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Beschreibung

20 Jahre »The Edge« – Mit Beiträgen u. a. von Steven Pinker, Alison Gopnik, Jared Diamond, Martin J. Rees, Carlo Rovelli, Jonathan Haid, Lisa Randall und Hans Ulrich Obrist. Seit zwei Jahrzehnten versammelt John Brockman jährlich die angesehensten Wissenschaftler und Intellektuellen unserer Zeit in einem Band. Wissenschaftliche Entwicklungen verändern unseren Blick und unser Verständnis von der Welt immer wieder radikal, egal ob es sich dabei um Fortschritte in der Technologie, um medizinische Forschung oder die neuesten Entdeckungen aus den Bereichen Neurowissenschaften, Psychologie, Physik, Wirtschaft, Genetik oder Umweltschutz und Klimawandel handelt. Da es heute schwer ist, aus der Flut aller täglichen Informationen die wichtigsten herauszufiltern, versammelt der bekannte Visionär und Herausgeber John Brockman Stimmen der führenden Wissenschaftler und Intellektuellen unserer Zeit in einem Band, um zu zeigen, was bereits morgen unser Leben bestimmen kann.

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Seitenzahl: 665

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John Brockman

Neuigkeiten von morgen

Die führenden Wissenschaftler unserer Zeit über die wichtigsten Ideen, Entdeckungen und Erfindungen der Zukunft

Herausgegeben von John Brockman

 

Aus dem Englischen von Dr. PD Jürgen Schröder und Laura Su Bischoff

 

Über dieses Buch

 

 

Was ist die interessanteste wissenschaftliche Neuigkeit von morgen? Und was macht sie so wichtig?

 

Die größten und bedeutendsten Denker unserer Zeit legen die neuesten wissenschaftlichen Ideen und Durchbrüche dar, die jeder verstehen muss:

– Pulitzer-Preisträger Jared Diamond über die beste Weise, komplexe Probleme zu verstehen

– Harvard-Psychologe und Bestsellerautor Steven Pinker über die Quantifizierung menschlichen Fortschritts

– TED Talk-Kurator Chris J. Anderson über die Entwicklung des globalen Gehirns

– Harvard-Kosmologin und Bestsellerautorin Lisa Randall über das wahre Ausmaß bahnbrechender Entdeckungen

– Musikerlegende Peter Gabriel über das Niederreißen der Schranken zwischen Imagination und Realität

und viele mehr.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Der bekannte Visionär John Brockman, ehemalige Aktionskünstler, Herausgeber der Internetzeitschrift ›Edge‹ und Begründer der ›Dritten Kultur‹ (›Third Culture‹), leitet eine Literaturagentur in New York und hat bereits zahlreiche Bücher veröffentlicht, u.a. ›Das Wissen von morgen. Was wir für wahr halten, aber nicht beweisen können: Die führenden Wissenschaftler unserer Zeit beschreiben ihre großen Ideen‹, ›Leben, was ist das? Ursprünge, Phänomene und die Zukunft unserer Wirklichkeit‹, ›Welche Idee wird alles verändern? Die führenden Wissenschaftler unserer Zeit über Entdeckungen, die unsere Zukunft bestimmen werden‹, ›Wie funktioniert die Welt? Die führenden Wissenschaftler unserer Zeit stellen die brillantesten Theorien vor‹, ›Welche wissenschaftliche Idee ist reif für den Ruhestand? Die führenden Köpfe unserer Zeit über die Ideen, die uns am Fortschritt hindern‹ und ›Was sollen wir von Künstlicher Intelligenz halten? Die führenden Wissenschaftler unserer Zeit über intelligente Maschinen‹.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

[Widmung]

Danksagung

Vorwort

Die Edge-Frage

Quantifizierter menschlicher Fortschritt

Mehr mit weniger erreichen

Die »Besonderheit« der Menschen

Jorge Mario Bergoglios Bericht zur globalen Ökologie aus dem Jahr 2015

Undichtes, dünner werdendes, abrutschendes Eis

Gletscher

Unser kollektiver blinder Fleck

Drei wissenschaftliche Durchbrüche bei der Dekarbonisierung

Saft

Ein Aufruf zum Handeln

Eine Brücke zwischen dem 21. und dem 22. Jahrhundert

Die größte Umweltkatastrophe

Technobiophile Städte

Die kalte Fusion könnte die fossilen Brennstoffe ersetzen

Emotionen beeinflussen das ökologische Wohlbefinden

Die Neuauflage der globalen Erwärmung: eine ernste Bedrohung für unsere Art

Blue Marble 2.0

Hightech-Steinzeit

Die Dematerialisierung des Konsums

Die Wissenschaft hat das möglich gemacht

Das Gehirn ist ein seltsamer Planet

Der Abgang der Raumzeit

Die Nachricht, die es gar nicht gab

Es gibt keine erstaunlichen Neuigkeiten

Einhundert Jahre des Scheiterns

Ein unerwartetes, eindringliches Signal

Neuigkeiten über die Funktionsweise der physikalischen Welt

Unveröffentlichte Implikationen von Hawkings Verdampfung Schwarzer Löcher

Die Energie des Nichts

Der Urknall kann nicht so abgelaufen sein, wie wir gedacht haben

Anomalien

Dort suchen, wo es kein Licht gibt

Einfachheit

Der LHC arbeitet mit voller Leistung

Neue Belege für Einsteins gekrümmte Raumzeit – und darüber hinaus?

Gigantische Schwarze Löcher im Zentrum von Galaxien

Das Universum ist unendlich

Advanced LIGO und Advanced VIRGO

Die Neuigkeit ist nicht neu

Wir kennen alle Teilchen und Kräfte, aus denen wir bestehen

Komplexität und die Natur der Realität

Einstein hatte unrecht

Die Quantenverschränkung ist von Raum und Zeit unabhängig

Durchbrüche werden Teil der Kultur

Neue und alte Raumforschung

Pluto ist nur eine Bodenwelle auf dem Weg zu weiteren Zielen

Jetzt Pluto, dann weiter zu 550 AE

Das Universum überrascht uns – ganz in der Nähe

Fortschritte bei der Raketentechnik

Das Raumfahrtzeitalter hebt ab – und kehrt zur Erde zurück

Wie weit sollten wir den Kreis ziehen?

Ein neuer Algorithmus zeigt, was Computer können und was sie nicht können

Designermenschen

Zell-Alchemie

DNA-Programmierung

Menschliche Chimären

Der Wettlauf zwischen genetischer Kernschmelze und gentechnischen Eingriffen in die Keimbahn

Der Kampf gegen Krankheitserreger geht weiter

Das Antibiotikum ist tot – lang lebe das Antibiotikum!

Die sechs Milliarden Buchstaben unseres Genoms

Systemmedizin

Ein Gehirn in der Petrischale züchten

Sich selbst antreibende Gene kommen

Das Leben ändert den Kurs

Eine Neuigkeit mit fundamentalem Nachrichtenwert

Paläo-DNA und die Wiederbelebung ausgestorbener Arten

Das Rennen um die Klugheit gewinnt an Fahrt

Tabbys Stern

Außerirdische, landet nicht auf der Erde!

Einzigartig sind wir zwar nicht, dafür aber ziemlich allein

Breakthrough Listen

Es gibt (bereits) Leben auf dem Mars

Die atemberaubende Zukunft einer vernetzten Welt

Alles ist Rechnen

Entdeckung der Prinzipien oder vielleicht sogar Gesetze der Intelligenz

Neuro-Neuigkeiten

Mikrobielle Anziehung

Die Epidemie der Abwesenheit

Bugs R Us

Stuhltransplantation

Hallo, Leute!

Der anti-demokratische Trend

Das Zeitalter umfassenden, in ständigem Wandel begriffenen Wissens

Eine großangelegte Methode zur Persönlichkeitsforschung

Die Eroberung des Menschen

Big Data und bessere staatliche Politik

Nervige Werbung? Ein Vorbote der Zukunft!

Biologie versus Willensfreiheit

Gemeinsam schlecht sein

Die Krise der Psychologie

Der vermeintliche Wahrheitsgehalt wissenschaftlicher Forschung

Geblendet von Daten

Die epistemische Katastrophe der weichen Seite der Psychologie

Die Wissenschaft selbst

Zweitklassige Wissenschaft

Der Anfang der Metawissenschaft

Die Desillusionierung und Unzufriedenheit armer weißer US-Amerikaner

Die ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung: ein galoppierender Prozess

Das Zeitalter sichtbaren Denkens

Der Wandel im Verständnis dessen, was es heißt, ein Mensch zu sein

Vollständige Kopftransplantation

Die Genderisierung der Genialität

Vielfalt in der Wissenschaft

Die Demokratisierung der Wissenschaft

Neuigkeiten zu wissenschaftlichen Nachrichten

Die wachsende Reichweite der Wissenschaft

Quantitative Biologie

Mathematik und Realität

Synthetisches Lernen

Eine echte Wissenschaft des Lernens

Bayes’sches Lernen bei Programmen

Kot als Geld – der Fäkalienstandard

Ironien der höheren Arithmetik

Mittellose Menschen ignorieren 20-Dollar-Noten auf dem Gehweg

Wir fürchten uns vor den falschen Dingen

Leben in Angst vor dem Terrorismus

Der Zustand der Welt ist gar nicht so schlecht, wie man meint

Die gesunde Ernährungskehrtwende

Fettreiche Nahrung tut Ihrer Gesundheit gut

Feindseligkeit zwischen politischen Gegnern

Die Kognitionswissenschaft verändert die Moralphilosophie

Die Moral wird aus Fleisch gemacht

Menschen töten, weil es richtig ist

Interdisziplinäre Sozialforschung

Intellektuelle Annäherung

Waffentechnik war der Antrieb der menschlichen Evolution

Das Immunsystem: Eine große vereinheitlichende Theorie für die biomedizinische Forschung

Stärkung unserer natürlichen Abwehrkräfte gegen Krebs

Krebsmedikamente gegen Hirnerkrankungen

Das stärkste Karzinogen könnte die Entropie sein

Der Rückgang der Krebserkrankungen

Die Paarungskrise bei gebildeten Frauen

Das wichtigste xyz

Die Mutter aller Süchte

Optogenetik

Der Stand der Hirnforschung

Nootropika

Erinnerungen sind unzuverlässige Konstrukte

Das ständig neue Ich

Auch Kleinkinder können mit Computern umgehen

Das voraussagende Gehirn

Ein neues bildgebendes Verfahren

Sensoren beschleunigen den Prozess wissenschaftlicher Entdeckungen

3D-Druck im medizinischen Bereich

Tiefe Wissenschaft

Eine Welt, die zählt

Die Realität programmieren

Zeigen ist eine Voraussetzung für Sprache

Kriminelle Makronetzwerke

Virtuelle Realität wird zum Mainstream

Zwei Gezeitenströme des Wandels

Abbildungsverfahren für Deep Learning

Das neuronale Netzwerk reloaded

Differenzierbares Programmieren

Deep-Learning, Semantik und Gesellschaft

Der Anblick unseres Cyborg-Ichs

Grundsätzliche Ablehnung der Wissenschaft

Ein neues Verständnis der künstlichen Intelligenz

Datensätze sind wichtiger als Algorithmen

Neuroprognose

Der schmale Grat zwischen psychischer Krankheit und psychischer Gesundheit

Theologische Vielfalt

Die Moderne gewinnt

Die religiöse Moral schlägt meist unter der Gürtellinie zu

Eine Wissenschaft der Auswirkungen

Die Erschaffung einer Gesellschaft ohne ethnische Mehrheit

Vernetzung

Die allgemeinen Auswirkungen von Unglück in der Kindheit

Wir hinken immer noch hinterher

Neuronales Hacken, Handabdrücke und der Mangel an Mitgefühl

Schickt die Drohnen los!

Dieses Kleid

Anthropischer Kapitalismus und Scheinökonomie

Der Ursprung der Europäer

Die Platin-Regel: dicht und schwer, aber aller Mühen wert

Die Gewöhnung an gefiederte Dinosaurier

Menschen sind Tiere

Die Langlebigkeit von Nachrichten

Die Wettervorhersage hat sich still und leise verbessert

Die Welt: zunächst als Kunst, dann als Wissenschaft

Die Konvergenz von Bildern und Technologie

Das achtsame Aufeinandertreffen von Ansichten

Carpe Diem

Eine Verknüpfung der Ebenen menschlicher Variation

Der Wert der Universitätsausbildung wird in Frage gestellt

Der hermeneutische Hyperzyklus

Die Neukonzeption von Autorität mittels der Blockchain-Kryptoaufklärung

Schluss: Vielleicht werden wir alle einen schrecklichen Tod sterben

Für Juliet und Miles

Danksagung

 

Ich danke Peter Hubbard von HarperCollins und meinem Agenten, Max Brockman, für ihre kontinuierliche Ermutigung. Ein besonderer Dank nochmals an Sara Lippincott für ihre umsichtige Betreuung des Manuskripts.

Vorwort

Die Edge-Frage

In den letzten Jahren haben zahlreiche naturwissenschaftliche Themen in Zeitungen und Zeitschriften eine bedeutende Rolle gespielt: unter anderem Molekularbiologie, Künstliche Intelligenz, künstliches Leben, Chaostheorie, Parallelrechner, neuronale Netze, das inflationäre Universum, Fraktale, komplexe Anpassungssysteme, Superstrings, biologische Vielfalt, Nanotechnologie, das menschliche Genom, Expertensysteme, das unterbrochene Gleichgewicht, zelluläre Automaten, Fuzzy Logic, Weltraumbiosphären, die Gaia-Hypothese, virtuelle Realität, Cyberspace und Teraflop-Rechner … Anders als bei früheren geistigen Strömungen sind die Errungenschaften der dritten Kultur keine nebensächlichen Debatten einer streitsüchtigen Edelkaste, sie werden vielmehr das Leben aller Menschen auf der Erde beeinflussen.

Man könnte nun meinen, bei oben genannter Aufzählung handele es sich um die Einleitung für die Edge-Frage von 2016, doch damit läge man falsch. Die zitierte Passage macht einen zentralen Punkt meines vor 25 Jahren, am 19. September 1991, in der Los Angeles Times erschienenen Artikels »Die dritte Kultur« aus. Dieses Essay, ein Manifest, war Ergebnis gemeinsamer Anstrengungen und umfasste unter anderem Beiträge von Stephen Jay Gould, Murray Gell-Mann, Richard Dawkins, Daniel C. Dennett, Jared Diamond, Stuart Kauffman und Nicholas Humphrey nebst weiteren führenden Wissenschaftlern und Denkern. Der Artikel verkündete:

»Die dritte Kultur – das sind Wissenschaftler und Denker in der Welt der Empirie, die mit ihrer Arbeit und ihren schriftlichen Darlegungen den Platz der traditionellen Intellektuellen einnehmen, indem sie die tiefere Bedeutung unseres Lebens sichtbar machen und neu definieren, wer und was wir sind.«

 

Dann hieß es weiter:

[W]as herkömmlicherweise »Naturwissenschaft« hieß, ist heute zur »öffentlichen Kultur« geworden. Steward Brand schreibt: »Wissenschaft ist das einzig Neue. Wenn man eine Zeitung oder eine Illustrierte durchblättert, geht es in den Geschichten um das gleiche alte Er-sagte-sie-sagte, in Politik und Wirtschaft immer um den gleichen Kreislauf von erbärmlichen Dramen, […] selbst die Technik ist vorhersehbar, wenn man die Naturwissenschaft kennt. Das Wesen der Menschen ändert sich kaum; die Wissenschaft tut das sehr wohl, und der Wandel summiert sich, bis er die Welt unumkehrbar zu einer anderen macht.«

Aus der Wissenschaft ist also eine große Geschichte geworden, wenn nicht sogar die große Geschichte schlechthin: Neues, das neu bleibt.

Erkennen können wir das an der bis heute anhaltenden Relevanz der im Essay von 1991 behandelten wissenschaftlichen Themen, die allesamt bereits vor dem Einzug des Internets, der Entstehung der sozialen Medien, der Entwicklung der Mobilkommunikation und des maschinellen Lernens sowie der massenhaften Erhebung von Daten eine Rolle spielten. Zeit für eine Neuauflage…

WAS HALTEN SIE FÜR DIE INTERESSANTESTE [WISSENSCHAFTLICHE] NEUIGKEIT UNSERER ZEIT? WAS MACHT DIE BEDEUTUNG DIESER NEUIGKEIT AUS?

Die in diesem Jahr online eingereichten Antworten belaufen sich auf knapp 200 Beiträge: Hier sind die Neuigkeiten, herausgesucht von denen, die sie vielfach selbst produzieren.

 

John Brockman

Herausgeber von Edge.com

Steven Pinker

Quantifizierter menschlicher Fortschritt

Inhaber der Johnston-Family-Professur am Fachbereich Psychologie der Harvard University, Autor u.a. von The Sense of Style. The Thinking Person’s Guide to Writing in the 21st Century und Eine neue Geschichte der Menschheit

 

 

Bekanntlich ist die menschliche Intuition ein denkbar schlechter Ratgeber für die Wirklichkeit. Ein halbes Jahrhundert psychologischer Forschung hat bewiesen, dass Menschen sich von Stereotypen, unvergesslichen Erlebnissen, lebhaften Gedankenspielen und moralisierenden Erzählungen den Kopf verdrehen lassen, sobald sie ein Risiko abzuschätzen oder die Zukunft vorherzusagen versuchen.

Glücklicherweise ist die Fehlbarkeit der menschlichen Wahrnehmung inzwischen allgemein bekannt, so dass die Lösung für dieses Problem – objektives Datenmaterial – sich immer weiter durchsetzt. In vielen Bereichen des Lebens ersetzen Beobachter ihr Bauchgefühl mittlerweile durch die Ergebnisse quantitativer Forschung. Der Sport ist durch Michael Lewis’ Moneyball revolutioniert worden, die Politik durch Richard Thalers und Cass Sunsteins Nudge, das Expertenwesen durch die Nachrichtenwebsite 538.com, die Vorhersage durch Wettbewerbe und den Prognosemarkt, die Philanthropie durch wirkungsvollen Altruismus und die Heilkunst durch evidenzbasierte Medizin.

Das sind nicht nur spannende, sondern auch für die Wissenschaft wichtige Neuigkeiten, weil die Diagnose auf den Ergebnissen der Kognitionswissenschaft und die Therapie auf der Anwendung empirischer Methoden beruht. Am spannendsten ist allerdings die Nachricht, dass die Quantifizierung des Lebens auf die größte Frage von allen ausgeweitet worden ist: Haben wir Fortschritte gemacht? Haben die gemeinsamen Anstrengungen der Menschheit, die Entropie und die hässlicheren Seiten der Evolution zu bekämpfen, zu einer Verbesserung des menschlichen Daseins geführt?

Die Denker der Aufklärung waren sich freilich sicher, dass ebendies möglich sei. Im viktorianischen Zeitalter wurde der Fortschritt zu einem der wichtigsten Topoi der anglo-amerikanischen Gedankenwelt. Seitdem haben jedoch auf die Romantik zurückgehende Vorstellungen und ein gegenaufklärerischer Pessimismus große Teile des intellektuellen Lebens in Beschlag genommen, wobei diese Entwicklung von historischen Katastrophen wie den beiden Weltkriegen oder der seit den 1960er Jahren wachsenden Besorgnis über anthropogene Folgeerscheinungen wie die Umweltverschmutzung oder die Ungleichheit geschürt wurde. Heutzutage liest man oft vom »Glauben« an den Fortschritt (oft einem »naiven« Glauben), dem die nostalgische Sehnsucht nach einer besseren Vergangenheit, Urteile über den gegenwärtigen Niedergang und die Furcht vor der zukünftigen Dystopie gegenüberstehen.

Doch die durch die Kognitionswissenschaft sowie die datenbasierten Untersuchungsmethoden ausgelösten Umwälzungen warnen uns davor, die Einschätzung irgendeiner Sache von subjektiven Eindrücken oder ausgewählten Ereignissen abhängig zu machen. Solange schlimme Dinge nicht vollständig verschwunden sind, wird es stets genug davon geben, um die Zeitungen zu füllen, und die Leute werden das Gefühl nicht loswerden, dass die Welt zugrunde geht. Dieser Illusion kann nur entkommen, wer die Häufigkeit des Auftretens guter und schlechter Entwicklungen im Laufe der Zeit nachzeichnet. Die meisten Menschen sind sich einig, dass das Leben besser ist als der Tod, Gesundheit besser als Krankheit, Wohlstand besser als Armut, Wissen besser als Unwissenheit, Frieden besser als Krieg, Sicherheit besser als Unsicherheit und Freiheit besser als Unterdrückung. Das gibt uns eine Reihe von Maßstäben an die Hand, anhand deren wir ablesen können, ob der Fortschritt tatsächlich eingetreten ist.

Die interessante Nachricht lautet, dass dem tatsächlich meist so ist. Ich hatte zum ersten Mal diesen Eindruck, als quantitative Historiker und Politikwissenschaftler auf die Antwort reagierten, die ich 2007 auf Edge.org auf die Frage gab: »Was macht Sie optimistisch?« Ich legte eine Reihe von Daten vor, die belegten, dass die Zahl der Tötungsdelikte und Kriegsopfer im Laufe der Zeit gesunken ist. Seitdem habe ich erfahren, dass dem Fortschritt anhand anderer Maße nachgegangen worden ist. Wirtschaftshistoriker und Entwicklungsforscher (darunter Gregory Clark, Angus Deaton, Charles Kenny und Steven Radelet) haben in ihren an Datenmaterial reichen Büchern den wachsenden Wohlstand verfolgt, während Webseiten mit innovativen Graphiken wie Gapminder von Hans Rosling, Our World in Data von Max Roser und HumanProgress von Marian Tupy anschauliche Argumente dafür liefern.

Zu den anderen Anzeigern für diesen Aufwärtstrend zählen die folgenden: Die Menschen leben länger und sind gesünder, und das nicht nur in der entwickelten Welt, sondern rund um den Globus. Mittlerweile sind ein Dutzend infektiöse oder durch Parasiten ausgelöste Krankheiten ausgerottet worden oder stehen kurz davor. Sehr viel mehr Kinder als früher gehen heute zur Schule und lernen Lesen. Die extreme Armut ist weltweit von 85 auf zehn Prozent gesunken. Trotz örtlicher Rückschläge ist die Welt inzwischen demokratischer als je zuvor. Frauen sind besser ausgebildet, heiraten später, verdienen mehr und erreichen öfter Posten mit Macht und Einfluss. Rassistische Vorurteile und Verbrechen aus Hass sind seit der ersten Datenerfassung dieser Phänomene auf dem Rückzug. Selbst die ganze Welt wird klüger: Pro Jahrzehnt steigt der IQ in jedem Land um drei Punkte.

Selbstverständlich wird der Fortschritt anhand einer Reihe empirischer Befunde gemessen und ist daher kein Zeichen für irgendeine Art mystischen Aufstiegs, utopischer Entwicklung oder göttlicher Gnade. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass wir auch auf Lebensbereiche stoßen, die sich entweder gar nicht verändert oder aber verschlechtert haben oder die sich nicht quantifizieren lassen (man denke nur an die unendliche Zahl der Apokalypsen, die in der Phantasie heraufbeschworen werden). Die Konzentration der Treibhausgase in der Luft steigt, die Wasserknappheit nimmt zu, viele Arten werden ausgerottet, während Atomwaffenarsenale erhalten bleiben.

Doch selbst hier kann die Erhebung quantitativer Daten unser Verständnis verändern. »Ökomodernisten« wie Steward Brand, Jesse Ausubel und Ruth DeFries haben bewiesen, dass viele Indikatoren für eine gesunde Umwelt sich im letzten halben Jahrhundert stetig verbessert haben und dass es langfristige historische Prozesse gibt, die weiterhin gefördert werden sollten, etwa die Senkung des CO2-Ausstoßes aus fossilen Brennstoffen, die Dematerialisierung des Verbrauchs oder die Reduzierung der landwirtschaftlichen Flächen. Wer den Einsatz von Atomwaffen empirisch untersucht, weist darauf hin, dass seit Nagasaki keine Waffe dieser Art mehr benutzt worden ist, dass Nuklearwaffen im Grunde nicht mehr getestet werden und dass der Club der Länder mit Atomwaffen sich auf gerade einmal neun erweitert hat (und nicht etwa auf 30, wie in den 1960er Jahren angenommen), während 17 Länder ihr Nuklearwaffenprogramm ganz aufgegeben haben. Die Menge dieser Waffen hat sich um fünf Sechstel reduziert und damit auch die Möglichkeiten für Diebstähle und Unfälle wie auch die Zahl der Hindernisse für eine vollkommen atomwaffenfreie Welt.

Warum ist das alles von Belang? Zunächst einmal signalisiert uns der empirisch erfassbare Fortschritt, welche Anpassungen wir an unserem Tun vornehmen müssen. Die Segnungen des Fortschritts, die wir bislang genießen durften, resultieren aus Institutionen und Normen, die in den letzten 200 Jahren Wurzeln geschlagen haben: Vernunft, Wissenschaft und Technik, Bildung, Fachkenntnisse, Demokratie, geregelte Märkte sowie eine moralische Verpflichtung für Menschenrechte und das Gedeihen der Menschheit. Wie gegenaufklärerisch eingestellte Kritiker seit langem betonen, können diese Entwicklungen uns kein besseres Leben garantieren. Dennoch wissen wir mittlerweile, dass es uns deswegen aber sehr wohl bessergeht. Das bedeutet, dass uns die Institutionen und Normen der Moderne auf einen guten Weg gebracht haben, und dies, obwohl die heutige Welt in vielerlei Hinsicht keine Utopie ist. Wir sollten uns bemühen, diese Prinzipien zu verbessern, statt sie in der Überzeugung niederzureißen, nichts könne schlimmer sein als unsere augenblickliche Dekadenz, nur weil die vage Hoffnung besteht, dass aus den Ruinen Besseres ersteht.

Außerdem macht uns der quantifizierbare menschliche Fortschritt Mut, mehr davon anzustreben. Unter Aktivisten herrscht oft die Meinung vor, jeglicher Grund zum Optimismus müsse unterdrückt werden, weil die Menschen sonst eingelullt würden und die Hände in den Schoß legten. Stattdessen solle man das Feuer schüren, indem man über die anhaltende Krise klagt und die Menschen beschuldigt, nicht ängstlich genug zu sein. Unglücklicherweise kann das eine Folgegefahr auslösen: den Fatalismus. Nachdem man uns darüber in Kenntnis gesetzt hat, dass die Armut nie ausgerottet werden könne, die Götter uns für unsere Überheblichkeit strafen, die Natur unseren Raubzug an ihr rächen werde und die Uhr unerbittlich ablaufe, nun, da der nukleare Holocaust und die Klimakatastrophe unabwendbar bevorstünden, ist es nur natürlich, dass wir daraus schließen, jeder Widerstand sei zwecklos, weshalb wir die Feste so feiern sollten, wie sie fallen. Graphische Darstellungen sind deshalb so vorteilhaft, weil sie uns dazu einladen, ebenjene Triebkräfte zu identifizieren, die eine Kurve nach unten oder nach oben schießen lässt. Erst dann können diese Kräfte genutzt werden, um die Kurve weiter in dieselbe Richtung zu lenken.

Freeman Dyson

Mehr mit weniger erreichen

Theoretischer Physiker, Autor von Dreams of Earth and Sky

 

 

Einer der Helden der Wissenschaft unserer Zeit ist Pieter van Dokkum, Professor am Institut für Astronomie der Yale University und Autor eines kürzlich erschienenen Buches namens Dragonflies. Magnificent Creatures of Water, Air, and Land. In diesem Buch geht es um Insekten; das Werk wurde mit großartigen Fotografien von Libellen versehen, die van Dokkum selbst in den natürlichen Habitaten der Tiere aufgenommen hat. Als Astronom arbeitet er wiederum mit einer Libelle ganz anderer Art. Das Dragonfly Telephoto Array besteht aus zehn Linsenteleskopen mit Durchmessern von etwa 40 Zentimetern, die wie das Komplexauge einer Libelle angeordnet worden sind. Die Linsen wurden mit mehreren Lagen einer lichtempfindlichen Schicht überzogen, damit sie selbst auf weit entfernte, kaum wahrnehmbare Objekte am Himmel hervorragend reagieren. Das Dragonfly-Teleskopfeld reagiert damit etwa zehnmal empfindlicher auf weit entfernte, kaum wahrnehmbare Objekte als die besten großen Teleskope. Außerdem ist es circa tausendmal billiger. Die zehn Linsen kosten zusammen rund 100000 US-Dollar, gegenüber 100 Millionen US-Dollar für ein großes Teleskop.

Dragonfly stieß kürzlich im Coma-Galaxienhaufen auf 47 »sehr diffuse« Galaxien in Milchstraßengröße und damit mehr, als aufgrund von Computersimulationen der Entstehung von Galaxien angenommen wurde. Jede Galaxie ist in einen Halo Dunkler Materie eingebettet, deren Masse durch die beobachtete Bahngeschwindigkeit der sichtbaren Sterne bestimmt werden kann. Die Galaxien weisen über hundertmal mehr dunkle, unsichtbare als sichtbare Masse auf. Zum Vergleich: In unserer Galaxie beläuft sich das Verhältnis dunkler zu sichtbarer Materie auf zehn zu eins. Die mit Hilfe von Dragonfly angestellten Beobachtungen enthüllen ein Universum, das eine überaus feine Struktur von Klumpen dunkler Materie aufweist, die sehr viel klumpiger sind, als man nach der kosmologischen Urknall-Standardtheorie erwartet hätte.

Und so ergibt es sich, dass ein billiges kleines Teleskop zu einer großen neuen Entdeckung über den Aufbau des Universums geführt hat. Wenn die Wirtschaftlichkeit eines Teleskops anhand der finanziellen Kosten gegenüber dem wissenschaftlichen Nutzen bestimmt wird, geht Dragonfly mit großem Vorsprung als Gewinner hervor. Diese Geschichte hat eine Moral. Die Moral von der Geschicht ist nun aber nicht, dass wir all unser Geld in kleine Teleskope stecken sollten. Um Weltklasse-Astronomie zu betreiben, sind wir weiterhin auf große Teleskope und große Organisationen angewiesen. Die Moral von der Geschicht lautet, dass wir einen bescheidenen kleinen Teil des für die Astronomie vorgesehenen Budgets – vielleicht bis zu einem Drittel – für kleine, kostengünstige Projekte zurückhalten sollten. Hin und wieder wird ein Gewinner wie Dragonfly erscheinen.

Kurt Gray

Die »Besonderheit« der Menschen

Dozent für Psychologie an der University of North Carolina in Chapel Hill

 

 

Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.

Genesis 2,7 

Wir Menschen waren stets von unserer besonderen Stellung überzeugt, vollkommen sicher, dass wir uns im Zentrum des Universums befinden. Noch bis vor gar nicht allzu langer Zeit hielten wir uns für Gottes liebste Schöpfung, die auf die neu erschaffene Erde gesetzt wurde, einen Himmelskörper, den alle anderen umkreisten. Wir waren der Ansicht, dass der Mensch sich von jedem anderen Tier unterscheide und eine Intelligenz besitze, die sich niemals nachahmen ließe. Diese Gedanken, die so leicht zu glauben waren, bereiteten uns ein wohliges, sicheres Gefühl. Sie waren jedoch falsch.

Nikolaus Kopernikus und Galileo Galilei enthüllten, dass nicht etwa die Erde, sondern die Sonne das Zentrum des Sonnensystems bildet. Charles Lyell entdeckte, dass unser Planet sehr viel älter ist als bis zum Zeitpunkt seiner Entdeckung angenommen. Charles Darwin deckte auf, dass die Menschen sich nicht grundlegend von anderen Tieren unterscheiden. Jede einzelne dieser wissenschaftlichen Enthüllungen stellte unsere angenommene Besonderheit in Frage. Selbst wenn der Mensch bloß ein Affe mit einem stark ausgeprägten Stirnlappen wäre, könnten wir selbstverständlich dennoch für uns in Anspruch nehmen, als Menschen Mitglieder eines ganz besonderen Clubs zu sein – dem der Lebewesen. Wir bewundern die Schönheit des Lebens, die Vielfalt der Tiere, Pflanzen, Insekten und Bakterien. Leider gibt es eine neuere Theorie, die die Besonderheit jeglichen Lebens untergräbt.

Der am Massachusetts Institute for Technology (MIT) tätige Jeremy England hat die Vermutung geäußert, das Leben sei nichts weiter als eine unausweichliche Folge der Thermodynamik. Er argumentiert, dass lebende Systeme sich am besten dafür eigneten, Energie aus einer externen Quelle abzuleiten: Bakterien, Käfer und Menschen sind das wirkungsvollste Mittel zum Verbrauch von Sonnenlicht. Laut England bedeutet Entropie, dass Moleküle, die lange genug von einer Wärmequelle beleuchtet werden, sich irgendwann so anordnen, dass sie einen Stoffwechsel ausbilden, Bewegung an den Tag legen und mit der Selbstreproduktion beginnen – das bedeutet, sie werden lebendig. Zugegeben, dieser Prozess kann sich über Milliarden von Jahren erstrecken, doch wenn man dieser Ansicht folgt, unterscheiden sich Lebewesen kaum von anderen physikalischen Einheiten, die sich durch Energiezuführung bewegen und vermehren, seien das Wasserwirbel (die durch Schwerkraft entstehen) oder Sanddünen in der Wüste (die der Wind vor sich hertreibt). Englands Theorie lässt nicht nur die Grenzen zwischen Lebendigem und Totem verschwimmen, sondern untergräbt die besondere Stellung der Menschheit noch weiter. Sie legt nahe, dass das besondere Talent des Menschen aus nicht viel mehr als dem Verbrauch von Energie besteht (etwas, das wir offenbar mit sehr viel Begeisterung tun) – eine Besonderheit, die uns wohl kaum erfreuen dürfte.

Stuart Pimm

Jorge Mario Bergoglios Bericht zur globalen Ökologie aus dem Jahr 2015

Inhaber der Doris-Duke-Professur für Naturschutzökologie an der Duke University, Autor von The World According to Pimm. A Scientist Audits the Earth

 

 

Im Jahr 2015 wurde eine beeindruckende tour d’horizon der globalen Ökologie veröffentlicht. Die Überblicksdarstellung deckt viele Bereiche ab und bewertet den menschlichen Einfluss auf die biologische Vielfalt, mein Fachgebiet. Wie jeder gute Bericht wurde auch dieser mit passenden Belegen versehen, ist umfassend und enthält konkrete Vorschläge für zukünftige Forschungen. Ein Großteil des Inhalts scheint wohlbekannt zu sein, obwohl der Bericht ein kleines bisschen zu selten aus den Zeitschriften Nature und Science zitiert. Das ist aber nicht der Grund, warum der Bericht Nachrichtenwert hat. Tatsächlich ist der Grund der, dass er ein klar definiertes Publikum von 1,2 Milliarden Menschen erreicht hat, nebst unzähligen anderen – womit er die Zitationshäufigkeit anderer kürzlich erschienener wissenschaftlicher Arbeiten weit in den Schatten stellt. Der Name der Publikation lautet Laudato Si’. Über die Sorge für das gemeinsame Haus, verfasst von einem Mann, der besser unter dem Namen »Papst Franziskus« bekannt ist.

Wie viel Ökologie steckt in diesem Text? Und wie gut ist er? Nun ja, der Begriff »Ökologie« (oder Varianten davon) taucht achtzigmal auf, »biologische Vielfalt« zwölfmal und »Ökosystem« fünfundzwanzigmal. (Anm.d.Übers.: Alle Angaben beziehen sich auf die englische Fassung des Textes Laudato Si’. On Care for Common Home.) Es gibt eine 1400 Wörter zählende Passage über den Verlust der biologischen Vielfalt – genau die richtige Länge für einen Leserbrief an Nature.

Der Abschnitt über die biologische Vielfalt setzt mit der Aussage ein, dass die Ressourcen der Erde »auch […] durch ein Verständnis der Wirtschaft und der kommerziellen und produktiven Tätigkeit [geplündert werden], das ausschließlich das unmittelbare Ergebnis im Auge hat«. Wir erfahren darin, dass die Abholzung einen der wichtigsten Faktoren für den Verlust der Arten ausmacht. Der Text erläutert, dass die Artenvielfalt als Quelle für Nahrungsmittel, Medikamente und andere Anwendungsmöglichkeiten von großer Bedeutung ist und dass »die verschiedenen Arten […] Gene [enthalten], die Ressourcen mit einer Schlüsselfunktion sein können, um in der Zukunft irgendeinem menschlichen Bedürfnis abzuhelfen oder um irgendein Umweltproblem zu lösen«. Eine hohe Ausrottungsrate wirft ethisch-moralische Fragen auf – besonders den Gedanken, dass unsere derzeitigen Handlungen begrenzen, was zukünftige Generationen nutzen oder genießen können.

Wir erfahren, dass der Großteil unseres Wissens über das Artensterben auf der Untersuchung von Vögeln und Säugetieren basiert. Mit einem Satz, der von E.O. Wilson stammen könnte, lobt der Abschnitt die kleinen Dinge, die unsere Welt beherrschen: »Doch für das gute Funktionieren des Ökosystems sind auch die Pilze, die Algen, die Würmer, die Insekten, die Reptilien und die unzählige Vielfalt von Mikroorganismen notwendig. Einige zahlenmäßig geringe Arten, die gewöhnlich unbemerkt bleiben, spielen eine grundlegend entscheidende Rolle, um das Gleichgewicht eines Ortes zu stabilisieren.« Eine vollständige Aufzählung aller im Text genannten Punkte macht keinen Sinn, doch soll diese kurze Liste als Veranschaulichung der dort unterbreiteten Erkenntnisse und des vorgelegten Umfangs dienen. Sobald man Teile aus einem komplexen System entfernt – in diesem Fall Arten aus einem Ökosystem –, kann das unerwartete Folgen haben.

Die Technik hat ihre Vorteile, doch Bergoglio weist den ungebremst optimistischen Technikglauben eloquent zurück: »So hat es den Anschein, dass wir bestrebt sind, auf diese Weise eine unersetzliche und unwiederbringliche Schönheit auszutauschen gegen eine andere, die von uns geschaffen wurde.« Wir zerstören Habitate nicht nur, sondern zerstückeln auch die verbliebenen. Die Lösung muss lauten, biologische Korridore zu schaffen. Bergoglio schreibt weiter: »Wenn einige Arten kommerziell genutzt werden, erforscht man nicht immer die Weise ihres Wachstums, um ihre übermäßige Reduzierung und das daraus resultierende Ungleichgewicht des Ökosystems zu vermeiden.«

Obwohl es bei der Einrichtung von Schutzzonen auf dem Land und im Wasser zu bedeutenden Fortschritten gekommen ist, besteht bezüglich der Amazonas- und Kongoregion (den letzten noch vorhandenen großen Teilen zusammenhängenden Regenwaldes) Grund zur Sorge, ebenso wie im Hinblick auf den Austausch der ursprünglichen Wälder durch Baumplantagen, deren Artenvielfalt so viel geringer ist. Die Überfischung und die Entsorgung großer Mengen Beifangs schmälern die Fähigkeit der Weltmeere, die Fischerei zu tragen. Menschliche Handlungen schaden dem Meeresboden auf riesigen Gebieten und verändern die Zusammensetzung der dort lebenden Arten von Grund auf. Der Abschnitt endet mit einer Aussage, die gut und gerne aus dem Policy Forum der Science stammen könnte, da er sich für gesteigerte Anstrengungen und mehr Gelder einsetzt:

Es ist notwendig, viel mehr in die Forschung zu investieren, um das Verhalten der Ökosysteme besser zu verstehen und die verschiedenen Variablen der Auswirkung jeder beliebigen wichtigen Veränderung der Umwelt zu analysieren. Da alle Geschöpfe miteinander verbunden sind, muss jedes mit Liebe und Bewunderung gewürdigt werden, und alle sind wir aufeinander angewiesen. Jedes Hoheitsgebiet trägt eine Verantwortung für die Pflege dieser Familie. Es müsste für sie eine sorgfältige Bestandsaufnahme der Arten erstellen, die es beherbergt, um Programme und Strategien für den Schutz zu entwickeln und dabei mit besonderer Sorge auf die Arten zu achten, die im Aussterben begriffen sind.

Der Abschnitt über die biologische Vielfalt könnte einen hervorragenden Kursüberblick für mein Hauptseminar in Naturschutz abgeben. Der Umfang ist beeindruckend; die Themen sind von weltweiter Bedeutung. Die berücksichtigte Forschung ist erstaunlich aktuell und verweist auf anhaltende Kontroversen.

Die Enzyklika enthält lange Passagen über die Luftverschmutzung, den Klimawandel, die Wasserfrage, die Urbanisierung, die soziale Ungerechtigkeit und deren Auswirkungen auf die Umwelt, das Versprechen und die Gefahren der Technik, die generationsübergreifende Gerechtigkeit sowie nationale und lokale politische Konzepte. All diese Themen würden in einem Seminar über globale Ökologie angesprochen werden. Das ist aber nicht der Grund, warum die Veröffentlichung der Enzyklika Nachrichtenwert hat. Der eigentliche Grund liegt darin, dass sie eine unanfechtbare Stellungnahme zur Bedeutung der Wissenschaft bei der Gestaltung der ethisch-moralischen Entscheidungen unserer Generation darstellt – für Katholiken wie für Nichtkatholiken. Sie ruft jede Religion und jeden Wissenschaftler dazu auf, die enorme Bandbreite und Schwere der Probleme zu erfassen, die durch die Wissenschaft der Ökologie aufgedeckt worden sind, und dringend nach Lösungen dafür zu suchen. Dem Autor steht das letzte Wort zu – und es ist ein gutes. Er erläutert, wie wir das anstellen sollen:

Dennoch können Wissenschaft und Religion, die sich von unterschiedlichen Ansätzen aus der Realität nähern, in einen intensiven und für beide Teile produktiven Dialog treten. […] Wenn wir die Komplexität der ökologischen Krise und ihre vielfältigen Ursachen berücksichtigen, müssten wir zugeben, dass die Lösungen nicht über einen einzigen Weg, die Wirklichkeit zu interpretieren und zu verwandeln, erreicht werden können. […] Wenn wir wirklich eine Ökologie aufbauen wollen, die uns gestattet, all das zu sanieren, was wir zerstört haben, dann darf kein Wissenschaftszweig und keine Form der Weisheit beiseitegelassen werden, auch nicht die religiöse mit ihrer eigenen Sprache.

Laurence C. Smith

Undichtes, dünner werdendes, abrutschendes Eis

Leiter des Fachbereichs Geologie und Professor im Fachbereich Weltraumforschung, Planetologie und Geowissenschaft der University of California in Los Angeles, Autor von Die Welt im Jahr 2050. Die Zukunft unserer Zivilisation

 

 

Seit kurzem schenken die New York Times, das Wall Street Journal, die Los Angeles Times und andere bedeutende Nachrichtenmedien weltweit ein ungewöhnlich hohes Maß an medialer Aufmerksamkeit den wissenschaftlichen Berichten über die großen Eisschilde unseres Planeten. Die Neuigkeiten, die wir dort vernehmen, sind nicht gut.

Dank beispielloser Möglichkeiten der bildlichen Erfassung, Vermessung und Modellierung wissen wir heute, dass Grönland und die Antarktis, so abgelegen sie auch sein mögen, bereits die Küsten der Welt neu definieren. Mehr als eine Milliarde Menschen – sowie unzählige Bereiche unserer Volkswirtschaften, unserer Ökosysteme und unseres kulturellen Erbes – werden davon betroffen sein, verdrängt werden oder in den nächsten Generationen ganz verlorengehen.

Fünf Studien bedürfen in diesem Zusammenhang besonderer Beachtung. Eine bewies, dass die auf dem Meer treibenden Schelfeistafeln an den Rändern des Antarktischen Eisschildes (die sich zwar nicht direkt auf den Meeresspiegel auswirken, aber dafür sorgen, dass Milliarden Tonnen Gletschereis sich nicht von der Landmasse lösen und ins Meer abrutschen) immer dünner werden und deshalb keinen Schutz mehr bieten. Bei einer anderen Studie stellte sich dank des Einsatzes von Drohnen, Satelliten und extremer Feldforschungsarbeit heraus, dass ganze Flüsse aus blauem Schmelzwasser sich über die Eisflächen Grönlands ergießen. Ein wichtiges NASA-Programm namens Ocean Melting Glaciers, kurz OMG, zeigte, dass die wärmer werdenden Weltmeere – die bislang einen Großteil der durch den weltweit steigenden Treibhausgasausstoß entstandenen Wärme absorbiert haben –, mittlerweile die großen Eisdecken der ins Meer mündenden Gletscher von unten zum Schmelzen bringen. Bei einer vierten Studie wurden alte Luftaufnahmen untersucht, um die Narben der im 20. Jahrhundert erfolgten Gletscherabschmelzung an den Rändern des Grönländischen Eisschildes aufzuzeichnen. Dabei stellte sich heraus, dass die Geschwindigkeit, mit der das Volumen der Eismasse abnimmt, sich erhöht hat. Bei einer fünften Langzeitstudie setzte man fortschrittliche Methoden der Computermodellierung ein und bewies so, dass der massive Antarktische Eisschild in kommenden Jahrtausenden vollkommen verschwinden könnte, falls wir uns dafür entscheiden, alle bekannten fossilen Brennstoffreserven zu verbrauchen.

Das letzte Szenario ist extrem. Sollte unsere Wahl darauf fallen, es Wirklichkeit werden zu lassen, würde der Meeresspiegel weltweit um weitere knapp 60 Meter steigen. Um diese 60 Meter einmal in Relation zu setzen: Die gesamte US-amerikanische Atlantikküste, Florida und die ganze Golfküste der Vereinigten Staaten von Amerika würden verschwinden, während die Berge von Los Angeles und San Francisco sich in verstreut gelegene Inseln verwandeln würden. Bereits ein Anstieg des Meeresspiegels um 1,50 oder 3 Meter würde das Leben der an der Küste lebenden Bevölkerung, wie wir es heute kennen, verändern oder gefährden. Betroffen wären große Städte wie New York, Newark, Miami und New Orleans in den USA; Mumbai und Kalkutta in Indien; Guangzhou, Guangdong, Shanghai, Shenzen und Tianjin in China; Tokio, Osaka, Kobe und Nagoya in Japan; Alexandria in Ägypten; Haiphong und Ho-Chi-Minh-Stadt in Vietnam; Bangkok in Thailand; Dhaka in Bangladesch; Abidjan in der Elfenbeinküste; Lagos in Nigeria und Amsterdam sowie Rotterdam in den Niederlanden. Die Gefahr geht nicht nur von steigenden Wasserständen aus, sondern auch von der größeren Reichweite von Sturmfluten (wie beim Hurrikan Katrina und beim Supersturm Sandy beobachtet) sowie dem durch Privatunternehmen und staatliche Behörden verfügten Versicherungsstopp für Gegenden, die für Überschwemmungen anfällig sind.

Gemeinsam betrachtet, verraten uns diese und ähnliche Studien vier interessante und wichtige Dinge.

Erstens sind die Eisschilde undicht. Das heißt, das durch den Klimawandel ausgelöste zunehmende Abschmelzen der obersten Eisschicht kann wahrscheinlich nicht durch die umfangreiche Speicherung oder erneute Vereisung von Wasser in der Eismasse selbst ausgeglichen werden.

Zweitens steht die Geschwindigkeit des globalen Meeresspiegelanstiegs, die sich im Laufe der letzten 20 Jahre bereits nahezu verdoppelt hat (der Meeresspiegel steigt mittlerweile im Durchschnitt um 3,2 Millimeter pro Jahr), ganz eindeutig in einem Zusammenhang mit dem abnehmenden Volumen der Eisschildmasse.

Drittens hat die Erwärmung der Weltmeere bis dato unbeachtete Auswirkungen auf das abrutschende Eis.

Viertens hält der durch das Eis bedingte Anstieg des Meeresspiegels nicht nur bis heute an, sondern beschleunigt sich sogar. Viele Gletscherforscher befürchten inzwischen, dass der nach früheren Schätzungen erwartete Meeresspiegelanstieg bis zum Ende des Jahrhunderts (um die 30 Zentimeter, wenn wir aggressiv vorgehen und den Schadstoffausstoß senken; knapp einen Meter, wenn wir das nicht tun) zu niedrig gegriffen sein könnte.

Der Anstieg des Meeresspiegels ist echt, er ereignet sich jetzt und hier und wird nicht mehr verschwinden. Uns bleibt bloß überlassen, welches Ausmaß er letztlich annehmen wird.

Robert Trivers

Gletscher

Evolutionsbiologe, Professor für Anthropologie und Biologie an der Rutgers University, Autor von Wild Life. Adventures of an Evolutionary Biologist

 

 

Auf der ganzen Welt schmelzen Gletscher mit beispielloser Geschwindigkeit. Auf der ganzen Welt werden Gletscher weiterhin mit beispielloser Geschwindigkeit schmelzen. Versuchen Sie einmal, mit einem Meeresspiegel zu leben, der im Schnitt fünf Meter höher ist als heute.

Jennifer Jacquet

Unser kollektiver blinder Fleck

Dozentin für Umweltwissenschaften an der New York University; Autorin von Scham. Die politische Kraft eines unterschätzten Gefühls

 

 

Wissenschaftler und Medien gehen neue Wege bei der Betrachtung der Frage, wer für den menschengemachten Klimawandel verantwortlich ist. Dieser erweiterte Verantwortungsbegriff ist eine der wichtigsten Neuigkeiten unserer Zeit, denn wer als Verursacher dieses Problems identifiziert wird, hat auch die Pflicht, bei der Lösung zu helfen.

In den ersten Phasen der Klimaverantwortlichkeit konzentrierte man sich auf den Treibhausgasausstoß der einzelnen Länder und zeigte Unterschiede zwischen entwickelten und in Entwicklung befindlichen Ländern auf (ein Unterschied, der nicht mehr so ausgeprägt ist, weil China und Indien mittlerweile zu den drei Ländern mit dem höchsten Schadstoffausstoß gehören). Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts verengte sich der Blick dann – zumindest in den USA – auf den individuellen Konsumenten. Im zweiten Jahrzehnt des Jahrhunderts fiel das Augenmerk jedoch auf die industriellen Produzenten, nicht nur wegen ihrer Rolle beim Treibhausgasausstoß, sondern auch aufgrund ihrer gemeinsamen Anstrengungen, die Öffentlichkeit bezüglich der wissenschaftlichen Forschung zum Klimawandel hinters Licht zu führen und Vorstöße der Politik zu verhindern.

Obwohl wir traditionell die Produzenten für Schadstoffe verantwortlich gemacht haben, wie bei Gift- und Sondermüll üblich, folgte eine Debatte über die Frage, ob es gerecht sei, die Last der Verantwortung für den Treibhausgasausstoß von der Nachfrage- auf die Angebotsebene zu verschieben. Im Zuge neuerer Forschungen wurde aufgedeckt, wie einige im Bereich der fossilen Brennstoffe tätigen Unternehmen auf die Klimaforschung reagierten, was dazu führte, dass man den Produzenten eine größere Schuld zuwies. Seit den späten 1980er Jahren, als die Gefahren des Klimawandels immer deutlicher zu werden begannen, finanzierten eine Reihe von Konzernen Projekte, die sich bemühten, die Erkenntnisse der Klimaforschung zu bestreiten, um die Zukunft der fossilen Brennstoffe zu sichern. Produzenten beeinflussten die Ansichten und Vorlieben der Öffentlichkeit.

Ein Grund für die aktuelle Untersuchung des industriellen Einflusses lautet, dass eine wachsende Zahl von Disziplinen (und Interdisziplinen) zur Klimaforschung beiträgt. Zwar gehörten Psychologen zu den ersten, die schlagzeilenträchtige sozialwissenschaftliche Untersuchungen zur Klimaproblematik anstellten (was die Konzentration auf individuelle Verantwortung und Vorlieben erklärt), doch begannen auch Wissenschaftler aus anderen Fachgebieten, beispielsweise aus der Soziologie oder der Wissenschaftsgeschichte, die Rolle der Konzerne und der mitschuldigen Medien zu dokumentieren, denen es nicht gelang, angemessen auf den Klimawandel zu reagieren.

Zwar fand man recht schnell Beweise für die Schuld der Produzenten, dennoch ist und bleibt das Timing dieser Entwicklung beschämend. In den letzten 20 Jahren der Klimakriege wurde den Wissenschaftlern vorgeworfen, schlecht kommuniziert zu haben, Ungewissheiten zu betonen und die Menschen zu belasten oder zu verängstigen. Ich halte keine der Argumentationslinien für besonders überzeugend. Aber das bis vor kurzem herrschende Unvermögen der Forscher und der Medien, die Schwindeleien der Industrie als mitverantwortlich für den Stillstand auf dem Gebiet des Klimas zu durchschauen und aufzuzeigen, stellt deren (unser) größtes Versagen bei der Bekämpfung des Klimawandels dar. Es mag uns gelingen, den industriellen Einfluss auf die Politik sowie die Medien für die Kluft in der öffentlichen Meinung verantwortlich zu machen; das erklärt aber nicht, warum Wissenschaftler und Journalisten den Stellenwert der Konzerne so lange übersehen haben. Nun, da wir erkennen, welche wichtige Rolle die Industrie beim Klimawandel spielt, lassen Sie uns hoffen, dass sich dies nicht zu unserem kollektiven blinden Fleck zurückentwickelt.

Bill Joy

Drei wissenschaftliche Durchbrüche bei der Dekarbonisierung

Mitbegründer und ehemals leitender Wissenschaftler von Microsystems; Emeritus bei Greentech Venture Capital Group and Partner, Kleiner Perkins Caufield & Byers

 

 

Der Klimawandel ist eine gewaltige Herausforderung. Eine rasche Dekarbonisierung der Industrie, der Stromerzeugung und des Verkehrs ist hier von entscheidender Bedeutung und könnte wegen nichtlinearer Effekte zu einer Krise führen. In jüngster Zeit sind – von der Öffentlichkeit kaum beachtet – drei wissenschaftliche Durchbrüche zur Marktreife gelangt, die zu einer deutlichen Beschleunigung der Dekarbonisierung führen könnten.

Dekarbonisierender Zement und Vermarktung von CO2

Nach Wasser ist Beton der mengenmäßig bedeutsamste Baustoff der Welt. Die Herstellung von Portlandzement für Beton ist für 5 Prozent der weltweiten anthropogenen Emissionen verantwortlich. Ein neuer, von Dr. Richard Riman an der Rutgers University erfundener »Solidia-Zement« kann aus denselben Grundstoffen und in denselben Öfen produziert werden wie Portlandzement, aber bei geringeren Temperaturen und unter Verwendung von weniger Kalkstein, so dass seine Herstellung mit deutlich geringeren CO2-Emissionen verbunden ist. Anders als Portlandzement, der zum Aushärten Wasser benötigt, härtet dieser neue Zement unter Aufnahme von CO2 aus. Dadurch reduziert sich der CO2-Fußabdruck bei Erzeugnissen aus diesem Zement um bis zu 70 Prozent. Tausende Tonnen des neuen Zements sind bereits hergestellt worden; außerdem wurde 2015 bekannt, dass große Betonhersteller ihre Anlagen inzwischen umrüsten, um statt Portlandzement diesen neuen Zement bei der Betonproduktion einzusetzen. Sollte das Verfahren weithin Anwendung finden, könnte das die Nachfrage nach industriell erzeugtem CO2 beträchtlich erhöhen und dadurch einen starken ökonomischen Anreiz für die Gewinnung und Wiederverwendung von CO2 schaffen.

Frühere Versuche zur Einführung von Zementen mit deutlich niedrigeren CO2-Emissionen erreichten nicht das Stadium einer Massenproduktion, weil sie nicht überall verfügbare Rohstoffe, teure neue Anlagen und/oder zahlreiche durch Regulierungen oder spezielle Anwendungen vorgegebene Materialeigenschaften erforderten. Solidia-Zement überwindet diese Probleme und bietet eine bessere Leistung bei geringeren Kosten. Eine rasche Übernahme in bestehende Infrastruktur muss aber einfach sein. Und das ist bei dem neuen Zement der Fall, denn hier muss im Produktionsprozess nur ein einziger Schritt verändert werden: das Aushärten mit CO2 statt mit Wasser.

Können wir auch bei anderen mit hohem Energieaufwand produzierten Materialien wie Stahl oder Aluminium hoffen, den CO2-Fußabdruck zu verringern und zugleich die bestehende Infrastruktur weiter zu nutzen? Trotz jahrzehntelanger Forschung ist hier kein Durchbruch gelungen, so dass eine Dekarbonisierung auf diesen Gebieten eine weitaus langwierigere Umgestaltung von Produkten erfordern dürfte, die es möglich macht, weniger energieaufwendige Materialien wie Strukturpolymere und Fasern einzusetzen.

Anpassbare Windturbinen für eine dezentrale Nutzung der Windenergie

Mehr als eine Milliarde Menschen, meist in ländlichen Regionen der Entwicklungsländer, haben keine zuverlässige Stromversorgung. Es wird von großer Bedeutung sein, ob sie ihren Strom aus erneuerbarer Energie oder aus fossilen Brennstoffen erzeugen werden. Windkraftanlagen liefern heute die billigste erneuerbare Energie, allerdings nur in sehr großen Einheiten mit einer Leistung von vielen Megawatt, die sich für eine dezentrale Stromerzeugung nicht eignen. Bei einer geringeren Größe sinkt die Leistung bestehender Windturbinenkonstruktionen beträchtlich ab. 2015 wurde erstmals eine aus mehreren Einheiten bestehende Anlage im mittleren Leistungsbereich (von 100 kW) installiert, die einen neuartigen ummantelten Turbinentyp verwendet, den Walter Presz und Michael Werle von Ogin Energy erfunden haben. Dieses neue ummantelte System pumpt Luft um die Turbine herum, so dass sie sowohl im mittleren als auch im niedrigen Leistungsbereich sowie bei niedrigeren Windgeschwindigkeiten effizient arbeitet und dadurch für eine dezentrale Stromerzeugung und für Mikrostromnetze geeignet ist.

Nach einer neueren Studie erzeugen Windkraft-Großanlagen die billigste erneuerbare Energie, mit nichtsubventionierten Kosten von 80 $/MWh gegenüber 150 $/MWh für Fotovoltaik-Anlagen und 240 $/MWh für Windkraftanlagen mittlerer Größe – zu teuer, als dass sie einen substantiellen Beitrag leisten könnten. Die neuen ummantelten Turbinen erzeugen Strom zur Hälfte der Kosten heutiger konventioneller Turbinen mittlerer Größe und werden hinsichtlich der Kosten mit Windkraft-Großanlagen konkurrieren können, sobald sie in großen Mengen produziert werden.

Wenn wir die Stromerzeugung vollständig dekarbonisieren wollen, müssen wir in gewaltigem Umfang Anlagen zur Erzeugung erneuerbarer Energien installieren und die meisten bestehenden, auf der Nutzung fossiler Brennstoffe basierenden Anlagen stilllegen. Eine Nutzung der Windenergie in großem Umfang lässt sich weitaus schneller, sicherer und billiger verwirklichen als der oft vorgeschlagene Ausbau der Atomkraftwerke und kann zudem noch mit Netzspeichersystemen wie Batterien kombiniert werden, die eine vollständige Regelbarkeit ermöglichen. Wenn wir es mit der Dekarbonisierung ernst meinen, können Turbinen kleiner und mittlerer Größe unter Nutzung der vorhandenen Produktionsinfrastruktur rasch in großen Stückzahlen produziert werden (ähnlich den massiven Produktionssteigerungen während des Zweiten Weltkriegs). Kosteneffiziente Windkraftanlagen in allen Größen bilden eine Ergänzung zu den Fotovoltaikanlagen und können zusammen mit der Netzspeicherung den bereits ausgeprägten Trend in Richtung der erneuerbaren Energien weiter beschleunigen.

Bei Raumtemperatur fester Ionenelektrolyt für Trockenbatterien

Die heutigen Lithium-Ionen-Batterien verwenden einen brennbaren flüssigen Elektrolyten und enthalten in der Regel Materialien, die die Feuergefahr noch vergrößern. Außerdem benötigen die meisten von ihnen teure Metalle wie Lithium, Kobalt und Nickel. Kürzlich wurde bekannt, dass Michael Zimmermann von Ionic Materials einen neuen Polymerelektrolyten erfunden hat – den ersten wirtschaftlich brauchbaren Festkörper, der bei Zimmertemperatur über Ionenleitfähigkeit verfügt. Zudem ist das Polymer feuersicher und erlischt von selbst, wenn man es in Brand setzt. Es erzeugt eine ganz andere chemische Umgebung als Flüssigkeiten und ermöglicht zahlreiche neue Kathodenmaterialien wie etwa Schwefel (der leicht und billig ist sowie eine hohe Kapazität besitzt) sowie auch neue, kostengünstige Metallanoden, so dass auch mehrwertige Ionen wie Zn2+ verwendet werden können. Viele erwünschte Batteriekonstruktionen, die sich mit flüssigen Elektrolyten nicht realisieren lassen, sind dadurch möglich geworden.

Dieser wissenschaftliche Durchbruch, den die Batterie-Industrie erst für die 2030er Jahre erwartet hat, kommt deshalb so gelegen, weil Trockenbatterien nun billiger und sicherer werden und mehr Energie speichern können. Solche Polymer-Trockenbatterien lassen sich mit ausgereiften und kostengünstigen technischen Anlagen aus der Kunststoffindustrie in großen Stückzahlen herstellen.

Fünfzehn Prozent der weltweiten CO2-Emissionen aus fossilen Brennstoffen stammen aus dem Straßenverkehr. Die Fahrzeugflotten Indiens und Chinas werden in den kommenden Jahren beträchtlich wachsen. Ob dieser zusätzliche Energiebedarf durch erneuerbare Energie oder die Verbrennung fossiler Brennstoffe gedeckt wird, ist von großer Bedeutung für die weltweiten Emissionen. Kostengünstige und sichere Batterien mit hoher Kapazität können die Elektrifizierung des Verkehrs und dieser Fahrzeugflotten erheblich schneller voranbringen, als die bescheidenen aktuellen Prognosen dies vorsehen.

Im 21. Jahrhundert müssen wir die Verbrennung fossiler Brennstoffe einstellen. Die Elektrochemie – bessere Batterien wie auch Brennstoffzellen – hat ein sehr viel größeres Potential als gemeinhin erkannt und kann die Verbrennung weitgehend ersetzen.

Es gibt noch weitere auf dem gasförmigen oder dem flüssigen Aggregatzustand basierende Techniken, deren CO2-Auswirkungen sich verringern ließen, wenn es gelänge, sie auf Feststoffe umzustellen – beispielsweise die Kühlung, die generell den Phasenübergang zwischen dem flüssigen und dem gasförmigen Zustand nutzt. Ich hoffe, wir hören bald von einem Durchbruch zu einer feststoffbasierten Kühltechnik, die dann hoffentlich wie die oben genannten Methoden bald in großen Stückzahlen produziert werden kann.

James Croak

Saft

Künstler

 

 

In der einen Hand halten Sie einen Vier-Liter-Kanister Benzin mit einem Gewicht von etwa drei Kilogramm, in der anderen eine knapp 1,5 Kilogramm schwere Batterie; nun stellen Sie sich bitte vor, beides enthielte dieselbe Energie. Achtung, Spoiler: Das ist bereits möglich. Der aufregendste und weitreichendste wissenschaftliche Fortschritt ist die dramatische Erhöhung der Energiedichte elektrischer Batterien, was dazu führt, dass Batterien Benzin und Diesel ersetzen und diese dann die Probleme der nächtlichen Stromversorgung, der Fahrzeugreichweite sowie stillstehender Windräder lösen.

Die Reichweite von Elektroautos erhöht sich mit jedem Jahr um etwa neun Prozent; mittlerweile hat sie einen Punkt erreicht, an dem man sich Rundfahrten vorstellen kann, bei denen kein Abschleppdienst nötig wird. Dennoch war die Öffentlichkeit überrascht, als bei der Green Flight Challenge 2011 ein siebenstelliges Preisgeld an ein Flugzeug vergeben wurde, das, mit einem Passagier besetzt, in weniger als zwei Stunden knapp 322 Kilometer flog und dabei nicht einmal vier Liter Treibstoff verbrauchte. Drei Flugzeuge – zwei elektrische und ein hybrid betriebenes – nahmen am Wettbewerb teil, wobei nur die Elektroflugzeuge innerhalb der festgesetzten Zeit das Ziel erreichten. Der Gewinner kam mit seinem über die Steckdose zu ladenden Elektroflugzeug ohne Verbrennungsmotor durchschnittlich auf etwa 184 Kilometer pro Stunde. Fünf Jahre zuvor erschien so etwas noch wie ein Traum aus einem Science-Fiction-Abenteuerroman à la Tom Swift, weil das Gewicht der Batterien für Flugzeuge zu hoch war – selbst wenn es möglich gewesen wäre, sie im Rumpf zu verstauen. Größe und Gewicht der Batterien sanken, während die Energiedichte stieg.

Mittlerweile erreicht die Energiedichte dieser Batterien einen Höchstwert von 250 Wattstunden pro Kilogramm und damit deutlich mehr als die 150 Wattstunden pro Kilogramm, die noch vor ein paar Jahren erzielt wurden. Dennoch liegt die Energiedichte der Batterien immer noch weit unter der von Benzin, die sich auf 12000 Wattstunden pro Kilogramm beläuft. Ein Unternehmen wird bald eine Batterie mit einer Energiedichte von 400 Wattstunden pro Kilogramm auf den Markt bringen, doch die in Entwicklung befindlichen Batterien könnten die Energiedichte von fossilen Brennstoffen innerhalb der nächsten paar Jahre überholen.

Die aufregendste und am meisten kontraintuitiv erscheinende Batterie ist der Lithium-Luft-Akkumulator, der den für die in seinem Inneren ablaufende chemische Reaktion benötigten Sauerstoff aus der Luft aufnimmt und nach Abschluss der Reaktion wieder an die Luft abgibt. Das sollte uns bekannt vorkommen: Verbrennungsmotoren saugen Luft an und mischen sie mit einem Kraftstoffnebel; die expandierende Luft setzt Energie frei, wird dann aber zusammen mit zahlreichen Schadstoffen in die Atmosphäre ausgestoßen. Die Lithium-Luft-Batterie arbeitet mit festen Materialien und gibt saubere Luft ab. Das MIT hat bereits eine Lithium-Luft-Batterie mit einer Energiedichte von mehr als 10000 Wattstunden pro Kilogramm vorgestellt.

Batterien müssen nicht dieselbe Energiedichte wie Benzin haben, um den Brennstoff zu ersetzen. Die Physik hinter Benzinmotoren ist nicht gerade überzeugend; nur 15 Prozent der Energie in Ihrem Tank wird genutzt, um Ihr Fahrzeug auf der Autobahn anzutreiben, der Rest geht in Gestalt von Wärme, Bewegungsenergie für Motor und Getriebe, Reibung und Leerlauf verloren. In praktischer Hinsicht haben in Laboren eingesetzte Batterien die nutzbare Energiedichte fossiler Brennstoffe bereits überholt und eine Dichte erreicht, die einem Elektroauto mit einfacher Batterie eine Reichweite von etwa 805 Kilometern ermöglicht, einem kleinen Flugzeug wahrscheinlich noch mehr.

Die zweite wesentliche Veränderung liegt darin, dass die höhere Energiedichte einer Batterie den Platzbedarf und die Kosten der Stromspeicherung senkt, wodurch eine Brücke zwischen unregelmäßiger Wind- und Solarenergie sowie der rund um die Uhr bestehenden Kundennachfrage entsteht.

Wenn ein ordentlicher Wind weht, produzieren Windräder eine erstaunliche Menge an Energie; wenn sich kein Lüftchen regt, dagegen nichts. Die Batterien sorgen für eine stabile Stromzufuhr, bis wieder Wind aufkommt. Auf der Windfarm in Elkins, West Virginia, wurde eine neue Batterie installiert, damit die 98-Megawatt-Turbinen nicht aus dem allgemeinen Stromversorgungsnetz ausfallen. Sie liefern schadstofffrei Strom und sind so zuverlässig wie ein konventionelles, mit fossilen Brennstoffen betriebenes Kraftwerk.

Außerdem produzieren solche Elektrizitätswerke mehr Strom als nötig, für den Fall, dass es zu einer stark erhöhten Nachfrage kommt. In der chilenischen Atacama-Wüste wurde eine neue Megawatt-Batterie installiert, die das Stromversorgungsnetz stabilisiert und den Brennstoffverbrauch reduziert.

Die erhoffte grüne Revolution ist plötzlich da, und das erstaunlicherweise dank einer einfachen Batterie. Vor einem Jahrhundert fuhren auf den Straßen mehr strom- als benzinbetriebene Autos umher. Sehr bald werden wir in die Zukunft zurückkehren.

Hans-Ulrich Obrist

Ein Aufruf zum Handeln

Kurator der Serpentine Gallery in London, Autor von Kuratieren!

 

 

Durch die Veröffentlichung einer von Mark Williams u.a. verfassten wissenschaftlichen Arbeit namens »The Anthropocene Biosphere«[1] im Jahr 2015 wurden weitere Beweise für den Umstand vorgelegt, dass die von der menschlichen Zivilisation über das Klima gebrachten Veränderungen ein sechstes Massensterben auslösen werden. Laut dem Geologen Peter Haff, einem der Mitautoren besagter Arbeit, sind wir bereits in eine Phase grundlegender Veränderungen eingetreten, die unsere Welt unter Umständen weiterhin so umwandeln werden, wie wir es uns in unseren kühnsten Träumen nicht vorstellen können. Jeder von uns weiß Anekdoten über die Veränderungen in unserer Umwelt zu erzählen. Im Dezember erhielt ich einen Anruf von einem Freund aus dem schweizerischen Engadin, wo Friedrich Nietzsche einst Also sprach Zarathustra verfasste. Auf einer Höhe von 2000 Metern lag kein bisschen Schnee. Im Hyde Park blühten unterdessen die Narzissen.

Der Künstler, Umweltschützer und politische Aktivist Gustav Metzger weist bereits seit Jahren auf Folgendes hin: Es reicht nicht mehr aus, nur über Ökologie zu sprechen; wir müssen zum Handeln aufrufen. Wir müssen das Potential individuellen und kollektiven Handelns bedenken, um unser Verhalten zu ändern und Strategien zur Anpassung an das Anthropozän zu entwickeln. Metzger sagt, wir müssten uns der anhaltenden Ausrottung von Arten entgegenstellen, selbst wenn die Erfolgschancen letztlich gering seien. Es sei unsere Pflicht und unser Privileg, bei diesem Kampf an vorderster Front zu stehen. Wir müssen das Verschwinden von Arten, Sprachen, ganzen Kulturen bekämpfen und der Homogenisierung unserer Welt Einhalt gebieten. Wir sollten diese Neuigkeit als Teil eines größeren Ganzen begreifen. Der französische Historiker Fernand Braudel plädierte für die longue durée, ein Verständnis von Geschichte, das die historische Bedeutung von »Neuigkeiten« an einen Ort unterhalb der großen, tiefer liegenden Strukturen der menschlichen Zivilisation verbannt. Die Ausrottung ist ein Phänomen, das zur longue durée des Anthropozäns gehört, dessen Symptome wir als Neuigkeiten zu erleben beginnen. Indem wir die Neuigkeiten mit der longue durée verknüpfen, vermögen wir Strategien auszuarbeiten, die unsere Zukunft ändern und die katastrophalsten Ausrottungsszenarien abwenden. Wenn wir die Neuigkeiten verstehen, können wir entsprechend handeln.

Die Kunst ist ein Mittel, mit dem wir existierende Paradigmen umformulieren, um sie neuen Entdeckungen anzupassen; sie ist der Faden, der die Gegenwart mit der Vergangenheit und der Zukunft verbindet, sie ist der Faden, der die Neuigkeiten mit der longue durée verknüpft. Außerdem ist die Kunst ein Mittel zur Wissenssammlung, und wie die Literatur ist die Kunst Neues, das neu bleibt. Als Percy Bysshe Shelley schrieb, dass »Dichter die unbestätigten Gesetzgeber der Welt« seien, meinte er damit etwa Folgendes: Schriftsteller und Künstler gestalten Nachrichten in einer Weise um, die unsere Wahrnehmung der Welt, unser Denken und Handeln verändert.

Zu meinen großen Inspirationen zählt Félix Fénéon. Er war ein französischer Herausgeber, der während des Fin de Siècle lebte (und als Erster in Frankreich James Joyce veröffentlichte), ein Kunstkritiker (er entdeckte die Arbeiten von Georges Seurat und machte sie bekannt) und ein Anarchist (für seinen Anarchismus wurde er vor Gericht gestellt; bekanntlich entkam er der Verurteilung, indem er zur großen Freude der Geschworenen den Staatsanwalt und den Richter satirisch aufs Korn nahm). Fénéon war ein Meister der Verwandlung. Mit seinen Prosagedichten verwandelte er Nachrichten in Weltliteratur. Im Jahr 1906 verfasste er anonym eine Reihe von dreizeiligen Pressemeldungen in Le Matin, die seither Berühmtheit erlangt haben. In diesen kurzen Berichten schrieb er zeitgenössische Geschichten über Mord und Leid in Prosagedichte um, die die Zeit überdauern. Lawrence Durrell machte in Das Alexandria-Quartett aus den kopernikanischen Durchbrüchen Albert Einsteins und Sigmund Freuds Fiktion. Indem wir Ereignisse, die in ihren ersten Auswirkungen vergänglich und örtlich beschränkt sind, ins Universelle und Beständige übertragen, machen wir aus Neuigkeiten Kultur.

John Dos Passos verlieh Ereignissen, die von einer flüchtigen Dringlichkeit gekennzeichnet zu sein schienen, dauerhafte Form. In seiner USA-Trilogie führte er neue Schreibstile ein, die die Erfahrung eines Lebens in einer von der Ausbreitung der Printmedien, des Fernsehens und der Werbung überforderten Gesellschaft einzufangen suchten. In den als »Wochenschau« gekennzeichneten Abschnitten seiner Romane erstellt der Autor Collagen aus Zeitungsausschnitten und Texten beliebter Lieder; andernorts stellt er seine Experimente mit dem von ihm so genannten »Kamerablick« an, eine Technik des Bewusstseinsstroms, die die ungefilterte Aufnahmefähigkeit einer Kamera nachzuahmen versucht – die Kamera macht keinen Unterschied zwischen Wichtigem und Unwichtigem. Später wird dieses Material in Geschichten umgewandelt. Nach dem Filmemacher Adam Curtis beschrieb die USA-Trilogie

die große Dialektik unserer Zeit, die zwischen der individuellen Erfahrung und der Umwandlung dieser Fragmente in Geschichten besteht, […W]enn man ein Erlebnis hat, weiß man zunächst nicht, was das bedeutet. Erst später, auf dem Heimweg, fügt man diese Fragmente wieder zu einer Geschichte zusammen. Individuen tun das ebenso wie die Gesellschaft. Darüber haben die großen Romanciers des 19. Jahrhunderts geschrieben, beispielsweise Lew Nikolajewitsch Tolstoi. Sie schrieben von dieser Spannung zwischen der Art und Weise, in der jemand selbst von einem Erlebnis berichtet, indem er auf Fragmente zurückgreift, und der Art und Weise, in der das dann die Gesellschaft tut.

Die libanesisch-US-amerikanische Dichterin, Malerin, Romanautorin, Urbanistin, Architektin und Aktivistin Etel Adnan nennt die Verwandlung »eine wunderschöne Kombination einer dauerhaften Unterlage und eines sich verändernden Etwas auf diesem Grund. Die Verwandlung trägt die Ahnung einer Kontinuität in sich.« In ihren Augen beschreibt die Verwandlung die Beziehung zwischen der longue durée der Geschichte, aktuellen Nachrichten und Handlungen, die die Zukunft zu ändern vermögen. Sie zeigt uns, wie der Dialog neue Strategien herbeiführen kann, die den Unterschied bewahren und beim Kampf gegen die Ausrottung helfen, bei gleichzeitiger Anerkennung der Tatsache, dass Veränderung unvermeidlich ist. Sollen wir radikale neue Strategien entwerfen, um eine der wichtigsten Fragen unserer Zeit zu klären, so müssen wir die Angst überwinden, Wissen aus verschiedenen Fachrichtungen zu bündeln. Wenn wir nicht Wissen bündeln, sind Nachrichten nichts als Nachrichten: Jedes Jahr werden uns Berichte über eine weitere tote Sprache, eine weitere ausgestorbene Art erreichen. Während ich diesen Text schreibe, trifft eine E-Mail von Etel Adnan ein, die diesen Sachverhalt in einem Gedicht wunderschön zum Ausdruck bringt:

WOHIN WANDERN NACHRICHTEN?

 

Nachrichten wandern dorthin, wo Engel hingehen

Nachrichten wandern in die Abfalleimer ausländischer Botschaften

Nachrichten wandern in den kosmischen Müll, zu dem das Universum geworden ist.

Nachrichten wandern (leider) in unsere Köpfe.

Koo Jeong-A

Eine Brücke zwischen dem 21. und dem 22. Jahrhundert

Konzeptkünstlerin

 

 

Aristoteles diskutierte den Magnetismus mit Thales von Milet. Die Medizin aus dem Orient bezieht sich auf Meridiankreise und nahm unter Einsatz des Magnetfeldes Behandlungen vor, bevor die Akupunkturnadel in der Eisenzeit erfunden wurde. Der italienische Philosoph Benedetto Croce schrieb: »Geschichte ist gegenwärtige Geschichte.« Der kryptographische Charakter des Magneten – der bei Computernetzwerken, medizinischen Geräten und Weltraumexpeditionen aufgrund von elektromagnetischen Feldern bedeutsam ist, die unzählige kulturelle Mittel in unserem vollgestopften Zeitalter miteinander verbinden – wird als schickliche Brücke zwischen dem 21. und 22. Jahrhundert weiterhin zu Neuerungen führen. Fern von extremer Spaltung könnte magnetbasierte Technik unserer Welt den Frieden bringen.

Richard Muller

Die größte Umweltkatastrophe

Physiker an der University of California in Berkeley, Autor von Physik für alle, die mitreden wollen. Über Atomkraft, schmutzige Bomben, Weltraumforschung, Solarenergie und die globale Erwärmung und Jetzt.Die Physik der Zeit

 

 

Die Neuigkeiten aus China sind erschreckend. Nach zuverlässigen Schätzungen sterben dort durchschnittlich 4400 Personen am Tag an den Folgen der Luftverschmutzung. Das sind 1,6 Millionen Menschen im Jahr. Jedes Mal, wenn ich in den Schlagzeilen von einer Tragödie lese, beispielsweise einem Erdrutsch in Shenzhen, bei dem 200 Menschen ums Leben kamen, denke ich mir: »Ja – außerdem starben heute 4400 Menschen an den Folgen der Luftverschmutzung, und das schaffte es nicht in die Nachrichten.«

Hier geht es nicht um die alte Luftverschmutzung von gestern, die einem die Tränen in die Augen trieb und den Rachen reizte. Der heutige Luftverschmutzer heißt PM2.5 – Feinstaub von 2,5 Mikrometern und kleiner. Feinstaub wird von Autos ausgestoßen, entsteht auf dem Bau oder in der Landwirtschaft, doch der bei weitem größte Anteil entsteht bei der Verbrennung von Kohle, entweder in der Industrie oder bei der Stromerzeugung. Bis 1997 hatte die US-amerikanische Umweltschutzbehörde den Feinstaub noch nicht einmal als bedeutenden Schadstoff in ihr Verzeichnis aufgenommen. Er war zwar bekannt; es fehlten jedoch ausreichende Belege für seine Tödlichkeit.

Mittlerweile wissen wir, dass eine solche Luftverschmutzung an einem schlechten Tag in Peking den Menschen ebenso schadet wie der Konsum von zwei Packungen Zigaretten am Tag. Luftverschmutzung löst Schlaganfälle, Herzinfarkte, Asthma und Lungenkrebs aus. Betrachtet man die Todesursachen in China, fällt ein erstaunlich hoher Anteil solcher Todesarten auf, trotz der Tatsache, dass die Fettleibigkeit anders als in den USA nicht sehr verbreitet ist.

Wir kennen die Auswirkungen auf unsere Gesundheit aus einer Reihe bemerkenswerter Studien. Als Fabriken und Kohlekraftwerke im Zuge der Sechs-Städte-Studie von 1993 vorübergehend abgeschaltet wurden, konnten wir in den USA eine Abnahme von gesundheitlichen Problemen erkennen. In China haben wir die Huai-Fluss-Studie, bei der die chinesischen Behörden den nördlich des Huai-Flusses siedelnden Familien kostenlos Kohle zur Verfügung stellten, den im Süden dagegen nicht. Im Norden führte das zu einer Reduktion der durchschnittlichen Lebenserwartung um fünfeinhalb Jahre.

Ebenso erstaunlich ist der offene Umgang der Chinesen mit den Daten zur Luftverschmutzung. Stündlich veröffentlichen die chinesischen Behörden im Internet mehr als 1500 überall im Land angestellte Messungen der PM2.5-Werte (neben PM10, SO2, NO2 und Ozon). China mag in vielerlei Hinsicht eine geschlossene Gesellschaft sein, aber das Land scheint nach Hilfe zu rufen. Wir vom Berkeley-Earth-Surface-Temperature-Projekt laden seit eineinhalb Jahren all diese Werte herunter. Wie sich die Werte hoher Luftverschmutzung verteilen, ist inzwischen klar. Sie beschränken sich nicht etwa nur auf die großen Städte und deren Einzugsgebiete, sondern sind weitverbreitet und so gut wie unvermeidlich. 97 Prozent aller Chinesen atmen Luft ein, die von der US-amerikanischen Umweltschutzbehörde im Schnitt als »ungesund« eingestuft wird. Das demokratische Indien meldet dagegen nur wenige Feinstaubmesswerte. Ich nehme an, dass solche Messwerte existieren, aber nicht veröffentlicht werden. Die Messwerte für Delhi werden indessen veröffentlicht, und nahezu jedes Mal wenn ich nachsehe, ist die Luftverschmutzung dort schlimmer als in Peking.