Neue Freunde - Björn Vedder - E-Book

Neue Freunde E-Book

Björn Vedder

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Beschreibung

Nie war Freundschaft populärer als heute. Sie gilt als entscheidende Zutat für ein gutes und glückliches Leben. Viele haben auch viele Freunde - jedoch will sich das versprochene Glück nicht so recht einstellen. Woran liegt das? Björn Vedder verknüpft in seiner Zeitdiagnose der Freundschaft philosophische Überlegungen mit der Analyse von popkulturellem Material sowie literarischen Klassikern. Er zeigt, was Freundschaft heute bedeutet, wie sie (auch zu uns selbst) gelingen kann und warum Facebook-Freunde echte Freunde sind. Dabei nimmt er die pessimistischen Kulturkritiken der Gegenwart ernst, teilt deren Defätismus aber nicht, sondern zeigt Wege aus den Pathologien der modernen Freundschaft auf.

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Seitenzahl: 336

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BJÖRN VEDDER

Neue Freunde

Über Freundschaft in Zeiten von Facebook

[transcript]

Diese Publikation wurde durch die Unterstützung der Andrea von Braun Stiftung ermöglicht.

Die Andrea von Braun Stiftung hat sich dem Abbau von Grenzen zwischen Disziplinen verschrieben und fördert insbesondere die Zusammenarbeit von Gebieten, die sonst nur wenig oder gar keinen Kontakt miteinander haben. Grundgedanke ist, dass sich die Disziplinen gegenseitig befruchten und bereichern und dabei auch Unerwartetes und Überraschungen zu Tage treten lassen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.deabrufbar.

© 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Covergestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Coverabbildung: Bjørn Melhus, Auto Center Drive, 16mm Film, 28:00 min, 2003 (Still) Korrektorat: Demian Niehaus, Nürnberg ePub-Konvertierung: Datagrafix GmbH Berlin Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3868-4 PDF-ISBN 978-3-8394-3868-8 EPUB-ISBN 978-3-7328-3868-4

Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de

Inhalt

Danksagung

Vorbemerkung

1. Wir alle wollen geliebt werden

oder Warum Facebook-Freunde echte Freunde sind

Wer oder was ist ein Freund?

Der Wandel des Liebenswerten oder wofür wir geliebt werden wollen

»Ich häng jetzt mit Künstlern rum« oder Freundschaft als Wahlverwandtschaft und die moderne Logik der Anerkennung

»I like« oder Ökonomie der Affirmation

2. Die Spinne im Netz

oder Freundschaft als narzisstische Beziehung

3. Bruce Springsteens No Surrender

oder Freundschaft als Kameradschaft

4. Freundschaft in der Not

oder Was sich die Deutschen wünschen

Die Kunst der Freundschaft

5. I Have a Friend in Jesus

oder Warum interesselose Freundschaften unmöglich sind

6. Mark Twains Huckleberry Finn

oder Freundschaft als Gefühl betrachtet

Liebe um der Liebe willen

7. Wechselseitige Anerkennung

oder Wie Freundschaften aus Narzissten zumindest halbwegs anständige Menschen machen

8. Intime Abkürzungen

oder Was es heißt, sich gut zu verstehen

Intimität des Verständnisses

Freundschaft als semiotische Beziehung

Freundschaftspflege und moderne Medien oder das Verhältnis von Quantität und Qualität

Die Grenzen einer nur kommunikativen Intimität

9. Poetische Konjunktive

oder Wie Freunde einander sehen

Bloßstellung und Scham

Theatralische Talente

Erspielte Moralität oder wie das Theater der Freundschaft eine gemeinsame Ordnung der Herzen etabliert

10. Höflichkeit

oder Was es heißt, sich selbst ein Freund zu sein

Bescheidenheit

Klagen, Mitleiden und Mitfreuen

Verzeihen und Nachsicht oder vom Umgang mit den Schwächen des anderen

Vor dem Freund glänzen oder vom Umgang mit den eigenen Stärken

11. »Übereinstimmung mit sich selbst«

oder Wie Freunde einander sehen

12. Über Freundschaft und Liebe

oder Heitere Ver trautheit und emphatische Fremdheit

Friends with Benefits oder Freundschaft plus Sex

Erotische Anerkennung oder was die romantische Liebe dem Menschen schenkt

Freundschaft und Liebe, unterschiedliche Gefühle

Liebe hebt Entfremdung auf

Liebe ist eine emphatische Erfahrung der Fremdheit

Liebe ist exklusiver als Freundschaft, aber nicht einseitig

Anmerkungen

Danksagung

Beim Schreiben dieses Buches habe ich vom Rat und der Hilfe vieler Menschen profitiert und dafür möchte ich mich bei ihnen herzlich bedanken: Die Andrea von Braun Stiftung hat mich mit einem Stipendium unterstützt. Meine Freunde Jens Poggenpohl, Roland Braun, Torsten Leistikow und Monika Schindlbeck haben das Manuskript gelesen und mit mir besprochen, ebenso die Teilnehmer des Sachbuchseminars der Bayerischen Akademie des Schreibens. Von ihnen allen habe ich viel gelernt.

Auf der Sommerakademie des Hauses am Waldsee im Jahr 2013 konnte ich meine Überlegungen das erste Mal vorstellen und insbesondere mit Katja Blomberg, Andreas Reckwitz und Christoph von Braun diskutieren. Ihnen bin ich ebenso zu großem Dank verpflichtet wie Bernhard Waldenfels für seine guten Hinweise. Bjørn Melhus hat mir großzügigerweise erlaubt, einen Still aus seinem Film Auto Center Drive (2003) für das Cover dieses Buches zu verwenden. Das freut mich umso mehr, als ich in Auseinandersetzung mit seinen Arbeiten angefangen habe, über Dinge genauer nachzudenken, die ich in diesem Buch weiterverfolge. Oliver Brauer, meinem Agenten, und Martin Assig danke ich für ihre Unterstützung bei der Publikation dieses Buches. Ohne die Hilfe meiner Frau Johanna Schumm wäre es allerdings nie fertig geworden. Ihr gebührt der allergrößte Dank.

Vorbemerkung

Wenn Menschen heute gefragt werden, was ihnen im Leben am wichtigsten ist, dann rangieren Freundschaft und Liebe weit vor Gesundheit oder Geld und Erfolg. Zuletzt hat die Freundschaft die Liebe sogar vom Thron gestoßen, so dass der Eindruck entsteht, wir setzten für unser Lebensglück auf keine andere Beziehung und kein anderes Gut so große Hoffnungen wie auf unsere Freundschaften. Viel stärker noch als früher gelten sie heute als das Größte, Schönste und Beste, was es gibt auf der Welt.

Doch obwohl wir Freundschaften so hoch schätzen und viele von uns viele Freunde haben, will sich das versprochene Glück nicht so recht einstellen. Woran liegt das?

Um das herauszufinden, untersucht der vorliegende Essay populäre Erscheinungen der Freundschaft heute. Was erzählen uns diese Phänomene selbst über unsere Freundschaften? Worin besteht konkret das Glück, das wir in ihnen suchen? Und worin das Unglück, das wir in ihnen finden? Und lassen sich in unserer Kultur der Freundschaft Gründe für die Abwesenheit des Glücks erkennen?

Damit knüpft die Untersuchung an eine Tradition der Philosophie an, die Peter Sloterdijk als therapeutisch bezeichnet hat.1 Die Antike, in der sie entstanden ist, spricht von ihr als Philosophie des Glücks oder des guten Lebens. Sie trat, historisch gesehen, dann auf den Plan, als dieses Glück seine Selbstverständlichkeit verloren hatte. Ihre Aufgabe ist es, »das Glück wieder herbei zu reden und einen Baum des Glücks aufzustellen«, sagt Sloterdijk.2 Das ist heute jedoch fast unmöglich, denn solch standfeste Formulierungen des Glücks, wie wir sie in der antiken Lebenskunst finden, setzen externe Kriterien voraus, mit denen wir das Gute vom Schlechten unterscheiden können und solche Kriterien, darauf haben neben Sloterdijk auch Michel Foucault oder Wilhelm Schmid immer wieder hingewiesen, fehlen uns heute. Das ist das Dilemma einer auf das Glück ausgerichteten Ethik heute.3 Mithin muss das Philosophieren seine Antworten aus den Phänomenen selbst gewinnen.

Die zeitgenössische Kultur der Freundschaft zeigt, dass die Zuneigung unter Freunden auf der wechselseitigen Auffassung des anderen als liebenswert beruht. In Freundschaften verdichtet sich das individuelle Bedürfnis nach Anerkennung, so dass die Beziehung als Ausdruck oder Spiegel des Selbstwertgefühls gesehen wird. Das macht sie der Liebe vergleichbar, wie Eva Illouz sie beschrieben hat,4 und lässt erkennen, welche Form des Glücks in Freundschaften gesucht wird, nämlich die Bestätigung, ein liebenswerter Mensch zu sein. Zugleich deutet die wechselseitige Spiegelung im anderen jedoch auch schon an, warum sich dieses Glück nicht einstellt, denn indem sich die Freunde ineinander spiegeln, öffnen sie die Freundschaft auch für die Pathologien des Narzissmus.

Auf dieses Problem haben jedoch die beiden populärsten Formen der Freundschaft, die Kameradschaft und die Freundschaft in der Not, keine Antwort. Sie aktualisieren bloß alte Freundschaftskonzepte unter neuen Vorzeichen und schaffen damit neues Unglück.

Die Abwesenheit des Glücks in der Freundschaft ist also auch das Resultat einer gewissen Orientierungslosigkeit. Denn während sich Freundschaften nicht selten als narzisstische Beziehungen erweisen, werden unsere Vorstellungen von ihnen immer noch stark von einer philosophischen Tradition beeinflusst, die sich weniger darum kümmert, was ist, als darum, was sein soll, und die freilich auch in einer ganz anderen Lebenswelt und -praxis wurzelt, als es unsere Freundschaften heute tun.

Wenngleich diese Spannung zwischen Theorie und Praxis das Glück in der Freundschaft gravierend beeinträchtigt, ist sie in der neueren Literatur zur Freundschaft meist nur indirekt zu spüren: Entsprechende Publikationen tendieren entweder dazu, unsere tatsächlichen Freundschaften gegenüber einem überkommenen Ideal als schal und oberflächlich abzutun, oder dazu, die theoretische Reflexion ad acta zu legen.

Ich glaube jedoch, dass Kant mit seinen Überlegungen zu der Redeweise »Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis« Recht hat, wenn er sagt, dass eine angemessene Theorie erklären müsste, was ist, und dass eine Praxis nur gelingen kann, wenn sie auf einem angemessenen Begriff der Sache basiert.5 Das gilt auch für die Freundschaft, denn wenn wir keinen rechten Begriff von ihr haben, dann kann sie uns auch kaum gelingen – es sei denn, wir tun zufällig das Richtige.

Der vorliegende Essay entwirft deshalb eine Theorie der Freundschaft, die auch damit zurecht kommt, dass Freundschaften heute narzisstische Beziehungen sind und entwickelt aus der zeitgenössischen Kultur der Freundschaft heraus Prinzipien, die für das Gelingen von Freundschaften hilfreich sein können. Dass Narzissmus nicht zwingend als Pathologie aufgefasst werden muss, sondern auch positiv verstanden werden kann, ist von der Psychologie neuerdings verschiedentlich bemerkt worden. Mein Essay unterstützt eine (zumindest in Teilen) positive Bewertung des Narzissmus aus der Perspektive der Philosophie. Einen Ratgeber liefert er freilich nicht, sondern überlässt konkrete praktische Konsequenzen der Urteilskraft des Lesers.

Um ein angemessenes Verständnis von Freundschaft zu entwickeln, mache ich neuere Theorien über das Gefühl, die Anerkennung und den theatralischen Charakter unserer Lebenswelt fruchtbar. Natürlich beziehen sich die Überlegungen dabei auch auf die bestehende, bis in die Antike reichende Philosophie der Freundschaft. Um die philosophischen Überlegungen mit unserer aktuellen Lebenswelt und alltäglichen Erfahrung zu vermitteln, untersucht Neue Freunde zeitgenössische Freundschaften und vor allem ihre Imaginationen oder kulturellen Verdichtungen in Liedern, Filmen und Büchern. Auch das gehört dazu, die Phänomene selbst sprechen zu lassen.

Daraus ergibt sich folgender Parcours des Buches: Die ersten beiden Kapitel untersuchen Freundschaften auf Facebook und zeigen, warum Facebook-Freunde – entgegen einer verbreiteten Kritik – echte Freunde sind, denn an ihnen wird die narzisstische Prägung zeitgenössischer Freundschaften besonders deutlich. Das erste Kapitel heißt deshalb Wir alle wollen geliebt werden oder Warum Facebook-Freunde echte Freunde sind und das zweite Die Spinne im Netz oder Freundschaft als narzisstische Beziehung.

Die folgenden zwei Kapitel untersuchen die Kameradschaft und die Freundschaft in der Not und zeigen, warum sie den Herausforderungen der zeitgenössischen Freundschaftspraxis nicht gewachsen sind. Dabei geht es im Einzelnen um Bruce Springsteens »No surrender« oder Freundschaft als Kameradschaft und um Freundschaft in der Not oder Was sich die Deutschen wünschen.

In Antwort auf die mit diesen Konzepten verbundenen Probleme, entwerfen die folgenden Kapitel einen Vorschlag für eine Freundschaftspraxis, die den ökonomischen und narzisstischen Charakter der Freundschaft reflektiert und so wendet, dass die pathologischen Konsequenzen vermieden werden und Freunde das Glück finden können, das sie suchen – zuletzt auch im Hinblick darauf, was es heißt, sich selbst ein Freund zu sein. Im Einzelnen beschäftigen sich diese Überlegungen damit, warum Freundschaften an ein Interesse gebunden sein müssen (I Have a Friend in Jesus oder warum interesselose Freundschaften unmöglich sind) und weshalb sie trotzdem eine große moralische Souveränität haben können (Mark Twains »Huckleberry Finn« oder Freundschaft als Gefühl betrachtet und Wechselseitige Anerkennung oder Wie Freundschaften aus Narzissten zumindest halbwegs anständige Menschen machen). Daran schließt die Beantwortung der Fragen an, was es heißt, sich gut zu verstehen (Intime Abkürzungen oder Was es heißt, sich gut zu verstehen), worauf diese Übereinstimmung im Gefühl beruht und was sie voraussetzt (Poetische Konjunktive oder Wie Freunde einander auffassen). Schließlich untersuche ich, wodurch diese wechselseitige Auffassung als liebenswerter Mensch praktisch unterstützt werden kann (Höflichkeit oder Wie Freunde miteinander umgehen) und was wir aus der Freundschaft über die Freundschaft zu uns selbst lernen können (»Übereinstimmung mit sich selbst« oder Was es heißt, sich selbst ein Freund zu sein).

Dabei wird ein innerer Zusammenhang zwischen dem eigenen Streben nach Glück und dem Wohlwollen für den anderen sichtbar, der das eine im anderen absichert. Diese wechselseitige Bestätigung kulminiert in der Aufrichtung einer gemeinsamen Ordnung der Herzen, aus der nicht nur die Verantwortung für den Freund, sondern auch die Sorge um uns selbst erwächst. So ändert die Freundschaft nicht nur den Blick auf den anderen, sondern auch auf uns selbst. Es geht in ihr letztlich nicht mehr so sehr darum, wie wir sein wollen, sondern wie wir sein sollen, damit wir liebenswert sind – und glücklich. Mithin verlangt auch heute noch das Streben nach Glück von uns, unser Leben zu ändern. Die Kriterien dafür kommen jedoch nicht von außen, sondern ergeben sich aus dem ersehnten Glück selbst, dem Wunsch geliebt zu werden.

Das letzte Wort gehört jedoch der Liebe (Über Freundschaft und Liebe oder Heitere Vertrautheit und emphatische Fremdheit). Denn, wenn es in der zeitgenössischen Kultur der Freundschaft vor allem um die Zuneigung geht, die Freunde miteinander verbindet, und die Freundschaft also ein besonderes Gefühl ist, dann sollte auch ihr traditionell enges Verhältnis zur Liebe zur Sprache kommen. Dabei verrät noch die zeitgenössische Praxis ihrer Verbindung, die Freundschaft plus oder Friends with benefits, wie unterschiedlich beide sind: heitere Vertrautheit die eine, emphatische Fremdheit die andere.

1. Wir alle wollen geliebt werden

oder Warum Facebook-Freunde echte Freunde sind

Facebook-Freunde sind nicht nur echte Freunde, sie sind sogar viel bessere Freunde als die, die wir üblicherweise dafür halten. Wenn wir das einsehen, und daraus die richtigen Schlüsse ziehen, dann bemerken wir nicht nur, dass wir das sprichwörtlich Schönste, was es gibt auf der Welt, nämlich den guten Freund, schon hundertfach besitzen (so wie etwa 1,5 Milliarden andere Menschen auch), sondern wir können in Freundschaften auch endlich das Glück finden, das wir in ihnen suchen.

Bisher gelingt uns das allerdings noch nicht. Wie zeitgenössische Umfragen, Krankenakten und soziologische Untersuchungen berichten, sind die Menschen heute zutiefst unglücklich und ausgebrannt. Sie sind gezeichnet von der Müdigkeit, sie selbst sein zu müssen, verstrickt in narzisstische Selbstbespiegelung und ökonomische Selbstausbeutung. Von ihrer Freiheit überfordert, suchen sie Zuflucht in Sanatorien und Retreats, bei Handarbeitskursen und Psychopharmaka. Das »Unbehagen an der Moderne« hat sich zu einer ernsthaften Depression verhärtet, der es nicht an Beschreibungen und Erklärungen, vielleicht aber an Heilmitteln fehlt.6

Dabei könnte die Freundschaft so ein Heilmittel sein und viele suchen es schon in ihr. Unter dem Druck des kapitalistischen Konkurrenzkampfes rücken die persönlichen Nahbeziehungen wie Freundschaft oder Liebe verstärkt in den Fokus und werden mit der maßlosen Aufgabe belastet, die Erwartungen an Glück einzulösen, die der moderne Individualismus und Liberalismus geschürt, aber nicht befriedigt haben. Die größere Last lag dabei lange auf der Liebe, in der sich die Suche des Menschen nach Anerkennung »essentialisiert« hat, wie die Soziologin Eva Illouz schreibt.7 Das heißt, die Liebe ist zum zentralen Markt geworden, auf dem Menschen ihre gegenseitige Anerkennung aushandeln und sich ihres Selbstwertgefühls versichern. Da sich das Liebesglück jedoch nicht kontrollieren lässt, sondern Liebe oft auch weh tut, geht mit der Verdichtung der Anerkennung durch die Liebe eine massive Verunsicherung einher, die sich auch nicht dadurch einfangen lässt, dass wir mit Illouz einsehen Warum Liebe weht tut, d.h., welche sozialen und kulturellen Bedingungen es dafür gibt, dass Menschen in der Liebe nicht das Glück finden, das sie in ihr suchen.

Gegenüber dieser Verunsicherung erscheint das Glück der Freundschaft als das wesentlich beständigere und einfachere und das erklärt, wieso die Freundschaft der Liebe den Spitzenplatz unter den Glücksgütern in einigen Umfragen streitig machen konnte.

Auch dieser Vorzug der Freundschaft vor der Liebe hat freilich Tradition. Der französische Dichter Michel de Montaigne schreibt 1580 in seinem Essay Über die Freundschaft: »Die Zuneigung zu den Frauen kann man mit der Freundschaft nicht gleichsetzen«, denn »das Liebesfeuer ist […] ergreifender, brennender und peinigender; aber zugleich ist es mutwillig und unbeständig, flatternd und sich wandelnd, eine Art Fieberglut, die auf- und abschwillt […]. In der Freundschaft dagegen herrscht eine allgemeine Wärme, die den Menschen ganz erfüllt und die immer gleich wohlig bleibt.«8 Diese traditionelle Gegenüberstellung der treuen Freundschaft und der flatterhaften Liebe kehrt wieder in dem alten Schlager der Drei von der Tankstelle, den Robert Gilbert 1930 zur Musik von Werner Heymann gedichtet hat: »Liebe vergeht, Liebe verweht, / Freundschaft alleine besteht!« Hier wird er jedoch zeitkritisch auf die Moderne bezogen, wenn es heißt: »Man vergisst, / wen man geküsst, / weil auch die Treue längst unmodern ist.« Gegenüber der modernen Liebe scheint damit das alte Ideal der treuen Freundschaft nochmals ein besonderes Gewicht zu bekommen. So singt der erste berühmte Refrain:

»Ein Freund, ein guter Freund,

das ist das Beste, was es gibt auf der Welt.

Ein Freund bleibt immer Freund,

und wenn die ganze Welt zusammenfällt.

Drum sei auch nicht betrübt,

wenn dein Schatz dich nicht mehr liebt.

Ein Freund, ein guter Freund,

das ist der größte Schatz, den’s gibt.«

Der viel weniger bekannte, zweite Refrain bricht diese berühmte Apotheose der Freundschaft jedoch auf, auch musikalisch. Er lautet:

»Ein Freund, ein wirklicher Freund,

das ist doch das Größte und Beste, Schönste, was es gibt auf der Welt.

Ein Freund bleibt immer dir Freund,

und wenn auch die ganze, die große, die schreckliche, alberne Welt

vor den Augen zusammen dir fällt.

Drum sei auch nicht betrübt,

wenn dein Schatz dich auch nicht mehr liebt.

Ein Freund, ein wirklicher Freund,

das ist der größte Schatz, den’s gibt.«

Diese Rede vom Freund als Größtem, Bestem und Schönstem und der Welt als groß, schrecklich und albern stört nicht nur die plane Harmonie von Musik und Text, wie sie der Anfang des Liedes noch hat, wo die Einfachheit der Botschaft mit dem Marschcharakter des Foxtrotts, seiner logischen Tonfolge und seinen geschlossenen Harmonien zusammenstimmt, sondern bringt auch eine Verunsicherung im Blick auf ebendiese treuherzige Freundschaft zum Ausdruck. Denn wenn die Welt groß, auch unüberschaubar, schrecklich und albern ist, dann ist der Freund als das Größte, Beste und Schönste, was es auf dieser Welt gibt, noch unberechenbarer, schrecklicher und alberner als alles andere, auch wenn er in seiner Schrecklichkeit der Beste und in seiner Albernheit der Schönste ist.

Diese Trübung des Glücks der Freundschaft ließe sich bis in den Film, für den das Lied geschrieben wurde, zurückverfolgen, denn dass die Freundschaft das Allerschönste auf der Welt und der Liebe überlegen ist, nimmt auch er alles andere als selbstverständlich. Aufgenommen wurde die Fassung mit dem irritierenden zweiten Refrain jedoch nur von den Comedian Harmonists. Die für den Film von Willy Fritsch, Oskar Karlweis und Heinz Rühmann gesungene Version belässt es beim Planidentischen, um alle Zweifel zu unterdrücken. Das lässt sie freilich nicht verschwinden und spricht auch nicht für ein größeres Vertrauen in die Freundschaft. Im Gegenteil.9

Trotz dieser Verunsicherung avanciert die Freundschaft heute zum wichtigsten Mittel, den entscheidenden Zweck des Lebens zu befördern: die eigene Glückseligkeit. Gerade weil sie jedoch schrecklich und gut, albern und schön zugleich erscheint und als Konzept unserer Beziehungen nicht klar und deutlich gefasst werden kann, sondern höchst fraglich geworden ist und sich mit anderen Konzepten diffus überlagert, wird diese Glückseligkeit in der Freundschaft kaum je gefunden.

Das liegt nicht daran, dass es für die Freundschaft keine Aufmerksamkeit gäbe und über sie zu wenig nachgedacht, gesprochen oder geschrieben würde, denn sowohl in der Populärkultur als auch in Büchern und Artikeln konnte die Freundschaft der lange Zeit dominanten Liebe den Rang ablaufen, sondern daran, dass sich zwischen der Reflexion und der Praxis ein Abstand eingeschlichen hat, der beide nicht mehr zueinander finden lässt.10 Dieser Abstand macht es Freunden heute jedoch unmöglich, ihre eigene Praxis in den bestehenden kulturellen Mustern von Freundschaften zu spiegeln und so zu reflektieren, was Freundschaft heute eigentlich ist bzw. bedeuten kann.

Nichts ist in der Untersuchung der Freundschaft jedoch wichtiger. Auch alle praktischen Fragen im Hinblick darauf, wie Freundschaften gelingen können, lassen sich nur ausgehend davon beantworten, wer und was überhaupt ein Freund ist. Darauf gebe ich im Folgenden eine Antwort und zeige, wie eine entsprechende Praxis heute aussehen könnte.

WER ODER WAS IST EIN FREUND?

Wie wichtig die Beantwortung der Frage, wer oder was ein Freund ist, für jede Freundschaftspraxis ist, bemerken schon Sokrates und seine Freunde in Platons Dialog Lysis, mit dem die philosophische Behandlung der Freundschaft in der westlichen Tradition beginnt. In ihm erzählt Sokrates, wie er mit Lysis und Menoxenos darüber diskutiert hat, was Freundschaft ist, sie sich aber immer wieder in Aporien verstrickt haben und am Ende die Klärung der Frage aufgeben mussten. »Diesmal, o Lysis und Menexenos«, sagt Sokrates, »haben wir uns lächerlich gemacht, ich der alte Mann und ihr. Denn wir, die wir nun gehen, werden sagen, wir bilden uns ein Freunde zu sein, denn ich zähle auch mich mit zu euch, was aber ein Freund sei, hätten wir noch nicht vermocht herauszufinden.«11 Dieses Unwissen versetzt alle Beteiligten in eine unangenehme Lage, weil sie die Frage danach, was ein Freund ist, nicht als bloß akademisches Problem abtun können, sondern sie ihre Beziehung fundamental verunsichert. Jeder von ihnen meint, Freunde zu haben, nämlich die beiden anderen, aber keiner weiß, was ein Freund ist. Sie rühmen sich offensichtlich dafür, etwas zu sein, wovon sie gar nicht wissen, was es ist, und diese Unwissenheit muss sie gegen ihre Freundschaft selber misstrauisch machen.

Denn wie kann derjenige, der nicht weiß, was ein Freund ist, sagen, er sei mein Freund? Wäre so einem, der nicht weiß, wovon er redet, nicht grundsätzlich zu misstrauen? Und was kann der eine vom anderen als Freund erwarten, wenn sie sich nicht darüber geeinigt haben, was ein Freund ist? Wenn jedoch andersherum deutlich wird, was Freundschaften sind, liegen die praktischen Konsequenzen daraus auf der Hand.

Anders als Platon, der dachte, dass sich diese Frage allein durch kontemplatives Nachdenken ergründen ließe, kann sich eine zeitgenössische Philosophie der Freundschaft nicht mit einer bloßen Untersuchung des Begriffs Freundschaft (und seiner Geschichte) zufrieden geben, sondern muss sich der Praxis zuwenden und sich anschauen, wie Freundschaften tatsächlich geschlossen werden.

Dafür bieten die Freundschaften auf Facebook einen guten Ansatzpunkt, denn mit ihnen ist nicht nur ein neues, bisher unerklärtes Phänomen zu den vielen verschiedenen Formen der Freundschaft hinzugetreten, sondern Freundschaften auf Facebook sind auch für die Freundschaften heute exemplarisch. Sie machen deutlich, dass Freundschaften auf dem Gefühl gegenseitiger Anerkennung beruhen, worauf sich diese Anerkennung bezieht und was dem in Freundschaften (auch außerhalb von Facebook) gesuchten Glück entgegenstehen kann, warum wir also in unseren Freundschaften die Befriedigung so schwer finden, die wir dort zu finden hoffen.

Facebook-Freundschaften in diesem Sinne ernst zu nehmen, setzt freilich voraus, Freundschaften nicht danach zu beurteilen, was sie sein können oder sein sollten – also kein Ideal oder Wunschbild der Freundschaft zu zeichnen, wie das zeitgenössische Analysen immer noch tun, indem sie alte Topoi der Freundschaft als moralisch ausgezeichneter Beziehung tradieren – sondern danach zu fragen, was sie sind, auch wenn das dem üblichen Prozedere der praktischen Philosophie (wozu auch die Philosophie der Freundschaft gehört) widerspricht. Es geht also nicht darum zu beschreiben, unter welchen Umständen Menschen einen anderen als ihren Freund ansehen sollten – und unter welchen Umständen nicht –, sondern darum herauszufinden, was es ist, das ihre freundschaftliche Zuneigung zum anderen begründet und diese Zuneigung selber genauer zu beschreiben.

Der Benutzer von Facebook entwirft ein Profil seiner selbst, das er mit Fotos von sich, seinen Aktivitäten und dem, was er konsumiert, mit Zitaten und Links zu Dingen, die ihn interessieren, erfreuen oder empören, und mit kurzen Mitteilungen seiner Gedanken oder Gefühle ständig aktuell halten kann. Dabei kann er entscheiden, ob diese Posts von allen Benutzern gesehen werden können oder nur von bestimmten, etwa seinen »Freunden«. Das sind solche Benutzer, mit denen er sich durch den Austausch von elektronischen Freundschaftsanfragen darauf geeinigt hat, befreundet zu sein. Diese Freunde können seine Posts teilen, weiterleiten, kommentieren oder mit einem Mausklick (einem »Like«) auch kommentarlos affirmieren. Umgekehrt kann er dasselbe mit ihren Posts tun. Beiden geht es dabei um eine möglichst große Bestätigung dessen, was sie über ihre Posts von sich preisgeben. Das zeigt sich schon in der Anlage der Benutzeroberfläche von Facebook, die zwar negative Kommentare nicht ausschließen kann, aber Ablehnung als Geste, etwa durch einen Dislike-Button, nicht vorsieht. Sobald der Post eines Benutzer kommentiert oder affirmiert wird, benachrichtigt ihn das Programm darüber. Die Startseite hält ihn über die Aktivitäten seiner Freunde auf dem Laufenden und sie über seine. Je mehr Aufmerksamkeit ein Post bekommt (durch Likes oder Kommentare oder Teilungen), desto weiter oben steht er auf der Seite und desto größere Chancen hat er, noch stärker affirmiert zu werden. Wer hat, dem wird gegeben.

Diese Logik des Aufmerksamkeitsmarktes verlangt vom Benutzer, seine Posts im Voraus daraufhin zu entwerfen, möglichst beliebt zu sein. Im Gegenzug kann ihm eine starke Affirmation seiner Posts das Gefühl geben, ein liebenswürdiges Profil zu besitzen. Zugleich kann damit jedoch auch die Anforderung wachsen, sich der eigenen Liebenswürdigkeit durch eine ständige Kontrolle der affirmativen Gesten seiner Freunde zu versichern. Ein Druck, der mitunter zu pathologischem Nutzungsverhalten (Facebook-Sucht) führen kann und Programme populär gemacht hat, die das soziale Netzwerk zeitweise sperren.

Mit weit mehr als einer Milliarde Benutzern ist Facebook das populärste soziale Medium im Internet. Diese Beliebtheit liegt vor allem daran, dass es auf einem Prinzip beruht, das heute zum Fundament unserer persönlichen Beziehungen gehört, nämlich der Notwendigkeit, sich der Anerkennung des anderen zu versichern. Die Fokussierung dieses Prinzips ist es auch, die Facebook-Freundschaften für Freundschaften heute exemplarisch macht, denn Freundschaften sind, wie Liebesbeziehungen, Beziehungen, in denen sich Menschen gegenseitig ihrer Liebenswürdigkeit versichern und in denen die Zuneigung des einen dem anderen sagt, dass er um seiner selbst willen liebenswert ist. Allerdings steht dieses, was der Mensch selbst ist, nicht fest, sondern ist flexibel. Es ist das Produkt eines Entwurfs, den sich der Mensch von sich selbst macht (auf Facebook durch sein Profil) und mit dem er zwei letztlich widerstreitende Interessen befriedigen will – eines, das auf ihn als das Besondere geht, sowie eines, das auf ihn als etwas Allgemeines geht. Sein Selbstentwurf soll ihn zum einen als eine individuell besondere Persönlichkeit präsentieren, schließlich will er um seiner selbst willen liebenswert sein. Er soll aber andererseits auch allgemeinen Ansprüchen genügen, schließlich will er liebenswert sein. Dabei stehen jedoch auch diese allgemeinen Anforderungen nicht fest, sondern ändern sich und wachsen stündlich.

DER WANDEL DES LIEBENSWERTEN ODER WOFÜR WIR GELIEBT WERDEN WOLLEN

Für funktionale Beziehungen, etwa im Berufsleben, ist der paradoxe Zwang, zugleich etwas Besonderes und Allgemeines zu sein und dabei einer flexiblen Individualisierung zu folgen, schon ebenso ausführlich beschrieben worden wie die daraus resultierende Erschöpfung des modernen Menschen. Mit ihr geht, wie der Soziologe Richard Sennett sagt, eine »Korrosion seines Charakters« einher.12 Dabei meint der Begriff des Charakters hier zweierlei. Er meint zum einen das individuelle Temperament oder besonders hervorstechende Eigenschaften – also das, was wir im modernen Sinne unter Charakter verstehen und was es auch erlaubt, bei einem Wein oder einem Pferd von Charakter zu sprechen. Er meint zum anderen aber auch den Charakter im antiken Sinn als die Fähigkeit, Neigungen und Leidenschaften nicht blind gehorchen zu müssen, sondern sie rational beherrschen zu können und dabei das auszubilden, was Aristoteles (der diesen Begriff des Charakters geprägt hat) Tugenden nennt.

Die Korrosion beider Teile des Charakters sind das Resultat langwieriger, aneinander anknüpfender sozialer Veränderungen und bringen einen neuen Typus des Menschen hervor, den die Soziologie mit einem Begriff Georg Simmels die »moderne Persönlichkeit« nennt. Mit dem Menschen verändern sich auch seine Beziehungen. Für die Liebe sind die Auswirkungen dieser Veränderung schon mehrfach beschrieben worden. In der Freundschaft findet ein ganz ähnlicher Wandel statt.

Ab dem 18. Jahrhundert beginnt das Konzept der romantischen Liebe, wie Niklas Luhmann gezeigt hat, die Qualitäten, die den anderen liebenswert machen, peu à peu zu verschieben – von den moralischen Qualitäten, die seinen Charakter im antiken Sinn ausmachen, hin zu dem, was ihn als individuellen und besonderen Menschen kennzeichnet, also zu dem, was seinen Charakter im neueren Sinn ausmacht. Weil die moderne Persönlichkeit um ihrer selbst willen geliebt werden will, will sie nicht mehr aufgrund abstrakter moralischer Qualitäten geschätzt werden, die als bloße Variationen allgemeiner ethischer Werte grundsätzlich auch bei jemand anderem gefunden werden könnten und die den Geliebten also austauschbar machen, sondern sie will aufgrund ihrer individuellen Besonderheit geliebt werden, aufgrund derer sie glaubt, sich von allen anderen Mensch zu unterscheiden.13

Illouz illustriert diesen Wandel, indem sie das, was Liebende heute sagen, dem gegenüberstellt, was Liebende in den Romanen von Jane Austen tun, denn in Emma, Stolz und Vorurteil oder Verstand und Gefühl wird ihrer Meinung besonders anschaulich, was es bedeutet, wenn sich die Anerkennung auf den moralischen Charakter des Geliebten richtet und nicht darauf, dass er so ist, wie er eben ist. So fühlt sich z.B. Emma (im gleichnamigen Roman) von Knightley umso stärker geliebt, je mehr er sie kritisiert und zu bessern trachtet. Sie sieht darin keine Ablehnung. Vielmehr schätzt sie Knightley dafür, dass er sie vor einem gemeinsamen Moralkodex verantwortlich macht, dem sie beide nachstreben, denn sie will sich in ihrer Persönlichkeit so entwickeln, dass sie diesem Kodex entspricht. »Jemanden zu lieben, heißt« für sie, so Illouz, »das Gute in ihm und durch in zu lieben.«14

Heute ist das genau umgekehrt, wie Illouz’ Interviews zeigen. Die Menschen wollen nicht für ihren moralischen Charakter geliebt werden, sondern dafür, dass sie so sind, wie sie sind, und wenn der Geliebte sie kritisiert oder ihnen auch nur nicht richtig mitteilen kann, dass sie einzigartig und in ihrer Einzigartigkeit liebenswert sind, fühlen sich in ihrem Selbstwertgefühl (schwer) beschädigt. So berichtet etwa die von Illouz interviewte Christine, dass ihr Mann »sehr reizend«, ihr »treu ergeben und aufopferungsvoll« sei, aber trotzdem nicht in der Lage, ihr die gewünschte Anerkennung zu vermitteln. Es fehlen die kleinen Geschenke, die Überraschungen, die Komplimente, die ihr sagen, wie einzigartig und wertvoll sie ist. »Obwohl ich weiß, daß er mich liebt«, sagt sie, »versteht er es nicht, mich [mich] toll und besonders fühlen zu lassen. Wissen Sie, bei der Liebe geht es ganz um das Wie, nicht um das Daß. Obwohl ich weiß, dass er mich liebt. Aber dieses etwas, das bewirkt, daß man sich besonders und einzigartig fühlt, das hat immer gefehlt.«15

Wenngleich die Anerkennung in Freundschaften weniger existenziell ist, hat sie sich hier auf ganz ähnliche Weise gewandelt. Auch in der Freundschaft wollen Menschen für ihre individuelle Persönlichkeit anerkannt und wollen vom Freund dafür gemocht werden, dass sie so sind, wie sie sind. Das bedeutet nicht, dass sie bestreiten würden, auch über bestimmte moralische und mithin allgemeine Qualitäten zu verfügen, und die meisten würden es vermutlich übel nehmen, spräche der Freund ihnen diese Qualitäten ab; jedoch soll die Anerkennung dem gelten, dass sie genau sie sind, und nicht bloß der Ansammlung bestimmter allgemein schätzenswerter Eigenschaften.

Diese Verschiebung des Liebenswerten hat für die Konstitution des Selbstwertgefühls gravierende Konsequenzen. Solange die Liebenswürdigkeit des Menschen von seinen moralischen Qualitäten abhing, konnte er sich seines Wertes selbst versichern. Er musste sich dafür nur fragen, in welchem Maße seine Handlungen die Fähigkeit verrieten, tugendhaft zu sein. In dieser vertikalen Orientierung war er in seinem Selbstwertgefühl von der Anerkennung anderer unabhängig. Mit der Verschiebung des Liebenswürdigen auf seine individuelle Besonderheit kippt die Orientierung seines Selbstwertgefühls indes in die Horizontale, denn um zu wissen, ob das, was er um seiner selbst willen ist, tatsächlich liebenswert ist, muss der Mensch einen anderen Menschen fragen und von diesem darin bestätigt werden.

Das zwingt die Menschen, ihre Persönlichkeit flexibel zu halten – paradoxerweise gerade weil sie um ihrer selbst willen geliebt werden wollen. Der Mensch muss permanent nach Ausdrucksweisen suchen, die einerseits seine individuelle Persönlichkeit möglichst authentisch artikulieren, damit der andere ihm versichern kann, dass er um seiner selbst willen liebenswert ist. Und diese Ausdrucksweisen müssen ihm andererseits möglichst vielversprechend erscheinen, damit für den anderen tatsächlich liebenswert zu sein, denn er hängt von dieser Anerkennung in der Konstitution seines Selbstwertgefühls ganz wesentlich ab – und das umso mehr, je stärker er um seiner selbst willen geliebt werden will.

»ICH HÄNG JETZT MIT KÜNSTLERN RUM« ODER FREUNDSCHAFT ALS WAHLVERWANDTSCHAFT UND DIE MODERNE LOGIK DER ANERKENNUNG

Persönliche Beziehungen werden zum Prüfstein der Liebenswürdigkeit des eigenen Selbstentwurfes. Dieser Selbstentwurf liegt der Freundschaft jedoch nicht als etwas Festes voraus, sondern konstituiert sich erst im Wechselspiel mit der Anerkennung des anderen. Dabei stehen Menschen heute unter dem paradoxen Zwang, aus sich zugleich etwas Besonderes machen zu wollen und etwas Allgemeines machen zu müssen. Diese Flexibilisierung des Selbstentwurfes lässt sich an der veränderten Art und Weise, wie über Freundschaften gesprochen wird, gut beobachten. Wenn es in Goethes Wilhelm Meister von 1829 noch heißt: »Sage mir, mit wem du umgehst, so sage ich dir, wer du bist«,16 dann vollzieht diese sprichwörtlich gewordene Wendung ihren Rückschluss vom Charakter der Freunde auf den Charakter des Angesprochenen, weil sie davon ausgeht, dass die Persönlichkeiten der Freunde dieser Verbindung als gegeben vorausgehen und sich aufgrund einer grundsätzlichen Affinität zueinander verbinden – so wie chemische Elemente, die eine Wahlverwandtschaft miteinander haben. Deshalb kann aus der Klasse der einen auf die Klasse der anderen geschlossen werden. Qui se ressemble s’assemble, sagen in diesem Sinne auch die Franzosen: Was sich ähnelt, verbindet sich. Wenn aber in Rebel Without a Cause, James Deans vorletztem Film von 1955, der Vater seinem Sohn rät: »Achte auf die Wahl deiner Freunde, lass sie nicht dich wählen«, dann befürchtet er, dass Jim die Freundschaften eben nicht als gefestigte Persönlichkeit eingeht, sondern seinen Selbstentwurf erst im Ringen um die Anerkennung der Freunde für die eigene Persönlichkeit konstituiert – und dass das negative Konsequenzen haben kann, wie der Film ja auch vorführt: Um der Missachtung von und der Konfrontation mit seinen neuen Schulkameraden zu entgehen, lässt sich Jim auf eine Mutprobe mit Buzz ein, bei der beide mit gestohlenen Autos auf einen Abhang zurasen und derjenige verliert, der zuerst bremst. Während Jim kurz vor der Klippe aus seinem Wagen herausspringen kann und das Auto führerlos in den Abgrund stürzt, gelingt dies Buzz nicht und er wird von seinem Wagen in den Tod gerissen. Als die Polizei zu ermitteln beginnt, verdächtigen Buzz’ Kameraden Jim, das illegale Autorennen verraten zu haben und machen Jagd auf ihn und auf seinen Freund Plato, einen anderen Außenseiter und Leidensgenossen. Dabei verwundet Plato in Verteidigung seines Freundes einen der Rowdys, flüchtet in ein Planetarium und wird schließlich von der Polizei erschossen.17

Die Adoleszenz der Figuren unterstreicht die Tragik dieses Ringens um Anerkennung; sie spielt jedoch für den prekären Charakter des Selbstentwurfes nur eine nachgeordnete Rolle und wäre für Wilhelm Meister ebenfalls zu veranschlagen. Im Gegensatz zu Wilhelm Meister spiegeln die Figuren in Rebel Without a Cause jedoch die prekäre Lage des modernen Selbstentwurfs, der erst in der Auseinandersetzung mit anderen gefunden werden muss und nicht, wie bei Goethe, als innere Form den Beziehungen schon vorausgeht und allenfalls noch durch das, was der Roman Bildung nennt, entfaltet werden muss.

Die moderne Logik der Anerkennung bedingt, dass Persönlichkeiten sich in ihren sozialen Beziehungen erst konstituieren müssen und sich dabei leicht in den gegenläufigen Anforderungen, individuell liebenswert sein zu wollen und allgemein liebenswert sein zu müssen, verstricken.

Umso stärker sich eine Persönlichkeit in ihren Beziehungen konstituiert, desto notwendiger wird es für sie, bestehende Beziehungen aufzukündigen, wenn sie sich verändern will. Dabei kommt es nicht darauf an, ob schon ein anderer Selbstentwurf vorliegt, sondern nur darauf, dass der Freund glaubt, mit den alten Freunden diese Veränderung nicht vollziehen zu können, weil das, was er ist, für ihn wesentlich von diesen Freunden abhängt. So überträgt sich die Fragilität der modernen Persönlichkeit auch auf ihre Freundschaften. Freunde werden nicht nur durch unterschiedliche Entwicklungen getrennt, durch Umzüge, Familiengründungen, Karrieren und so weiter, sondern auch dadurch, dass sie im Zuge einer unsicheren Selbstfindung geschlossen und geschieden werden – je nachdem, wie die moderne Persönlichkeit meint, dass es ihrer Selbstfindung dient.

Dabei bietet die Kultur verschiedene Identifikationsmuster an, die Menschen wie eine Schablone für den individuellen Selbstentwurf nutzen können. Zu ihnen gehören nicht nur Haltungen und Konzepte, sondern auch Kleidung und Musik und sie sind mit verschiedenen Gruppen verbunden, so dass mit dem Wechsel einer solchen Schablone auch ein Wechsel der Freunde verbunden sein kann. Das führt z.B. ein Lied der Ärzte vor. Es heißt Freundschaft ist Kunst und schildert den Wechsel vom Identifikationsmuster Punk zum Identifikationsmuster Kunstwelt durch einen der Freunde als Krise der Freundschaft. Es beginnt so:

»Punk ist der Mainstream jetzt, mach du mal schön dein Ding

Verzeih, wenn ich jetzt keine Parolen mehr mit dir sing

Dein Zorn ficht mich nicht an, hab mich verändert, Mann

Und da kommst du mir dumm, hau ab, ich häng mit Künstlern rum.

Ich häng mit Künstlern rum, häng jetzt mit Künstlern rum

Dein Lebenskompromiss war mit schon lange viel zu krumm

Ich häng mit Künstlern ab, da weiß ich, was ich hab

Mach mit oder bleib stumm, denn ich häng jetzt mit Künstlern rum.«18

Freundschaften rücken so in die Nähe von anderen Konsumartikeln, mit deren Hilfe die moderne Persönlichkeit versucht, ihren Selbstentwurf zu gestalten, und bekommen selbst den Charakter eines Konsumartikels. Es wäre jedoch ein Missverständnis, sie deshalb oberflächlich zu nennen. Auf ihre spezifische Weise sind diese Freundschaften sogar sehr intim. Denn wenngleich die moderne Persönlichkeit sie konsumiert, um sich als Persönlichkeit zu konstituieren, bleibt diese Konstitution jedoch anderseits von der Bestätigung durch die Freunde abhängig. Diese Freunde bestätigen der modernen Persönlichkeit nämlich, dass sie etwas individuell Besonderes ist – also um ihrer selbst willen geschätzt wird – und dass dieses Selbst zugleich schätzenswert ist, also den Ansprüchen genügt, die an die Marktfähigkeit der individuellen Persönlichkeit gestellt werden.

»I LIKE« ODER ÖKONOMIE DER AFFIRMATION

Auf diese besondere Abhängigkeit des Benutzers von der Anerkennung der anderen reagieren Freundschaften auf Facebook. Denn umso mehr Freunde jemand dort hat, umso mehr Personen scheinen ihm zu versichern, dass sie ihn um seiner selbst willen schätzen und dass er, so wie er sich ihnen präsentiert, allgemein schätzenswert ist. Dieser Wertschätzung kann sich der Facebook-User stets aufs Neue versichern und sie vertiefen – indem er versucht, mehr Freunde zu finden und vor allem, indem er seinen Freunden auf Facebook möglichst viel von seiner Persönlichkeit offenbart. Das heißt, indem er sich möglichst vollständig entblößt und ihnen die Möglichkeit gibt, das, was sie sehen, zu goutieren. Das ist so einfach wie das Internet. Sie müssen dafür nur im Angesichte dessen, was der Freund aus seinem Leben veröffentlicht, auf den Like-Button klicken.

Sein Mittagessen, von dem er ein Foto einstellt? Ist okay. Sein Musikgeschmack am Beispiel eines YouTube-Videos oder einer Playlist auf Spotify? Ist okay. Seine sportlichen Anstrengungen, sich selbst zu optimieren, die er durch das Posten entsprechender Aktivitäten zeigt? Sie sind in Ordnung. Seine Freunde, die er auf seinen und die ihn auf ihren Posts verlinken? Akzeptiert. Seine Tapferkeit in der Achterbahn? Anerkannt. Seine neue Partnerin? Geht in Ordnung. Sein neugeborenes Kind? Auch das ist okay.

Gleichzeitig zwingt ihn die Abhängigkeit von der Anerkennung der anderen jedoch dazu, seine eigene Persönlichkeit bzw. sein Profil, mit dem er sich präsentiert, im Vorhinein daraufhin zu entwerfen, damit Zustimmung zu gewinnen. Dieser ökonomische Druck des Aufmerksamkeitsmarktes zwingt den Benutzer, sein Profil so zu behandeln wie ein Unternehmen sein Produkt, das es am Markt platzieren will. Anders als in der ökonomischen Produktion ist dieses Profil jedoch an seine individuelle Persönlichkeit zurückgebunden, die er ja darin ausdrücken und deren Liebenswürdigkeit er sich vergewissern will. Das zwingt ihn, seine eigene Persönlichkeit wie einen Konsumartikel zu behandeln und sich zu fragen, wie er sich verändern oder sich selbst entwerfen soll, um von den anderen möglichst große Zustimmung zu ernten.19

Dennoch kann der Wunsch, durch die Anerkennung der anderen des Wertes der eigenen Persönlichkeit versichert zu werden, nicht befriedigt werden, sondern muss stets ungestillt bleiben, denn die Aufmerksamkeit der Freunde richtet sich nicht nach dem Wert der Persönlichkeit des anderen, sondern nach dem Interesse, das der eine am anderen hat. Dieses Interesse gilt jedoch vor allem der eigenen Anerkennung, so dass sich die Aufmerksamkeit des Freundes nach der Anerkennung bemisst, die er in der Freundschaft findet oder zu finden hofft. Dabei gilt nicht nur das Interesse in viel stärkerem Maße der eigenen Anerkennung als der Persönlichkeit des anderen, sondern auch die Zuneigung – denn sie gilt letztlich nicht der Liebenswürdigkeit des anderen, sondern dem Umstand, von ihm wiederum bestätigt bzw. geliked zu werden. Der Mensch schätzt den, der ihn schätzt, dafür, dass dieser ihn schätzt.

Das lässt sich an den Freundschaften auf Facebook gut beobachten. Die Betonung des Aufmerksamkeitswertes zeigt sich darin, dass der Benutzer, um die Anerkennung seiner Freunde zu erfahren, ihre Aufmerksamkeit erregen muss. Diese richtet sich jedoch nach dem Aufmerksamkeitswert der Mitteilung, also des Posts, und nicht nach dem Wert der Persönlichkeit, die sich darin mitteilt. Es wird also nicht das, was den anderen in besonderem Maße als individuelle und authentische Persönlichkeit auszeichnet, goutiert, sondern das, was für die Freunde den größten Unterhaltungswert hat. Weil sich aber die moderne Persönlichkeit ihres Selbstwertes durch die Aufmerksamkeit der Freunde versichert, ist sie angehalten, ihren Selbstentwurf nach dem Aufmerksamkeitswert für die Freunde zu gestalten, d.h. unterhaltsam zu sein. Das gilt für persönliche Beziehungen außerhalb von Facebook ebenso. Langeweile, sagt Oscar Wilde, ist die einzige Sünde, für die es keine Vergebung gibt.20

Mit dieser Zurichtung der eigenen Persönlichkeit auf eine für die anderen leicht zu konsumierende Unterhaltsamkeit ist die Mitteilung von persönlichen Problemen, Kummer und Leid nicht ausgeschlossen. Schließlich kann auch das Leid unterhalten, wenn es das Leid des anderen ist. Damit es unterhaltsam bleibt, darf es allerdings nicht zu groß sein, denn übergroßes Leid wirkt abschreckend, und wenn es dennoch groß ist, sollte der Freund es nicht zu lange thematisieren. Auch auf Facebook bekommen schreckliche Dinge eine große Aufmerksamkeit, aber nur, wenn sie aktuell sind.