Neue Unternehmer braucht das Land - Max Trecker - E-Book

Neue Unternehmer braucht das Land E-Book

Max Trecker

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Beschreibung

Vom Kommunisten zum Unternehmer, vom Kombinat zum eigenen Betrieb?

Mit dem Beitritt der DDR in den Geltungsbereich des Grundgesetzes wurde auch das System der »sozialen Marktwirtschaft« übernommen. Doch woher sollten in einem vormals sozialistischen Land die Unternehmer kommen? Die Akzeptanz des neuen politischen und ökonomischen Systems hing entscheidend von seiner regionalen Verankerung ab. »Mittelstand« war das Zauberwort, das für die Stärke der westdeutschen Volkswirtschaft stand. Mit der Privatisierung der ostdeutschen Staatsbetriebe durch die Treuhandanstalt bot sich die einmalige Chance, das vermeintliche Erfolgsmodell in Rekordzeit auf Ostdeutschland zu übertragen. Es handelte sich um ein soziales Experiment par excellence, das Max Trecker an der Schnittstelle von Wirtschaft und Gesellschaft genau analysiert.

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Seitenzahl: 430

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Max Trecker

Neue Unternehmer braucht das Land

Studien zur Geschichteder Treuhandanstalt

Herausgegeben von Dierk Hoffmann,Hermann Wentker und Andreas Wirschingim Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin

Max Trecker

Neue Unternehmer braucht das Land

Die Genese des ostdeutschen Mittelstands nach der Wiedervereinigung

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Ch. Links Verlag ist eine Marke der

Aufbau Verlage GmbH & Co. KG

© Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin 2022

entspricht der 1. Druckauflage von 2022

Prinzenstraße 85, 10969 Berlin

www.christoph-links-verlag.de

Lektorat: Dr. Daniel Bussenius, Berlin

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München, unter Verwendung eines Fotos von Montagearbeiten an Plasmaschneidgeräten in der Kjellberg GmbH Finsterwalde, 1997, © picture-alliance/ZB/Martin Schutt

ISBN 978-3-96289-154-1

eISBN 978-3-86284-521-7

Inhalt

Vorwort der Herausgeber

Einleitung

Hinführung

Fragen

Privatisierungsdebatten in westlichen Industrieländern

Der Blick über Oder und Neiße

Forschungsliteratur und Quellenlage

Aufbau des Buches

I. Obsession Mittelstand – eine deutsche Affäre?

1. Begriffswandel

2. Mittelstand und soziale Marktwirtschaft

3. SED und privates Unternehmertum

4. Die Verstaatlichungen von 1972

5. Zusammenfassung

II. Reformpläne zwischen Wende und Wiedervereinigung

1. Die 1980er-Jahre – eine Bestandsaufnahme

2. Christa Luft und die Reform der DDR-Wirtschaft

3. Zurück in die 1960er-Jahre?

4. Das Erbe der Modrow-Regierung

5. »Soziale Marktwirtschaft« von unten?

6. Sommer 1990: Brüchige Euphorie

7. Zusammenfassung

III. Die Treuhand und der Mittelstand

1. Akteur wider Willen?

2. Das Problem der Reprivatisierung

3. MBO und MBI als Schlüssel zum Erfolg?

4. Experiment Management-KG

5. Birgit Breuel und der Mittelstand

6. Zusammenfassung

IV. Von Banken und Hilfe zur Selbsthilfe

1. Die Rolle der KfW im Prozess der Wiedervereinigung

2. Die KfW als Substitut für die großen Privatbanken?

3. Die Industrie- und Handelskammern

4. Zusammenfassung

V. Mythos Mittelstand? Ein Vergleich zwischen Thüringen, Sachsen und Brandenburg

1. Vorbild Sachsen?

2. Neuanfang in Thüringen

3. Brandenburg: Land ohne Mittelstand?

4. Zusammenfassung

VI. Der lange Weg zur Freiheit: Das Beispiel des VEB Schweißtechnik Finsterwalde

1. Anfänge in der Lausitz

2. Das Ende des Sozialismus als Chance für Finsterwalde?

3. Zwischen Hoffnung und Verzweiflung

4. Konsolidierung und Boom

5. Was zeigt das Beispiel Finsterwalde (nicht)?

6. Zusammenfassung

Fazit und Forschungsausblick

Anhang

Abkürzungen

Quellen- und Literaturverzeichnis

Personenregister

Dank

Der Autor

Vorwort der Herausgeber

Noch in der Spätphase der DDR gegründet, entwickelte sich die Treuhandanstalt zur zentralen Behörde der ökonomischen Transformation in Ostdeutschland. Ihre ursprüngliche Aufgabe war die rasche Privatisierung der ostdeutschen volkseigenen Betriebe (VEB). Sehr bald aber wies ihr die Politik zahlreiche weitere Aufgaben zu. Sukzessive sah sich die Treuhandanstalt mit der Lösung der Altschuldenproblematik, der Sanierung der ökologischen Altlasten, der Mitwirkung an der Arbeitsmarktpolitik und schließlich ganz allgemein mit der Durchführung eines Strukturwandels konfrontiert. In ihrer Tätigkeit allein ein behördliches Versagen zu erkennen wäre daher ahistorisch und einseitig, auch wenn die Bilanz der Treuhandanstalt niederschmetternd zu sein scheint. Denn von den etwa vier Millionen Industriearbeitsplätzen blieb nur ein Drittel übrig. Das öffentliche Urteil ist daher ganz überwiegend negativ. Die Kritik setzte schon ein, als die Behörde mit der Privatisierung der ersten VEBs der DDR begann. Bis heute verbinden sich mit der Treuhandanstalt enttäuschte Hoffnungen, überzogene Erwartungen, aber auch Selbsttäuschungen und Mythen. Außerdem ist sie eine Projektionsfläche für politische Interessen und Konflikte, wie die Landtagswahlkämpfe 2019 in Ostdeutschland deutlich gemacht haben. Umso dringender ist es erforderlich, die Tätigkeit der Treuhandanstalt und mit ihr die gesamte (ost-)deutsche Transformationsgeschichte der frühen 1990er-Jahre wissenschaftlich zu betrachten. Dies ist das Ziel der Studien zur Geschichte der Treuhandanstalt, deren Bände die Umbrüche der 1990er-Jahre erstmals auf breiter archivalischer Quellengrundlage beleuchten und analysieren.

Die Privatisierung der ostdeutschen Betriebe brachte für viele Menschen nicht nur Erwerbslosigkeit, sondern auch den Verlust einer sicher geglaubten, betriebszentrierten Arbeits- und Lebenswelt. Insofern ist die Erfahrungsperspektive der Betroffenen weiterhin ernst zu nehmen und in die wissenschaftliche Untersuchung ebenso zu integrieren wie in die gesellschaftspolitischen Konzepte. Der mit der Transformation einhergehende Strukturwandel hatte Folgen für Mentalitäten und politische Einstellungen, die bis in die Gegenwart hineinreichen. Dabei wurden die individuellen und gemeinschaftlichen Erfahrungen und Erinnerungen stets von medial geführten Debatten über die Transformationszeit sowie von politischen Interpretationsversuchen geprägt und überlagert. Diese teilweise miteinander verwobenen Ebenen gilt es bei der wissenschaftlichen Analyse zu berücksichtigen und analytisch zu trennen. Der erfahrungsgeschichtliche Zugang allein kann die Entstehung und Arbeitsweise der Treuhandanstalt sowie die Privatisierung der ostdeutschen Wirtschaft nicht hinreichend erklären. Vielmehr kommt es darauf an, die unterschiedlichen Perspektiven miteinander in Relation zu setzen und analytisch zu verknüpfen, um so ein differenziertes und vielschichtiges Bild der Umbrüche der 1990er-Jahre zu erhalten.

Diese große Aufgabe stellt sich der Zeitgeschichte erst seit Kurzem, denn mit dem Ablauf der 30-Jahre-Sperrfrist, die für staatliches Archivgut in Deutschland grundsätzlich gilt, ergibt sich für die Forschung eine ganz neue Arbeitsgrundlage. Das öffentliche Interesse konzentriert sich auf die sogenannten Treuhandakten, die im Bundesarchiv Berlin allgemein zugänglich sind (Bestand B 412). Sie werden mittlerweile auch von Publizistinnen und Publizisten sowie Journalistinnen und Journalisten intensiv genutzt. An dieser Stelle sei aber daran erinnert, dass schon sehr viel früher Akten anderer Provenienz allgemein und öffentlich zugänglich waren – die schriftliche Überlieferung der ostdeutschen Landesregierungen oder der Gewerkschaften, um nur einige Akteure zu nennen. Darüber hinaus können seit einiger Zeit auch die Akten der Bundesregierung und der westdeutschen Landesverwaltungen eingesehen werden. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Bei aller Euphorie über die quantitativ wie qualitativ immer breiter werdende Quellengrundlage (allein zwölf laufende Aktenkilometer Treuhandüberlieferung im Bundesarchiv Berlin) sollte allerdings nicht aus dem Blick geraten, dass Historikerinnen und Historiker die Archivalien einer Quellenkritik unterziehen müssen. Dies gehört grundsätzlich zu ihrem Arbeitsauftrag. Da die Erwartungen der Öffentlichkeit an die Aussagekraft vor allem der Treuhandakten hoch sind, sei dieser Einwand an dieser Stelle ausdrücklich gemacht. So gilt es, einzelne Privatisierungsentscheidungen der Treuhandspitze zu kontextualisieren und mit anderen Überlieferungen abzugleichen. Zur Illustration der Problematik mag ein Beispiel dienen: Treuhandakten der sogenannten Vertrauensbevollmächtigten und der Stabsstelle Recht enthalten Vorwürfe über »SED-Seilschaften« und »Korruption«, die sich auch in der Retrospektive nicht mehr vollständig klären lassen. Die in Teilen der Öffentlichkeit verbreitete Annahme, die Wahrheit komme nun endlich ans Licht, führt daher in die Irre und würde ansonsten nur weitere Enttäuschungen produzieren. Es gibt eben nicht die historische Wahrheit. Stattdessen ist es notwendig, Strukturzusammenhänge zu analysieren, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen, Widersprüche zu benennen und auch auszuhalten. Dazu kann die Zeitgeschichtsforschung einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie mit quellengesättigten und methodisch innovativen Studien den historischen Ort der Treuhandanstalt in der Geschichte des vereinigten Deutschlands bestimmt, gängige Geschichtsbilder hinterfragt und Legenden dekonstruiert.

Im Rahmen seines Forschungsschwerpunktes »Transformationen in der neuesten Zeitgeschichte« zu den rasanten Wandlungsprozessen und soziokulturellen Brüchen der Industriegesellschaften seit den 1970er-Jahren hat das Institut für Zeitgeschichte München – Berlin (IfZ) im Frühjahr 2013 damit begonnen, ein großes, mehrteiliges Projekt zur Geschichte der Treuhandanstalt inhaltlich zu konzipieren und vorzubereiten. Auf der Grundlage der neu zugänglichen Quellen, die erstmals systematisch ausgewertet werden konnten, ging das Projektteam insbesondere folgenden Leitfragen nach: Welche politischen Ziele sollten mit der Treuhandanstalt erreicht werden? Welche Konzepte wurden in einzelnen Branchen und Regionen verfolgt, und was waren die Ergebnisse? Welche gesellschaftlichen Auswirkungen haben sich ergeben? Wie ist die Treuhandanstalt in internationaler Hinsicht zu sehen?

Bei der Projektvorbereitung und -durchführung waren Prof. Dr. Richard Schröder und Prof. Dr. Karl-Heinz Paqué unterstützend tätig, denen unser ausdrücklicher Dank gilt. Über Eigenmittel hinaus ist das IfZ-Projekt, das ein international besetzter wissenschaftlicher Beirat kritisch begleitet hat, vom Bundesministerium der Finanzen von 2017 bis 2021 großzügig gefördert worden. Auch dafür möchten wir unseren Dank aussprechen. In enger Verbindung hierzu standen zwei von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Einzelprojekte von Andreas Malycha und Florian Peters.

Dierk Hoffmann, Hermann Wentker, Andreas Wirsching

Einleitung

Hinführung

In seinem 1976 veröffentlichten Buch Peasants into Frenchmen beschreibt der Historiker Eugen Weber, wie die »unterentwickelten« Teile Frankreichs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in zentralstaatliche Leitbilder von Moderne und Nationalkultur integriert wurden.1 Selbst Jahrzehnte nach der Französischen Revolution habe es weder eine einheitliche nationale Kultur in Frankreich gegeben noch ein Selbstverständnis bei der absoluten Mehrheit der Bevölkerung, in einem unteilbaren Nationalstaat zu leben. Das Gefühl, in einem solchen zu leben, war, so Weber, am ausgeprägtesten bei den städtischen Eliten vorhanden und am wenigsten bei der ländlichen Bevölkerung. Letztere sah sich häufig mit Vorwürfen der Rückständigkeit konfrontiert. Nur eine starke Hand, so die Ansicht vieler politischer Entscheidungsträger in der Hauptstadt, könne die Überwindung der »Rückständigkeit« des »anderen« Frankreich erreichen helfen. Der Prozess, aus dem heterogenen Frankreich des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts einen weitgehend homogenen Nationalstaat zu schaffen, habe mehrere Jahrzehnte in Anspruch genommen. Entscheidend hierfür sei eine Kombination aus dem Schock der Industrialisierung gewesen, der viele Millionen Franzosen zu Binnenmigranten machte, und zentralstaatlichen Maßnahmen zur Vereinheitlichung von Kultur und Gesellschaft.

Das Deutsche Reich hatte 1945 als einheitlicher Nationalstaat zu existieren aufgehört. Aus seiner Konkursmasse gingen mehrere Staaten hervor, von denen die zwei größten Nachfolgestaaten sich als »deutsch« definierten. Während die Deutsche Demokratische Republik (DDR) als das »andere« Deutschland einem von der Sowjetunion geführten Block von staatssozialistischen Diktaturen angehörte, erfolgte in der Bundesrepublik Deutschland unter Aufsicht der westlichen Siegermächte der schrittweise Aufbau einer liberalen Demokratie. Während das von der Sowjetunion übernommene Wirtschaftssystem stark protektionistische Tendenzen aufwies, zeigte sich das westliche System unter Führung der USA, dem sich die Bundesrepublik anschloss, weltoffen. Auch wenn beide deutsche Staaten nach 1949 eine innere Stabilisierung erfuhren, erwies sich das westdeutsche Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell in vielfacher Hinsicht als überlegen. Der Bau der Berliner Mauer im August 1961 und die Abschottung der DDR nach Westen waren Folge der Unterlegenheit des sowjetischen Entwicklungsmodells in Konkurrenz zum kapitalistischen.

Zwar blieb die innerdeutsche Grenze auch nach dem Bau der Berliner Mauer weitaus poröser als die Grenze zwischen Nord- und Südkorea nach der Unterzeichnung des Waffenstillstands von Panmunjeom 1953. Dies konnte ein allmähliches Auseinanderdriften der Kulturen der zwei Länder jedoch kaum verhindern. Im Lauf von vier Jahrzehnten Trennung mussten die Bindungen zwischen den zwei Ländern, die früher eins gewesen waren, langsam schwinden. Partiell kam es auch nach 1961 zu innerfamiliären Kontakten zwischen Ost und West. Die deutsch-deutsche Frage blieb offiziell auf der Agenda der Politik. Entwicklungen in der Bundesrepublik wurden von DDR-Bürgern nach 1961 in erster Linie über das Westfernsehen rezipiert. Diffamierende Ausdrücke wie »die Zone« als Begriff für die DDR oder Bananenwitze im Westen waren populäre Ausdrücke für das Überlegenheitsgefühl der westdeutschen Mehrheitsbevölkerung.

Am Vorabend des Falls der Berliner Mauer stand die Vereinigung zwischen beiden deutschen Staaten nicht auf der politischen Agenda der Bundesregierung. Im Bewusstsein der Bevölkerung der Bundesrepublik spielte sie – im Gegensatz zu den 1950er-Jahren – nur noch eine sehr untergeordnete Rolle. Weite Bevölkerungsteile waren nach 1945 geboren und besaßen keinen direkten Bezug mehr zu einem nationalen Einheitsstaat. Insbesondere für die Bewohner der Bundesrepublik gab es in den 1980er-Jahren wenig Grund, einen Blick hinter die Mauer zu werfen. Als touristisches Ziel konnte die DDR nicht mit westeuropäischen Ländern wie Frankreich und Italien konkurrieren. Der Opposition innerhalb der DDR, die den Fall der Mauer erst möglich machte, ging es mehrheitlich nicht um die Aufgabe der Eigenstaatlichkeit der DDR und die Übernahme des bundesrepublikanischen Modells, sondern um eine Reform des Sozialismus.

Die Bundesregierung unter Kanzler Helmut Kohl erkannte nach dem Fall der Berliner Mauer die einmalige politische Chance, die sich bot. Durch die Ausnutzung eines kleinen geopolitischen Zeitfensters mochte es gelingen, wieder einen einheitlichen deutschen Nationalstaat zu schaffen und die zwei Staaten, die sich nach 1945 noch als dezidiert deutsch betrachteten, zusammenzuführen. Hierbei war schnell klar, dass es sich nicht um eine Vereinigung von Gleichen handeln würde, sondern um ein primär von der Bundesrepublik umzusetzendes Projekt. Die DDR war sowohl bevölkerungsmäßig kleiner als die Bundesrepublik als auch wirtschaftlich wesentlich schwächer aufgestellt. Die DDR gehörte zur »Verliererseite« des Kalten Krieges, die Bundesrepublik zu den Gewinnern. Anstatt gemeinsam ein neues staatliches Projekt zu begründen, wurde entschieden, dass die DDR dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitrat. Die Entscheidung für diese Vorgehensweise zementierte institutionell die Hierarchie zwischen den zwei Gesellschaften während des Vereinigungsprozesses.

Laut Eugen Weber brauchte es zur Schaffung eines französischen Nationalstaats vor allem zwei Dinge: den Willen des Zentralstaats zur Durchsetzung der Vereinheitlichung disparater Landesteile sowie einen exogenen Schock. Letzterer bestand im 19. Jahrhundert in der Industriellen Revolution, die sich in weiten Teilen Kontinentaleuropas erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts manifestierte. Im Fall der Vereinigung zwischen Bundesrepublik und DDR handelte es sich analog zu Webers Beispiel ebenfalls um ein großes politisches und sozioökonomisches Experiment. In politischer Hinsicht musste innerhalb kürzester Zeit das westliche Modell von Rechtstaatlichkeit und repräsentativer Demokratie auf Ostdeutschland übertragen werden. Dies musste per Definition weitgehend unter Ausschluss ostdeutscher Eliten geschehen. Die Strukturanpassung der ostdeutschen Wirtschaft bedeutete einen gesellschaftlichen Anpassungsprozess und kurzfristigen Schock, dessen Auswirkungen vor einem Vergleich mit der Industriellen Revolution nicht zurückzuschrecken brauchen; vor allem deshalb nicht, weil sich der Anpassungsprozess innerhalb weniger Jahre vollzog und einen bedeutenden Teil der arbeitsfähigen Bevölkerung um seinen bisherigen Arbeitsplatz brachte.

In sozioökonomischer Hinsicht bedeutete die Vereinigung die Übertragung des westdeutschen Erfolgsmodells der sozialen Marktwirtschaft auf Ostdeutschland. Bei der sozialen Marktwirtschaft handelt es sich um ein gesellschaftliches und ökonomisches Modell aus den 1930er- und 1940er-Jahren, entwickelt, um die Fehler des Liberalismus des langen 19. Jahrhunderts zu vermeiden und eine freiheitliche Gesellschaftsordnung gegen die Verlockungen der (national-)sozialistischen Zwangswirtschaft zu feien. Aus der unmittelbaren Nachkriegszeit heraus betrachtet, handelte es sich bei der sozialen Marktwirtschaft um ein Modell, das selbst die kühnsten Erfolgserwartungen der späten 1940er-Jahre übertraf. Die Bundesrepublik stieg bereits in den 1950er-Jahren zu einer der führenden Wirtschaftsmächte der Welt auf. Dies ging mit einer politischen Stabilität einher, welche die Rückkehr von Weimarer Verhältnissen nicht befürchten ließ.

Kernelement der sozialen Marktwirtschaft ist ein starker Mittelstand. Er bildet das Fundament gesellschaftlicher Freiheit und wirtschaftlichen Erfolges. Im staatssozialistischen System der DDR hatte es – zumindest in der offiziellen Propaganda – kein privates Unternehmertum gegeben. In mehreren Verstaatlichungskampagnen war der ehemals wirtschaftlich potente Mittelstand Mitteldeutschlands enteignet und in Staatsbesitz überführt worden. Nach der Vereinigung zwischen Bundesrepublik und DDR stellte sich die Frage, wie dieser Prozess rückgängig gemacht und wie neue leistungsfähige mittelständische Unternehmen aus der Konkursmasse der DDR-Wirtschaft und -Gesellschaft heraus gebildet werden konnten. Während analog zu Eugen Weber der politische Auftrag der Nationswerdung »Communists into Democrats« lautete, musste der Auftrag bei der Übertragung der sozialen Marktwirtschaft »Communists into Entrepreneurs« heißen. Der Prozess der Bildung eines starken Mittelstands in Ostdeutschland als Gradmesser des Erfolgs der Vereinigung von Ost und West steht im Fokus des vorliegenden Buches.

Fragen

Zentraler Akteur bei der Transformation der ostdeutschen Planwirtschaft in eine florierende soziale Marktwirtschaft war die Treuhandanstalt (THA). Gegründet primär auf Betreiben der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung zum Schutz des »Volkseigentums«, wandelte sich die Treuhand ab Sommer 1990 in eine Privatisierungsagentur. Für wenige Jahre avancierte sie zur »größten Industrie-Holding der Welt« mit anfänglich 8500 angeschlossenen Unternehmen, 45 000 Betriebsstätten und ca. vier Millionen Beschäftigten.2 Der Sinn der Privatisierungskampagne bestand nicht in einer reinen Maximierung der Verkaufserlöse. Die übergeordneten Aufgaben der Treuhandanstalt waren in Paragraf 2 des Treuhandgesetzes (TreuhG) vom 17. Juni 1990 festgehalten. Privatisierung und Verwertung des volkseigenen Vermögens hatten laut Gesetzgeber nach den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft zu erfolgen.3 Darüber hinaus sollte die Treuhandanstalt die Strukturanpassung der ostdeutschen Wirtschaft an die Erfordernisse des Marktes fördern.4

Hierzu gehörte die Schaffung einer Wirtschaftsstruktur, die näherungsweise der westdeutschen Realität der 1980er-Jahre entsprechen sollte, die sich durch eine Mischung aus kompetitiven Großunternehmen und starken mittelständischen Strukturen auszeichnete. Besonders im industriellen Bereich existierten viele westdeutsche mittelständische Unternehmen, die sich erfolgreich am Weltmarkt behaupteten, ohne in direkter Abhängigkeit von einem Großunternehmen zu stehen. Hieraus leiten sich mehrere Fragen an die Arbeit der Treuhandanstalt in den frühen 1990er-Jahren ab: Welche Rolle spielten Überlegungen zum Aufbau resilienter mittelständischer Strukturen in den Konzeptionen der Treuhandarbeit? Welche Maßnahmen wurden wann in der Praxis ergriffen? Inwiefern erfüllten sich die Erwartungen von Politik und Vorstand an die Arbeit der Treuhandanstalt?

Der Vorstand der Treuhandanstalt war sich der theoretischen Bedeutung des Themas Mittelstand bereits im Herbst 1990 bewusst. Es dauerte jedoch bis zum Frühjahr 1991, bis das Thema aktiv aufgegriffen wurde und konkrete Maßnahmen vom Vorstand beschlossen wurden. Das Führungspersonal der Treuhand wirkte hierbei oft wie getrieben. Die im Laufe des Jahres 1991 ergriffenen Maßnahmen zeugten jedoch von Pragmatismus und einer gewissen ideologischen Flexibilität in Einzelfragen. Der Vorstand verabschiedete Maßnahmen wie eine Programmlinie zum Verkauf von mittelständischen Betriebseinheiten an leitende Angestellte des jeweiligen Betriebs. Diese Insider-Privatisierung galt international als die schlechteste Form der Privatisierung. Im ostdeutschen Kontext erwies sie sich jedoch als relativ erfolgreich. Dennoch kamen die mittelstandspolitischen Fördermaßnahmen der Treuhandanstalt häufig zu spät und wurden zu zögerlich umgesetzt.

Die Gründe hierfür sind nicht in einer Mittelstandsfeindlichkeit des Führungspersonals der Treuhandanstalt zu suchen, sondern primär in der administrativen Überforderung des Personals. Als fatal erwies sich darüber hinaus für den ostdeutschen Mittelstand die Zerschlagung der Kombinatsstrukturen der DDR ohne Berücksichtigung eng miteinander verflochtener Wertschöpfungsketten. Die Abwicklung eines Großbetriebs konnte ungewollt den Ruin an sich überlebensfähiger mittelständischer Betriebe nach sich ziehen. Dies wäre in Westdeutschland ähnlich gewesen. Der Erfolg des westdeutschen Mittelstands war nicht in einem antagonistischen Verhältnis zur Großindustrie begründet, sondern in einer gewachsenen Arbeitsteilung. Aus ideologischen Gründen fehlte einem Teil des Vorstands der Treuhandanstalt der Blick für die westdeutsche Realität, was negative Folgen für die Entwicklung des ostdeutschen Mittelstands nach sich zog. Ein weiteres ideologisches Hemmnis bestand in der Fixierung auf ein möglichst baldiges Enddatum der Arbeit der Treuhandanstalt. Hierhinter stand folgende Befürchtung: Mit jedem Tag, den die Treuhand weiterexistierte, mochte das Risiko ihrer Verstetigung steigen und damit einer irreversiblen Zunahme der staatlichen Regulierung der Wirtschaft. Im ostdeutschen Kontext bedeutete dies, dass gerade viele sanierungsfähige mittelständische Firmen in nicht geringer Zahl entweder liquidiert oder an Investoren höchst zweifelhafter Seriosität im Eilverfahren veräußert wurden. Den Schaden für dieses suboptimale Privatisierungsergebnis musste in aller Regel die Gesellschaft tragen.

Die Treuhandanstalt kann für die Zeit ihres Bestehens von 1990 bis 1994 als wichtigster Akteur der sozioökonomischen Transformation Ostdeutschlands beschrieben werden. Für die meisten Menschen gab es jedoch ein Leben vor, mit und nach der Treuhandanstalt. Der Mittelstand auf dem Gebiet der späteren DDR umfasste bereits zur Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert viele außerordentlich leistungsfähige Unternehmen, die international erfolgreich agierten. In der DDR-Zeit wurde der Mittelstand zum Teil enteignet und verfolgt, zum Teil in die Flucht getrieben. Dies führte zu einer erheblichen Dezimierung, aber nicht zu einer Beseitigung mittelständischer Strukturen in der DDR. Zum Zeitpunkt des Mauerfalls gab es in der DDR noch ca. 100 000 Privatunternehmen. Indem ab Frühjahr 1990 der publizistische Schatten von Treuhand und Wiedervereinigung schrittweise andere Themen überlagerte, gerieten viele aus der sozialistischen Zeit stammende Entwicklungslinien ins Hintertreffen. Daher widmet sich ein Fragenkomplex des vorliegenden Buches explizit der Transformation in Ostdeutschland in der Zeit, bevor die Treuhandanstalt eine maßgebliche Rolle spielte: Welche Rolle spielten mittelständische Überlegungen zur Zeit der Regierung von Hans Modrow? Welche Erwartungshaltungen weckte der Mauerfall im verbliebenen ostdeutschen Mittelstand?

Aufgrund der kurzen Amtszeit der Modrow-Regierung konnte der reformkommunistische Flügel der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) weder ausgeklügelte Konzepte für die Zukunft der DDR entwerfen noch umfangreiche Reformmaßnahmen umsetzen. Dennoch lässt sich gerade auf dem Feld des Mittelstands ein institutionelles Erbe feststellen. Die Modrow-Regierung setzte das Thema Mittelstandsförderung früh auf ihre Agenda und erließ legislative Maßnahmen, die bis zum Ende der DDR zur Rückübertragung von etwa 3000 Unternehmen führten, die 1972 enteignet worden waren. Das Jahr 1972 war hierbei von besonderer Relevanz, da es das Jahr der letzten Verstaatlichungskampagne der DDR gewesen war. Es bestand im Winter 1989/90 wenig Grund, das Thema Mittelstand auf die Agenda zu setzen, zumal die Modrow-Regierung weitaus dringendere Probleme zu lösen hatte. Der Mittelstand sollte in den Reformkonzeptionen der Modrow-Regierung jedoch die sozialen Folgekosten einer Modernisierung des Kombinatssystems auffangen. Indem Privatunternehmen die überschüssigen Arbeitskräfte aus der Großindustrie absorbierten, sollten sie letztlich die Eckpfeiler eines reformierten Sozialismus mit Marktelementen stabilisieren. Bei den verbliebenen Unternehmern in der DDR führte der Mauerfall zu einem Schub an Selbstorganisation. Hiermit war die Erwartung verbunden, in einer reformierten DDR eine deutlich gesteigerte Rolle zu spielen. Interessanterweise wurden die Unternehmer der DDR ausgerechnet von den Vertretern aus bundesrepublikanischer Politik und Wirtschaft kaum ernst genommen. Die Debatten im Zeitraum zwischen November 1989 und März 1990 verdeutlichen jedoch die Dehnbarkeit des Begriffs »soziale Marktwirtschaft« und die essenzielle Bedeutung mittelständischer Strukturen für den Erfolg des Modells. Reformkommunisten, Vertreter der westdeutschen Politik, aber auch der Unternehmerschaft in der DDR bedienten sich gleichermaßen des Konzepts, verbanden hiermit jedoch unterschiedliche Erwartungshaltungen.

Die mediale und faktische Präsenz der Treuhandanstalt in den frühen 1990er-Jahren bedeutet nicht, dass es sich bei ihr um den einzig relevanten wirtschaftspolitischen Akteur in Ostdeutschland gehandelt hat. Mit der Wiedervereinigung wurden die Bezirksverwaltungen der DDR aufgelöst und durch neue Landesverwaltungen ersetzt. Hierbei entstanden fünf neue Bundesländer mit jeweils eigenen Traditionslinien und potenziellen Narrativen der Selbstidentifikation. Die Zentren des Mittelstandes auf dem Gebiet, das nach dem Zweiten Weltkrieg zur DDR wurde, hatten in Thüringen und Sachsen gelegen. Über einen Vergleich Sachsens und Thüringens mit Brandenburg werden die verschiedenen Strategien zur Entwicklung mittelständischer Strukturen im vorliegenden Buch verglichen. Brandenburg erfuhr erst in der DDR-Zeit einen bedeutenden Industrialisierungsschub und verfügte nicht über eine organisch gewachsene Struktur aus Groß- und Mittelbetrieben. Während es in Sachsen und Thüringen nahelag, an die ökonomische Struktur und damit die Erfolge der Vor-DDR-Zeit anzuknüpfen, musste die Brandenburger Politik darauf setzen, von der Nähe zur neuen (alten) Hauptstadt Berlin zu profitieren. Relativ gesehen war diese Strategie erfolgreicher als das sächsische oder thüringische Modell.

Ein weiterer für den Aufbau des ostdeutschen Mittelstands und Unternehmertums wichtiger Akteur, der zu selten Beachtung findet, ist die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW). Die KfW spielte in der Nachkriegszeit eine wichtige Rolle beim wirtschaftlichen Neuanfang in der Bundesrepublik. Nachdem dieser Anfang der 1960er-Jahre weitgehend abgeschlossen war, spezialisierte sich die KfW auf Mittelstandsförderung in der Bundesrepublik. Mit der Deutschen Einheit bot sich dem Vorstand ein neues Betätigungsfeld in Ostdeutschland. Die KfW erfuhr hierdurch in ihrer Bedeutung für die deutsche Wirtschaft eine deutliche Revitalisierung. In Ostdeutschland konnte sie zum Teil die Defizite ausgleichen, die durch mangelnde Kapitalausstattung vieler Mittelständler durch die Treuhand und die Zurückhaltung westlicher Privatbanken bei der Investitionsfinanzierung entstanden waren.

Privatisierungsdebatten in westlichen Industrieländern

Der Privatisierungsprozess und der Aufbau der sozialen Marktwirtschaft in Ostdeutschland fanden unter der Ägide westdeutscher Führungskräfte aus Politik und Wirtschaft statt. Dies gilt sowohl für die Entscheidungsträger in der Treuhandanstalt als auch in den neu gegründeten Landesverwaltungen. Dabei griffen die Beteiligten auf einen kollektiven und individuellen Erfahrungsschatz zurück. Die Bundesrepublik verfügte Ende der 1980er-Jahre bereits über eine lange Geschichte von Privatisierungspraxis und -diskursen, die bis in die Anfangszeit der Republik zurückreichte. Trotz der Abneigung der Gründerväter der sozialen Marktwirtschaft gegen staatlichen Besitz an Produktionsmitteln, erbte die Bundesrepublik neben der Tradition des deutschen Korporatismus einen umfangreichen Bestand an Staatsunternehmen. Im Jahr 1955 hielt der Staat Beteiligungen an mehr als zwei Drittel der Aluminiumproduktion, an zwei Fünftel der Pkw-Herstellung und an einem Viertel der Produktionskapazitäten im Schiffbau.5

Die Bemühungen Ludwig Erhards, den Bestand an Staatsunternehmen schrittweise abzubauen, erwiesen sich als äußerst schwierig und trafen auf zähen Widerstand. Erhard konnte auf die Unterstützung der Interessensverbände der Industrie zählen. Aus der Opposition, aber auch aus Teilen der Regierungskoalition, vor allem vonseiten der CSU und des Arbeitnehmerflügels der CDU, kamen überwiegend mahnende Stimmen. Zur ersten nennenswerten Privatisierung kam es erst 1959. Eine anstehende Kapitalerhöhung der Preussag AG bot die Chance, den staatlichen Anteil zu verwässern und die Mehrheit des Aktienbesitzes in private Hände zu überführen. Hiermit war der Gedanke verbunden, über ein spezielles Verfahren Volksaktien auszugeben. Zeichnungsberechtigt waren nur Bürger der Bundesrepublik, deren steuerpflichtiges Einkommen bei weniger als 16 000 DM lag. Diese durften jeweils maximal fünf Aktien zeichnen.6 Das Ziel eines »Volkskapitalismus« wich in der Bundesrepublik zunehmend dem Ziel der Einnahmenmaximierung aus Privatisierungen. Dennoch gelang es bis zum Ende der konservativen Kanzlerschaft 1969 nicht, den Bestand signifikant zu verringern. Dies lag an der Tendenz der verbliebenen Unternehmen im Staatsbesitz zur »Metastasenbildung«. Im Laufe der Zeit expandierten einige Staatsunternehmen in andere Branchen oder erwarben Unternehmensbeteiligungen von staatlichen oder privaten Konzernen.

Erst in der Ära Kohl gewann die Debatte um die Privatisierung von Staatsbesitz wieder an Dynamik. Die Erfahrungen der 1950er-Jahre spielten hier jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Auch bei später führenden Akteuren im Privatisierungsprozess der ostdeutschen Wirtschaft finden sich keine Bezüge zum Volksaktien-Programm der Erhard-Zeit und damit zur Privatisierungspraxis in den sogenannten Wirtschaftswunderjahren; dies ungeachtet der Tatsache, dass der Topos vom »Wirtschaftswunder« in der Transformationszeit in Ostdeutschland eine bedeutende Rolle spielte. Inhaltlich wurde dieser jedoch oftmals auf die Währungsreform verkürzt und nicht mit Privatisierungserfahrungen der frühen Bundesrepublik in Verbindung gebracht. Für die Kohl-Regierung war die Privatisierung des Staatsbesitzes in den 1980er-Jahren kein Instrument zur Popularisierung der sozialen Marktwirtschaft, sondern ein symbolisches Mittel im Kampf um kulturelle Deutungshoheit, als Bestandteil der von Helmut Kohl propagierten »geistig-moralischen Wende«. Reale Privatisierungsmaßnahmen stießen in den 1980er-Jahren auf ähnlichen Widerstand wie drei Jahrzehnte zuvor, auch in den Reihen von CDU/CSU.7 Für den ostdeutschen Transformationsprozess später wichtige Akteure wie Birgit Breuel konnten den Staat als Unternehmer in der Bundesrepublik nicht ernsthaft infrage stellen. In ihrer Zeit als Wirtschafts- und dann als Finanzministerin in Niedersachsen hat sich Birgit Breuel folgerichtig auch nicht in der Lage gesehen, die Beteiligung des Landes an den Unternehmen Salzgitter und Volkswagen zu privatisieren.

Im Unterschied zu vielen südeuropäischen Ländern, aber auch zu Großbritannien arbeiteten Staatskonzerne in der Bundesrepublik relativ profitabel. Die Verstaatlichung von Unternehmen war kein gängiges Mittel, um prestigeträchtige, aber unproduktive Unternehmen vor der Liquidation zu bewahren.8 Der Klischeevorstellung moderner »neoliberaler« Privatisierungspraxis kam das britische Beispiel näher. Margaret Thatcher avancierte nach ihrer Wahl zur Premierministerin rasch zur Ikone der Anhänger eines schlanken Staats. Umgekehrt wurde sie für diejenigen politischen Kräfte, die einen stark interventionistischen Staat favorisierten, zur Reizfigur. Insgesamt wurden in ihrer Amtszeit von 1979 bis 1990 etwa 40 Staatsunternehmen privatisiert. Der Erlös aus den Verkäufen belief sich auf 33 Milliarden Pfund.9 Damit erwiesen sich die britischen Konservativen als umtriebiger als die westdeutschen Christdemokraten. Dennoch war analog zur Regierung Kohl die Rhetorik wirkmächtiger als das tatsächliche Handeln. Die Privatisierungen der 1980er-Jahre waren ein Symbol für die Aufkündigung des Kompromisses zwischen Kapital und Arbeit, der bezeichnend war für das Großbritannien der Nachkriegszeit und der in den 1970er-Jahren in eine sich verschärfende sozioökonomische Krise geführt hatte. Große Teile der mittleren Funktionärsebene der Tories, darunter damals Margaret Thatcher, hatten diesen Kompromiss bereits in den 1950er-Jahren für falsch erachtet und glaubten sich zwei Jahrzehnte später in Besitz der Antwort auf die Krise Großbritanniens.10

In den USA unter den republikanischen Präsidenten Ronald Reagan und George H. W. Bush verhielt es sich nicht grundsätzlich anders als in Großbritannien. Im Vergleich zu Großbritannien war der Staatssektor trotz des Erbes der New-Deal-Politik kleiner und stand in keinem Vergleich zu europäischen Ländern wie Frankreich, Spanien oder Italien. Als größtes Privatisierungsprogramm gestaltete sich die Abwicklung des 1989 verstaatlichten Sparkassensystems (savings and loan), welche sich etwa zehn Jahre lang hinzog. Das Beispiel der Abwicklung des Sparkassensystems in den USA veranschaulicht die Radikalität, mit der in Ostdeutschland vorgegangen wurde, da eine ganze Volkswirtschaft innerhalb von vier Jahren privatisiert werden sollte. Eine vergleichbare Privatisierungspraxis hat es selbst in den USA in den 1980er- und 1990er-Jahren nicht gegeben.11 Auch während Margaret Thatchers Amtszeit von elf Jahren waren lediglich 40 Unternehmen privatisiert worden. Dies verdeutlicht die Singularität der Arbeit der Treuhandanstalt, die mehrere Tausend Unternehmen mit vier Millionen Beschäftigten innerhalb kürzester Zeit privatisieren sollte.

Der Blick über Oder und Neiße

Mit dem Zusammenbruch der staatssozialistischen Systeme in Ost- und Ostmitteleuropa standen die Gesellschaften des ehemaligen Ostblocks alle vor ähnlichen Fragen und Herausforderungen. Anders als in der DDR gab es östlich von Oder und Neiße nicht die Möglichkeit einer Vereinigung mit einer entwickelten Marktwirtschaft. Dennoch lohnt sich ein Blick auf die Privatisierungspraxis im östlichen Europa zur Kontextualisierung des ostdeutschen Erfahrungshorizonts. Am Vorabend des Mauerfalls galt das ostdeutsche System nicht als das reformfreudigste im Ostblock. Die ostdeutsche Bevölkerung genoss ähnlich wie die tschechoslowakische einen verhältnismäßig hohen Lebensstandard. Analog zur ČSSR waren die ökonomischen Reformen der 1960er-Jahre nach der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 bzw. spätestens nach dem Machtwechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker 1971 abgebrochen worden. In der DDR und ČSSR hatte das sowjetische Planungssystem aus der unmittelbaren Nachkriegszeit die größten Beharrungskräfte gezeigt.

Das klassische Gegenbeispiel zur DDR und ČSSR stellt die Ungarische Volksrepublik dar, von westlichen Beobachtern während des Kalten Krieges wegen der relativ liberalen gesellschaftlichen Atmosphäre auch als »fröhlichste Baracke im Ostblock« tituliert. Nach der Niederschlagung des Aufstands von 1956 mit sowjetischer Hilfe hatte die neue politische Führung Ungarns unter János Kádár ein umfangreiches Reformprogramm initiiert. Dieses führte in den 1960er-Jahren zur Aufnahme von Marktelementen in die sozialistische Planwirtschaft inklusive der Förderung privaten Kleinunternehmertums. Nach dem abrupten Ende des Prager Frühlings wurde das Reformprogramm eingefroren und erst 1983 schrittweise wieder aufgenommen.12 Die gesetzlichen Voraussetzungen zur Privatisierung von Staatsunternehmen wurden in der Ungarischen Volksrepublik bereits 1988 offiziell von der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP) geschaffen.13 Zu dieser Zeit verneinte das Politbüro der SED noch jeglichen Bedarf an größeren Reformen.

Am prekärsten gestaltete sich die Lage in den 1980er-Jahren in Polen. Unter allen ostmitteleuropäischen Ländern war die ökonomische und politische Krise des Staatssozialismus hier am offensichtlichsten. Dennoch bedeutete die Unzufriedenheit mit dem kommunistischen Regime nicht, dass bereits in den 1980er-Jahren umfangreiche Privatisierungen und ein Übergang zum westlichen Kapitalismus auf der Agenda der Oppositionsbewegung gestanden hätten.14 »Schocktherapien« für den Übergang zur kapitalistischen Marktwirtschaft und radikale Privatisierungsprogramme wurden politisch in der Transformationszeit von Akteuren verantwortet und umgesetzt, die biografisch dem alten Regime näherstanden als der Dissidentenbewegung. Dies gilt sowohl für Leszek Balcerowicz in Polen als auch für Václav Klaus in der Tschechoslowakei. Während Ersterer Außenhandel an der Hochschule für Planung und Statistik in Warschau studiert hatte und langjähriges Mitglied der Kommunistischen Partei (KP) war, hatte Letzterer ebenfalls Außenhandel unter kommunistischen Vorzeichen in Prag studiert und zum Zeitpunkt des Mauerfalls beim Prognostischen Institut der Akademie der Wissenschaften in Prag gearbeitet.

Die Anfang der 1990er-Jahre eingeschlagenen Wege zur Privatisierung des Staatsbesitzes und zum Aufbau einer kapitalistischen Marktwirtschaft unterschieden sich voneinander. Idealtypisch existierten zwei verschiedene Strategien: Der Übergang konnte vor allem durch organisches Wachstum herbeigeführt werden oder durch den möglichst raschen und vollständigen Verkauf von Staatsbesitz, notfalls über ein Gutscheinsystem oder Verschenkung.15 Bei dem Idealtyp des organischen Wachstums lag der Schwerpunkt auf der Beseitigung von Hemmnissen für die Entwicklung privaten Unternehmertums. Die Gründung eines privaten Unternehmens »von unten« sollte wesentlich erleichtert und steuerlich gefördert werden, Staatsbetriebe sollten nicht mehr in den Genuss staatlicher Finanzgarantien kommen und in die geordnete Insolvenz geführt werden können. Die Privatisierung von Staatsbesitz hatte dabei weder abrupt noch vollständig zu erfolgen. Ausgewählte Firmen waren in geordneter Weise primär an ausländische Investoren zu verkaufen, um ausländische Direktinvestitionen anzuziehen und Impulse für die Adaptierung moderner Managementtechniken im Inland zu setzen. Die gegenteilige Strategie – das Privatisieren um jeden Preis – legte keinen Wert auf organisches Wachstum und ausländische Investitionen, sondern priorisierte den Faktor Geschwindigkeit. Dies geschah auch aus politischen Gründen heraus, aus der Furcht vor einer Rückkehr der Kommunisten an die Macht.

Das Paradebeispiel für eine organische Entwicklungsstrategie in den 1990er-Jahren ist Ungarn. Am Ende der 1990er-Jahre lag die Arbeitsproduktivität – als eine wichtige Messgröße des Erfolgs ökonomischer Restrukturierung – 36 Prozent über dem Wert von 1989. Selbst der erdrutschartige Wahlsieg der Reformsozialisten bei den Parlamentswahlen von 1994 hatte nichts am Privatisierungskurs geändert. In der ehemaligen Tschechoslowakei, die durch das praktizierte Gutscheinsystem eher dem anderen Idealtyp zuzurechnen ist, lag das Wachstum der Arbeitsproduktivität im selben Zeitraum bei lediglich sechs Prozent. Der von Leszek Balcerowicz 1989 eingeschlagene Weg der »Schocktherapie« stieß in Polen rasch auf Widerstand. Die Praxis der Wirtschaftspolitik und Privatisierung in den 1990er-Jahren in Polen lag näher am ungarischen Beispiel des graduellen Übergangs als am tschechoslowakischen Beispiel. Das Wachstum der Arbeitsproduktivität lag mit 29 Prozent ebenfalls näher am ungarischen Ergebnis.16

In einem wichtigen Punkt unterschied sich die DDR von allen anderen ostmitteleuropäischen Ländern: Der Mittelstand war zwar stetig dezimiert, jedoch nie vollständig verstaatlicht worden. Auf die Implikationen dieser Anomalie für den Transformationsprozess in Ostdeutschland wird an anderer Stelle im Buch näher eingegangen. Im Allgemeinen lassen sich vier Strategien unterscheiden, die ein Unternehmen in einer Volkswirtschaft – unabhängig ob kapitalistisch oder sozialistisch – verfolgen kann: die Produktion standardisierter Güter in möglichst großen Mengen (volume strategy), die Produktion hoch spezialisierter Güter (niche strategy), die Produktion von Gütern, die sich leicht und in kurzer Frist individuellen Kundenwünschen anpassen lassen (customized strategy), sowie die Produktion hoch innovativer Güter (innovative strategy).17 Eine effektive Volkswirtschaft zeichnet sich dadurch aus, dass keine Strategie dominiert, sondern alle vier Strategien von verschiedenen Unternehmen verfolgt werden, die sich einerseits komplementär ergänzen, andererseits aber auch einen konstanten Anpassungs- und Innovationsdruck in der Wirtschaft bewirken.

Im sowjetischen System der Planwirtschaft, wie es nach Ostmitteleuropa exportiert wurde, hat es ausschließlich Firmen gegeben, die standardisierte Güter in maximal möglichen Mengen produzierten. Selbst Unternehmen, die nominell als mittelständisch hätten betrachtet werden können, weil sie nur wenige Hundert Mitarbeiter aufwiesen, verhielten sich wie Großunternehmen und kopierten deren schwerfällige innovationsaverse Strukturen. Da sie aufgrund ihrer verhältnismäßig geringen Mitarbeiterzahl nicht dieselben Skalenerträge erreichten, verhielten sie sich wie ineffiziente Miniaturen von Großunternehmen.18 Für die DDR galt dies jedoch nicht im selben Ausmaß wie für die Sowjetunion oder die ČSSR. Die innovativsten Unternehmen des mitteldeutschen Mittelstands waren in bedeutender Zahl bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit und in den ersten Jahren der DDR in die Bundesrepublik abgewandert. Dies galt jedoch weniger für handwerksnahe mittelständische Unternehmen, die in Nischenbereichen operierten oder kurzfristig auf individuelle Kundenwünsche reagieren konnten. Ein Teil dieser Unternehmen überdauerte die DDR-Zeit bis in die Transformationszeit hinein. Damit lagen trotz der Reformfeindlichkeit des Honecker-Regimes relativ günstige Bedingungen für einen organischen Aufbau starker mittelständischer Strukturen in Ostdeutschland in den 1990er-Jahren vor.

Forschungsliteratur und Quellenlage

Im westlichen Wissenschafts- und Politikdiskurs der Nachkriegszeit gewann das Thema Mittelstandsförderung in dem Ausmaß an Bedeutung, in dem das fordistische Modell in den 1970er-Jahren zunehmend in die Krise geriet. In den USA der 1950er- und 1960er-Jahre galten Großunternehmen bei der Mehrheit der Bevölkerung als Garanten der Stabilität und bevorzugte Arbeitgeber; kleine Unternehmen waren demnach aus Unfähigkeit klein geblieben.19 In den USA drehte sich das öffentliche Meinungsbild in den 1970er- und 1980er-Jahren um, was dazu führte, dass am Ende der 1980er-Jahre die Eigentümer von kleinen und mittleren Unternehmen als wesentlich vertrauenswürdiger beurteilt wurden als angestellte Manager von Großunternehmen.20 Die Globalisierung und das Dogma vom Shareholder-Value haben entscheidend zum schlechten Image von Großunternehmen als gesellschaftsschädliche Institutionen beigetragen.21

In ihrem 2018 veröffentlichten Buch Big Is Beautiful haben sich die beiden Ökonomen Robert D. Atkinson und Michael Lind mit der Frage auseinandergesetzt, ob mittelständische Unternehmen tatsächlich die in sie gesetzten Hoffnungen erfüllen und ob Großunternehmen tatsächlich ein solch negatives, gesellschaftsschädliches Verhalten zeigen, wie ihnen von Kritikern unterstellt wird. Trotz des provokanten Titels kommen sie zu einem ausgeglichenen Urteil und halten fest, dass eine moderne Volkswirtschaft mehrere Arten von Unternehmen benötige, zu denen auch – aber nicht nur – mittelständische zählen. Viele der positiven Vorurteile gegenüber mittelständischen Unternehmen seien jedoch falsch: Zwar haben mittelständische Unternehmen seit den 1970er-Jahren netto mehr Arbeitsplätze geschaffen als Großunternehmen. Jedoch seien Großunternehmen wegen ihrer Größe wesentlich stabiler und wiesen eine geringere Liquidationsrate auf. Mittelständische Unternehmen, so Atkinson und Lind, schaffen viele Arbeitsplätze, sie zerstören aufgrund ihrer höheren Liquidationsrate aber auch viele und erzielen eine im Schnitt niedrigere Arbeitsproduktivität als Großunternehmen. Dies spreche nicht gegen eine Regulierung und Skepsis gegenüber modernen Oligopolen im Hightechbereich, rechtfertige aber keine generelle Feindschaft gegenüber Großunternehmen.22

Deutschland weist eine singuläre Diskurstradition auf, was die Figur des selbstständigen Unternehmers betrifft und die Schichten und Werte, die er repräsentiert. Der Begriff Mittelstand umfasst weit mehr Bedeutungsebenen als der angelsächsische Begriff Small and Medium-sized Enterprises (SME). Diese verschiedenen Bedeutungsebenen des Begriffs Mittelstand spielten auch eine wichtige Rolle bei der Konzeption der sozialen Marktwirtschaft. Einige Gründungsväter des westdeutschen Erfolgsmodells der Nachkriegszeit wie Wilhelm Röpke standen Großunternehmen mit äußerster Skepsis gegenüber und konnten hierbei an Erfahrungen der Zwischenkriegszeit und der wilhelminischen Zeit anknüpfen. Die historische Forschung hat sich dem Mittelstandsbegriff in Deutschland in umfangreichen Arbeiten gewidmet. Zu nennen sind hier vor allem die Studien von Paul Nolte und Abdolreza Scheybani.23 Interessanterweise gehen beide zeitlich nicht über die frühe Bundesrepublik hinaus.

Für die Bundesrepublik von besonderer Bedeutung ist Helmut Schelskys Konzept der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft«. Laut Schelsky sei die Gesellschaft der frühen Bundesrepublik von einem Streben zur Mitte hin geprägt gewesen. Während die alte Oberschicht in verstärktem Maße in die Mittelschicht »abgestiegen« sei, sei großen Teilen der ehemaligen Unterschicht der Aufstieg in die Mittelschicht gelungen. Infolge dieser Entwicklung hätten sich immer größere Teile der Gesellschaft als »Mittelstand« verstanden.24 Dieses soziologische Mittelstandsverständnis ist jedoch nicht identisch mit dem ökonomischen, das Mittelstand in der Regel mit ökonomischer Selbstständigkeit assoziiert. In der soziologisch inspirierten Forschung ist der ständisch-feudal anmutende Begriff des »Mittelstands« in der Nachkriegszeit sukzessive von der Vorstellung flexibler und dynamisch wirkender »Mittelschichten« verdrängt worden. In den deutschsprachigen Wirtschaftswissenschaften hingegen hat sich der Begriff des »Mittelstands« gehalten.

Heinrich August Winkler hat einen Teil seiner Forschungskarriere dem Studium des primär ökonomisch verstandenen Mittelstands in der NS-Zeit und der frühen Bundesrepublik bis in die 1970er-Jahre gewidmet.25 Hierbei hat er Wert auf die Feststellung gelegt, dass in der frühen Bundesrepublik ein Mentalitätswandel im Mittelstand stattgefunden habe: Weg von einer defensiv-protektionistischen Haltung hin zu jener weltoffenen Einstellung, die Voraussetzung für den Erfolg vieler mittelständischer Unternehmen auf dem Weltmarkt ist. Dies koinzidierte, so Winkler, mit der Entwicklung eines symbiotischen Verhältnisses zwischen Mittelstand und Großindustrie. Die politische Praxis der Mittelstandsförderung in der Bundesrepublik bis zum Vorabend des Mauerfalls hat Albrecht Ritschl im Rahmen einer größeren Studie zur Geschichte des Bundeswirtschaftsministeriums erforscht.26

Trotz dieser Vorarbeiten besteht ein eklatanter Mangel an historischen Studien zum Aufbau mittelständischer Strukturen in Ostdeutschland nach 1989. Für die DDR-Zeit existieren Studien von Frank Ebbinghaus und Andreas Pickel.27 Während die Studie von Frank Ebbinghaus als gut recherchiertes Standardwerk betrachtet werden kann, zeichnet sich Pickels Arbeit, die vor allem auf Interviews mit Funktionären und Unternehmern der späten DDR basiert, durch spannende Thesen über das Verhältnis von Partei und Unternehmertum im real existierenden Sozialismus aus. Für die Zeit nach 1989 existieren primär wirtschafts- und politikwissenschaftliche Arbeiten.28 Erwähnenswert sind hierbei auch die empirischen Untersuchungen des Bonner Instituts für Mittelstandsforschung aus den 1990er-Jahren.

Eine neuere historische Arbeit, die sich zumindest indirekt dem Aufbau des Mittelstands in Ostdeutschland und dem Transfer der institutionellen Säulen der sozialen Marktwirtschaft widmet, stellt Jann Müllers Dissertation über den Wiederaufbau der Industrie- und Handelskammern in Ostdeutschland dar.29 In seinem Buch hat Müller neben Interviews mit ost- und westdeutschen Verbandsfunktionären der 1980er- und 1990er-Jahre vor allem Aktenbestände im Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchiv in Köln verarbeitet. Hierbei zeigt er deutlich neben den Erfolgen der deutsch-deutschen Zusammenarbeit auch die Probleme auf, die zwischen Vertretern des ost- und westdeutschen Mittelstands auf kommunikativer und inhaltlicher Ebene bestanden. Die Selbstorganisation der Wirtschaft geriet dort an Grenzen, wo ost- und westdeutsche Wirtschaftsakteure sich nicht mehr als Kooperationspartner betrachteten, sondern als direkte Konkurrenten. Aufgrund ihrer geringeren Lobbymacht gingen solche Konflikte tendenziell zum Nachteil ostdeutscher Mittelständler aus. Tobias Zeiler hat sich in seiner Magisterarbeit mit der von der Forschung vernachlässigten Rolle der KfW beim Aufbau mittelständischer Strukturen in Ostdeutschland beschäftigt und hierbei als Erster auf ausgewählte Bestände des Konzernarchivs zurückgreifen können.

Zur Arbeit der Treuhandanstalt existiert eine nahezu unüberschaubare Zahl an Publikationen. Diese schwanken häufig zwischen zwei Extremen: Apologetentum und Skandalisierung. Für differenzierte Betrachtungen der Transformation in Ostdeutschland – auch in Anbetracht der Erfahrungen anderer ostmitteleuropäischer Länder – bestand in den 1990er-Jahren nur ein äußerst kleiner Diskursraum. Der quantitative Schwerpunkt der Veröffentlichungen zum Thema Treuhand fiel in die 1990er-Jahre und flachte in den 2000er-Jahren stark ab. Mit dem 30-jährigen Jubiläum des Mauerfalls rückte das Thema jedoch wieder in den Mittelpunkt medialer und politischer Aufmerksamkeit. Die verschiedenen Diskurse zur Treuhandanstalt sind von Marcus Böick in seiner Dissertation minutiös aufgearbeitet und um Interviews mit ehemaligen Akteuren der Treuhandanstalt ergänzt worden.30

Zu nennen ist in Zusammenhang mit historiografischen Debatten über die Transformation der Nachwendezeit explizit Philipp Thers Werk Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent und seine These der »Kotransformation«.31 Ther beschäftigt sich in seinem Buch mit dem vermeintlichen Siegeszug des »Neoliberalismus« in Europa nach 1989. Hierbei dienten, so Ther, die ehemals kommunistischen Länder des östlichen Europa als »Experimentierfeld neoliberaler Politik«. Die Erfahrungen mit »neoliberaler Politik« seien später sukzessive auf West- und Südeuropa übertragen worden. Für die Bundesrepublik Deutschland konstatiert Ther den Beginn dieser Form der »Kotransformation« für die Kanzlerschaft Gerhard Schröders ab 2001.32 Eine allgemeine historiografische Arbeit zum Transformationsbegriff und zu Praktiken der sozioökonomischen Transformation in der Zeitgeschichte bildet ein Desiderat der Forschung. Dies ist umso bedauerlicher, als ein solches Buch mit Nikolai Bucharins 1920 veröffentlichtem Werk Ökonomik der Transformationsperiode am Anfang der Zeitgeschichte steht. Kommentare zu den Thesen einzelner Autoren erfolgen an der entsprechenden Stelle im Hauptteil des Buches.

Die archivgestützte Aufarbeitung der Transformation in Ostdeutschland befindet sich in ihren Anfängen. Die Treuhandanstalt gehört zu den wichtigsten Akteuren der Transformation, operierte aber stets in einem komplexen institutionellen Umfeld. Es muss die Aufgabe der historischen Forschung sein, nicht einfach die publizistischen Schwarz-Weiß-Narrative der 1990er-Jahre zu replizieren, sondern die Komplexität des Transformationsprozesses deutlich zu machen. Hierbei erweist sich eine Kombination verschiedenster Quellen als am effektivsten. Neben Zeitzeugeninterviews und den Archivunterlagen der Treuhandanstalt sowie ihrer Nachfolgeorganisation Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS) bieten sich hierzu die Akten der Bundesregierung, der Landesregierungen und die entsprechenden Unternehmensarchive an. Die Kombination dieser Quellen ist entscheidend, um Mythen der Transformation zu hinterfragen, historische Entwicklungslinien offenzulegen und ein klareres Bild der Handlungsmacht einzelner Akteure in der Transformation zu gewinnen.

Als problematisch erweist sich hierbei der zum Teil stark divergierende Stand der Aktenerschließung. Die Erschließung der Treuhandbestände durch das Bundesarchiv wird bis weit in die 2020er-Jahre hinein dauern. Dies hängt mit der – auch juristischen – Komplexität des Materials und dem schieren Umfang der zur Archivierung infrage kommenden Aktenbestände zusammen. An juristischen Hindernissen sind hier vor allem die Frage nach schützenswerten Geschäftsgeheimnissen zu nennen sowie Sperrfristen und Geheimhaltungsstufen bei bundesdeutschen Ministerialakten. In den Landesarchiven ergibt sich ein uneinheitliches Bild: Während die Bestände in Thüringen bereits gut erschlossen und für Nutzer einsehbar sind, verhält es sich im benachbarten Bundesland Sachsen, in dem der Erschließungsprozess erst zaghaft im Jahr 2019 eingesetzt hat, gänzlich anders. Der Zugang zu Unternehmensakten hängt entscheidend davon ab, bei welcher Institution die Unterlagen verblieben sind. Ein signifikanter Teil der Unternehmensakten ist entweder kassiert worden oder wird in für die Öffentlichkeit unzugänglichen Privatarchiven verwahrt.

Aufbau des Buches

Das vorliegende Buch ist eine Querschnittsstudie, um der Komplexität und der Vielzahl der Akteure beim Aufbau mittelständischer Strukturen in Ostdeutschland nach 1990 gerecht zu werden. Die Treuhandanstalt nimmt quantitativ und qualitativ hierbei den größten Raum ein. Im Aufbau des Buches spiegelt sich jedoch wider, dass die Treuhand kein allmächtiger Akteur in Ostdeutschland war. Sie war fest eingebunden in den institutionellen Rahmen der Bundesrepublik Deutschland und musste auf der Grundlage von Politikentscheidungen arbeiten, die der Vorstand der Treuhand selbst nicht getroffen hatte und in einigen Fällen vermutlich auch nicht in derselben Weise getroffen hätte. Zu nennen wäre hier an erster Stelle die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Darüber hinaus musste das Personal der Treuhandanstalt mit dem historischen Erbe der DDR-Zeit operieren. Das Ziel dieser Bemerkungen besteht nicht darin, den Handelnden jegliche Handlungsmacht abzusprechen. Vielmehr gilt es, die Treuhandanstalt und ihre Repräsentanten in ihrem historischen Kontext zu verorten, um zu einer realistischen Annäherung an die Handlungsoptionen der 1990er-Jahre zu gelangen.

Das Buch ist in sechs Kapitel unterteilt. Das erste Kapitel behandelt die ideellen Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft. Im Zentrum stehen die theoretische Verbindung von sozialer Marktwirtschaft und Mittelstand und die praktische Umsetzung der Mittelstandsförderung in der frühen Bundesrepublik. Kontrastiert wird dies mit der Entwicklung des mitteldeutschen Mittelstands nach 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der DDR. Auch wenn die Unterschiede überwiegen, lassen sich in einigen Punkten Parallelen in der Entwicklung ausmachen. Das Kapitel endet mit der letzten großen Verstaatlichungskampagne in der DDR, die im Jahr 1972 stattfand. Diese bedeutete nicht das Ende privaten Unternehmertums in der DDR an sich, jedoch das Ende des privaten industriellen Mittelstands.

Der Schwerpunkt des zweiten Kapitels liegt auf den Reformplänen der Modrow-Regierung. Trotz dringenderer tagespolitischer Probleme spielten Konzeptionen zum Wiederaufbau starker mittelständischer Strukturen in der DDR zum Jahresanfang 1990 eine bedeutende Rolle. Ein starker Mittelstand sollte hierbei nicht dazu dienen, das westdeutsche Erfolgsmodell einfach zu kopieren, sondern eine Marktwirtschaft mit sozialistischen Zügen zu stützen. Die Modrow-Regierung erließ hierzu im Februar und März 1990 erste legislative Maßnahmen und verabschiedete ein erstes Reprivatisierungsgesetz. Hierdurch sollte binnen weniger Monate die Verstaatlichungskampagne von 1972 rückabgewickelt werden und ein neuer industrieller Mittelstand entstehen. Hierbei zeigten sich erste gesellschaftliche Konfliktlinien. Diese werden vor allem in Petitionen an Christa Luft deutlich, Wirtschaftsministerin im Kabinett Modrow.

Die Treuhandanstalt steht im Fokus des dritten Kapitels. Das Führungspersonal der Treuhandanstalt hat sich des Themas Mittelstandsförderung nur zögerlich angenommen und zu Anfang große Hoffnungen in die Reprivatisierung ehemals mittelständischer Privatbetriebe gesetzt. Erst als diese Maßnahmen erkennbar ins Stocken gerieten, hat der Vorstand mit verschiedenen Methoden der Mittelstandsförderung experimentiert, die mit unterschiedlichem Erfolg und unterschiedlicher Intensität verfolgt wurden. Eine kritische Analyse dieser Versuche steht im Zentrum des dritten Kapitels und wird um eine Betrachtung der ideologischen Stellungnahmen Birgit Breuels ergänzt, die bereits zum Zeitpunkt ihrer Ernennung als Vorstand der Treuhand 1990 auf eine lange Karriere als Ministerin und Mittelstandspolitikerin der CDU zurückblicken konnte.

Kapitel vier widmet sich häufig unterschätzten Institutionen beim Aufbau mittelständischer Strukturen in Ostdeutschland. Dies betrifft zum einen die KfW und zum anderen die Industrie- und Handelskammern als Institution der Selbstorganisation der Wirtschaft. Diese konnten zum Teil die Defizite der Politik und Treuhandarbeit kompensieren, blieben in ihrer Wirkung aber begrenzt. Dies lag bei den Industrie- und Handelskammern an den Grenzen der intraindustriellen Selbstorganisation. Bei der KfW bestand die Limitierung zum einen in den eigenen Budgetgrenzen, zum anderen in der starken Zurückhaltung großer Privatbanken bei der Finanzierung des ostdeutschen Mittelstands. Diese zogen es mehrheitlich vor, Immobiliengeschäfte im Ausland zu finanzieren.

Das fünfte Kapitel behandelt die Politik der Landesregierungen. Im Zentrum der Analyse stehen die Länder Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Sachsen und Thüringen bilden hier weitestgehend eine Einheit, da sie auf andere historische Traditionslinien zurückgreifen konnten als Brandenburg. Während Sachsen und Thüringen über organisch gewachsene Wirtschaftsstrukturen mit einem vormals starken Mittelstand verfügten, war Brandenburg erst in der DDR-Zeit industrialisiert worden. Trotz der strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen Sachsen und Thüringen Anfang der 1990er-Jahre verfolgten die Landesregierungen jeweils eigene Wege der Mittelstandsförderung. Vor allem die sächsische Landesregierung zeichnete sich hierbei durch eine aggressive Kommunikationsstrategie gegenüber der eigenen Bevölkerung und der Treuhandanstalt aus. Diese barg die Gefahr hoher Kollateralschäden, offenbarte gleichzeitig jedoch Schwächen in der Mittelstandsarbeit der Treuhandanstalt.

Im Zentrum des abschließenden Kapitels steht eine Mikrostudie: Anhand der Privatisierung des ehemaligen VEB (volkseigener Betrieb) Schweißtechnik Finsterwalde werden die Chancen und Probleme der Transformation in Ostdeutschland an einem konkreten Beispiel beleuchtet. Trotz im Prinzip guter Privatisierungsvoraussetzungen stand der Betrieb in Finsterwalde mehrfach vor dem Aus und konnte nur mit Glück und außergewöhnlichem Engagement der Mitarbeiter weitergeführt werden. Nach mehreren gescheiterten Privatisierungsversuchen wurde das Unternehmen in eine Stiftung überführt. Erst in den 2000er-Jahren gelang der ökonomische Aufbruch. Ein Unternehmen, das Ende der 1990er-Jahre noch kurz vor dem Ruin stand, erzielte wenige Jahre später Jahresgewinne in Höhe von mehreren Millionen Euro und agiert bis heute erfolgreich auf dem Weltmarkt. Das Beispiel verdeutlicht, dass es sich bei der Schließung der Treuhandanstalt zum Jahresende 1994 primär um eine medienwirksame politische Symbolhandlung gehandelt hat. Der eigentliche Transformationsprozess war zu diesem Zeitpunkt nicht annähernd abgeschlossen. Es macht daher in der historischen Analyse wenig Sinn, sich ausschließlich auf die Treuhandanstalt zu konzentrieren.

1 Vgl. Weber: Peasants into Frenchmen.

2 Schroeder-Hohenwarth/Eulenburg: Schnell privatisieren, S. 31.

3 Vgl. § 2 (1) TreuhG.

4 Vgl. § 2 (6) TreuhG.

5 Vgl. Fuder: Der Staat als Unternehmer, S. 178.

6 Vgl. ebd., S. 188 f.

7 Vgl. Süß: Idee und Praxis der Privatisierung, S. 20 u. 29.

8 Vgl. ebd., S. 14.

9 Vgl. Geppert: »Englische Krankheit«?, S. 51 f.

10 Vgl. ebd., S. 53–55.

11 Vgl. Cassell: How governments privatize, S. 34.

12 Vgl. Mong: Kádár hitele, S. 221–223.

13 Vgl. Puttkamer: Der schwere Abschied vom Volkseigentum, S. 178 f.

14 Vgl. ebd., S. 167.

15 Siehe zu den zwei Idealtypen János Kornais zehn Jahre nach der Veröffentlichung von The Road to a Free Economy gehaltenen Vortrag, Kornai: Ten Years After.

16 Vgl. ebd., S. 9–11.

17 Vgl. Yudanov: USSR, S. 414 f.

18 Vgl. ebd., S. 416.

19 Vgl. Atkinson/Lind: Big is Beautiful, S. 6–8.

20 Vgl. ebd., S. 8.

21 Vgl. ebd., S. 11.

22 Vgl. ebd., S. 15–17.

23 Vgl. Scheybani: Handwerk und Kleinhandel; Nolte: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft.

24 Beyenburg-Weidenfeld: Wettbewerbstheorie, S. 27 f.

25 Vgl. Winkler: Stabilisierung durch Schrumpfung.

26 Vgl. Ritschl: Soziale Marktwirtschaft.

27 Vgl. Ebbinghaus: Ausnutzung und Verdrängung; Pickel: Radical Transition.

28 Vgl. Belitz: Aufbau des industriellen Mittelstands.

29 Vgl. Müller: Wiederbegründung der Industrie- und Handelskammern.

30 Vgl. Böick: Die Treuhand.

31 Vgl. Ther: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent.

32 Ebd., S. 18.

I. Obsession Mittelstand – eine deutsche Affäre?

»[W]enn wir Mittelstand nur vom Materiellen her begreifen […], dann ist dem Mittelstandsbegriff meiner Ansicht nach eine sehr gefährliche Deutung gegeben. Der Mittelstand kann materiell in seiner Bedeutung nicht voll ausgewogen werden, sondern er ist meiner Ansicht nach viel stärker ausgeprägt durch eine Gesinnung und durch eine Haltung im gesellschaftswirtschaftlichen und politischen Prozess […]. Der Mittelstand ist zweifellos berufen, die Schicht zu sein oder jene Gruppe von Menschen zu umfassen, die über alles hinaus willens sind, ihre eigene Haut zu Markte zu tragen, d. h. in eigener Verantwortung ihr Schicksal, ihr ökonomisches, ihr politisches und ihr gesellschaftliches Schicksal zu tragen.«1

1. Begriffswandel

Das Zitat stammt aus dem Manuskript einer Rede Ludwig Erhards, gehalten auf einer Tagung der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft am 17. November 1955 in Bad Godesberg. Der Ausschnitt verdeutlicht einige positive Attribute, die häufig mit dem Begriff Mittelstand assoziiert werden. Der Mittelstand zeigt sich verantwortungsbewusst und resilient. Der Mittelstand zeichnet sich in erster Linie durch Charaktereigenschaften und gesellschaftliche Verhaltensweisen aus, nicht durch ein bestimmtes Niveau an materiellem Reichtum. Indirekt deutet sich in dem Zitat Ludwig Erhards an, dass der Mittelstand aktiv gefördert werden müsse, gerade wegen seiner mehrdimensionalen Bedeutung, die über das rein Ökonomische hinausgehe.

Doch was genau definiert den »Mittelstand«? Bereits zu Ludwig Erhards Lebzeiten ließen sich über 200 verschiedene Definitionen des Begriffs finden.2 Erhards positive Mittelstands-Assoziationen lassen sich im deutschsprachigen Raum bis in das frühe 19. Jahrhundert zurückverfolgen und stehen in Zusammenhang sowohl mit der Wandlung des Untertanen zum Staatsbürger als auch mit den Auswirkungen von Industrialisierung und Urbanisierung.3 Hiermit war die Hoffnung verbunden, dass es sich bei der Pauperisierung breiter Bevölkerungsschichten um ein vorübergehendes Phänomen handeln würde, das schließlich in einer egalitären Gesellschaft politisch und ökonomisch selbstständiger Bürger münden müsste.4 Der Mittelstand versprach in den Vorstellungen seiner Apologeten eine gesellschaftliche Vermittlerposition zwischen Kapital und Arbeit einzunehmen.5 Der Mittelstand mit den ihm zugeschriebenen Wertvorstellungen von Unabhängigkeit, Fleiß und Sparsamkeit sollte zum Gravitationszentrum der liberalen Gesellschaft avancieren.

Es liegt in der Natur des Begriffes, dass sich der Mittelstand beständig in Gefahr zu befinden scheint. Aufgrund der ihm zugeschriebenen Position im Gefüge der Gesellschaft droht er zwischen »Oben« und »Unten«, zwischen »Kapital« und »Proletariat« zerrieben zu werden. Verschiedene Entwicklungen sorgten bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dafür, dass der Begriff Mittelstand einen immer defensiveren Charakter im gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskurs annahm. Die Erwartungen des frühen 19. Jahrhunderts hatten sich nicht erfüllt, die Herausbildung großer Industrie- und Finanzvermögen sowie das Anwachsen der städtischen Mietskasernen schienen jeder Vorstellung einer harmonischen Bürgergesellschaft Hohn zu sprechen. Diese empirische Beobachtung fand ihre ideologische Untermauerung im Marxismus.