig Erfolg. Was konnte sie tun? Was auch immer passieren würde, lag nicht nur in ihren Händen.

Sie nickte.

Als hätte er den Atem angehalten, sank er plötzlich in sich zusammen und nickte ebenfalls.

Vielleicht war nichts davon so schlimm, wie sie es sich vorstellten. Vielleicht hatte Dani wirklich alles, was zwischen ihnen passiert war, hinter sich gelassen. Vielleicht konnten sie sogar Freunde sein.

Eine Menge Vielleichts. Mindestens eins davon würde sich bewahrheiten.

Vielleicht.

Kapitel 3

Dani kam um die Ecke, den Blick konzentriert auf das Tablet in ihrer Hand gerichtet. Sie blätterte weiter zur nächsten Seite der Patientenakte und murmelte leise vor sich hin. Die Laborberichte des Patienten waren alt, darum konnte sie nicht beurteilen, ob seine Werte sich gebessert hatten. Immer wieder huschten Kollegen an ihr vorbei. Mehrmals hörte Dani ihren Namen und jedes Mal sah sie auf und nickte höflich.

Mit der Schulter stieß sie schließlich die Tür der Pädiatrie auf und betrat eine vollkommen andere Welt. Verschwunden waren die langweiligen weißen Wände, die das restliche Amery University Hospital prägten. Die Kinderkrankenstation war bunt. Jede Wand war individuell gestaltet. Und das war großartig. Die Bilder erinnerten sie daran, dass jedes Kind einzigartig war.

Auf ihrem Weg zum Schwesternzimmer passierte Daniela ein riesiges Wandgemälde – ein großer Baum mit langen, gewundenen Ästen, zwischen denen sich Schmetterlinge, Bienen und Kolibris tummelten. Eine Eichhörnchenfamilie beobachtete das Geschehen um sie herum aus ihrem Kobel. Dani fühlte sich ihnen verwandt, denn wie diese Eichhörnchen war auch sie eine Beobachterin dessen, was um sie herum geschah. Ihre Aufgabe ging aber weit über die der Eichhörnchen hinaus. Sie war nicht nur eine Beobachterin, sondern auch eine Art Hüterin, Beschützerin der » Bewohner« der Station. Als sie weiterging, kam sie an Bildern von Prinzessinnen, Feuerwehrmännern, Monstertrucks, Spongebob und vielen anderen Figuren vorbei.

Am Schwesternzimmer angekommen, ignorierte Dani die kleine Gruppe von Ärzten, die etwas abseits stand, und wandte sich an die Krankenschwester hinter der Rezeption. »Betty?«

Ohne ihr Telefonat zu unterbrechen, sah die Krankenschwester auf und hob einen Finger.

Dani nickte. Plötzlich rammte sie jemand. Beinahe wäre ihr das Tablet aus der Hand geflogen. Sie drehte sich um, um zu sehen, wer sie als Rammbock benutzt hatte. Dani kannte das Gesicht des Mannes, sein Name fiel ihr allerdings nicht ein. Sie warf einen schnellen Blick auf das Namensschild.

»Entschuldigung, Dr. Russell«, sagte er.

Dani zwang sich zu einem Lächeln. »Nichts passiert, Dr. Norman.«

Er war groß und mollig und sein Blick huschte nervös umher. »Ich hasse diese Rotation. Ich wäre lieber in der Orthopädie als hier.«

»Ähm, okay.« Dani trat einen kleinen Schritt zurück. Er wirkte etwas gestresst, aber taten das nicht alle Assistenzärzte? »Na ja, dann ist das vielleicht nicht der richtige Ort für Sie.«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich will eine umfassende medizinische Ausbildung.« Seine Stimme war so monoton, als würde er aus einer sehr langweiligen Broschüre vorlesen.

»Sie mögen keine Kinder?« Dani wich ein kleines Stück zur Seite.

»Gott, nein«, flüsterte er. Immerhin war er so klug, die Stimme zu senken. »Und Kinder mögen mich auch nicht.«

Wahrscheinlich rochen sie seine Angst. Mühsam unterdrückte Dani ein Grinsen. Sie wollte auf keinen Fall, dass er den Eindruck gewann, dass sie sich anfreunden könnten. Einen guten Ratschlag konnte sie ihm aber geben. »Am besten, Sie sprechen mal mit Ihrem Betreuer darüber.«

Er nickte.

»Brauchen Sie etwas, Dr. Russell?«

Zumindest heute war Bettys Timing ausgezeichnet. Dani lächelte Dr. Norman knapp zu und wandte sich dann an Betty. »Ja, die Ergebnisse von Marks neuestem Bluttest sind nicht in seiner Krankenakte. Ich dachte, ich hätte vermerkt, dass es dringend ist.«

Betty sah zu Dr. Norman. »Eigentlich hätte Dr. Norman im Labor bleiben und den Leuten dort Feuer unter dem Hintern machen sollen.«

Dr. Normans Gesicht wurde rot und er stammelte: »Es tut mir leid. Ich, ähm, habe es falsch verstanden. Ich habe ihnen gesagt, sie –«

»Sehen Sie es als Ihre Chance, der Pädiatrie für eine Weile zu entkommen«, unterbrach Dani ihn.

»Ja, gut. Danke.« Kaum hatte er den Satz zu Ende gesprochen, verschwand er.

Betty verdrehte die Augen. »Du meine Güte. Vielleicht ist es besser für ihn und alle anderen, wenn man ihn in die Forschung steckt.«

»Das ist nicht nett.« Dani lachte leise.

»Nein, aber Sie wissen, dass es stimmt.«

»Kein Kommentar.«

»Gute Antwort. Sie müssen ja Ihren Ruf wahren.« Betty hob eine Augenbraue.

Dani drückte das Tablet an ihre Brust. »Was wird denn jetzt wieder über mich erzählt?«

»Offensichtlich sind die neuen Assistenzärzte immer noch der Meinung, dass Sie sich für etwas Besseres halten, aber jemand hatte die geniale Idee, es läge daran, dass Sie reich sind.«

»Schön wär’s. Wie kommen die auf so etwas?« Dani war es mittlerweile egal, was die Studierenden und die anderen Assistenzärzte von ihr dachten. Dennoch wunderte sie sich oft über den Mist, den sie sich einfallen ließen.

Betty zuckte mit den Schultern. »Sie sind eben eine mysteriöse Frau.«

»Nein, bin ich nicht. Ich rede mit Menschen.«

Betty musterte sie skeptisch.

»Na ja, mit manchen Menschen. Mit Kindern, Eltern, Krankenschwestern und mit Rick. Das zählt doch wohl.« Ihr wurde allerdings bewusst, dass sie Rick diese Woche kaum gesehen oder mit ihm gesprochen hatte.

»Sollte man meinen. Da wir gerade davon sprechen, Austin fragt schon den ganzen Vormittag nach Ihnen.«

»Hat schon einer seiner Ärzte nach ihm gesehen?«, fragte Dani.

»Ja. Aber er versteht nicht recht, warum Sie in Zukunft nicht mehr so oft da sein werden.«

»Ich weiß. Aber mir ist es lieber, dass er verwirrt ist, als dass er wieder auf die pädiatrische Intensivstation oder die Onkologie zurückmuss. Wo ist er?« Dani seufzte. Sie war es gewohnt, dass sich sowohl die Kinder als auch deren Eltern sehr auf sie fixierten. Dani störte das nicht, vor allem wenn es ihnen half, eine schwierige Zeit durchzustehen.

»Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, war er bei den Avengers.«

Es dauerte nicht lange, bis sie Austin gefunden hatte. Dani strich ihm über den Arm, schwieg jedoch. Gemeinsam betrachteten sie das Wandbild.

»Hat noch nie jemand gesagt, dass das Grün vom Hulk falsch ist? Dann könnte man das ändern.« Austin wandte sich Dani zu. Seine braunen Augen waren klar und strahlend und weit entfernt von dem schmerztrüben Anblick, der Dani schon so vertraut war.

Sie musterte das Wandbild. Dani hatte keine Ahnung von Comics oder Superhelden, aber nachdem ihr Dutzende von Kindern gesagt hatten, dass Hulk nicht neongrün sein sollte, glaubte sie es. »Ich weiß es nicht.«

»Und er lächelt. Das tut der Hulk nicht. Warum hat er so große Zähne?«

Das hatte Dani sich auch schon gefragt. Er sah aus, als würde er in einer Zahnpastawerbung mitspielen. »Diese Frage kann ich dir leider nicht beantworten.«

Austin sah sie weiter an und kratzte sich am kahlen Kopf. »Warum können Sie nicht mehr meine Ärztin sein? Ich kann Ihnen alles über den Hulk beibringen, wenn Sie mögen.«

»Weil all die schlimm kranken Zellen herausgenommen wurden, als Dr. Meda dich operiert hat, und du mich jetzt nicht mehr brauchst. Aber ich freue mich, wenn du mir etwas über den Hulk beibringst.«

»Die wirklich, wirklich kranken Kinder sehen Sie am meisten, stimmt’s?«

»Genau. Ich sorge dafür, dass sie die richtige Medizin bekommen, damit es ihnen wieder besser geht.« Dani sah ihn die ganze Zeit direkt an, ohne den Blickkontakt zu unterbrechen.

Plötzlich schlang Austin die Arme um sie. Lächelnd streichelte sie ihm über den Rücken und genoss voller Zuneigung seine Nähe.

»Es ist ätzend, dass ich Sie nicht mehr sehen kann.« Er schniefte und drückte sein Gesicht an ihre Brust.

»Ich weiß, aber du darfst bald nach Hause. Da kannst du deinen Hund sehen und draußen spielen. Willst du das nicht?«

Er sah zu ihr auf und nickte. »Ich will nie wieder so krank sein.«

»Das will ich auch nicht.«

Austin trat zurück, lehnte sich aber weiterhin an sie. »Thor ist auch falsch. Er sollte einen Hammer haben und kein Schwert.«

Sie lachte leise. »Das habe ich auch schon gehört.« Dani legte einen Arm um seine Schultern. »Na komm, ich bringe dich wieder in dein Zimmer.«

»Okay.« Austin ließ sich von ihr führen. »Dr. Russell?«

»Hm?« Sie gingen an den Monstertrucks vorbei.

»Wenn ich meine Mom überreden kann, den Film mitzubringen, schauen Sie sich dann The Avengers mit mir an? Oder können wir ihn vielleicht auf YouTube gucken? Die Szenen mit dem Hulk sind die besten. Die müssen Sie sehen.« Aus großen, aufrichtigen Augen sah Austin zu ihr auf.

»Okay, ich habe ein paar Minuten Zeit und ein Smartphone. Also schauen wir es uns auf YouTube an.«

Zehn Minuten später verließ Dani Austins Zimmer mit einem Lächeln im Gesicht. Diese kleinen Momente machten ihre manchmal zermürbende Arbeit als Assistenzärztin erträglich. Und dann konnte sie auch noch Leben retten und großartige Kinder kennenlernen. Nichts anderes reichte daran heran.

~ ~ ~

Dani schickte Rick eine Nachricht, aber eine Viertelstunde später hatte er immer noch nicht geantwortet. Sie sah im Aufenthaltsraum nach und war sogar mutig genug gewesen, in einige Bereitschaftsräume zu schauen, hatte aber auch dort kein Glück. Sie wollte nur mit ihm Mittag essen. In den letzten Tagen hatten sie sich zwar im Vorbeigehen mehrmals gesehen, aber, abgesehen von einer kurzen Begrüßung, nicht miteinander gesprochen. Das war durchaus typisch für sie. Nicht typisch war allerdings, dass Rick so kurz angebunden war und sie mied. Normalerweise suchten sie die Nähe des jeweils anderen, selbst wenn es nur für ein paar Minuten war.

Rick war nicht im OP. Dani hatte an der Tafel nachgesehen. Als sie das Ende des Flurs erreichte, drückte Dani auf den Fahrstuhlknopf. In der Cafeteria hatte sie noch nicht nachgesehen. Sie mussten reden – ihre normalerweise tiefe Verbindung wiederherstellen.

Der Fahrstuhl öffnete sich. Dani entdeckte Sandra und hielt sich schnell das Handy ans Ohr. Sie winkte Sandra zu, als diese den Fahrstuhl verließ.

Dani trat ein. Ja, so wie anscheinend Rick, vermied sie auch jemanden, aber sie hatte ihre Gründe. Der wichtigste war, dass sie wirklich kein Interesse hatte, in Flüssen zu schwimmen, in die Rick bereits gesprungen war. Nichts gegen Sandra. Die Nacht und der darauffolgende Morgen waren ihr noch gut in Erinnerung.

Die Fahrstuhltüren öffneten sich ein paar Mal, bevor sie ihr Ziel erreichte. Dani ließ die anderen zuerst aussteigen, ehe sie in den Flur trat.

Und tatsächlich, da stand Rick. Er lehnte an der Wand am Ende des Gangs und telefonierte, ging dabei auf und ab und gestikulierte wild, ehe er sich mit der freien Hand über den Kopf strich. Er verzog das Gesicht, als hätte er einen faulen Geruch in der Nase. Dani runzelte die Stirn. Sein wilder Blick war geradezu beunruhigend und ließ ihn genauso nervös aussehen wie Dr. Norman.

Irgendetwas stimmte hier nicht. Ganz und gar nicht. Mit schnellen Schritten ging sie zu ihm.

Rick hob den Blick, setzte zum Reden an, schloss den Mund dann aber wieder. Nach einer gefühlten Ewigkeit murmelte er: »Äh, ja, alles gut. Ich melde mich später.« Er schob sich das Handy in die Tasche. »Hey«, begrüßte er sie, konnte ihr dabei aber kaum in die Augen sehen.

»Was ist los? Muss ich aufzählen, inwiefern du dich in letzter Zeit merkwürdig verhältst, oder ersparst du mir die Mühe und sagst mir einfach, was nicht stimmt?«

Rick wandte erneut den Blick ab und atmete langsam aus. Seine Schultern sackten nach unten. »Dani, ich …« Er schüttelte den Kopf. »Ich muss mich zusammenreißen. Was ist los mit mir?« Rick sah sie an. »Hey, es tut mir leid. Ich dachte, ich hätte mehr Zeit, um −«

»Zeit? Mehr Zeit wofür? Geht es dir gut?« Nichts davon half, ihr rasendes Herz zu beruhigen.

»Becca.«

Dieser Name hatte ihr einst so viel bedeutet. Und noch heute verursachte er ein leichtes Flattern in ihrer Brust. »Becca?« Ihr stockte der Atem. Die alte Angst kam zurück. Polizistinnen waren einer ständigen Gefahr ausgesetzt. Beinahe jeder Muskel in ihrem Körper spannte sich an und ließ sie wie erstarrt zurück. »Ist sie …«

Rick packte sie an ihren Schultern und schüttelte den Kopf. »Nein, nichts dergleichen.«

Dani entspannte sich, aber ihr Herz hämmerte immer noch wie wild in ihrer Brust. »Was dann?«

Ricks Hände glitten über ihre Arme, bis er ihre Hände in seine nahm. »Ich bin ein Feigling. Ich hätte es dir sofort sagen sollen. Es ist erst eine Woche her, aber trotzdem.« Er schüttelte den Kopf. »Diese Beerdigung, auf der ich war. Es war die von Beccas Tante. Sie hat ihr das Haus hinterlassen. Becca kommt zurück nach Atlanta.« Der Druck seiner Hände wurde fester. »Ich habe gerade mit ihr telefoniert. Sie hat mich gefragt, ob ich ihr am Wochenende beim Umzug helfe.«

Dani sah auf ihre verschränkten Hände und dann wieder in Ricks Gesicht. Seine Augen waren glasig, hoffnungsvoll. Seine Lippen leicht geöffnet, als hätte er noch so viel mehr zu sagen.

Das Schweigen zwischen ihnen hielt einige Sekunden lang an, bis sich die Erinnerungen in ihrem Kopf breitmachten. Vier Jahre. Es war vier Jahre her. Offensichtlich war das nicht genug Zeit, um ihre Gefühlswelt von dem, was damals passiert war, reinzuwaschen. Sie hatte so vieles unterdrückt – und das war nicht leicht gewesen. Jetzt tanzten die Erinnerungen um sie herum wie Schatten. Die Gefühle allerdings waren seltsam abwesend und auch nur noch Erinnerungen. Der Schmerz, die Wut; das Gefühl, versagt zu haben, die Hilflosigkeit und die Einsamkeit. In den letzten Zügen ihrer Beziehung mit Rebecca und auch darüber hinaus hatte sie all das durchgemacht.

»Dani? Sag was. Du hast sie lange nicht erwähnt, aber das muss trotzdem wehtun.«

Ja, sie sollte etwas spüren, aber ein Mantel aus Taubheit hatte sich über sie gelegt und fest um sie geschlungen. Dani klammerte sich daran fest. Hier war weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt. Und auch aus anderen Gründen wollte sie einfach nicht tiefer graben. Sie drückte seine Hände, ehe sie losließ.

»Dani?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht. Ich muss gehen.« Sie wandte sich ab und ging davon. Wie in Trance stand Dani vor dem Fahrstuhl. Wiederholt drückte sie auf den Knopf. Als die Türen sich endlich öffneten, war die Erleichterung, die sie überkam, beinahe überwältigend.

Kapitel 4

Rebecca spähte in die Katzentransportbox. Peyton verengte ihre grünen Augen und hatte den Nerv, sie anzufauchen. Rebecca rollte mit den Augen und steckte einen Finger zwischen die Stäbe des Katzengefängnisses. Peyton fauchte und schlug nach ihr.

»Gott! Du bist so ein kleines Miststück. Ich lasse dich in einer Minute raus.«

Peyton zischte sie an.

Rebecca sah zu Tante Felicias Haus. Es gehörte jetzt ihr, nicht irgendeinem ihrer sogenannten Verwandten, die sich geweigert hatten, Rebecca nach dem Tod ihrer Mutter aufzunehmen.

Ihr Haus. Das musste sie erst einmal verarbeiten.

Langsam ging sie den Gehweg hinauf. Rebecca musterte die Fassade, als hätte sich in der letzten Woche auf wundersame Weise etwas daran verändert, und betrachtete die gelbliche Farbe, die stellenweise schon abblätterte. Sie entschied, alles so schnell wie möglich streichen zu lassen.

Veränderung konnte etwas Gutes sein. Rebecca wusste das nur zu gut. Sie öffnete die Fliegengittertür, die laut quietschte.

Peyton maunzte überrascht.

»Alles ist gut.« Rebecca zog die Schlüssel aus ihrer Hosentasche und schloss auf.

Der durchdringende Geruch von Mottenkugeln hing noch in der Luft, obwohl sie bei ihrem letzten Besuch alle entsorgt hatte. Mit einer Hand strich sie über die mit Folie überzogene Couch und ging in ihr altes Zimmer. Dort stellte sie die Box auf das Bett.

Peyton schlug erneut nach ihr, als sie versuchte, die Klappe zu öffnen.

Rebecca zischte und die Katze erwiderte das Geräusch. Lächelnd schüttelte sie den Kopf, als sie die Klappe vollständig öffnete. Peyton trat heraus und streckte sich, ehe sie sich setzte und den Schwanz um ihre Beine schlang.

Rebecca kraulte sie hinter den Ohren. »Es wäre besser für dich, wenn du nichts umwirfst und ich keine Krallenspuren in den Vorhängen finde, wenn ich wiederkomme, junge Dame.«

Peyton blinzelte sie träge an und gähnte schließlich. Dabei riss sie das Maul auf und entblößte ihre scharfen Zähne, sodass sie trotz ihres süßen, schwarz-weiß-gefleckten Gesichts geradezu dämonisch aussah.

»Becca? Bist du hier?«, dröhnte Ricks Stimme durchs Haus.

»Ja, ich komme!«

Er stand im Wohnzimmer und lehnte sich an die Rückseite der Couch.

Sie nickte ihm zur Begrüßung zu.

Die Folie knirschte protestierend, als er sich aufrichtete. »Du hast die Tür offen gelassen. Was stimmt nicht mit dir?« Er sah sie finster an und hatte die Lippen zu einer grimmigen Linie zusammengepresst.

»Ich habe links und rechts keine Nachbarn. Es ist in Ordnung.«

»Egal. Wir sind hier verdammt nochmal in Grove Park. Du solltest es besser wissen, Cop hin oder her.«

Rebecca begegnete seinem Blick. Er stand aufrecht und steif und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Die Anspannung, die er ausstrahlte, hatte wahrscheinlich nicht nur etwas mit ihrer Leichtsinnigkeit zu tun. Sie wollte ihre aufkommenden Schuldgefühle verdrängen, aber sie setzten sich direkt in ihrer Magengrube fest. »Ich nehme an, es ist nicht gut gelaufen?«

Rick schnaubte. »Das ist eine verdammte Untertreibung und ich bin nicht sicher, ob ich darüber reden will.«

Ihre Gefühle überschlugen sich. Rebecca flüsterte: »Es tut mir leid, Rick.« Obwohl sie eine Million Fragen zu Danis Reaktion hatte, ging sie wortlos an ihm vorbei zur Tür. Nichts, was sie sagen könnte, würde die Situation besser machen.

»Sie hat seit zwei Tagen kaum ein Wort mit mir gesprochen.« Rick seufzte. »Ich habe die ganze Woche versucht, ihr aus dem Weg zu gehen, und war ihr gegenüber dann immer noch nicht vollkommen ehrlich, also kann ich ihr keinen Vorwurf machen.«

Überrascht starrte sie ihn an. Bei ihrer letzten Begegnung hatte Rick entschlossen gewirkt. Rebecca hatte erwartet, dass er sich auf die erstbeste Gelegenheit stürzen würde, um mit Dani zu reden. »Du meinst, du hast es ihr nicht sofort gesagt? Warum?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich wusste nicht, wie ich es ihr sagen soll. Natürlich habe ich es versaut, weil ich bis zur letzten Minute gewartet und es ihr im Krankenhaus gesagt habe.«

»Was ist passiert?« Rebecca wand sich leicht, während sie auf die Antwort wartete.

»Zuerst dachte sie, du wärst tot.«