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Polizistin trifft Chirurgin: Freundschaft, Vertrauen und Leidenschaft in diesem fesselnden lesbischen Liebesroman. Kelli MacCabe ist Polizistin, knallhart im Job und sich selbst gegenüber. Nur wenige kennen ihre andere Seite, die treue, liebevolle Freundin, die sich für ihre Familie aufopfert. Auch die Chirurgin Nora Whitmore lebt für ihre Arbeit. Sie liebt die sterile Atmosphäre des Krankenhauses und das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben. Ihre Kollegen respektieren sie, aber mit ihrer Zurückhaltung schafft sie sich auch Feinde. Eine Tragödie bringt die beiden zusammen. Als Kelli angeschossen wird, muss sich ausgerechnet die beherrschte Nora um die ungeduldige Patientin kümmern. Kelli geht Nora mit ihrer vorlauten Art anfangs sehr auf die Nerven, doch bald schon zeigt sich, wie gut es ihr tut, aus ihrer Einsamkeit geholt zu werden. Und Kelli lernt, endlich Hilfe und Fürsorge zuzulassen. Aus einer zarten Freundschaft wird schon bald eine starke Anziehung. A ber haben diese beiden unabhängigen Frauen eine gemeinsame Zukunft? Oder werden sie daran scheitern, dass sie so unterschiedlich sind? Ein spannender lesbischer Liebesroman, in dem Welten aufeinandertreffen.
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Seitenzahl: 444
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Inhaltsverzeichnis
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen
Über KD Williamson
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KAPITEL 1
Kelli McCabe blinzelte schnell und heftig. Ein grauer Schleier trübte ihren Blick und in ihrem Mund hatte sich ein metallischer Geschmack breitgemacht. Sie schluckte ihr eigenes Blut. Mit aller Gewalt versuchte sie, die in ihr aufsteigende Panik zu unterdrücken und nicht das Bewusstsein zu verlieren. Dass sie es tatsächlich schaffte, hatte sie einzig und allein ihrer Willensstärke zu verdanken. Es war nicht das erste Mal, dass sich diese Charaktereigenschaft als nützlich erwies, und es war mit Sicherheit nicht das letzte. In ihren Ohren dröhnte noch das Echo gefallener Schüsse, das jetzt vom Hämmern ihres Pulses übertönt wurde. Ihr Herzschlag machte ihr bewusst, dass die Arschlöcher versagt hatten. Sie musste leben. So einfach war das. Ein besseres »Fickt euch« konnte sie dem Universum und den Schützen, die sie getroffen hatten, gar nicht entgegenrufen.
Allmählich gelang es Kelli, sich auf die Rettungskräfte zu konzentrieren. Sie veranstalteten einen solchen Lärm, dass ihr gar nichts anderes übrig blieb. Zwei Sanitäter hantierten an ihr herum und schienen überall gleichzeitig zu sein. Sie redeten miteinander und auf sie ein, aber Kelli verstand kein Wort. Das Einzige, das sie mit Sicherheit wusste, war, dass die Verletzungen sie höllisch quälten. Der Schmerz drehte ihr den Magen um, und sie kämpfte dagegen an, aber irgendwann war es einfach zu viel. Sie schlug die Hände weg, die an ihr herumstocherten. »Scheiße! Hört auf, mich anzutatschen«, knurrte Kelli und war überrascht, bei all dem Schmerz überhaupt einen Ton herauszukriegen.
»Sie kommt zu sich«, sagte einer der Rettungshelfer.
»Was sagt sie?«, fragte der andere.
»Ich glaube, sie flucht.« Er hielt inne. »Hören Sie, wir versuchen, Ihnen zu helfen«, sagte er langsam.
»Dann … hören Sie auf … in mir herumzupieken … Scheiße.«
»Ich weiß, dass Sie Schmerzen haben. Sie sind angeschossen worden. Wir sind schon fast am Krankenhaus.«
Wie in einem Rausch zog das Geschehene in zusammenhanglosen Bildern an ihr vorbei. Der graue Nebel verwandelte sich in blutrote Wut, dann wurde sie auf einmal entsetzlich müde.
»Travis.« Kelli war danach, den Namen herauszuschreien, aber es kam nicht mehr als ein krächzendes Flüstern.
»Was?« fragte der Sanitäter.
»Travis«, murmelte sie etwas lauter als zuvor.
»Ich glaube, sie hat ›Travis‹ gesagt, aber ich bin mir nicht sicher. Sie driftet wieder weg.«
»Macht nichts. Wir sind da.«
Die Türen des Krankenwagens öffneten sich mit lautem Knarren und übertönten Kellis nächsten Versuch, sich zu Wort zu melden. Die Liege, auf die sie geschnallt war, wurde abrupt nach draußen befördert, was einen stechenden Schmerz in ihrer Brust auslöste. Sie stöhnte. Ihre Sinne wurden von einem Gewirr aus Stimmen und grellen Lichtern traktiert. Ihr Körper schmerzte höllisch. Es war einfach zu viel.
»Was haben wir hier?«
»Weiße Patientin. Schusswunden an der Brust und am inneren Oberschenkel. Verminderte Atemgeräusche. Blutdruck siebzig zu fünfzig, sinkend, schwach«, antwortete einer der Sanitäter.
Kelli musste sie dazu bringen, ihr endlich zuzuhören. Ihre Wut und die Schmerzen spornten sie an.
»Travis!« Sie versuchte, sich aufzusetzen, wurde aber sofort wieder nach unten gedrückt.
»Von wegen schwach! In dem Zustand sollte sie überhaupt nicht bei Bewusstsein sein. Bringt sie nach Trauma Eins.«
Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde Kelli angehoben und von der Trage in ein Bett verlegt. Der Schmerz traf sie wie eine Ohrfeige. Sie schrie auf: »Verdammt noch mal!«
»Miss? Können Sie mir sagen, wie Sie heißen?«
Es wurde immer schwerer zu atmen, aber Kelli kämpfte weiter. Das Zimmer fing an, sich zu drehen und verwandelte die Person, die auf sie herabblickte, in eine bunte Spirale. »Scheiße«.
»Versuchen wir’s noch mal.«
»Verdammt … Kel-li.«
»Okay, ich bin Dr. Rader, Kelli. Sie sind im Seattle Memorial Krankenhaus. Wir versuchen uns, um Sie zu kümmern. Ist Travis Ihr Ehemann?«
»Partner.«
»Ich bin mir sicher, dass er versorgt wird«, sagte Dr. Rader, ohne weiter darauf einzugehen.
Das brachte Kelli erneut in Rage. »Sie können mich mal. Ich muss es wissen. Schauen Sie nach ihm.«
»Kelli, Sie müssen sich beruhigen. Lassen Sie uns unsere Arbeit machen.«
Kelli hätte am liebsten laut geschrien. Warum wollten diese Arschlöcher einfach nicht auf sie hören? Sie war am Leben. Das wusste sie, weil sie Schmerzen am ganzen Körper hatte, aber sie hatte keine Ahnung, was mit Travis passiert war. »Verdammte Scheiße. Er hat sich nicht mehr bewegt. Helfen Sie ihm!«
»Kel? Kelli?«
Kelli drehte ihren Kopf in Richtung der vertrauten Stimme, die ihren Namen rief, und erblickte ihren Bruder in Uniform. Ihr Herz machte einen Satz. Wie gut, dass er hier war.
»Sean … Travis … er …«
Sean trat näher. Sie wollte die Hand nach ihm ausstrecken. »Lass dir von den Ärzten helfen. Ich werde mich nach ihm erkundigen.«
»Sir, Sie dürfen hier nicht rein. Nur Familienm–«
»Sie ist meine Schwester«, unterbrach ihn Sean.
»Entschuldigung. Wenn Sie sie beruhigen könnten –«
Kelli ignorierte das Krankenhauspersonal um sich herum und konzentrierte sich angestrengt auf ihren Bruder. »Sie haben ihm in den Rücken geschossen, Sean. Er … hat sich nicht bewegt. Bitte …«
»Ich kümmere mich darum. Mom ist auf dem Weg. Bruce wird sicher auch bald hier sein.«
Seine Stimme war sanft und beruhigte Kelli ein wenig.
»Tu einfach, was man dir sagt. Ich kümmere mich darum«, wiederholte er.
Kelli wollte ihm glauben. Ein erdrückender Schmerz fuhr ihr durch die Brust und machte das Atmen unmöglich. Sie schnappte nach Luft und alles um sie wurde dunkel.
»Was haben wir hier?«, fragte Dr. Nora Whitmore, als sie den Raum betrat.
Dr. Rader zog die Schultern hoch. »Dr. Whitmore, es war nicht nötig, dass Sie –«
»Was haben wir hier?«, Nora sah Rader an und forderte seine Kooperation ein. Er rührte sich nicht, während der Rest seines Teams pflichtbewusst weiterarbeitete. Nora verlor die Geduld. »Sie können hier später gerne Ihr Revier markieren, wenn Sie das für nötig halten, Dr. Rader. Aber im Moment gibt es Wichtigeres und ich kann leider keine Gedankenlesen. Also …« Sie nahm sich einen Moment, um sich zu sammeln und die Patientin selbst zu begutachten. »Schusswunde an Bein und Brust.« Sie wandte sich an eine der Schwestern. »Atemgeräusche?«
»Vorhanden, aber nass und vermindert.«
»Bringen Sie sie in den OP, bevor sie verblutet«, ordnete Dr. Whitmore an. »Ich werde nach unserem anderen Schussopfer sehen.«
Rader nickte unwillig, half aber dabei, Kelli aus dem Zimmer zu schieben.
Nora drehte sich zu der letzten verbleibenden Person im Zimmer um, die ihr nachlief, während sie durch die Tür trat. »Und wer sind Sie?«
»Ich bin Kellis Bruder, Sean. Ich glaube, die zweite Schussverletzung ist ihr Partner – Gerald Travis, Jr. Geht es ihm gut?«
Nora lief rasch auf das nächste Patientenzimmer zu. »Ich weiß nicht genau, wer es ist, aber ich werde gleich mehr über seine Prognose erfahren.«
Sean nickte und trat beiseite, als sie das andere Zimmer betrat. Sie blickte über ihre Schulter. Der junge Polizist hatte sich abgewandt und schaute durch das Fenster im Flur. Offensichtlich stand ihm die Person nah, die sie nun unter die Lupe nehmen würde.
Der Herzmonitor piepste lautstark im Takt mit der Infusionspumpe. Der Klang half Nora dabei, sich zu orientieren und auf die Bedürfnisse des Patienten zu konzentrieren. Eine Halskrause schränkte seine Bewegungsfreiheit ein, um weiteren Verletzungen vorzubeugen. Sie hatte ihre Assistenzärzte gut ausgebildet, stellte sie zufrieden fest.
»Dr. Simmons scheint Verspätung zu haben. Was liegt hier vor?«, fragte Nora die anwesenden Kollegen, die auf den behandelnden Arzt warteten.
»Gerald Travis Jr. Schusswunde, Verdacht auf Wirbelsäulenverletzung und hoher Blutverlust. Verhärtetes Abdomen lässt auf innere Blutungen schließen. Arme und Beine reagieren nicht auf Stimulus und sein Blutdruck fällt«, antwortete Dr. Fuller, eine Assistenzärztin im dritten Jahr, und Nora war positiv überrascht, dass ausgerechnet sie die Führung übernahm. Bisher war Fullers Leistung eher unterdurchschnittlich gewesen.
Das EKG heulte auf. Der Blutdruck des Patienten war so weit abgefallen, dass er nun unter Kammerflimmern litt.
»Er kollabiert.«
»Sie wissen, was Sie zu tun haben.« Nora hasste es, unnötige Anweisungen geben zu müssen.
Dr. Fuller setzte den Defibrillator an.
Plötzlich stand der junge Polizist im Raum. »Gerry!«
»Kann ihn bitte jemand nach draußen begleiten?« Nora atmete tief durch. »Zwanzig Joule.«
»Lädt.«
Der Defibrillator zeigte durch einen Laut an, dass er bereit war.
»Zurücktreten«, sagte Nora bestimmt.
Gerald Travis' Körper bäumte sich unter dem Stromstoß auf.
Nora sah auf den Monitor und wartete auf eine Reaktion. Als keine kam, änderte sie ihre Strategie. Er war ihr Patient und sie weigerte sich, so schnell aufzugeben. Sie war überzeugt davon, dass er zu retten war. »Eine Ampulle Epi und dann weitere vierzig Joules.«
Nora wartete geduldig auf den Defibrillator.
»Zurücktreten.«
Der Patient wurde einem weiteren Stromstoß ausgesetzt und Sekunden später normalisierte sich sein Herzschlag. Perfekt. Nun konnte sie sich endlich seinen Blessuren widmen.
Nora entfernte die Defibrillator-Pads vom Brustkorb des Patienten, als die Tür aufflog und Dr. Simmons ins Zimmer stürmte. Er stützte die Hände auf die Oberschenkel und versuchte, zu Atem zu kommen. »Es tut mir leid«, murmelte er. »Ich übernehme.«
Nora ignorierte seine Entschuldigung und berichtete ihrem Kollegen stattdessen von Gerald Travis' Zustand.
Dr. Simmons nickte und entschuldigte sich noch einmal. »Bringen Sie ihn in den OP.«
Nora zog ihre Handschuhe aus und trat beiseite, um als Letzte aus dem Zimmer zu gehen. Sean McCabe wartete an der Tür auf sie. Seine Polizeiuniform war zerknittert und er hielt seinen Kappe so fest, dass seine Fingerknöchel schneeweiß geworden waren. Er sah zu, wie sein Freund den Gang hinuntergeschoben wurde.
»Es ist echt hart, ihn so zu sehen.« Sean wandte sich an Nora. »Danke für alles, was sie da drin getan haben.«
Da sie nicht gerne für ihre Arbeit gelobt wurde, nickte Nora lediglich und wählte ihre Worte mit Bedacht, um die Unterhaltung schnellstmöglich zu beenden. »Er ist stabil.«
»Ich weiß. Ich verstehe schon.« Sean wirkte niedergeschlagen.
»Es tut mir leid, Officer. Ich weiß, es ist nicht leicht.« Floskeln wie diese kamen ihr wie von selbst über die Lippen. Sie hatte Dutzende davon auf Lager, um den Eindruck von Mitgefühl zu erwecken und sich dennoch innerlich zu distanzieren. »Bitte entschuldigen Sie, aber ich muss zu einer OP, die bereits seit Längerem auf dem Plan steht. Ein Kollege wird Ihren Freund operieren. Man wird Ihnen Bescheid geben, sobald man mehr weiß.«
Sie nickte ihm kurz zu und lief dann Richtung Fahrstuhl. Diesen Teil ihrer Arbeit mochte sie am wenigsten. Die Kommunikation mit Angehörigen und Freunden überließ sie lieber anderen. Am meisten hasste sie es jedoch, einen Patienten an einen Kollegen abzutreten, weil andere Verpflichtungen auf sie warteten. Nicht, dass die anderen Chirurgen nicht kompetent waren. Es waren alles gute Ärzte. Aber keiner von ihnen war eben Nora Whitmore. Sie hatte mit Sicherheit Attribute, die weniger angenehm waren, aber sie war die Beste auf ihrem Gebiet. Keiner ihrer Kollegen konnte mit ihrer Erfolgsrate mithalten.
Als sie auf den Fahrstuhl wartete, versuchte sie, ihr Gewissen zu beruhigen, das sich meldete, weil sie den jungen Beamten einfach stehengelassen hatte, obwohl er eindeutig Mitgefühl gebraucht hätte. Aber jede Minute, die sie mit seelischem Beistand verschwendete, konnte andere Patienten das Leben kosten. Dieses Risiko wollte sie nicht eingehen.
»Ich hasse Krankenhäuser«, murmelte Sean noch. Dann schlossen sich die Fahrstuhltüren hinter ihr.
KAPITEL 2
Kelli kämpfte gegen die Ohnmacht an und wurde sich schrittweise wieder ihrer Umgebung bewusst. Das Erste, das sie spürte, war ein überwältigender Schmerz. Es war beschissen, auf diese Weise aufzuwachen.
Einen Moment später bemerkte sie, dass ihre Nase sich seltsam anfühlte. Sie tastete danach. Ein Schlauch führte ihr durch die Nasenlöcher Sauerstoff zu. Nicht unbedingt angenehm, aber es erleichterte das Atmen ungemein. Im Hintergrund schnaufte eine Maschine. Sie fühlte sich zu schwach, um die Augen zu öffnen.
Ein plötzlicher Anflug von Panik machte sich in ihr breit und sie griff nach ihrem Hals. Als sie feststellte, dass der ohne Schläuche funktionierte, entspannte sie sich wieder.
Sie versuchte, ihre Umgebung zu sondieren. Über den Lärm der Gerätschaften hinweg war es schwer, andere Geräusche auszumachen, aber allmählich hoben sich die Stimmen ihrer Mutter, Carina, und ihres Bruders von dem Lärm ab, der sie umgab. Sie zwang sich, die Augen zu öffnen, konnte den Raum aber zunächst nur verschwommen wahrnehmen. Mühsam erkannte sie, dass eine Krankenschwester das Zimmer verließ. Es kostete sie beinahe all ihre Kraft, ihren Blick zu fokussieren. Sie konnte die Augen kaum aufhalten, also gab sie schnell wieder auf. Es war ein fürchterlicher Zustand, aber immerhin konnte sie hören, was vor sich ging.
»Sie sieht gar nicht aus wie sie selbst. So habe ich sie noch nie gesehen.«
»Ich weiß, es ist erschreckend, Mom, aber sie ist am Leben.«
»Du hast ja recht.« Ihre Mutter seufzte. »Wo ist Antony? Er sollte hier sein.«
»Ich habe versucht, ihn zu erreichen, aber seine Nummer war nicht mehr gültig«, sagte Sean.
»Ich verstehe diesen Jungen einfach nicht. Das habe ich noch nie.« Ihre Mutter klang erschöpft.
»Ich auch nicht, Mom.« Sean hörte sich beinahe ebenso müde an. Eine warme, sanfte Hand strich über Kellis Wange. Die Berührung fühlte sich gut an. Kelli ließ so etwas nicht häufig zu, aber das hier war eine verdammte Ausnahmesituation. Sie kuschelte ihre Wange an die zärtliche Hand und flüsterte: »Mom.«
Ihre Mutter schluchzte laut auf. »Kelli? Baby?«
Kelli schluckte schwer und, obwohl sich ihr Hals anfühlte, als hätte man ihn mit Glasscherben ausgelegt, versuchte sie es weiter. »Mom?« Sie öffnete die Augen wieder und war entschlossen, sie auch offen zu halten. Es war Zeit, sich zusammenzureißen.
»Ich bin hier, Kelli. Und Sean auch.« Die Finger ihrer Mutter schlangen sich um ihre.
»Hey, Schwesterherz.« Sean nahm ihre andere Hand. Kelli war zum Weinen zumute. Die Worte ihrer Familie schienen von weit her zu kommen, berührten sie aber tief im Herzen. Trotz aller Benommenheit hatte sie das Gefühl, dass ihr etwas entgangen war, aber sie konnte nicht genau sagen, was. Schließlich traf es sie wie der Blitz. »Travis?« Sie versuchte, sich aufzusetzen. Ein stechender Schmerz hielt sie zurück. »Scheiße.«
»Vorsicht, Kelli. Du musst dich beruhigen.«
Sie hörte Seans Worte zwar, ließ sich davon aber nicht abbringen. Egal, wie beschissen sie sich auch fühlte, sie musste wissen, wie es um Travis stand. Sean versuchte, seinen Arm um sie zu legen, aber sie schüttelte ihn ab.
»Travis.«
Kellis Bruder tauschte einen Blick mit ihrer Mutter aus, der Angst in ihr auslöste.
»Bitte nicht«, presste Kelli flüsternd heraus. Sie war ein verdammter Löwe. Löwen brüllten. Sie aber brachte gerade nicht mehr heraus, als ein paar geflüsterte Wortfetzen. Erbärmlich. Die Schüsse hatten sie in ein jämmerliches Häufchen Elend verwandelt.
»Er wurde zurück in den OP gebracht«, sagte ihre Mutter. Zurück in den OP. Travis war also am Leben, aber es konnte sicherlich nichts Gutes bedeuten, dass er zurück in den OP musste. Kelli konnte nichts gegen die Angst unternehmen, die sich in ihr ausbreite, und zu allem Übel saß sie hier fest. Zu schwach. Zu kaputt, um zu helfen. Sie konnte nicht einmal zu ihm gehen. »Bitte sieh nach, wie es ihm geht.«
Sean nickte. Kelli musste ihn nicht zweimal bitten, weil er offensichtlich genauso besorgt war, wie sie selbst. Travis gehörte zur Familie. Sie blickte Sean hinterher, als dieser aus dem Zimmer ging. Nachdem er verschwunden war, spürte Kelli, wie ihre Mutter sie beobachtete. Sie drehte den Kopf leicht und erwiderte ihren Blick. Carina war deutlich aufgewühlt und ihre Besorgnis füllte das gesamte Zimmer aus, was Kelli das Atmen nur noch weiter erschwerte. Trotzdem hielt sie dem besorgten Blick ihrer Mutter stand.
»Du darfst mich nicht verlassen.« Carina ergriff die Hand ihrer Tochter.
Die Schwere dieser Worte drückte Kelli nieder. Lebendig davonzukommen war ein Versprechen, dass sie in ihrem Job leider nicht sicher geben konnte. Es war seltsam, so plötzlich mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert zu werden und weckte alle Arten von Gefühlen in ihr, mit denen sie sich momentan nicht auseinandersetzen wollte. Bestimmt schob sie die düsteren Gedanken beiseite.
»Es geht mir gut, Mom. Ich gehe nirgendwo hin.« Das war eine Lüge, aber wenigstens eine, die ihre Mutter zum Lächeln brachte.
Die letzten Minuten waren ihr vorgekommen wie Stunden und Kellis Körper protestierte. Ihre Augenlider flatterten und sie wurde von einem Gefühl der Schwerelosigkeit überwältigt.
»Es ist okay. Kämpf nicht dagegen an. Wir sind da, wenn du wieder aufwachst.«
Mit dem trostvollen Klang dieser Worte driftete Kelli wieder in bewusstlose Leere.
Nora untersuchte das Bauchfell ihres Patienten. Das füllte sich mit einer lebensbedrohlichen Menge an Blut, egal wie viele Transfusionen er bekam. Mit ruhigen Händen und geübtem Blick tastete sie ihn ab. Für diese Art von Detektivarbeit lebte sie.
»Absaugen.«
Ihr Kollege tat, wie ihm geheißen, aber sie dankte ihm nicht dafür. Sie wollte nicht, dass man ihr für ihre Arbeit dankte, warum sollte er es also erwarten? Aus den Lautsprechern klang Branford Marsalis und schwoll zu einem Crescendo an.
Dieser Teil ihrer Arbeit gab ihr den größten Kick: diese Kombination aus Logik, Wissenschaft und Instinkt. Der Mann vor ihr lag im Sterben. Dafür gab es einen Grund, den es herauszufinden galt, um dem Sterben entgegenzusteuern. Informationen mussten gesammelt und verarbeitet und wie Puzzleteile zusammengefügt werden, und genau darin war Nora brillant. Wäre sie bei der ersten OP dabeigewesen, hätte mit Sicherheit keine Notwendigkeit für eine zweite bestanden.
Die schlampige Arbeit der Kollegen ärgerte sie. Es war die reinste Inkompetenz. Leider konnte sie nicht überall gleichzeitig sein.
»Absaugen.«
Ihre Kollegen schwiegen. Sie wussten, dass Nora Stille bevorzugte. Erzwungene Nettigkeit und belanglose Gespräche konnte sie schon unter normalen Umständen nicht ausstehen, noch weniger in ihrem OP. Sie waren hier, um Leben zu retten, nicht um zu plaudern.
Nora untersuchte die Milz des Patienten eindringlich, konnte jedoch lediglich eine leichte Entzündung feststellen. »Da ist es«, sagte sie ruhig. »Es ist die Leber.«
Der Kollege reinigte die Stelle.
»Klammer.« Mit schnellen und sicheren Handgriffen schloss Nora den Riss. Sehr gut. Ihr Kollege saugte das restliche Blut ab und spülte die Wunde. Nora untersuchte die Stelle noch einmal, war sich aber sicher, dass sie den Riss sorgfältig geschlossen hatte.
»Sie können ihn zunähen«, wies sie ihren Kollegen an und verließ dann ohne weitere Worte den OP. Im Vorbereitungszimmer widmete sie sich ihrem üblichen Ritual. Sie zog die Handschuhe und die Chirurgenhaube aus. Dann löste sie ihren Pferdeschwanz und ließ ihre Haare lose um die Schultern hängen. Während sie ihre Hände wusch, sah sie durch die große Scheibe zu, wie die Stimmung im OP gelöster wurde. Ihr Kollege unterhielt, jetzt, da sie nicht mehr anwesend war, das gesamte Team. Für einen kurzen Moment verspürte Nora einen Anflug von Sehnsucht, doch das Gefühl verschwand ebenso schnell wieder, wie es gekommen war. Sie trocknete ihre Hände sorgfältig und ging Richtung Tür.
Auf dem Weg dorthin kam eine Stimme aus dem Lautsprecher an der Decke.
»Dr. Whitmore? Ich störe Sie ungern, aber ihre OP-Schwester hat mir mitgeteilt, dass Sie fertig sind.«
Nora drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage. »Ja?«
»Ein Sean McCabe möchte wissen, wie es um Mr. Travis steht.«
»Ich komme sofort.« Manche Leute wollten die Wahrheit ohne jede Umschweife hören, egal wie unangenehm sie auch sein mochte. Sean McCabe schien einer dieser Menschen zu sein. Das traf sich gut. Nora wusste ohnehin nicht wirklich, wie man die Wahrheit nett verpackte.
Als sie das Wartezimmer betrat, stand er mit dem Rücken zu ihr. »Mr. McCabe?«
Sean fuhr herum und eine hellbraune Locke fiel ihm ins Gesicht. Er sah besorgt und erschöpft aus, was seinem jungenhaften, guten Aussehen keinen Abbruch tat. »Wie geht es ihm? Sie müssen nichts beschönigen. Ich kann einiges aushalten.«
Nora verkniff sich ein Lächeln. »Die Kugel hat eine Schwellung in seiner Wirbelsäule verursacht. Ich hoffe, dass der erste Chirurg Sie bereits darüber informiert hat, dass wir den Schaden erst dann richtig einschätzen können, wenn die Schwellung zurückgegangen ist.« Sie wartete auf eine Reaktion seinerseits und er nickte. Nora fuhr fort: »Offenbar wurde auch seine Leber beschädigt. Das habe ich aber soeben ohne weitere Komplikationen behoben.« Da Mr. Travis nicht ansprechbar war und scheinbar keine weiteren Angehörigen aufgetaucht waren, hielt Nora es für nötig, so viele Informationen wie möglich bezüglich seiner Prognose an Sean weiterzugeben.
Sean guckte ungläubig. »Wurde der Riss denn bei der ersten OP nicht bemerkt?«
»Nein, leider nicht. Verglichen mit den anderen inneren Verletzungen, war es ein relativ kleiner Riss, aber eben gefährlich.« Nora gab keine weiteren Erklärungen ab. Sie wusste, wie schnell ein solcher Kunstfehler zu einer Klage führen konnte.
Sean wischte sich mit der Hand übers Gesicht. »Wenn Sie von einer Verletzung an der Wirbelsäule sprechen, dann ist also möglich, dass er querschnittsgelähmt sein könnte?«
»Leider ja.«
Sean seufzte. »Ich habe es gewusst, aber irgendwie hatte ich doch gehofft –«
»Ich verstehe.« Nora nickte. »Möchten Sie sonst noch etwas wissen, Mr. McCabe?«
Er lächelte sie aufrichtig an.
»Sean. Nennen Sie mich Sean. Ich habe nach der ganzen Geschichte irgendwie das Gefühl, dass wir alte Freunde sind.«
Nora sträubte sich innerlich. Sie ließ sich nicht gerne auf derartige Intimität ein. »Ich verstehe zwar, was Sie meinen, aber ich glaube nicht, dass das angebracht wäre.«
Seine Schultern sackten nach unten. »Ich weiß schon, was Sie meinen. Ich bin Polizist. Wir haben alle unsere Vorschriften.«
Das Gespräch hatte für Nora bereits lange genug gedauert und es war Zeit zu gehen. »Kann ich sonst noch etwas –?«
»Können Sie sich eventuell kurz meine Schwester anschauen? Ich weiß, dass sie am Leben ist, aber ich will nur sichergehen, dass –«
»War Dr. Rader noch nicht bei ihr?«
»Heute Morgen noch nicht.«
Der Mann war schlichtweg unmöglich, aber leider sehr beliebt im Seattle Memorial Krankenhaus und das nicht nur bei der weiblichen Belegschaft. Nora wusste nicht, warum. »Ja, das kann ich tun.«
Als sie das Zimmer betraten, wurde sie von einer zierlichen, dunkelhaarigen Frau Mitte Fünfzig begrüßt. »Guten Morgen, Doktor.«
Nora nickte. »Whitmore. Ich bin Dr. Whitmore, die behandelnde Ärztin.«
Trotz offensichtlicher Verwirrung, lächelte die Frau weiter. »Carina McCabe.«
Nora griff nach Kelli McCabes Krankenakte. Sie blätterte darin herum und sah auf die friedlich schlafende Patientin. Es war kein schöner Anblick. Ihr Mund stand weit offen und sie schnitt eine Grimasse, als hätte sie einen unangenehmen Geruch aufgeschnappt, was vermutlich an den Schmerzen lag. Kellis rotbraune Haare standen in alle Richtungen ab und ließen eine leichte Blässe in ihrem sonst dunklen Teint erkennen, der dem der Mutter nicht unähnlich war.
»Sie sieht so zerbrechlich aus. Das passt gar nicht zu ihr.«
»Sie hat schwere Verletzungen erlitten und viel Blut verloren, aber mit der Zeit wird sie sich wieder erholen«, sagte Nora.
»Kelli ist ziemlich hart im Nehmen. Warten Sie nur, bis es ihr wieder besser geht. Sie wird die schlimmste Patientin sein, die Sie je hatten«, erklärte Sean.
Nora betrachtete Kelli eindringlich. Die Frau war groß und muskulös. Ihr Gesicht war ansprechend und ließ nicht darauf schließen, dass ihr Bruder recht behalten sollte mit seiner Prophezeiung. Die Ärztin warf Sean einen skeptischen Blick zu.
»Vertrauen Sie mir«, sagte er nur.
Nora untersuchte die operierten Stellen, wobei sie mit den schlimmsten Blessuren begann. Kellis Augenlider zuckten und sie stöhnte auf.
»Fuck!«
Mit einer so heftigen Reaktion hatte Nora nicht gerechnet. Kellis Stimme war rau und tief, wodurch die verbale Entgleisung noch heftiger klang. Sean lachte plötzlich auf und Nora zuckte zusammen. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass Mutter und Sohn sich an den Händen hielten und grinsten.
Offenbar war es nicht ungewöhnlich, dass die Patientin eine Unterhaltung mit einem Schimpfwort begann.
»Miss Cabe? Können Sie mich hören?«
»Was?«
»Können Sie mich hören?«, fragte Nora noch einmal.
»Verdammt noch mal, ja. Was wollen Sie denn?« Innerhalb kürzester Zeit hatte sie bereits zweimal geflucht. Für Nora zeichnete sich ein deutliches Muster ab.
»Mein Name ist Dr. Whitmore. Ich bin hier, um Ihre Verletzungen auf Anzeichen einer Infektion zu untersuchen. Das fühlt sich eventuell etwas unangenehm an.«
Kelli öffnete mühsam die Augen. Die übliche postoperative Benommenheit löste sich allmählich, bis Kelli sie schließlich mit klaren, grünen Augen ansah.
»Okay.« Kelli knurrte. »Mein Partner, Travis …«
»Er ist im Aufwachzimmer. Er hat eine schwere Wirbelsäulenverletzung erlitten.«
»Scheiße.«
Das war Schimpfwort Nummer drei. Nora seufzte innerlich. »Ja. Näheres können wir erst sagen, wenn die Entzündung zurückgegangen ist.«
»Okay.«
Kelli zog missmutig die Augenbrauen zusammen und Nora war überrascht von der Eindringlichkeit ihres Blickes. Sie fühlte sich unwohl und beobachtet, fuhr jedoch mit der Untersuchung fort. Als sie den Blick wieder hob, waren Kellis Augen glücklicherweise wieder geschlossen. Die Ärztin trat zurück und wandte sich wieder an Sean und Carina McCabe. »Es sieht alles ganz normal aus. Sie wird allerdings noch eine Weile unter Schmerzen leiden. Die Kugel hat den Knochen zwar verfehlt, aber eine längere Reha wird trotzdem nötig sein, bis sie die Muskeln in ihrem Bein wieder vollständig nutzen kann.«
Carina lächelte. »Danke, Dr. Whitmore.«
Nora erwiderte das Lächeln kühl. »Gern geschehen.«
Die McCabes schienen ein sehr aufgeschlossener Haufen zu sein. Nora war das fremd. Wie konnte man nett zu jemandem sein, der einem nicht mit derselben Freundlichkeit begegnete? Nora schüttelte den Gedanken ab und ging auf der Suche nach einer weniger emotionalen Situation aus dem Zimmer. Eine OP wäre ihr nun recht gewesen, aber die nächste war erst in dreißig Minuten angesetzt. Sie ging zum Fahrstuhl und drückte die Ruftaste. Einige Sekunden später hörte sie Gelächter aus dem Inneren des Aufzugs. Das verstummte prompt, als die Türen aufgingen.
Die meisten der Passagiere waren Krankenhausangestellte, die in alle Richtungen blickten, außer in ihre. Nora betrat den Aufzug. Sie war es gewohnt, dass ihre Kollegen sie mieden und hinter ihrem Rücken über sie sprachen. Man bezeichnete sie gern als »Eisprinzessin«, manchmal auch als »Fürstin der Finsternis«. Nora weigerte sich jedoch, sich diese Kommentare zu Herzen zu nehmen oder darauf zu reagieren. Damit würde sie ihren Kollegen nur noch mehr Kanonenfutter liefern.
Auf dem gewünschten Stockwerk stieg sie aus und überließ die anderen, die in ihrer Gegenwart keinen Mucks von sich gegeben hatten, ihrem Klatsch und Tratsch.
Sie vermutete Dr. Rader im Arztzimmer, wo er sich in seinen Pausen gerne unter die anderen Assistenzärzte mischte. Sie drückte gegen die Tür und stellte überrascht fest, dass diese verschlossen war. Nora zog ihren Schlüssel hervor und schloss auf.
Dr. Rader fluchte und sprang von der Couch.
Eine junge Assistenzärztin versuchte erschrocken ihren entblößten Körper zu bedecken. Als sie schließlich wieder halbwegs bekleidet war und zur Tür stürzte, vermied sie jegliche Art von Augenkontakt mit Nora.
Offenbar war »unter die Assistenzärzte mischen« bei ihm mehr als wörtlich zu nehmen.
»Es ist nicht, wonach –«
Nora sah ihn kalt an. Er war ein kluger Mann, aber Nora wusste, dass Intelligenz nicht immer mit gesundem Menschenverstand einherging. »Solltest du nicht auf Visite sein?«
»War ich auch. Ich –«
»Das sehe ich.«
Er funkelte sie böse an. »Dir ist wirklich alles egal, oder?«
»Was zum Beispiel?«, fragte Nora.
»Du verschwendest wirklich keinen Gedanken mehr an uns.«
»Es gibt überhaupt kein –«
»Es gibt für dich kein Uns! Das weiß ich. Wie kann dir das alles nur so vollkommen egal sein? Weißt du eigentlich, was du mit mir angestellt hast?«
»Diese Unterhaltung ist vollkommen überflüssig.« Zwischen ihnen war es endgültig vorbei, aber er weigerte sich, das zu akzeptieren.
»Das ist sie nicht. Ich habe mit dir geschlafen und meine gesamte Welt ist daran zugrunde gegangen. Ich kann an nichts anderes mehr denken.« Er trat auf sie zu. Mit seinen blonden Haaren und seinen gemeißelten Gesichtszügen war er zweifellos ein gutaussehendes Exemplar der Spezies Mann. »Du hast dagegen nur ein Bedürfnis gestillt.«
Sex mit ihm war eindeutig ein Fehler gewesen, das wusste sie, aber er war willig und scheinbar Single gewesen. Außerdem hatte er versprochen, diskret zu sein.
»Kann ich dir irgendeine Art Emotion vorgaukeln, die es dir etwas leichter machen und dieses Gespräch beenden wird?«
»Meine Verlobte …«
Ach ja. Wenn Sie von der Verlobten gewusst hätte, wäre nichts davon jemals passiert. Ihr Unwissen über Raders Beziehungsstatus war allein ihrem nicht vorhandenen Sozialleben zuzuschreiben. Sie hatte ihre Lektion gelernt, und obwohl sie sich auch weiterhin von unfundierten Gerüchten fernhielt, war sie inzwischen besser über die Geschehnisse innerhalb des Krankenhauses informiert. Trotz allem war er mit Sicherheit nicht der Mann, der er vorgab zu sein. Genervt von seiner Theatralik, fiel sie ihm ins Wort: »Das war allein dein Problem.«
Er machte den Mund zu. Die Muskeln seines Kiefers zuckten. »Was willst du, Nora?«
»Du verleitest andere zu Inkompetenz, James. Die Assistenzärzte beten den Boden an, auf dem du gehst, aber das hat leider nichts mit Können zu tun.«
»Wovon redest du?«
»Gerald Travis Jr.«
»Was ist mit dem? Die OP hat Taylor geleitet, unter Simmons. Was habe ich damit zu tun?«
»Sie hat eine Lazeration in der Leber übersehen. Sie war klein, aber er hätte daran sterben können.«
James fuhr herum. »Was? Aber Simmons war dabei. Ihm solltest du den Kopf abreißen.«
»Ich habe schon mit ihm gesprochen, aber du bist Oberarzt und sie steht unter deiner Verantwortung und deshalb melde ich dir den Zwischenfall ebenfalls.« Nora beließ es bei dieser Aussage. Weitere Ausführungen waren unnötig. »Kann ich davon ausgehen, dass so etwas nicht wieder vorkommen wird?«
James nickte. Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, verließ sie das Zimmer. Rader hatte keine zusätzliche Minute ihrer wertvollen Zeit verdient. Auf dem Gang warf sie einen Blick auf den OP-Plan und schaute auf die Uhr. Die Anspannung in ihren Schultern löste sich und sie bebte vor Vorfreude. Es war endlich Zeit, sich auf die nächste OP vorzubereiten.
KAPITEL 3
Kelli versuchte, Seans Aufmerksamkeit zu erregen, als er das Zimmer betrat. Aber obwohl er in ihre Richtung schaute, begegneten sich ihre Blicke nicht. Auf seinem Gesicht fehlte das übliche Grinsen. Neben all der Sorge um Travis, stand er wegen ihres kleineren Bruders unter Strom. Das wusste sie. Tony war ein hoffnungsloser Fall. Er war der jüngste der drei Geschwister und benahm sich nicht selten auch so. In den vergangenen Wochen hatte sie ihn kaum gesehen. Er war nie die hellste Leuchte im Hafen gewesen, aber in letzter Zeit schien er noch weiter neben der Spur zu sein als sonst. Kelli wollte gar nicht daran denken, was das zu bedeuten hatte.
Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass Sean ihr etwas verheimlichte. Als Kind hatte er sich nur dann so verhalten wie jetzt, wenn er gelogen oder etwas von ihr gestohlen hatte, und momentan hatte sie nichts, was sich zu stehlen lohnte.
Kelli beobachtete ihn. Sean verschränkte seine Arme vor der Brust und sah weiter an ihr vorbei.
»Ist Tony nicht hier?«, fragte er.
Ihre Mutter lächelte. »Er konnte nicht lange bleiben, weil er zur Arbeit musste. Er fängt heute eine neue Stelle an.« Carina schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, er würde im Laden arbeiten. Das wäre für alle am einfachsten. Dann könnte ich den Namen in ›McCabe und Sohn‹ ändern. Das hätte eurem Vater gefallen.«
Kelli beobachtete ihren Bruder weiter. Endlich schaute er sie an und schenkte ihr ein Lächeln, das erzwungener nicht hätte sein können. Ihr war danach, ihm einen Klaps auf den Hinterkopf geben; das hätte ihm die Flausen vielleicht ausgetrieben, aber sie war ja ans Bett gefesselt. Tony hätte Heftigeres verdient, aber Kelli verdrängte den Gedanken. Sie hatte keine Energie sich auch noch damit auseinanderzusetzen, was der wieder verbockte. Sie hatte verdammt noch mal ein Loch in der Brust.
Sean räusperte sich. »Ich muss auch schon wieder los, aber ich habe Neuigkeiten.«
Dieses Mal war sein Lächeln aufrichtig und Kellis Neugier war geweckt. Ablenkung konnte sie gut gebrauchen. Sie hasste es, hier festzusitzen. »Gute Neuigkeiten? Wenn nicht, dann gnade dir Gott«, warnte sie ihn.
»Travis ist aufgewacht.«
»Wirklich?«
»Ja. Ich war bei ihm, nachdem ich Tony deine Zimmernummer gegeben habe. Mit seinem Mundwerk scheint jedenfalls alles in Ordnung zu sein. Er ist immer noch derselbe Klugscheißer.«
Kelli gluckste. »Ich muss einen Weg finden, ihn zu sehen.« Ihr war danach, aus dem Bett zu springen.
»Du kannst ihn doch erst einmal auf seinem Zimmer anrufen, bis du wieder etwas mobiler bist«, sagte Sean.
Kelli sah Sorge in den Augen ihres Bruders, bevor er sie wieder hinter einem falschen Lächeln versteckte.
»Das ist eine gute Idee«, sagte Carina.
Kelli betrachtete ihren Bruder, war aber nicht imstande, in seinem Gesicht zu lesen, was ihn beschäftigte. Zögerlich stimmte sie zu. »Okay, damit kann ich mich erst mal abfinden.«
Sean ging zu seiner Mutter und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Dann wagte er es, sich über Kelli zu beugen.
Kelli funkelte ihn böse an.
Er hielt inne, grinste und klopfte ihr statt eines Kusses sanft auf die Schulter. »Bis später, Rote Zora.«
»Ernsthaft? Damit habt ihr euch die Zeit vertrieben? Mir dämliche Spitznamen zu geben?«
»Jupp.« Sean öffnete die Tür.
»Arschloch«, rief Kelli ihm hinterher. Er drehte sich nicht mehr um, aber Kelli hatte das letzte Wort gehabt und das war das Wichtigste.
Mit Rücksicht auf ihre Wunden rutschte Kelli vorsichtig in ihrem Bett hin und her, um eine bequemere Position zu finden – wenn man das Metallgestell überhaupt als Bett bezeichnen konnte. Sie hatte eher das Gefühl auf einer Sprungfeder zu liegen, die mit einem Laken bedeckt war.
Die Kissen, die ihre Mutter am ersten Tag mitgebracht hatte, waren auch viel zu weich, aber wenigstens besser als die Krankenhauskissen. Kelli hätte am liebsten nach ihrer eigenen Bettdecke gefragt, aber sie hatte ihrer Mutter nicht zu sehr auf die Nerven gehen wollen. Inzwischen bereute sie diese Entscheidung.
Hier war nicht ihr Zuhause, was ihr mit jedem Tag mehr zu schaffen machte. Sie hasste Krankenhäuser wie die Pest. Nachdem sie ihren Vater leblos in einem solchen Bett hatte liegen gesehen, war das kaum verwunderlich. Kelli wusste, dass Menschen hier geholfen wurde. Hier wurden sogar Leben gerettet, aber Krankenhäuser waren manchmal wie Schwämme: Sie saugten Leuten die Lebenskraft aus und ließen nur einen Haufen Elend zurück. Düstere Gedanken wie dieser, in Kombination mit endloser Langeweile, sorgten dafür, dass ihre Stimmung mehr und mehr ins Bodenlose glitt.
Eine streng dreinblickende, ältere Krankenschwester, von der Kelli in den vergangenen Tagen mehr als genug gesehen hatte, betrat das Zimmer. Kelli hatte immer geglaubt, dass Krankenschwestern zumindest versuchten, freundlich zu wirken. Torte und Bier hätten auch nicht geschadet. Die hätten Kellis Stimmung vielleicht ein wenig gehoben. Stattdessen hielt sie Kelli ein Thermometer unter die Nase. Kelli funkelte sie an.
»Aufmachen, bitte.«
Kelli drehte den Kopf zur Seite.
Die Schwester seufzte und rollte die Augen. »Wie alt sind Sie? Zwei?«
»Wie alt sind Sie denn? Achtzig? Hat man Ihnen nicht gesagt, dass das Rentenalter bei fünfundsechzig liegt?« Kelli hatte kein Problem mit Leuten, die bis ins hohe Alter arbeiteten, aber einfach zu verteilende Schläge unter die Gürtellinie ließ sie sich nur ungern entgehen.
»Ich kann die Temperatur auch gerne anal nehmen. Die Methode ist wesentlich genauer.« Die Schwester hielt das Thermometer mit einem diabolischen Grinsen in die Höhe.
»Wenn Sie meinem Arsch auch nur einen Zentimeter zu nahekommen, können Sie sich schon mal eine Prothese anfertigen lassen.« Kelli versuchte, die Schwester einzuschätzen. Sie war sich sicher, dass sie es trotz der Löcher in ihrem Körper mit dem Krankenhauskadaver würde aufnehmen können.
»Miss McCabe, ich muss Ihre Werte prüfen. Das ist alles.«
»Ich bin am Leben. Sehen Sie das nicht?«, fragte Kelli. »Vielleicht sollten Sie das nächste Mal mit einem Lächeln hier reinspazieren und mich wie ein menschliches Wesen behandeln.«
Daraufhin zog die Krankenhausangestellte ihre Mundwinkel zu einem halbherzigen Grinsen nach oben.
Kelli schnaubte. »Das kaufe ich Ihnen nicht ab.«
Die Schwester verzog den Mund.
»Was?« Kelli verschränkte die Arme vor der Brust.
»Muss das hier wirklich sein?«
»Na ja, Sie haben ja gerade offenbar nichts Wichtiges zu tun. Wenn Sie mir also was zu essen holen möchten, würde ich nicht Nein sagen.« Kelli grinste. Ihr war zwar noch nicht nach Singen und Tanzen zumute, aber es erheiterte sie ungemein, die Schwester zu ärgern.
Die Kinnlade der Schwester fiel nach unten.
»Vielleicht sollten wir es später noch mal versuchen. Vielleicht kommen Sie dann gleich etwas positiver durch die Tür.« Diesen letzten Kommentar konnte sich Kelli einfach nicht verkneifen.
Die Frau verließ wortlos das Zimmer.
»Richten Sie das auch Ihren Kollegen aus!«, rief Kelli ihr hinterher
Wieder allein zappte sich Kelli durch das Fernsehprogramm. Als sie nichts Interessantes finden konnte, seufzte sie und beschloss, dass Schlafen vermutlich ohnehin eine bessere Idee war.
Der Klang mehrerer Stimmen holte Kelli aus dem Schlaf. Sie runzelte die Stirn, ließ die Augen aber geschlossen und verfluchte die Besucher innerlich.
»Der Name der Patientin ist Kelli McCabe. Sie hat multiple Schusswunden erlitten: eine in der Brust und eine im Oberschenkel.«
Die Stimme klang seltsam vertraut. Sie war zwar angenehm melodisch, aber auch herrisch.
»Sie ist auf dem Weg der Besserung, trotzdem sind weitere Komplikationen möglich. Können Sie mir sagen, welche?«
»Infektion«, sagte eine junge Männerstimme unsicher.
Jemand kicherte.
»Ich habe seit einigen Tagen einen Mückenstich. Der könnte sich auch infizieren, aber muss das extra erwähnt werden?«
Jemand atmete scharf ein.
»Das war eine rhetorische Frage, Dr. Simpson.«
»Dr. Whitmore?«
»Ja, Dr. Bridges?«
»Es besteht das Risiko einer kollabierten Lunge. Außerdem ist sie ziemlich muskulös. Sollen wir sie auf Steroide testen?«
»Steroide würden den Heilungsprozess behindern«, warf jemand anders ein.
Kelli hatte genug gehört. Sie öffnete die Augen. »Geht’s noch? Ihr seid hier doch nicht im Leichenschauhaus. Ich habe einen ziemlich leichten Schlaf und bisher alles mitbekommen. Ich kann euch versichern, dass das hier alles echt ist«, sie tippte sich auf den Bizeps. Einige der Ärzte, die vor ihr standen, erkannte sie wieder, einschließlich Dr. Whitmore.
Dr. Whitmore räusperte sich. »Miss McCabe …«
»Dr. Whitmore«, entgegnete Kelli herausfordernd.
Die Ärztin wirkte ein wenig verwirrt. Sie schob sich eine blonde Strähne hinters Ohr und fuhr fort: »Wir sind ein Lehrkrankenhaus. Sie werden möglicherweise ein paar unsensible Kommentare mitbekommen, während Sie –«
»Zum Beispiel, dass ich ein Steroidenbaby bin?«
»Nun ja, ich kann Ihnen versichern –«
»Ich habe auch ein paar Pölsterchen zu bieten. Und in diesen Lumpen ist es unmöglich gut auszusehen.« Kelli zupfte am Saum ihres Krankenhauskittels herum.
Die Assistenzärzte lachten.
»Miss McCabe!« Dr. Whitmore klang angekratzt.
»Dr. Whitmore«, säuselte Kelli mit süffisantem Grinsen. Die braunen Augen der Ärztin musterten sie irritiert. Sie hatte Kellis Namen ausgesprochen, als hätte er einen üblen Nachgeschmack in ihrem Mund hinterlassen. Kelli gefiel es.
»Scheinbar hatte Ihr Bruder recht.«
Kellis Blick wurde übertrieben düster. »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen, aber das klingt schwer nach einer Beleidigung.«
»Das können Sie bei seinem nächsten Besuch mit ihm besprechen.« Offenbar wollte Dr. Whitmore das Gespräch schnellstmöglich beenden und wandte sich ab.
»Halt, warten Sie! Das war nicht so gemeint.« Kelli verdrehte die Augen. »Mir ist scheiß langweilig und mir war nach ein bisschen Spaß.«
»Miss McCabe.« Dr. Whitmore verzog das Gesicht und wusste scheinbar nicht weiter. Das spornte Kelli an.
»Sie dürfen ruhig Kelli zu mir sagen.« Sie grinste, war sich jedoch sicher, dass Dr. Whitmore nie im Leben auf ihren Vorschlag eingehen würde. Es machte ihr Spaß, die Ärztin zu verunsichern. Der Tag wurde immer besser.
»Das werde ich nicht tun. Es wäre extrem unangebracht.«
Kelli las das Namensschild der Ärztin. »Aha. Wofür steht denn das N, Dr. Whitmore?«
Abgesehen vom Surren der medizinischen Apparate wurde es mucksmäuschenstill im Raum. Kelli blickte sich um. Die Studenten wirkten alarmiert.
»Okay«, murmelte sie. »Wie's aussieht ist die Party wohl vorbei, hm?«
Niemand reagierte.
Dr. Whitmore wandte sich an ihre Studenten. »Warten Sie bitte vor der Tür. Ich bin gleich bei Ihnen.«
Kelli blinzelte mit den Augen. Während sich die Studenten aus dem Zimmer bewegten, hatte sie das Gefühl, ins Büro des Schuldirektors bestellt worden zu sein. »Stecke ich in Schwierigkeiten?« Sie hob eine Augenbraue. »Ich glaube nicht, dass Sie mich rausschmeißen dürfen.«
Dr. Whitmore seufzte und presste die Lippen aufeinander. »Es tut mir leid, wenn Sie sich durch die Unterhaltung beleidigt gefühlt haben. Wenn Sie eine Beschwerde gegen mich einlegen möchten, oder –«
»Was?«, fiel ihr Kelli ins Wort. »Nein. Wie gesagt, habe ich nur Spaß gemacht. Meine Güte.«
»Nora?« Dr. Rader betrat das Zimmer und beide Frauen blickten zur Tür.
Die Anspannung im Raum verzehnfachte sich schlagartig, was Kelli überraschte. Ihr Interesse war geweckt. Wenn sie geglaubt hatte, dass sie Dr. Whitmore schon ordentlich auf die Palme gebracht hatte, so wurde sie nun eines Besseren belehrt. Es hätte sie nicht verwundert, wenn Dr. Whitmores Blick Raders Kopf zum Explodieren gebracht hätte.
»Bitte warten Sie draußen bei den Assistenzärzten, Dr. Rader.«
Sein entsetzter Gesichtsausdruck ähnelte dem seiner jüngeren Kollegen. Rader zog den Kopf zurück und schloss die Tür wieder hinter sich.
»Hm … Nora. Das gefällt mir.«
»Miss –«
»Kelli, bitte«, stichelte sie weiter. Bisher hatte das den Unterhaltungswert um Einiges erhöht.
»Nein!« Nora schien nun sichtlich aufgebracht.
»Also, für mich sind Sie ab jetzt jedenfalls Nora, egal wie Sie mich nennen.«
»Wie charmant von Ihnen.«
»Besonders, weil es Sie so zu verärgern scheint. Sind Sie verärgert? Sie sehen so aus.« Kelli war eindeutig dabei, eine Grenze zu überschreiten.
»War das Ihr Ziel?«
Kelli schüttelte den Kopf. »Nicht, als ich heute Morgen aufgewacht bin.«
»Dann hat die Langeweile Sie dazu gebracht?«
»Genau.«
»Warum lasse ich mich nur auf so einen Blödsinn ein?«
»Vielleicht, weil ich Ihnen ans Herz wachse, Nora.«
»Wie ein Schimmelpilz?« Nora wartete Kellis Antwort nicht ab. »Niemand mag Schimmelpilze, Miss McCabe.« Dann trat Sie vom Bett zurück. »Einen schönen Tag noch.« Und damit ging Sie aus dem Zimmer.
Kellis Langeweile war verflogen. Sie war fasziniert, auch ein wenig beleidigt, aber hauptsächlich amüsiert. Sie grinste. Dr. Nora Whitmore war wesentlich unterhaltsamer gewesen als die mürrische Krankenschwester.
Plötzlich fiel ihr ein, dass Travis wieder zu sich gekommen war. Die verfluchten Medikamente machten sie ganz weich in der Birne. Sie hätte bereits vor Stunden mit ihm sprechen können. Stattdessen war sie eingeschlafen und alberte vor lauter Langeweile mit dem Krankenhauspersonal herum.
Sie wählte seine Zimmernummer. Nach dem vierten Klingeln war sie kurz davor, aufzugeben.
»Ja?« Travis klang noch erschöpfter, als sie sich fühlte, was ihr beinahe unmöglich schien.
»Du mich auch.« Kelli lächelte. Es war gut, seine Stimme zu hören.
»Kelli?«
»Nein, die Rote Zora«, erwiderte sie trocken.
Travis lachte kurz und schmerzvoll auf. »Gefällt dir der Name nicht?«
»Kein Kommentar, bis du mein Gesicht sehen kannst.«
Er lachte kurz auf, ächzte dann aber schmerzerfüllt.
»Schone dich bitte erst mal ein wenig.« Die Laute, die er von sich gab, erschreckten sie.
»Lass das.«
»Was?« Sie wusste schon, worauf er hinauswollte, aber deswegen hatte sie nicht angerufen.
»Kelli, du bist nicht verantwortlich für alles, was schiefläuft.«
Kelli seufzte. »Ich habe nicht gesagt, dass –«
»Hör mir zu.« Travis sprach langsam und deutlich, damit es keinen Raum für Missverständnisse gab. »Nicht jedes schreckliche Ereignis nimmt seinen Lauf, weil Kelli McCabe nichts dagegen unternommen hat.«
»Das denke ich gar nicht.«
»Das denkst du schon, wenn es um Leute geht, die dir nahestehen.« Er kannte sie einfach zu gut.
»Das darf ich auch.« Sie wusste, dass sie gelegentlich etwas überfürsorglich war. Selbstverständlich konnte sie nicht jedes Unglück verhindern, aber das hieß nicht, dass sie es nicht versuchen sollte.
»Okay, dann erkläre mir bitte, warum das Ganze deine Schuld sein sollte. Bist du hellseherisch begabt? Wir hatten kaum Anhaltspunkte, Kelli. Niemand hätte ahnen können, wie es laufen würde.«
Kelli presste die Lippen zusammen und atmete durch die Nase. »Ich kann es nicht leiden, wenn Leute mir Fragen stellen und sie dann selbst beantworten.«
»Und ich hasse den Glibber, der am Eidotter hängt, aber das Universum kann es eben nicht jedem recht machen.«
»Arschloch«, entgegnete Kelli. Manchmal ging er ihr wirklich auf den Zeiger.
»Sumpfkuh.« Offenbar war Travis ebenfalls auf Krawall gebürstet.
»Haben wir mal wieder einen unserer Momente?«
»Möglich. Wenn du für zehn Sekunden die Klappe hältst, vergesse ich, was du gesagt hast.«
Kelli grinste. Mit ihm war alles so einfach. Als sie jedoch wieder darüber nachdachte, was passiert war und was hätte passieren können, verwandelte sich das Grinsen in ein Stirnrunzeln. »Ich habe mir wirklich Sorgen um dich gemacht«, sagte sie ernst.
»Gleichfalls, Weißbrot. Aber es wird alles gut.«
»Weißbrot? Ich halte mich eher für ein ethnisches Mischbrot. Irisch-amerikanisch mit einem italienischen Einschlag. Das nenne ich eine explosive Kombination.«
»Ich bin mindestens genauso kompliziert … ein schwarzer Koreaner. Mir sieht man es nur etwas deutlicher an. Meinst du nicht?«, erwiderte Travis.
»Da könntest du recht haben. Übrigens hat Sean mir erzählt, dass dein Vater im Ausland festsitzt. Scheiße, oder?«
Travis schnaubte. »Das Leben eines internationalen Geschäftsmannes. Als meine Mutter ihren Unfall hatte, kam er erst eine Woche später nach Hause. Damals war er in Saudi-Arabien.«
»Bei allem Respekt, aber ich halte wirklich nicht viel von dem Mann. Er hat seine Prioritäten vollkommen falsch gesetzt.«
»Manchmal halte ich auch nicht viel von ihm«, stimmte Travis zu.
»Ich bin für dich da. Das weißt du hoffentlich. Wir sind deine Familie.« Kelli wusste, dass Travis sich dessen bewusst war, aber manchmal war es nötig, ihn daran zu erinnern.
»Das weiß ich doch. Weißt du, ich liebe meinen Vater, aber, Mann, fehlt mir meine Mutter. Ich wünschte …« Seine Stimme brach ab.
»Ich verstehe, was du meinst.« Der Verlust ihres Vaters hatte ein gigantisches Loch in ihrem Leben hinterlassen, das sich in absehbarer Zeit auch nicht schließen würde.
»Sie hat es immer geschafft, mir durch schlimme Situationen zu helfen. Ich war ungefähr sieben oder acht, als mein Vater zu Gott gefunden hat. Er hat uns immer mit in eine komplett schwarze Kirchengemeinde genommen. Meine Mutter und ich sind dort herausgestochen, wie bunte Hunde. Ich meine, wenn man mich nicht allzu genau anschaut, könnte ich als schwarz durchgehen, aber bei meiner Mutter war das eben nicht der Fall. So war ich zuvor noch nie angestarrt worden. Meine Mutter hat mich dann immer ganz fest an sich gezogen und mich zum Lachen gebracht. Dann war alles andere egal.« Travis seufzte. »Verdammt.«
»Ja.« Kelli musste unbedingt die Stimmung heben. Ihr wurde das Ganze zu heftig. »Hast du schon gehört, dass einer der Schützen tot ist und es um den anderen ziemlich übel steht? Vermutlich liegt er hier gerade auf der Intensivstation.«
»Das weiß ich, ja. Du glaubst gar nicht, was die Leute so von sich geben, wenn sie glauben, dass du bewusstlos bist.« Travis hörte sich gleich weniger emotional an.
Kelli musste lächeln. »Das kann ich mir vorstellen.« Sie hielt kurz inne. »Wir könnten herausfinden, auf welchem Zimmer er liegt und ihn in seinem Nachttopf ertränken.«
»Den fasse ich nicht an.«
Kelli verdrehte die Augen. »Denk doch nur an die Symbolik … ein Stück Scheiße, das in Scheiße ertrinkt.«
»Darin kann man nicht ertrinken«, sagte Travis.
»Ach, vergiss es doch einfach.«
»Bei dir stimmt doch was nicht.« Seine Stimme war schwach.
»Stimmt. Ich höre mir später gerne deine Theorien dazu an.« Kelli wollte die vertraut lockere Unterhaltung so lange wie möglich aufrechterhalten, obwohl sie wusste, dass sie nicht ewig andauern konnte. Travis gähnte und wurde still.
»Musst du Schluss machen?«, fragte sie.
»Ja, ist vielleicht besser.« Er klang fix und fertig.
»Okay.«
Nachdem sie aufgelegt hatte, lauschte Kelli den Klängen des Krankenhauses: piepende Maschinen, gedämpfte Stimmen und klingelnde Telefone. Es störte sie nicht, allein zu sein, aber sie hasste es, sich einsam zu fühlen. Immer, wenn sie sich nicht bewegte, nicht lachte, nicht arbeitete, wurde sie von diesem Gefühl der Einsamkeit eingeholt und beinahe überwältigt. Und Kelli ließ sich nicht gerne von Gefühlen überwältigen. Emotionen waren selten hilfreich. Was Kelli zu einer guten Polizistin machte, war die Tatsache, dass sie sich emotional genug von einem Fall distanzieren konnte, um das Gesamtbild erkennen zu können. Leider war ihr Liebesleben aus genau demselben Grund eine absolute Katastrophe.
Kelli geriet ins Grübeln. Sie dachte an Antony und merkte, wie es ihr an die Substanz ging. Kelli schloss die Augen. Sie war noch nicht bereit, darüber nachzudenken, in welche Schwierigkeiten er sich dieses Mal gebracht hatte. Sie hatte einen unbändigen Drang, sich zu bewegen. Sie brauchte einen Grund zu lachen. Wo war Dr. Nora Whitmore, wenn man sie brauchte?
Die Nacht war schwül und windstill. Nora strich ihre helle Seidenbluse glatt und öffnete einen weiteren Knopf um etwas mehr Dekolleté freizulegen. Ihr schwarzer Rock von Dolce und Gabbana schmiegte sich eng an ihre üppigen Kurven und ihre hohen Louboutins fügten ihren Einssiebzig noch ein paar Zentimeter hinzu. Das Outfit war genau das, was Nora gebraucht hatte. Sie gab ihren Autoschlüssel bei dem Parkassistenten am Eingang ab und ging mit klackernden Absätzen die Treppe hinauf. Sie war immer noch ein wenig durcheinander, weil sie sich bei der Arbeit durch McCabe zu solch unprofessionellem Verhalten hatte hinreißen lassen. Es war vollkommen unangebracht gewesen und auch gar nicht ihre Art, sich auf derartige Gespräche mit einem Patienten einzulassen. Sie konnte immer noch nicht verstehen, wie diese Polizistin es geschafft hatte, sie so vollkommen aus der Reserve zu locken. Mit Sicherheit wusste sie aber, dass der morgige Tag anders verlaufen musste. Das galt im Übrigen auch für Rader. Er hatte sich Dinge herausgenommen, die ihm nicht zustanden. Immerhin war sie ihm nicht nur beruflich, sondern auch sonst weit überlegen.
Sie hatte den gesamten Tag mit Arbeit verbracht und nun musste sie Druck abbauen. Sex war dabei meist das beste Ventil und das Bedürfnis danach war nichts, wofür Nora sich schämte. Sie ging in ihrem Bestreben nach Sex genauso klinisch vor wie bei der Arbeit.
Heute sehnte sie sich allerdings nach etwas zärtlicheren Berührungen, den Berührungen einer Frau. Sie betrat das Gebäude und schritt entschlossen den Gang entlang. Vor dem Aufzug stand ein Mann. Er trat beiseite, als Nora ihm zunickte. Sie war schon öfter hier gewesen und es hätte sie nicht überrascht, wenn er sie von einem ihrer früheren Besuche wiedererkannte. Der Fahrstuhl bewegte sich schnell aufwärts und als sich die Türen öffneten, wurde sie von gedimmtem Licht und sanften Jazzklängen begrüßt. Es war ein exklusiver Club für Menschen, die es sich leisten konnten. Nora lief an den verstreuten Tischen vorbei zur Bar und bemerkte dabei die Blicke, die ihr folgten. Elegant schwang sie ihre Haare über die Schultern und ließ sich auf einen Hocker gleiten. Es dauerte nicht lange, bis ein Barkeeper vor ihr erschien.
»Martini. Trocken.«
Der Barkeeper lächelte und nickte.
Die Blicke der anderen Gäste brannten sich in ihre Haut und stimulierten ihre ohnehin schon überreizten Sinne. Sie betrachtete die erste potenzielle Kandidatin aus dem Augenwinkel: eine kompakte Brünette, deren Hände zitterten, als sie an ihrer Serviette herumzupfte. Sie murmelte vor sich hin und wischte sich nervös durch das Gesicht.
Nein, die nicht. Sie hatte nicht die Geduld, sich mit der Unsicherheit anderer Leute auseinanderzusetzen. Kaum hatte Nora das Interesse verloren, schien die Brünette sich endlich ein Herz gefasst zu haben und machte Anstalten, sie anzusprechen. Nora ignorierte sie.
Kurze Zeit später tauchte eine weitere Anwärterin auf. Nora bemerkte, wie sie interessiert beobachtet wurde, während sie an ihrem Drink nippte. Diese hier war forscher und hatte Potenzial. Besser. Viel besser. Nora drehte sich ein wenig in ihre Richtung. Die Frau war groß und kurvig. Ihr blondes Haar fiel in Wellen über ihre Schultern.
»Tina.« Das Lächeln der Frau war beinahe diabolisch, als sie ihr ihre warme und weiche Hand zur Begrüßung reichte. Noras Vorfreude wuchs.
»Nora.«
»So ein langweiliger Name passt gar nicht zu dir.«
Nora lächelte ein wenig.
Tina kicherte. »Okay, der ging vielleicht ein bisschen zu weit. Soll ich es mit einem anderen Spruch versuchen?« Sie beugte sich vor und kam Nora dabei ganz nahe. »Oder sollen wir uns besser gleich darüber unterhalten, was ich alles mit dir vorhabe?«
Noras Rücken knallte gegen die Tür. Ihr gesamter Körper bebte vor Lust. Ein Stöhnen bahnte sich seinen Weg aus ihrer Brust, aber sie unterdrückte es. Sie hatte die Situation unter Kontrolle. Sie gab das Tempo vor.
Nach einem erdenden Blick an ihre Wohnzimmerdecke richtete Nora ihr Augenmerk auf die Frau zwischen ihren Schenkeln. Noras Rock hing wie ein Gürtel um ihre Hüften und ihr Höschen war zur Seite geschoben, um Tina Zugriff zu gewähren. Nora hatte ihre Finger in Tinas Haare gekrallt und kam jedem Zungenschlag mit einem Hüftschwung entgegen. Mit jeder Bewegung spürte sie, wie die Anspannung ihren Körper verließ. Der darauffolgende Orgasmus ging lautlos von Statten. Sie zog grob an Tinas Haaren und zwang sie, aufzustehen.
Mit einem strategischen Kuss schob sie Tina weiter in den Raum, bis diese an die Armlehne der Couch stieß. Nora drehte sie um und drückte ihren Oberkörper mit dem Gesicht nach unten über die Seite des Sofas. Dann ließ sie gekonnt Tinas Höschen zu Boden gleiten und schob drei Finger in sie. Tina stöhnte auf. Noras Hausschwein Phineas schlenderte mit seinen stolzen einhundert Kilo an ihnen vorbei. Nora lächelte und fuhr ihm mit der freien Hand durch das borstige Fell. Er hielt kurz inne, schnaubte leicht und ging dann weiter.
Tina zuckte zusammen und blickte Phineas verwirrt hinterher, doch Nora schaffte es durch eine geschickte Bewegung ihrer Finger, Tinas Aufmerksamkeit wieder auf das Wesentliche zu lenken.
KAPITEL 4
Sie liefen über den Gehweg auf das Haus des Zeugen zu. Kelli sah sich um. Alles war in Rottöne getaucht, selbst der Himmel und das Gras.
Travis knuffte sie in die Schulter. »Es gibt eine neue Kneipe, das Armory. Hast du Lust, nach der Arbeit dort vorbeizuschauen?«
