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Diese sechs Essays richten sich an Menschen, die sich im weitesten Sinne der Erziehung junger Menschen widmen. Der Kern der Essays befasst sich mit der Frage nach der Freiheit und dem Glücklichsein. Der Autor ruft darin zu einem neuen Dialog für eine friedliche menschliche Erziehung und ein konfliktfreies Zusammenleben auf. Angeregt durch internationale Schulexperimente des indischen Philosophen Jiddu Krishnamurti, das Studium von Fachliteratur und vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen an der von ihm gegründeten Experimentalschule in Brasilien führt er eindringlich vor Augen, was nach seiner Meinung falsch läuft im menschlichen Erziehungsgeflecht. Bewusst stellt er keine neuen pädagogischen Konzepte oder Theorien vor. Es geht ihm vielmehr darum, eine offene und öffentliche Diskussion darüber anzuregen, was jetzt, hier und heute geändert werden kann und muss. Eine Neuausrichtung der Erziehung ist für das Verständnis unserer Gesellschaft und deren Denk- und Handlungsweise unabdingbar. Der Mentor/in (neuer Lehrer/in) muss dabei einen Quantensprung vollziehen, um einem freiheitlichen Erziehungsanspruch gerecht zu werden.
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Seitenzahl: 182
Veröffentlichungsjahr: 2022
Rolf Mayr
Neue Lehrer, glückliche Kinder
Erziehung zum Glücklichsein
Copyright: © 2022 Rolf Mayr
Umschlag & Satz: Erik Kinting (www.buchlektorat.net)
Verlag und Druck:
tredition GmbH
Halenreie 40-44
22359 Hamburg
ISBN
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Inhalt
Warum ich dieses Buch schreibe?
Das Buch ist durch wachsende Besorgnis über den Zustand der Menschheit entstanden. Der Grund zur Besorgnis liegt auf der Hand, wenn man nur ein wenig die Kommentare der Medienlandschaft über das heutige Schulsystem verfolgt, angefangen mit Berichten über Stress und Überlastung, erhöhten Selbstmordraten von Schüler/-innen, Mobbing, Schießereien in Schulen und überlasteten Lehrkräften, die lange vor der Pensionierung mit Burn-outs zu kämpfen haben. Wir blicken auf eine verblasste, verhärmte Erziehungskultur herab, die den Prioritäten einer fast vollständig ökonomisch orientierten Gesellschaftspolitik hörig ist. Das Erziehungssystem vermittelt keine Kultur mehr, präziser gesagt keine Lebenskultur. Es vermittelt Werkinhalte, Rüstzeug für den späteren Job. Das Wohlbefinden (Gesundheit) wird oft am Erfolg medizinischer Kunst gemessen. Das Glücksbefinden wurde ebenfalls verfremdet und unterliegt den Erfolgskriterien zur Bereicherung und Vergrößerung eigener Vorteile und Anhäufung von materiellem Reichtum. Dies alles wissen wir eigentlich schon lange. Doch was wurde unternommen, um das marode gesellschaftliche Fundament zu erneuern? Die Versuche begrenzen sich auf wenige alternative Schulen, die wie kleinste Inseln in einem Ozean von profaner Erziehungskultur auftauchen. Man spricht in der öffentlichen Diskussion wenig und meist nur in Fachkreisen über Erziehung und meint damit hauptsächlich Einschulung und Bildung. Wichtige Fragen zur Erziehung in den frühen Kinderjahren tauchen nur am Rande auf. Wie wir heute wissen, werden die wichtigsten moralischen Beziehungsgrundlagen in diesen Jahren aufgebaut und sind später ausschlaggebende Wegweiser für unser Wohlbefinden und Wohlverhalten. Kriegsstrategien bereits fürs Weltall vorbereitet werden! Dies alles hat seine Grundlage im Erziehungssystem, das solche Monsterregierungen hervorgebracht hat.
Wir müssen ganz neu beginnen, von ganz klein auf ein menschliches friedliches Beziehungsleben anvisieren. Wenn einmal die Konditionierungsmuster unserer Gehirne am Werk sind, nachdem wir aus der Schule entlassen wurden, ist der Weltenlauf so, wie wir ihn heute vor uns haben: erschreckend zerstörerisch. Meine Essays wollen ein Aufruf an uns alle sein, einen wahrhaften Dialog über eine friedliche menschliche Erziehung und damit ein konfliktfreies Zusammenleben aufzunehmen. Erziehungsfragen und nicht Bildungswissen müssen in den Schulen erste Priorität bekommen. Politische und gesellschaftliche Diskussionen sollen vermehrt dazu angeregt werden, sich diesen neuen Prioritäten zu stellen.
Aus meinem Leben und Denken
Zuerst möchte ich Ihnen sagen, dass ich kein Experte für Erziehungsfragen bin. Ich habe weder Pädagogik noch Sozialwissenschaften studiert. Ich besitze kein Spezialwissen, mit dem ich Sie in erzieherischen Belangen belehren möchte. Trotzdem habe ich im In- und Ausland Unterstufen unterrichtet, zwei Jahre in der Schweiz und sechs Jahre an meiner eigenen Schule in Brasilien. Die Beschäftigung mit Erziehungsfragen im täglichen Leben, das Studium von Fachliteratur, Reportagen, Forschungsberichten, Pressemitteilungen etc. haben mich dabei zu den verschiedensten Fragestellungen angeregt, sodass ich meine Beobachtungen mit Ihnen diskutieren möchte, als Lernender und Forschender und nicht als Experte.
Vielfach werden wir mit Büchern konfrontiert, die sich durch Analysen, Befragungen und Langzeitbeobachtungen einen wissenschaftlichen Anstrich geben und sich auf Studien von unterschiedlichsten Fachrichtungen beziehen. Daraus werden dann Änderungen, Empfehlungen und Schlussfolgerungen für Verbesserungen des heute überalterten Erziehungssystems abgeleitet und präsentiert. Diese Bücher und Studien haben sicher einen eigenen Stellenwert und sind auf ihre Weise wertvoll.
Meine Darstellungen verfolgen jedoch ein anderes Ziel. Obwohl auch hier ein längeres Experiment zugrunde liegt und ebenfalls Bücher studiert wurden, geht es nicht darum, daraus eine Theorie abzuleiten oder voreilige Schlussfolgerungen zu ziehen. Erziehungsfragen sind für mich eng mit einem Lebensgefühl verknüpft, das sich nicht parametrisieren lässt. Somit sollten Erziehungsfragen nicht mit einem wissenschaftlichen Anspruch abgehandelt werden, der sich generell durch strenge Analytik auszeichnet.
Meine jetzige zentrale Fragestellung richtet sich auf das Menschsein als Geisteswesen und nicht auf das Menschsein als Wissenswesen. Dazu gehören essenzielle Fragen, die Beziehungsverhältnisse des Zusammenlebens und gemeinsamen Lernens untersuchen. Die Verpflichtung zur Aufrechterhaltung einer friedlichen und glücklichen Existenz im Hier und Jetzt muss dabei im Vordergrund stehen.
In den meisten derzeitigen Erziehungsmodellen werden wir zu sehr auf eine theoretische Zukunft eingeschworen, die nie stattfindet. Das Glück wird transzendiert und so in eine ungewisse Ferne gerückt. Ist ein solcher Anreiz zum lebenslangen Lernen ernst zu nehmen? Kaum! Wir huldigen damit lediglich einem Trostkonzept, das ein konstruiertes Glück vorgaukelt mit vielen Wenns und Abers. Wir müssen diesem selbsttäuschenden Konzept eine Absage erteilen, da es auf der Annahme basiert, dass mehr Wissen, mehr Erfahrung der Schlüssel zum Erfolg, sprich Glücklichsein sein sollen. Doch statt Glück erleben wir lediglich zerbrechliche „Hochs“, die jeglicher Tiefe entbehren und daher nur von kurzer Dauer sein können. Das Glück wird im Resultat gesucht und angestrebt und nicht auf dem Weg dazu. Damit machen wir unser Leben zum Albtraum des Ankommens in der Zukunft. Der Weg wird zum Leiden, Ausharren, Abwarten und Hoffen. Was geändert werden sollte, um die Zukunft „ins Jetzt zu holen“, ist Gegenstand vorliegender Betrachtungen und Fragen in diesen Essays.
Lassen Sie mich kurz einige Schlüsselmomente aus meiner eigenen Schulzeit beschreiben, die, wie ich meine, im heutigen Erziehungswesen immer noch eine unterschwellig gärende Problematik darstellen.
Ich habe mir immer vorgestellt, dass Schule nicht so sein darf, wie ich sie in meiner Jugend in der Schweiz erlebt habe: stillsitzen und zuhören, erfüllen, was einem aufgetragen wird und dafür einen Leistungsausweis in Noten und eine „Betragensbegutachtung” erhalten. Dies hat mich zeitlebens befremdet. Sehr gut mag ich mich an die Einträge meines Primarlehrers erinnern, die mit blauer Tinte aus dem Weiß der Zeugnisseiten herausstachen. Mit majestätischer Schrift stand geschrieben: ,,Unruhig, oft sehr unruhig“. Da die Noten offenbar kaum zu beanstanden waren , weil sie als viel wichtiger eingestuft wurden, blieb es bei Ermahnungen seitens meiner Eltern. Meine Unruhe blieb auch in späteren Jahren und ich musste dafür mit Strafaufgaben und anderen Strafmitteln bezahlen. Nachdem ich in den Pubertätsjahren eine innere Blockade erlitten hatte, da ich eigentlich nichts mehr lernen wollte, weil Lehrer in extremem Zynismus über uns schwächere Schüler herzogen, fielen meine Leistungen zusehends ab. Mein Betragen gab dann schließlich den Ausschlag, mich ein Jahr vor dem Abitur von der Schule zu weisen. Betragen und Leistungen blieben diesmal auf dem gleichen Niveau.
Später beim Studium an der Universität machte mir der Leistungsdruck erneut zu schaffen. Die Notengebungen in den Prüfungen waren nicht alle objektiv, wie ich erfahren musste. Mit einem Rekursverfahren musste ich beweisen, dass meine Leistungen besser waren, als sie von den Professoren eingestuft wurden − mit Erfolg.
Durch die vielen negativen Erfahrungen in meiner Schul- und Studienzeit war für mich der Lehrerberuf, so wie er damals und offenbar auch heute noch weitgehend ausgeübt wird, in den hintersten Winkel des Universums gerückt. Den kontroversen Herausforderungen des Lebens in unserer Leistungsgesellschaft begegnete ich daher mit fortwährendem Studium menschlichen Verhaltens, was mich schließlich dazu führte, das Lernsystem mit seinen Erziehungsinhalten und die Ausbildung der Lehrpersonen grundsätzlicher zu hinterfragen. Ich verbrachte viele Jahre mit dem Studium von J. Krishnamurti1, den viele als Sokrates des 20. Jahrhunderts bezeichnen. In der Tat stellte er unsere Welt mit tiefgreifenden Dialogen, Vorträgen und Gesprächen mit Wissenschaftlern und Politikern infrage, eine Welt, die in einer tiefen Bewusstseinskrise steckt, wie er immer und immer wieder betonte. Die Erziehung steht im Brennpunkt seiner sich dauernd erneuernden Fragestellungen und resultierte in Schulen, in deren Mittelpunkt die Kultivierung der menschlichen Beziehungen stand, unabhängig von Religion, Nationalität, Rasse, Geschlecht oder sozialer Herkunft.
Das Studium von Krishnamurtis Lebensoffenbarung griff dann immer mehr in mein eigenes Leben ein. Zuerst noch ziemlich unbewusst, zusehends jedoch konkreter in Form von Hinterfragungen meines eigenen Lebensinhaltes. Nach einer gewissen Zeit wurde mir klar, dass ich jetzt mein Leben ändern und eine neue Ausrichtung suchen muss. Nicht klar war, wohin die Reise führen sollte.
Einsätze in Kriegsgebieten in Sri Lanka und Angola als Freiwilliger für humanitäre Zwecke im Dienste des Staates und der UNO gaben schließlich den Ausschlag, meinen Beruf als Architekt an den Nagel zu hängen und tiefer nach den Ursachen von solch zerstörender Gewalt zu suchen. Nachdem ich mit Kindermilizen konfrontiert worden war, deren geschätztes Alter zwischen acht und 20 Jahren variierte und die mit Maschinenpistolen unsere Fahrzeuge kontrollierten, war mir klar geworden, dass das, was ich bisher in den Zeitungen und im Fernsehen über Krieg und Frieden gelesen und gesehen hatte, nur die Spitze des Eisbergs einer höchst fragwürdigen Zivilisation sein muss. Wo sollte ich beginnen, da ich ja selbst ein Teil dieser gewalttätigen Kultur bin und in sie hinein konditioniert wurde. Diese Frage ließ mich nicht mehr los, und bis heute bin ich immer weiter auf der Suche, mich dieser Konditionierung zu stellen und sie durchschauen zu wollen.
Auf diesem Weg gründete ich eine Schule. Der Schwerpunkt der Erziehung lag auf der Erforschung menschlichen Verhaltens. Dabei sollen untergründige, zutiefst menschenunwürdige Handlungen aufgedeckt und hinterfragt werden. Die Kinder müssen aus der Geschichte lernen können und nicht nur Fakten wiederholen und aufzählen, die dann in sinnlosen Prüfungen einfach abgehakt werden.
Das bisherige Ziel des Lernens war, Prüfungen zu bestehen, um das Weiterkommen zu garantieren. Doch die Fakten allein haben nichts zu tun mit der eigenen Lebenssituation, da sie isoliert und abstrakt vermittelt werden.
Nehmen wir das Beispiel des Geschichtsunterrichtes: Wir lernen Hunderte von Kriegssituationen kennen, lernen ihre Daten auswendig, erfahren, was das Ziel der involvierten Parteien war, wie viele Menschen zu Tode gekommen sind, und werden auch mit den Grausamkeiten ihrer Kriegs- und Mordinstrumente konfrontiert. Wir lernen dabei nichts über die tieferen Ursachen und Motive der menschlichen Veranlagungen, unserer Veranlagungen, die uns heute selbst immer wieder kleine und große Kriege führen lassen. Die Vergangenheit wiederholt sich endlos, doch potenziert gefährlicher. Schauen wir genauer hin. Untersuchen wir, was die Auslöser von Konflikten und nachfolgenden Kriegen sind, so können wir feststellen, dass unsere eigenen kleinen „Kriege“ dieselbe psychologische Struktur aufweisen wie die großen Kriege, die von Nationen oder Gruppenverbänden geführt werden. Selbstbehauptung, Eigennutz, Machtanspruch, Besitztum, Unterwerfung sollen unser Ego stärken, damit wir uns später im Leben behaupten können. Doch dies sind einige der Eigenschaften, die dazu beitragen, immer neue Konflikte vom Zaun zu brechen.
Unter dem Aspekt der eigenen Lebenssituation und Betroffenheit, der eigenen psychologischen Konstellation soll die Geschichte als Anschauungsmaterial in die Gegenwart geholt werden und dazu dienen, unsere Handlungsweisen zu reflektieren. Dadurch bekommt Geschichte einen persönlichen Bezug und regt zu immer neuen Fragestellungen an. In der traditionellen repetitiven Denkweise, etwa beim Auswendiglernen solcher geschichtlichen und anderer Studienfächer, wird das Gehirn jedoch zu einem gelähmten Speicher reduziert.
Unsere Gesellschaft befindet sich in einem Zustand der Belanglosigkeit und Orientierungslosigkeit.
Die Erziehung wird nach heutiger Auffassung durch die Politik bestimmt, eine politische Aufgabe also mit allen Schattierungen von Meinungen, Ansichten, Lebensanschauungen und Spekulationen. Sie entspringt einem Menschenbild, das sich an eine wissenschaftlich orientierte Verbesserung des Menschen hält, der mit mehr Wissensfülle zu mehr Menschenreife, sprich Menschlichkeit, gelangen sollte. Doch gerade in diesem Streben polarisieren sich die Ansichten oft. Solche Diskussionen enden in der Fortsetzung dessen, was ist, etwas verbessert vielleicht, doch im Grundsatz ohne drastische Änderung menschlichen Verhaltens in den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen.
Die politische Landschaft ist ein kunterbuntes Gemisch von sich absondernden, isolierten Gruppen, die sich gegenseitig mit Argumenten bekämpfen, ohne eine Basis zu haben. Damit sollen bessere Menschen hervorgebracht und sensiblere menschliche Beziehungen geschaffen werden. Doch wie mir scheint, sind das nicht Ansätze, die wirklich interessieren. Politische „Erziehung” hat nichts zu tun mit der Erziehung, von der wir hier sprechen wollen.
Somit möchte ich die Frage an Sie richten, ob Sie dazu bereit wären, die Experten und Fachleute einmal bei Seite zu lassen und politische Strömungen einfach zu ignorieren. Sind wir nicht gewohnt, uns auf jedem Gebiet auf Experten zu stützen und dabei unsere eigenen Beobachtungen und Handlungsweisen diesen unterzuordnen? Nehmen wir uns also selbst in die Verantwortung und stellen wir uns den vielen unbequemen Fragen! Was fühlen wir, wenn unsere Kinder die heutigen Schulen besuchen, was halten wir für lebenswichtig, was soll aus unseren Kindern werden? Genügen uns unsere Schulen? Gibt es Vorkommnisse, mit denen wir nicht einverstanden sind? Haben wir eigene Vorstellungen, wohin die Reise der Erziehung gehen soll? Warum folgen wir einfach dem Angebot der Schule?
Im Bereich der Erziehung erachte ich eine Unterordnung und Anpassung als besonders fatal. Nach meinen Beobachtungen, die ich im Verlaufe der letzten zehn Jahre gemacht habe, haben der Autoritätsglaube und eine schleichende Gleichgültigkeit unser ganzes Lebensgefühl verunsichert, indem die Verantwortung der Erziehung an Organisationen und staatliche Institutionen delegiert wurde. Wir sind als Erziehungspersonen verunsichert und desorientiert. Gefühle, Ahnungen, Vorstellungen, Glaubensformen religiöser und politischer Natur bilden Fragmente unserer gesellschaftlichen Erziehungsmoral. Sie bilden unsere bewussten und unbewussten Handlungshintergründe, die das Leben mechanisch ablaufen lassen. Wie sollten wir da erziehen, wenn wir uns selbst nicht kennen und uns immer nur anpassen. Das eigene Sein ist erloschen. Es bleibt eine trügerische Hoffnung, durchzogen von Zweifeln und der Unsicherheit, dass trotzdem alles gut wird, dass ja alles einem programmierten Lauf folgt und wir selbst wenig ändern können.
Wir erziehen unsere Kinder aus einem unbefriedigten Lebensgefühl heraus.
Unsicherheit regiert, weil wir uns selbst nicht kennen.
Die vernachlässigten Erziehungsfragen trüben unser ganzes Leben und damit alle unsere menschlichen Beziehungen. Wir haben nur wenig oder gar keine Klarheit über unser Innenleben. Unsere Aufmerksamkeit ist immer nur nach außen, auf den materiellen und beruflichen Fortschritt gerichtet, auf oberflächlichen Wissenszuwachs und guten Verdienst. Es ist uns dabei entgangen, dass wir uns im Laufe dieser Entwicklung auf ein beschränktes Menschenbild eingefahren haben. Eine plötzliche Krise macht uns zeitweise auf ein anderes, versunkenes Leben aufmerksam. Sie gibt uns Anstoß, innerlich wacher und sensibler zu werden. Doch der Drang nach dem Trott des Alltags ist stärker und verschüttet diese Öffnung zum inneren Gehör sehr schnell wieder.
Vielleicht beginnen wir dann, fernöstliches Gedankengut zu studieren, zu meditieren, gehen in Entspannungs- und Selbsterfahrungskurse, wo wir einige Techniken lernen, die jedoch kaum unser tägliches Verhalten grundlegend zu ändern vermögen. Dabei imitieren wir fremde Kulturen, legen uns neue Namen zu, flüchten uns in irgendwelche Rituale und Meditationsprogramme oder geraten in Abhängigkeiten von spirituellen Führern, die uns Praktiken lehren mit dem Versprechen, innerlich erleuchtet zu werden. Wir merken dabei nicht, dass wir lediglich versuchen, das Unerträgliche erträglicher zu machen. Die Unstimmigkeit in unserem Innersten bleibt jedoch und wird nur oberflächlich überdeckt durch neue Praktiken. Wir packen das Übel nicht an der Wurzel an, sondern begnügen uns mit kurzlebigen Veränderungen. Wozu also diese äußeren, schnell verbleichenden Erfahrungen, wenn unser Lebensgefühl trotzdem insgesamt nicht besser wird? Die gelegentlich ernsthaften Anstrengungen, die wir in Bezug auf unser Innenleben vollführen, verebben im Wissensmorast von Büchern und Theorien und stoßen dabei kaum zu unserem unbefriedigten Lebensgefühl vor.
Wir erziehen aus Büchern und angehäuftem Wissen,
ohne selbst zu wissen, wer wir sind.
Ich bin der Überzeugung, dass wir einen einseitigen Lernweg eingeschlagen haben: einen Weg des lebenslangen Lernens im Sinne einer einseitig begrenzten Wissensvermehrung. Ein Weg aus zweiter Hand mit viel Bücherwissen. Es fehlt uns die Freiheit zur Authentizität und Originalität, einen inneren, unabhängigen, persönlichen Weg einzuschlagen. Ein Weg, der in keinem Buch beschrieben ist, ein Weg, der nicht normiert und gesellschaftskonform geplant und festgelegt wurde, mit welchen wissenschaftlichen und moralischen Aspekten und Methoden auch immer. Ein Weg, der nicht von der Realität ablenkt, der sich mit dem auseinandersetzt, wie wir sind und nicht damit, wie wir und was wir sein sollten! Wir glauben an viele Dinge, suchen unsere Zuflucht in der Mystik, in Religionen, Sekten oder anderen Gruppierungen, die uns Sicherheit und seelischen Halt versprechen. Sind wir dabei glücklicher geworden oder haben wir gelernt, uns einfach mit Illusionen zu begnügen, die unsere Probleme weiter in die Zukunft verschieben?
Ist der religiöse Glaube nicht auch eine Fiktion, die uns von der Realität ablenkt und nur vorübergehenden Trost spendet, auf eine bessere Zukunft verweist, die durch nie endende Hoffnungen immer wieder enttäuscht und dann neu angepriesen werden muss? Doch was geschieht wirklich?
Neue Religionspraktiken wurden erfunden. Damit man sich nicht langweilt, wird Musik gemacht, gesungen und getanzt. Das Ganze bekommt mehr Unterhaltungscharakter, wird bunter und schriller und soll speziell auch junge Leute anziehen. Der alte Inhalt wird lediglich neu inszeniert, etwa so, wie klassische Opern und Schauspiele mit dem gleichen ursprünglichen Gehalt immer wieder neu interpretiert werden – neuer Wein im alten Schlauch.
Woran sollen wir uns denn orientieren, wenn alles, was Fiktion ist, wegfällt, es sozusagen keine Zukunftshoffnung gibt? Ein Leben ohne vermeintliche Sicherheit und Identifikation? Ich denke, dass diese Fragen existenziell und überlebenswichtig sind, Teil unseres Reifungs- und Erziehungsprozesses sein sollten, weil sie direkt unser Lebensgefühl angehen. Die Schwierigkeit liegt darin, dass wir uns dabei nicht auf irgendwelche gesicherten Informationen oder Autoritäten stützen können, sondern von Moment zu Moment unsere ganze Präsenz gefordert ist. Beim bewussten Wahrnehmen und Beobachten unserer aktuellen Denk- und Gefühlszustände können wir erleben, dass wir mit unserem Innenleben in direkterem Kontakt stehen. Erst durch täglich bewusst gelebte Wahrnehmung unserer Denk- und Gefühlszustände wird es möglich sein, auch andere besser zu verstehen. Ein lebendiger und spannender Prozess, der äußerste Sensibilität, Wachsamkeit und Respekt sich selbst und anderen gegenüber erfordert; ein Prozess, der kein Ende hat. Wir nehmen wahr, was ist, nicht durch irgendeinen Schleier von angelerntem Wissen oder psychologischen Konzepten, die wiederum auch auf beschränktem Wissen basieren. Wenn wir wahrnehmen, was ist, hat unser Lebensgefühl intuitiven „Boden“ erreicht. Gemäß Duden heißt intuitiv: „durch unmittelbare Anschauung, nicht durch Denken erkennbar; auf Eingebung beruhend.”