Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Christoph von Campenhausen (*1936) beschäftigte sich beruflich mit der Neurobiologie von Tieren und Menschen. Er studierte an den Universitäten Tübingen, Heidelberg, Kiel und Göttingen, promovierte 1963 in Tübingen mit einer im Max-Planck-Institut für Biologische Kybernetik angefertigten Arbeit über einen lichtempfindlichen Muskel. Danach Research Fellow am California Institute of Technology in Pasadena/California/USA (1963-1965), Habilitation für Zoologie (1969) und Wiss. Rat u. Prof (1971) an der Universität in Köln, von 1972 bis 2004 Professor für Zoologie (Fachrichtung: Neurobiologie) an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz. Arbeitsgebiete: Psychophysik, Sinnes- und Verhaltensphysiologie bei Tieren und Menschen, insbesondere Farbensehen und Orientierungsleistungen. Mitglied des Leitungskreises für das Naturwissenschaftlich-Philosophische Kolloquium der Universität Mainz, diverse kirchliche Ehrenämter.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 499
Veröffentlichungsjahr: 2017
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Vorwort
Vom Einfluss der Neurobiologie auf das menschliche Selbstverständnis
Menschen, Tiere und Maschinen
Neurobiologie im Zwielicht
Irrlehren und Ausblick
Leib und Seele
Materialien zu Leib und Seele
Leib und Seele als Problem der Wissenschaft
2.a Die Qualia und die Naturwissenschaft
2.b Psychophysische Beziehungen als Übersetzungsproblem
Zerlegung des psychophysischen Problems
Früher vermutete Erkenntnisgrenzen beim Leib-Seele-Problem
4.a Methoden begrenzen die Forschungsergebnisse
4.b Exkurs über die weltanschaulichen Voraussetzungen des Leib-Seele-Problems bei Emil Du Bois-Reymond
4.c Irrungen und Wirrungen
Reduktionismus als Irrlehre
5.a Reduktionismus als Vorwurf und als Arbeitsprogramm
5.b Die phänomenologische Begründung des Reduktionismus-Vorwurfs
Philosophische Theorien zum Leib-Seele-Problem
6.a Vorbemerkung
6.b Drei Leib-Seele-Theorien
6.c Was kann man von einem Vergleich der Theorien lernen?
Der Zusammenhang von Leib und Seele vorgeführt am Beispiel des Farbensehens
Psychophysik des Farbensehens im Überblick
1.a Naturwissenschaftliche Aspekte
1.b Philosophische Probleme des Farbensehens
Die subjektive Farbenwelt: Das Ästhetische Farbsystem
Objektive Aspekte des Farbensehens
3.a Körperfarben und die Farben des Lichtes
3.b Der Wahrnehmungsvorgang für Farben im Überblick
3.c Die Trichromatische Theorie des Farbensehens
3.d Das Physiologische Farbsystem
3.e Beweis für die formale Übereinstimmung des Physiologischen mit dem Ästhetischen Farbsystem
Körperfarben und Farbkonstanz
4.a Die Körperfarben, das Himmelslicht und das Problem der Farbkonstanz
4.b Der Beitrag der chromatischen Adaptation zur Farbkonstanzleistung
4.c Helligkeitskonstanz
4.d Die Retinextheorie für die Farbkonstanzleistung
4.e Licht, Schatten und die parallele Informationsverarbeitung im Auge und Gehirn
Warum können wir Farben sehen?
Bilanz des Gewinns vom Farbensehen für das Verstehen von Leib und Seele
6.a Warum der Umweg durch das Farbensehen?
6.b Psychophysische Zusammenhänge sind nicht in jeder Richtung durchsichtig
6.c Repetitorium zum Erkenntnisgewinn durch das Farbensehen
Vorsicht! Farben verführen zu befremdlichen Theorien
Über die Weiterentwicklung der Wahrnehmungsfähigkeiten
Biologische Begründung der persönlichen Individualität
Zielbestimmung für dieses Kapitel
Das Innere Umweltmodell (IUM)
2.a Zur Einführung: Das IUM der blinden mexikanischen Höhlenfische
2.b Umgebung, Umwelt und die Idee des Inneres Umweltmodells (IUM)
Kulturelle Aspekte des IUMs
3.a Zusätzliche Information, die das IUM zur Verfügung stellt
3.b „Erlernt oder angeboren“ ist eine falsche Alternative. Die Sprache als Beispiel
Das Innere Umweltmodell (IUM) als Modell der Wirklichkeit
4.a Die subjektive und objektive Seite des IUMs
4.b Emanzipation zum eigenständigen Verhalten
4.c Modell und Wirklichkeit
4.d Das menschliche Selbstverständnis und das Innere Umweltmodell (IUM)
Die Zeit im Inneren Umweltmodell (IUM) und in der Außenwelt
Das Innere Umweltmodell (IUM) als Ursprung von intuitivem und rationalem Verhalten
6.a Intuition und Rationalität
6.b Die perspektivische Täuschung der divergierenden Sonnenstrahlen
6.c Die Kalt/Warm-Täuschung des Drei-Schalen-Versuchs
6.d Intellektuelle Fehleinschätzungen
6.e Die Weisheit der Intuition
Die menschliche Person
7.a Zusammenführung von Mitteilungen dieses Kapitels
7.b Menschen sind von Natur aus individuell verschieden: körperlich und geistig.
Neurobiologische Grundlagen zum Person-Sein
8.a Lernen und Gedächtnis.
8.b Motivationen, Emotionen, Stimmungen
8.c Einzelheiten zur Neurobiologie des Inneren Umweltmodells (IUM)
Wissenschaft und Religion
Lösbare und unlösbare Probleme
Wissen, Glaube, Weltanschauung
Die äußere Wirklichkeit, das Innere Umweltmodell (IUM) und die Weltanschauungen
3.a Anpassung der IUMe an die Wirklichkeit
3.b Probleme mit der Vergänglichkeit der Weltanschauungen
Das Retortenbaby als Beispiel für die Geschichte eines Konflikts zwischen Wissenschaft und Weltanschauung
Religion
5.a Naturwissenschaft und Religion
5.b Außenansichten der Religionen
5.c Innenansicht der Religion
5.d Anmerkungen zur Natürlichkeit der Religionen
5.e Konstruktive und destruktive Religionskritik
5.f Verhaltensbeobachtungen im Blick auf Religion
5.g Religiöse Modellvorstellungen der Wirklichkeit
Die Unterscheidung von Wissenschaft und Weltanschauung fällt oft schwer
Das von der Neurobiologie unterwanderte religiöse Selbstverständnis
„Die Erziehung des Menschengeschlechts“
8.a Eigene und fremde Glaubensvorstellungen
8.b Zielvorstellungen und Nebenwirkungen
8.c Einige Beobachtungen zum friedlichen Sozialverhalten
8.d Anmerkungen zu Krieg und Frieden. Rotes Kreuz
Folgerungen für die persönliche Einstellung zur eigenen und zu fremden Religionen
9.a Bündelung von naturgegebenen Voraussetzungen der Religionen
9.b Wie soll man sich bei religiösen Auseinandersetzungen verhalten?
Menschen, Macht und die höheren Werte
Anmerkungen zur persönlichen religiösen Lebenspraxis
Weitere biologische Einzelheiten zum besseren Verständnis der Menschen
Den Einzug naturwissenschaftlicher Vorstellungen in das menschliche Selbstverständnis kann man nicht aufhalten
Gedanken über den Tod
Gedanken über das Leben
3.a Was ist Leben?
3.b Anmerkungen zur umgangssprachlichen Bedeutung des Wortes „Leben“
3.c Komplexität der molekularbiologischen Lebensvorgänge
3.d Zufall und Notwendigkeit
3.e Zusammenfassung: Leben, ein dynamischer Ordnungszustand der Materie
Evolutionstheorie
4.a Darwinismus und Schöpfungsglaube
Wahrheit und Lüge
Literaturverzeichnis
Personen- und Sachverzeichnis
Personenverzeichnis
Sachverzeichnis
„Kein Ding sieht so aus, wie es ist. Am wenigsten der Mensch.“1
Mit diesen Sätzen leitete Wilhelm Busch seine kurze Autobiographie ein. Viele Menschen glauben, sie seien Experten, wenn schon nicht für das Wissen der ganzen Menschheit, so doch für ihr eigenes Selbstverständnis. Tatsächlich wissen die Menschen erstaunlich wenig über sich. Sie haben sich nicht selbst erfunden. Darum gibt es für Menschen weder Konstruktionspläne noch Bedienungsanleitungen. Aber die Wissenschaft hilft weiter. Die Biologie lehrt, dass die Menschen nicht alle gleich sind. Man kann ihnen nicht ansehen, was in ihnen steckt und was noch aus ihnen werden könnte. Außerdem entwickeln sie sich immer weiter. Darum ist jeder Mensch physisch und psychisch eine unverwechselbare Person. Das Interesse am eigenen Körper, den menschlichen Verhaltensweisen und den kulturellen Errungenschaften und nicht zuletzt an der Begründung des persönlichen Selbstverständnisses ist groß. Darum denken Menschen viel über sich selbst nach und entwickeln weltanschauliche Vorstellungen über Ursprung und Ziel sowie Sinn und Zweck ihres Daseins.
Es gibt viele natur- und geisteswissenschaftliche Disziplinen, die sich mit der Erforschung der Menschen befassen, und demensprechend auch viele Fachleute mit Spezialkenntnissen. Trotz des gemeinsamen Forschungsgegenstandes fällt es aber gerade den Fachleuten schwer, einander zu verstehen. Sie errichten lieber unüberwindbare Erkenntnis-Grenzen zwischen ihren Fachgebieten, als dass sie das Wissen erarbeiten, das nötig wäre, um zu verstehen, was die jeweils anderen Gelehrten treiben. Die Grenzen zwischen ihren Disziplinen verteidigen sie mit heiligem Ernst wie Festungsmauern.
Den Neurobiologen geht es weniger darum, die Probleme zu lösen, mit denen sich die Menschheit schon beschäftigte, als es noch keine Neurobiologie gab, als vielmehr um die Untersuchung spezieller Zusammenhänge von mentalen Erlebnissen mit neuronalen Vorgängen im Gehirn. Mit der Aufklärung psychophysischer Beziehungen waren die Neurobiologen in Einzelfällen bereits sehr erfolgreich. Um das zu verstehen, muss man in den jeweiligen Fachgebieten auf beiden Seiten der psycho-physischen Beziehungen sachkundig sein.
Von mentalen Vorgängen und subjektiven Befindlichkeiten wird oft mit pauschalen Argumenten behauptet, dass sie mit naturwissenschaftlichen Methoden nicht aufzuklären seien, obwohl das Arbeitsprogramm der Neurobiologie gerade darin besteht, subjektiv Erlebtes auf neuronale Vorgänge zurückzuführen. Manchmal ist abfällig von „den Versprechungen der Neurobiologie“ die Rede, so als ob alle Vertreter dieses Fachgebietes ihre Erkenntnis-Möglichkeiten überschätzten. Die Wahrheit über Menschen zeigt sich weniger in Prinzipien, die mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit daherkommen, als in speziellen Forschungsergebnissen, die wegen ihrer Überprüfbarkeit für alle Menschen verbindlich gelten und mit hinreichender Sachkenntnis auch zu verstehen sind. Der Einfluss von neurobiologischen Erkenntnissen dieser Art auf das menschliche Selbstverständnis wird oft unterschätzt.
Dementsprechend werden in diesem Buch keine Probleme allgemeiner Art gelöst und es wird auch kein revolutionäres Programm entwickelt. Es werden vielmehr viele spezielle Beobachtungen und Forschungsergebnisse angesprochen, die zeigen, dass der Zusammenhang zwischen mentalen und neuronalen Vorgängen keineswegs unverstehbar ist. Die Beziehungen zwischen der real existierenden Welt und den Vorstellungen, die wir uns von ihr machen, können nur Schritt für Schritt durch viele neurobiologische Einzelerkenntnisse aufgeklärt werden. Die Ergebnisse dieses Bemühens machen sich bereits im menschlichen Selbstverständnis bemerkbar und werden in diesem Buch bis in den Bereich der Religionen verfolgt.
Es ist vorhersehbar und wurde auch schon von einigen Lesern des Manuskripts bestätigt, dass nicht jeder alle Kapitel mit gleicher Sorgfalt lesen wird. Darum wurden in den Text außer gelegentlichen Querverweisen auch einige Redundanzen eingebaut, die dem Leser erlauben, einzelne Abschnitte zu überspringen. Schön wäre es, wenn er oder sie den Gesamtzusammenhang der mannigfaltigen Mitteilungen trotzdem nicht aus dem Auge verlieren würde.
Der Autor dankt den bisherigen Lesern für Kritik und Ratschläge und insbesondere seiner Frau für die Geduld, mit der sie seine Monologe ertragen und mit klugen Anmerkungen ergänzt hat. Nicht zuletzt dankt er seinem langjährigen wissenschaftlichen Weggefährten Dr. Jürgen Schramme, der ihm wie schon oft zuvor bei der Herstellung der Bilder mit Rat und Tat geholfen hat.
Mainz am 4. April 2017
Christoph von Campenhausen
1 Wilhelm Busch (1886). Anfang der Schrift: „Von mir über mich“.
Zoologen sind Glückskinder. Sie können davon ausgehen, dass sich fast alle Menschen für ihre Wissenschaft interessieren. Die einschlägigen Schriften von Aristoteles (384–322 v. Chr.) bis hin zu Brehms und Grzimeks Tierleben aus dem 19. und 20. Jahrhundert werden auf der ganzen Welt in vielen Sprachen gelesen. Im Fernsehen erzielen Tiersendungen hohe Einschaltquoten. Tiere waren für Menschen schon immer wichtig – als gefährliche Feinde, als mögliche Beute und seit einigen Jahrtausenden auch als gezähmte Nutztiere. Zu Hunden, Pferden und anderen Haustieren entwickeln Menschen freundschaftliche Beziehungen. Sie sprechen mit ihnen wie mit kleinen Kindern. Sie beobachten hingebungsvoll ihre artspezifischen Besonderheiten und lassen sich auch gerne darüber belehren. Dass es Unterschiede zwischen Menschen und Tieren gibt, bestreitet niemand. Unterschiede schließen aber Gemeinsamkeiten nicht aus.
Auf die lächerliche Ähnlichkeit von Affen und Menschen muss man niemanden aufmerksam machen. Das sehen Kinder im Zoo schon von alleine. Bereits Aristoteles fand gute Gründe dafür, den Menschen in das System der Tiere einzuordnen. Spätere Gelehrte konnten die Richtigkeit dieser Entscheidung immer nur bestätigen. Heute kann man die genetische Verwandtschaft durch Untersuchung der Erbinformation studieren, die bei allen Lebewesen, die man kennt, in Nukleinsäure-Molekülen verschlüsselt ist. Was Menschen mit anderen Lebewesen gemeinsam haben, kann man mit naturwissenschaftlichen Methoden erforschen.
Was die Menschen von den anderen Lebewesen unterscheidet, beruht auf Überlegungen anderer Art. Immer schon wird den Menschen eine Sonderstellung in der Natur zugeschrieben. Als Begründung werden in der Regel ihre geistigen Fähigkeiten angeführt. Prägend ist aber auch das nicht weiter hinterfragte überlieferte kulturelle Selbstverständnis der Menschen. Die Anfänge kann man bis in älteste Schöpfungsmythen der Menschheit zurückverfolgen. In der Bibel wird der Mensch als Gottes Ebenbild gedeutet.2 Damit wird seine Sonderstellung in der Natur begründet. Daraus folgt u. a., dass man Menschen nicht töten darf.3 In abendländischen Kulturen sind die meisten Menschen von ihrer singulären Einzigartigkeit in so hohem Maße überzeugt, dass ihnen alles, was Menschen mit Tieren verbindet, unwichtig zu sein scheint. In dieser geistigen Tradition gelten Vergleiche von Mensch und Tier als wenig aufschlussreich und schon eher als Angriff auf die Menschenwürde. Die wissenschaftlichen Fächer, die diese kulturelle Einstellung pflegen oder wenigstens begünstigen, werden oft unter der Sammelbezeichnung Geisteswissenschaften4 zusammengefasst.
Dass Tiere und Menschen manches gemeinsam haben und sich trotzdem in anderer Hinsicht unterscheiden, ist eigentlich nicht schwer zu verstehen. Trotzdem wollen manche Denker unbedingt eine klar definierte Grenze zwischen Tier und Mensch ziehen. Davon erhoffen sie sich Argumente für die Sonderstellung der Menschen in der Welt sowie für eine angemessene Regelung ihres Umgangs mit Tieren, den Tierschutz oder die Frage nach Tierrechten in Analogie zu Menschenrechten. Auch Männer und Frauen haben vieles gemeinsam, obwohl sie genetisch, morphologisch und in ihrem Verhalten mehr oder weniger verschieden sind, so dass die subjektive und die rechtliche Zuordnung manchmal zum Problem wird. Leider kann man die Genderprobleme und übrigens auch den Rassismus und den Sexismus nicht aus der Welt schaffen, indem man entweder die real existierenden Unterschiede oder die Gemeinsamkeiten leugnet.5
Um Klarheit zu schaffen, befragt man gern die Wissenschaft. Aber von dort kommt bis jetzt kaum Hilfe. Es gibt vielmehr zwei entgegengesetzte akademische Ansichten, eine zoologische, in der die biologischen Gemeinsamkeiten von Tieren und Menschen den Vorrang vor den Unterschieden genießen, und eine abendländisch-kulturelle, nach der die prinzipielle Verschiedenheit allen Gemeinsamkeiten vorgeordnet ist. Eine weiterführende Sicht auf das Tier-Mensch-Verhältnis ist erstrebenswert. Die Verständigung zwischen den Vertretern der Natur- und Geisteswissenschaften ist allerdings erfahrungsgemäß schwierig. Jede wissenschaftliche Disziplin beansprucht für sich die Deutungshoheit in grundsätzlichen Angelegenheiten. Man sollte aber die Hoffnung nicht aufgeben, dass sich neue Ansätze für einen interdisziplinären Gedankenaustausch finden lassen, die mehr Klarheit in die Beziehung zwischen Mensch und Tier bringen. Dazu will diese hoffentlich allgemeinverständliche Abhandlung einen Beitrag leisten.
Die Menschen haben sich immer schon für die Zusammenhänge und Unterschiede von Mensch und Tier interessiert. So wurde beispielsweise die Darstellung menschlicher Charaktere in der Gestalt von Tieren zu einer hohen Kunst entwickelt. Man denke nur an die Fabeln des Äsop (um 600 vor Christus), von Jean de la Fontaine (1621–1695) oder an die mittelalterlichen Geschichten von Reineke Fuchs, die Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) nachdichtete. In diesen menschlichen Tiergeschichten kommen die verbindenden und trennenden Eigentümlichkeiten von Menschen und Tieren gleichermaßen zum Vorschein. Auch die bildende Kunst kennt Mischwesen aus Menschen und Tieren wie die Sphinxe, Kentauren oder Meerjungfrauen mit Fischschwanz. Bewusstsein und Geist wurden immer schon nicht nur den Menschen zuerkannt, sondern auch bei Tieren vermutet. Poeten und Tierfreunde reden deshalb unwidersprochen von Angst, Freude und Schmerz der Tiere wie auch von ihren Befindlichkeiten wie Hunger und Durst, Mutterliebe oder Bewusstsein.
Heute benutzen auch die Verhaltensforscher diese menschliche Terminologie. Sie wissen, dass man am Seelenleben anderer Lebewesen nicht unmittelbar teilnehmen kann. Der subjektive Lebensbereich ist bekanntlich eine individuelle Privatangelegenheit, jedenfalls von außen nicht einfach einsehbar. Wenn man sich vorstellen will, wie anderen zumute ist, was sie denken und fühlen, muss man noch immer von den eigenen subjektiven Erlebnissen auf die der anderen schließen. Das gilt für die Mitmenschen, für Tiere und sogar für Maschinen. Es gibt bekanntlich lernende Automaten mit Informationsspeichern und der Fähigkeit, Entscheidungen zu fällen. Auch bei diesen Geräten ist die innere Informationsverarbeitung von außen nicht erkennbar. Darum können Schach-Computer ihre menschlichen Gegner überlisten und schlagen. So gibt es auch zwischen Lebewesen und Maschinen nicht nur Unterschiede, sondern auch Gemeinsamkeiten.
Wenn man die Unterschiede zwischen Maschinen und Menschen suchen möchte, sollte man nicht bei den molekularen Vorgängen in den lebenden Zellen anfangen. Diese kann man nämlich von unbelebten Prozessen nicht unterscheiden. Die Herstellung einer künstlichen Zelle mit Eigenschaften, die man von natürlichen Zellen kennt, wäre beim heutigen Stand der Forschung ein experimentelles Kunststück, aber nicht unmöglich. Unter dem Stichwort „Synthetische Biologie“ wird darüber diskutiert. Es gibt bereits viele erfolgreiche von der Natur kopierte molekulare Maschinen und genetisch veränderte Lebewesen, die dem Menschen dienen, z. B. bei der Herstellung bestimmter Chemikalien. Weil ihre Herstellung viel Geld kostete, möchte man die Eigentumsrechte an ihnen schützen. Ob man Lebewesen patentieren darf, ist allerdings umstritten.
Zur Bestimmung der Unterschiede von Maschinen und Menschen muss man nach anderen Ansätzen suchen. Von Maschinen kennt man für gewöhnlich einen Konstruktionsplan und den Zweck, für den sie gebaut wurden. Weil somit Sinn und Zweck von Maschinen normalerweise bekannt sind, kann man prüfen, ob sie die vorgesehenen Aufgaben dem Zweck entsprechend erfüllen. Je nach Ergebnis kann man sie benutzen, reparieren oder mitleidlos entsorgen. Dass das beim Umgang mit Menschen nicht üblich ist, darf als bekannt vorausgesetzt werden. Es lässt sich aber auch begründen.
Tatsächlich kennt man von den Menschen und allen anderen Lebewesen weder den Ursprung noch Sinn und Zweck ihrer Existenz. Das muss man nicht als Mangel auffassen. Es ist vielmehr die Voraussetzung dafür, dass Menschen sich selbst über den Sinn ihres Daseins Gedanken machen und dass sie ihre vorfindlichen Begabungen weiterentwickeln können. Man wüsste selbstverständlich gerne, worin Sinn und Zweck des Menschseins bestehen. Die Frage danach ist aber letztlich unsinnig, weil sie zu keiner erschöpfenden Antwort führen kann. Niemand kann genau wissen, warum und wozu es Menschen gibt. Weil eine vollständige Instruktion dazu nicht zu haben ist, sollte man für teilweise Einsichten dankbar sein. Sie sind besser als gar nichts und reichen trotz ihrer Unvollständigkeit bereits für wichtige Folgerungen aus. Offensichtlich kann und soll man Menschen nicht instrumentalisieren, d. h. man soll Menschen nicht wie Maschinen verwenden und ausbeuten, so als ob man genau wüsste, warum und wofür sie existieren. Selbst wenn die Geschichte der Natur von Anfang an lückenlos bekannt wäre, wüsste man kaum genug, um Sinn und Zweck des Lebens zu begründen. Aber man kann sich darüber Gedanken machen.
Frühe Deutungen für den Sinn des Lebens findet man in den überlieferten Schöpfungsmythen. Die Götter werden darin nach menschlichem Vorbild wie Konstrukteure beschrieben, die wissen, wie, warum und wofür sie die Menschen und Tiere geschaffen haben. So kann man in der biblischen Schöpfungsgeschichte lesen, wie Gott den Menschen nach Art der Töpfer aus vorfindlichem Material hergestellt, ihm das Leben eingeblasen und ihn in seine Aufgaben eingewiesen hat.6 In dieser biblischen Geschichte wird der Mensch als Gottes Ebenbild geschaffen.7 Aber Gott wird auch nach menschlichem Vorbild dargestellt. Nach Homer konstruierte der griechische Gott Hephaistos schöne Mädchen „mit Verstand im Herzen und sprechender Stimme“ mit „Gaben der Götter“.8 Nach mythischen Vorstellungen dieser Art muss man ein Gott sein, um das zu können.
Trotzdem ist der von Menschen geschaffene Homunculus seit der Antike ein unerschöpfliches und geheimnisvolles Thema der schönen Literatur. Auf dem Homunculus liegt kein Segen. In Goethes Faust II wird er von dem streberhaften Gelehrten Wagner in einem Glaskolben hergestellt, aber nicht vollendet. In der Science-Fiction-Literatur tritt der Roboter als unheimlicher und gefährlicher Konkurrent des Menschen auf. In Mary Shelleys Roman „Frankenstein“ rächt sich das missratene Geschöpf an seinem menschlichen Konstrukteur und vernichtet dann selbst sein eigenes trostloses Leben.9 In Treguboffs großem Roman über die Russische Revolution „Der fahle Reiter“10 verwendet der geheimnisvolle Helfer eines Gelehrten für dessen Homunculus lebende Spermien. Hier geht das Experiment gut aus. Das entstehende Mädchen erschreckt anfangs seine Mitmenschen durch seine schnelle Entwicklung, aber es leidet, weil es nicht weiß, ob es ein normaler Mensch ist. Es entwickelt sich dann aber zur kämpferischen Heldin und zuletzt zur liebenden Frau eines vorzüglichen Mannes. Die durch Zufall aus Froscheiern erzeugten Monster in einer Erzählung von Bulgakow11 und die mit Hilfe von Saurier-DNA aus blutsaugenden Insekten im Bernstein wiederhergestellten Bewohner
des Jurassic Park12 sind beängstigende Visionen. Man kann nicht wissen, ob die Menschheit die „Geister, die sie rief“, immer auch wird beherrschen können.
Zusammenfassung: Es gibt Gemeinsamkeiten zwischen Menschen, Tieren und sogar Maschinen. Diese kann man mit naturwissenschaftlichen Methoden erforschen. Gemeinsamkeiten schließen aber Unterschiede nicht aus.
Zunächst soll noch einmal auf ein psychologisches Hindernis für die Verständigung zwischen Vertretern verschiedener Fachgebiete hingewiesen werden. Niemand kann sich in allen wissenschaftlichen Disziplinen auskennen. Jedes Fach hat seine eigene gewachsene Kultur und Terminologie. In jeder Disziplin ist die Beherrschung spezieller Methoden notwendig. Das alles hat Konsequenzen für den interdisziplinären Gedankenaustausch. Es ist viel einfacher, die Kenntnisse, die man im Erfahrungsbereich des eigenen Faches erworben hat, nachdrücklich und mit Überzeugung vorzutragen, als sich auf die komplizierten Tatbestände anderer wissenschaftlicher Disziplinen einzulassen. Wissenschaftler tendieren dazu, ihre Fachgebiete mit grimmiger Rücksichtslosigkeit gegen die Einmischung von Vertretern anderer Disziplinen zu verteidigen. Sie benutzen lieber die Zahnbürste ihrer Kollegen als deren Terminologie. Im Grenzbereich zwischen den Fachgebieten entstehen Gerüchte und Feindbilder, die oft in der Form von Glaubensbekenntnissen vorgetragen und in der Manier religiöser Debatten bekämpft werden. Insbesondere gegen die Neurobiologie sind erstaunliche Vorurteile weit verbreitet. Davon soll hier kurz die Rede sein.
Der Ehrgeiz der Neurobiologen, mehr zu versprechen, als ihr Fach leisten kann, wird oft überschätzt. Der Einfluss ihrer Wissenschaft auf das menschliche Selbstverständnis wird dagegen nur zu oft unterschätzt. Oft wird gefragt, ob die Naturwissenschaften und damit auch die Neurobiologie überhaupt etwas zum menschlichen Selbstverständnis beitragen könne. Die Frage scheint berechtigt zu sein, denn von den messbaren Vorgängen im Gehirn, für die sich die Neurobiologen interessieren, merken die Menschen normalerweise nichts. Wenn man wie die Steinzeitmenschen nichts über Neurobiologie weiß, ist tatsächlich nicht leicht einzusehen, warum sinnes- und neurophysiologische Prozesse für das Verständnis von Wahrnehmen, Denken und Fühlen und vielleicht sogar für das Bewusstsein aufschlussreich sein sollten.
Darum sollen zunächst einige einfache zoologische Einsichten zur Natur des Menschen in Erinnerung gerufen werden. Erst auf der Grundlage dieser unstrittigen Erkenntnisse wird die Frage angegangen, warum die Neurobiologie für das menschliche Selbstverständnis von Bedeutung ist. Dieses Kapitel liefert nur einen Einstieg in die Biologie des Menschen. Man muss mehr wissen, um etwas davon zu verstehen. Spätere Kapitel liefern noch viele hilfreiche Einzelerkenntnisse zum Verständnis der biologischen Grundlagen des Mensch-Seins. Pauschale Behauptungen über die menschliche Natur helfen nicht weiter. Es kommt auf die Einsicht in überprüfbare Tatbestände an.
Es ist kein Geheimnis mehr, dass Menschen vielzellige Lebewesen sind. Bereits dieser einfache Befund ist höchst aufschlussreich. Jede einzelne Zelle zeigt während der Embryonalentwicklung wie auch im erwachsenen Zustand des Menschen verschiedene Verhaltensweisen.13 Die Zellen können sich teilen und im Körper umherwandern, sie können sich miteinander verbinden und wieder voneinander lösen, sie bilden zusammen Organe oder bleiben einzeln und beweglich wie Amöben oder Geißeltierchen. Die Körperzellen kooperieren auf verschiedene Weise miteinander. Ihre Genaktivitäten und die Umsätze in ihrem Stoff- und Energiehaushalt können auf Signale, die von außen in den Organismus gelangen, reagieren. Aber nicht nur die einzelnen Zellen, auch der ganze Mensch kann sein Verhalten ändern und seine physischen und geistigen Fähigkeiten weiterentwickeln. Was die vielen Zellen des Gehirns dabei tun, gelangt nicht ins menschliche Bewusstsein. Darum versteht der Mensch weder sich selbst noch sein Verhalten vollständig. Aber er kann erforschen, was im Nervensystem beim Wahrnehmen, Denken und Fühlen vorgeht.
Die wissenschaftlichen Fächer, die mit dem menschlichen Verhalten befasst sind, werden heute meistens unter der Bezeichnung Neurobiologie zusammengefasst. Dazu gehört die Hirn- und Verhaltensforschung mit der Sinnesphysiologie, Neuroanatomie und -physiologie und nicht zuletzt die Molekularbiologie. Die Grenzen zu weiteren Disziplinen wie Psychologie, Soziologie, Ökologie u. a. sind fließend. Die Neurobiologie entwickelt sich immer schneller. Niemand übersieht mehr alle ihre Teildisziplinen. Damit werden auch die Vorstellungen, die Menschen über sich selbst entwickeln, immer unübersichtlicher, jedenfalls nicht einfacher. Was kann man von der Neurobiologie über den Menschen lernen?
Was ein Mensch sei, kann man, wenn überhaupt, nur historisch erklären. Aber auch damit kommt man nicht beliebig weit. Alle bekannt gewordenen Lebewesen stammen von lebenden Vorfahren ab. Die Anfänge verlieren sich im Dunkel der früheren Naturgeschichte. Von den Menschen kennt man nur ihr gegenwärtiges Übergangsstadium zwischen Vergangenheit und Zukunft, gewissermaßen einen mittleren zeitlichen Ausschnitt14 ihrer Natur- und Geistesgeschichte. Wir wissen nur sehr lückenhaft, warum und wozu sich die Menschen so entwickelt haben, wie sie heute sind. Noch weniger weiß man darüber, was Menschen künftig noch lernen, wissen und tun werden. Der gegenwärtige neurobiologische Forschungsstand macht keine Hoffnung auf ein umfassendes und noch weniger auf ein endgültiges Menschenbild.
Wie weit die neurobiologischen Forschungsmöglichkeiten reichen, ist umstritten. Dass es zu dieser Frage Meinungsverschiedenheiten gibt, ist nicht überraschend. Das kann kaum anders sein, weil sowohl die subjektive Erlebniswelt als auch Bau und Funktion der Sinnesorgane und des Gehirns bekanntlich einigermaßen kompliziert sind. Man muss, wie gesagt, viel wissen, um sich eine angemessene Vorstellung von Leib und Seele zu machen und über ihr Zusammenwirken nachzudenken. Einfache Erklärungen sind selbstverständlich immer erstrebenswert. Für komplexe Tatbestände gibt es aber meistens keine einfachen Erklärungen. Theoretische Überlegungen mit begrifflicher Klarheit und logische Argumente können die Kenntnis neurobiologischer Tatbestände leider nicht ersetzen. Wer an allgemeingültigen Lehrsätzen Halt sucht, wird in der Neurobiologie immer öfter enttäuscht. Spezielle Fachkenntnisse sind unverzichtbar.
Weil nicht klar ist, wohin die neurobiologische Forschung noch führen wird, ängstigen sich manche Menschen vor ihren möglicherweise unerwünschten Folgen. Sie fürchten, dass in der Neurobiologie das spezifisch Menschliche aus dem Blick gerate und darum verloren gehe. Deshalb könne, so argumentieren sie, das Ergebnis dieser Forschung nicht der besser verstandene Mensch sein. Die Neurobiologie sei auf ein maschinenartiges Menschenbild gegründet, das unvereinbar sei mit Freiheit und Menschenwürde. Nur Roboter, nicht aber Menschen seien den Gesetzen der Naturwissenschaften unterworfen. Gehirn und Geist seien qualitativ verschieden. Das eine sei durch das andere nicht erklärbar. Auch deshalb könne der Geist nicht als Folge physiologischer Vorgänge im Gehirn beschrieben werden. Neurobiologen, die trotzdem versuchten, das Bewusstsein, Denken und Fühlen auf Gesetze der Naturwissenschaft zurückzuführen, seien die letzten Deterministen unter den Wissenschaftlern. Für den freien Willen sei in derartigen Vorstellungen kein Platz. Vor der Weltanschauung der Neurobiologen müsse gewarnt werden.15
Die Neurobiologen werden durch die hier angesprochenen Problemanzeigen kaum beunruhigt. Neurobiologen verstehen meistens gar nicht, weshalb ihre Wissenschaft bei Außenstehenden Beunruhigung und derartige Zwangsvorstellungen hervorruft. Sie interessieren sich in der Regel mehr für spezielle und überprüfbare Tatbestände als für weiter reichende, aber spekulative Folgerungen. Die gerade aufgezählten Unterstellungen sind mit den Mitteln der Neurobiologie nicht begründbar. Das kann man leider nicht mit einem einzelnen durchschlagenden Argument beweisen. Man muss sich die Mühe machen, die Einzelheiten der neurobiologischen Forschungsergebnisse zu studieren, um zu verstehen, warum sie für die Menschen wichtig sind. Die Fülle des in diesem Buch Gebotenen sollte ausreichen, um die Bedenken gegen die Neurobiologie zu zerstreuen. Den Einfluss der Neurobiologie auf das menschliche Selbstverständnis sollte man aber auch nicht unterschätzen. Dazu wird in den nächsten Kapiteln noch mehr mitgeteilt werden.
Man darf den Ausführungen dieser Schrift eine aufklärerische Absicht unterstellen. Zu den Errungenschaften der geistesgeschichtlichen Aufklärungsepoche gehörte einstmals nicht nur das Mündigwerden der Menschen in weltanschaulicher Hinsicht, sondern auch die Anerkennung des Wertes wissenschaftlicher Fakten. Letzteres zeigte sich am Aufkommen der Enzyklopädien in der Epoche der Aufklärung. In diesen reallexikalischen Kompendien werden keine weltanschaulichen Prinzipien allgemeiner Art gefeiert, sondern vielmehr der Wert spezieller Dinge und Tatbestände, die man vorfinden und überprüfen kann. Beides ist unverzichtbar, Weltanschauung und Fakten-Wissen. Menschen müssen in ihrem Leben sowohl den Fakten, soweit sie überprüfbar sind, als auch ihren Weltanschauungen vertrauen. Davon wird im Kapitel V. noch ausführlich die Rede sein.
Leider passen die Entdeckungen der Wissenschaft nicht immer zu den überlieferten religiösen oder profanen Weltanschauungen. Man muss deshalb immer mit Konflikten zwischen Wissenschaft und Weltanschauung rechnen. Manchmal vergehen Jahrhunderte, bis die Widersprüche zwischen gewohnten Vorstellungen und neu entdeckten Fakten überwunden werden können. In der Zwischenzeit gibt es zu manchen Problemen kontroverse Ansichten und fortgesetzte Streitereien. Man wünscht sich den Abbau der Spannungen zwischen gegensätzlichen Überzeugungen. Aber die Menschen lösen sich nicht leicht von den Vorstellungen, die sie früher einmal für richtig und wichtig gehalten haben. Das soll mit einigen Beispielen illustriert werden. Ein Anliegen dieser Abhandlung ist die Harmonisierung überkommener Weltanschauungen mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen für das gegenwärtige Stadium der Auseinandersetzung. Die Beispiele werden in der Reihenfolge zunehmender Aktualität vorgeführt.
1. Beispiel: Friedrich Nietzsche (1844-1900) schreibt in seinen „Unzeitgemäße[n] Betrachtungen“16: „Betrachte die Herde, die an dir vorüberweidet: sie weiß nicht, was Gestern und Heute ist, springt umher, frißt, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden an den Pflock des Augenblicks, und deshalb weder schwermütig noch überdrüssig. Dies zu sehen geht dem Menschen hart ein, weil er seines Menschentums sich vor dem Tier brüstet und nach seinem Glück eifersüchtig hinblickt Der Mensch fragt wohl manchmal das Tier: warum redest du mir nicht von deinem Glück und siehst mich nur an? Das Tier will auch antworten und sagen: das kommt daher, dass ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte – da vergaß es aber auch schon diese Antwort und schwieg: so dass sich der Mensch darob verwunderte.“
Was hier im Stile einer Fabel anmutig erzählt wird, ist die Einführung in den zweiten Teil des Buches mit dem Untertitel: „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“. Es geht um Kritik an der Geschichtswissenschaft, genauer: Kritik an dem, was Historiker nach Nietzsches Vorstellung absichtsvoll in ihren Beschreibungen der Vergangenheit zusammenreimen. Sie tun es nach Nietzsche, um die Menschen für die Gegenwart und Zukunft auf bestimmte Traditionen zu verpflichten. Die Möglichkeit zur freien Gestaltung der Zukunft werde dadurch eingeschränkt. Es ist nicht zu leugnen, dass alles, was man tut und plant, durch das historische Wissen angebahnt und in jedem Fall beeinflusst wird. Ob und inwieweit die Historiker die Gestaltungsfreiheit der Menschen einengen, ist eine interessante Frage. Die Geschichte, so kann man die Kritik zusammenfassen, ist viel zu wichtig, um sie den Historikern zu überlassen.
Aber war es notwendig, zur Illustration dieser Gedanken eine Herde von Tieren ohne Gedächtnis zu erfinden? Das widerspricht doch jeder Erfahrung! Hat etwa Nietzsche nie erlebt, wie ein Hund seinen Herrn begrüßt? Schon den heimkehrenden Odysseus soll zuerst sein sterbender Hund erkannt haben.17 Bei Konrad Lorenz18 kann man lesen, wie Graugänse noch nach Jahren ihre inzwischen eingegangenen Familienbindungen sofort lösen, wenn sie wieder mit ihren früheren Lebenspartnern zusammengebracht werden. Bei Vögeln gibt es Gesangstraditionen, die durch Lernen von Generation zu Generation weitergegeben werden.19 Die Beispiele für Gedächtnisleistungen und Traditionen bei Tieren lassen sich vermehren. Die Gegenüberstellung des glücklichen Tieres ohne und des darauf neidischen Menschen mit Erinnerungsvermögen ist blanker Unsinn. Trotzdem eröffnete ein Kirchenhistoriker meiner Universität seine Einführung in die Geschichtswissenschaft, wie er mir versicherte, immer mit dem zitierten Nietzsche-Text. Man sollte in seine gedanklichen Vorstellungen nicht so verliebt sein, dass man versäumt, sie richtig zu begründen.
Das 2. Beispiel betrifft verschiedene Ordnungssysteme des Wissens. Die Menschen wissen viel, aber nur zu oft bringen sie auch viel durcheinander, weil ihnen ein brauchbares Ordnungssystem fehlt. Das Periodische System der Elemente ist eine allgemein akzeptierte systematische Ordnung des Wissens über die chemischen Elemente. Es ist unverzichtbar für Physiker und Chemiker. Andere Ordnungssysteme sind noch strittig. Zur Entwicklung eines brauchbaren Ordnungssystems braucht man die richtigen Unterscheidungskriterien und unanfechtbare Regeln für die Zuordnung der Befunde. Wenn man keine systematische Ordnung zustande bringt, gibt es vielleicht keine, oder man hat noch keine geeigneten Regeln entdeckt. Das soll mit einigen Beispielen illustriert werden.
Viele Zeitgenossen glauben, dass Farben von jedem Menschen anders wahrgenommen werden. Darum könne es, so folgern sie, auch kein allgemeingültiges und für alle Menschen verbindliches Farbsystem geben. Diese Behauptung wurde mit dem Ästhetischen Farbsystem widerlegt. Dieses vollständige System aller möglichen Farben beruht auf dem subjektiven Urteil von Menschen über die mehr oder weniger auffällige Verschiedenheit der Farben. Es ist eine subjektive Farbenordnung und trotzdem für alle farbentüchtigen Menschen gültig. Dass das Ästhetische Farbsystem darüber hinaus formal mit dem Physiologischen Farbsystem (PCS) übereinstimmt, beweist, dass es einen gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen dem mentalen Urteilsvermögen und messbaren neurobiologischen Prozessen geben muss. Mit anderen Worten: Leib und Seele haben mit dem Farbsystem etwas gemeinsam. Wer das leugnet, ist vielleicht ein großer Künstler oder ein sonst wie kluger Mensch, aber er weiß über die Farben nicht hinreichend Bescheid. Ihm sei das
Kapitel III
. dieses Buches wärmstens empfohlen.
Seit den Anfängen der Vergleichenden Sprachwissenschaft im 18. Jahrhundert reden die Gelehrten über die Verwandtschaft zwischen verschiedenen Sprachen, z. B. über die Familie der indogermanischen oder der finno-ugrischen Sprachen. Von der Verwandtschaft schließt man normalerweise auf gemeinsame Abstammung. Folgerichtig entwickelte man Stammbäume für die verschiedenen Sprachen.
20
Diese sind als Ordnungsprinzip unschlagbar – unter der Voraussetzung, dass die Sprachen wirklich miteinander verwandt sind. Sollten sie dagegen unabhängig voneinander entstanden sein, bräuchte man eine Klassifikation nach den Eigentümlichkeiten, die für die verschiedenen Sprachen als typisch gelten dürfen. Auch ein typologisches Ordnungssystem kann man in einem stammbaumartigen Dendrogramm darstellen. Seine Verzweigungen weisen nicht auf genealogische Zusammenhänge hin, sondern auf strukturelle, z. B. grammatikalische oder etymologische Unterschiede. Nach welchem Ordnungsprinzip soll man die Sprachen einteilen? Ein Rückblick zu den Anfängen der Sprachwissenschaft zeigt, warum beides, das genealogische und das typologische Ordnungsprinzip, umstritten ist.
In der biblischen Geschichte vom Turmbau zu Babel sagt Gott über die Menschen: „es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen, und haben das [den Turmbau] angefangen zu tun; sie werden nicht ablassen von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. Wohlauf, lasset uns herniederfahren und ihre Sprache daselbst verwirren, dass Keiner des Anderen Sprache verstehe. Also zerstreute sie der Herr von dort in alle Länder, dass sie mussten aufhören, die Stadt zu bauen“.21 Schon 1770 widersprach der Theologe Johann Gottfried [seit 1802: von] Herder (1744-1803) dem von dieser Geschichte hergeleiteten göttlichen Ursprung der Sprachenvielfalt. Der Ursprung der Sprache sei in der menschlichen Natur zu suchen. Der Mensch sei ein Mängelwesen. Weil er nicht durch ein Fell geschützt sei und keine scharfen Klauen und Zähne besitze, sei er auf seine Kultur angewiesen, zu der die Sprache gehöre. Tiere seien durch ihre Sinne und Instinkte an bestimmte Lebensbereiche gebunden. Der Mensch aber könne die ganze Welt besiedeln, weil ihn Bewusstsein und Sprache zu eigener Lebensgestaltung befreit haben. Weil sich die vielen Menschen über die Erde verteilten, sei es ganz natürlich, dass sich auch die Sprachen auseinanderentwickelt haben.22
Für diese Abstammungstheorie der Sprachen wollte Herder aber keine genealogischen Stammbäume entwickeln. Er führte aus: Sprachen seien erlernbar und veränderlich. Die Grammatik und die Wortbedeutungen verfestigten sich erst mit der Verschriftlichung. Je näher eine Sprache dem Ursprung der Entwicklung stehe, umso variabler sei sie. Wegen dieser anfänglichen Variabilität könne man ihren Ursprung durch sprachgeschichtliche Studien nicht mehr rekonstruieren. Genealogische Stammbäume für Sprachen sind nach Herder darum problematisch. Heute kennt man Gemeinsamkeiten des Kommunikationsverhaltens von Menschen und Tieren, die eine biologische Wurzel der menschlichen Sprache nahelegen. Dazu kann man im Kapitel IV. einiges nachlesen. Aber auch die Schwierigkeiten der Rekonstruktion kulturgeschichtlicher Entwicklungen sind geblieben. Davon wird im Kap. V noch die Rede sein.
Den Historikern stehen oft viele, aber widersprüchliche Geschichtsquellen zur Verfügung. Von antiken Autoren hat man überhaupt nur Abschriften. Welcher Text ist ursprünglicher und welcher durch spätere Einfügungen oder Weglassungen verfälscht? Welcher Überlieferung soll man trauen und welche in Zweifel ziehen? Um Fragen dieser Art zu klären, wurde im 19. Jahrhundert die Methode der Textkritik
23
entwickelt. Hier bestand von vornherein kein Zweifel daran, dass historische und nicht etwa typologische Zusammenhänge aufgeklärt werden sollten. Deshalb kann das Ergebnis mit Recht in der Form eines Stammbaums dargestellt werden. Die Texte werden nach ihren Eigentümlichkeiten, z. B. Abweichungen voneinander (Fehler, Leitfehler, gemeinsame und Sonderfehler) genealogisch geordnet (in Varianten, Subvarianten usw.). Mittlerweile können Historiker diese überlieferungsgeschichtlichen Beziehungen mit Hilfe von Computern aufklären. Erst im 20. Jahrhundert wurde eine vergleichbare evolutionäre Systematik auch für Tiere und Pflanzen entwickelt.
Den ersten Stammbaum für die Abstammung von Tieren zeichnete schon Charles Darwin (1809–1882). Das bis dahin artenreichste System der Pflanzen und Tiere hatte Carl von Linné (1707–1778) eingeführt. Linné hatte die Lebewesen in Arten, Gattungen, Ordnungen, Stämme usw. eingeteilt und dabei ausdrücklich keine genealogischen, sondern nur typologische Kriterien zugelassen. Damals beherrschten noch die Schöpfungsmythen des Alten Testaments die Vorstellungen der meisten Menschen im Abendland. Nach diesen wurden die Lebewesen „ein jegliches nach seiner Art“
24
von Gott erschaffen. Vereinzelt gab es aber auch früher schon Vorstellungen zur Evolution der Artenvielfalt.
25
Zu Linnés Zeiten wurde das Alter der Erde mit wenigen Jahrtausenden noch erheblich unterschätzt. Für die Entstehung der Artenvielfalt hätte nach dieser Vorstellung nicht viel Zeit zur Verfügung gestanden. Menschen hatten zwar Haustiere und Nutzpflanzen durch geschickte Zuchtwahl verändert. Neue Arten im Sinne von selbstständigen Fortpflanzungsgemeinschaften waren dabei aber weder angestrebt noch beobachtet worden. Mittlerweile weiß man, dass das Genom
26
aller bekannt gewordenen Lebewesen aus demselben Material (DNA) besteht und bei näher verwandten Arten weitgehend übereinstimmt. Außerdem kann man an Lebewesen mit kurzer Generationszeit die Darwin’sche Selektionstheorie experimentell nachvollziehen. Darum bestehen weder Zweifel mehr an der Abstammungslehre (Deszendenztheorie) der Organismen noch an der Rechtmäßigkeit genealogischer Stammbäume.
Trotzdem wurde die weltweit anerkannte phylogenetische27Systematik aller Lebewesen, die nur noch stammesgeschichtliche Kriterien zulässt, erst nach dem 2. Weltkrieg von Willi Hennig (1913–1976)28 entwickelt. Die Terminologie für die Kriterien ist in dieser konsequent phylogenetischen Systematik erwartungsgemäß kompliziert wie bei der Textkritik. In dieser sogenannten kladistischen Systematik werden z. B. plesio-, apo- und symplesio-morphe Merkmale unterschieden. Mittlerweile gibt es auch für die phylogenetische Systematik Computerprogramme, mit denen Biologen die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Lebewesen nach morphologischen oder molekularbiologischen Kriterien ermitteln können. Aber auch das konsequent phylogenetische System ist nicht ohne Einschränkung seiner Gültigkeit geblieben. Es gibt auch den sogenannten „horizontalen Gentransfer“ zwischen verschiedenen Arten durch Retroviren. Ob und wie nachhaltig dieses nicht von den Vorfahren ererbte, sondern von anderen Lebewesen übernommene Genmaterial die Evolution der Organismen beeinflusst haben könnte, ist noch nicht endgültig abzusehen.
Die durch die Darwin’sche Selektionstheorie (1859) verständlich gewordene Evolution der Organismen hat bekanntlich bis heute ihre fundamentalistischen Gegner, die sich selbst Kreationisten nennen. Sie lesen die alttestamentlichen Schöpfungsmythen nicht als religiöse Deutungen der menschlichen Existenz. Sie halten die biblischen Geschichten vielmehr für göttliche Offenbarungen, deren Wahrheit nicht zu bezweifeln sei. Die Methoden der Textkritik, mit denen man die Widersprüchlichkeiten zwischen Bibeltexten überlieferungsgeschichtlich aufklären kann, lehnen sie ab. Was nicht zusammenpasst, muss durch Zusatzannahmen harmonisiert werden. Den aufgeklärten Bibelleser stört die Widersprüchlichkeit zwischen den alten Schöpfungsgeschichten und der Wissenschaft nicht. Er fragt auch bei Märchen, Romanen oder Kinofilmen nicht, ob sie in allen Einzelheiten der Wahrheit entsprechen, sondern vielmehr, was sie bedeuten. Die Fundamentalisten wollen dieses allgemein übliche Literaturverständnis bei Bibel-Texten nicht gelten lassen.
Darum haben Kreationisten ein Problem mit dem Darwinismus. Weil sie die biblischen Texte für unveränderlich wahr halten, müssen sie korrigierend in die Ergebnisse der Wissenschaft eingreifen, um diese mit den Schöpfungsgeschichten zu harmonisieren. Dafür wurde in den verschiedenen fundamentalistischen Glaubensgemeinschaften ein phantastischer Einfallsreichtum entwickelt. Wissenschaft und Weltanschauung werden von den Kreationisten nicht durch Weiterentwicklung des Verständnisses der Bibeltexte in Übereinstimmung gebracht, sondern durch Anpassungen zu Lasten der Wissenschaft. Diese Spur wird in diesem Buch nicht weiterverfolgt.
Das 3. Beispiel betrifft das Leib-Seele-Problem. Es geht um die Frage, wie der menschliche Geist und somit alles, was man selbst erlebt, wie Lust und Schmerz, wie das Bewusstsein, der freie Wille, die Logik und die Moral mit denjenigen Vorgängen zusammenhängen, für die sich die Neurobiologen interessieren, also z. B. mit den Erregungsvorgängen und ihren molekularbiologischen Grundlagen im Gehirn. Die Erforschung des Verhältnisses von Leib und Seele oder, wie man auch sagen kann, von Gehirn und Geist wird von den meisten Menschen irreführenderweise als Aufgabe der Philosophie aufgefasst. Was Philosophen in neuerer Zeit aus diesem Problemfeld gemacht haben, ist allerdings nicht vielversprechend.
29
In ihren Überlegungen fehlt meistens die naturwissenschaftliche Hälfte der Angelegenheit, also die Neurobiologie. Darum wird das, was die Philosophie des Geistes zum Leib-Seele-Problem beigetragen hat, von Neurobiologen kaum als Hilfe und eher als Halbbildung oder Altlast aufgefasst.
Es gibt rühmliche Ausnahmen.30 Von diesen kann man lernen, wie weit und wie genau man auf dem gegenwärtigen neurobiologischen Forschungsstand erkennen kann, was einmal aus dem Leib-Seele-Problem noch werden könnte. Das Problem bezeichnet eine höchst komplizierte Angelegenheit, so kompliziert wie das Gehirn selbst und alles, was die Menschen damit zustande bringen können. Man kann nicht erwarten, in einem Satz zusammenfassen zu können, wie Leib und Seele zusammenwirken. Mit scharfsinnigen Überlegungen und gut definierten Begriffen zu den Worten Leib und Seele kann man dem Problem auch nicht beikommen. Man muss sich auf die Erkenntnisse der Hirnforschung einlassen. Nur auf diesem Wege kann man ein Gefühl dafür entwickeln, wie man mit dem Leib-Seele-Problem umzugehen hat und wie möglicherweise eine Lösung aussehen könnte. Sie sollte nicht nur beschreiben, was der menschliche Geist vermag, sondern auch erklären, warum und wozu man dabei sein Gehirn benötigt. Das ist in einigen Einzelfällen bereits gelungen.
Im täglichen Leben merkt man nichts von seinem Gehirn. Darum vermissen die meisten Menschen nichts, wenn die mentalen Erlebnisse ohne das Gehirn erklärt werden. Wenn man die wahre Ursache einer charakterlichen oder geistigen Störung nicht kennt, erklärt man sie gerne als „psychogen“. Aber selbst wenn man sicher sein kann, dass sie durch ein subjektives Ereignis, z. B. ein schlimmes Erlebnis, ausgelöst wurde, kann das Wort „psychogen“ eine neurobiologische Diagnose nicht ersetzen. Auch posttraumatische Stresserkrankungen (PTSD)31 beruhen auf neurophysiologischen Vorgängen, die man mit dem Adjektiv „psychogen“ nicht wegzaubern kann.
Was man über das Gehirn weiß, verdankt man der Neurobiologie. Man muss dankbar sein für jede Erkenntnis, die sich den Forschern in beteiligten Disziplinen auftut. Fortschritte sind weniger von der Entwicklung umfassender Theorien mit weitreichendem Geltungsbereich zu erwarten als von speziellen experimentellen Untersuchungen. Nur unter übersichtlichen Verhältnissen kann man die Versuchsbedingungen und den Geltungsbereich der Ergebnisse einigermaßen überblicken und überprüfen. Der Neurobiologe kann bei den ins Allgemeine gehenden Folgerungen aus seinen Ergebnissen nur zu bescheidener Zurückhaltung raten. Nur die speziellen und überprüfbaren Ergebnisse sind letztlich vertrauenswürdig. Der Rest ist Spekulation.
Das Vorgehen der Neurobiologen ist vergleichbar mit dem von Geologen, die mit einer Bohrmaschine in den Untergrund vorstoßen. Der Bohrkern, den sie zutage fördern, gewährt einen verlässlichen, aber lokal beschränkten Einblick in die Beschaffenheit des Untergrunds. Wie der Boden zwischen den Bohrlöchern beschaffen ist, bliebe unbekannt, wenn es nicht noch andere Möglichkeiten der Erkenntnisgewinnung gäbe. Was immer zusätzlichen Aufschluss geben kann, muss genutzt werden. „Nur die Fülle führt zur Klarheit, / Und im Abgrund wohnt die Wahrheit“.32
Hier sollte die Behandlung des Leib-Seele-Problems nur angekündigt werden. Es wird in allen Kapiteln dieses Buches weiter traktiert. Nur so viel soll vorweg schon mitgeteilt werden: Das Leib-Seele-Problem ist ein Problem, von dem man verstehen kann, warum man es nicht verstehen kann. Diese Erkenntnis ist die Lösung des Problems. Man kann auch sagen: Die Lösung zeigt sich darin, dass das Problem verschwindet, wenn man hinreichend informiert ist.
2 1. Mose 1,26–27
3 1. Mose 9,6
4 Die in deutschen Universitäten traditionelle Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaft wird hier als grobe Einteilung der wissenschaftlichen Disziplinen beibehalten. Scharfsinnige Unterscheidungen nach den Gegenständen oder Verfahren der Forschung (Erklären versus Verstehen nach Wilhelm Dilthey (1859) oder nomothetisch (theoriebildend) versus ideographisch (gegenstandsorientiert) nach Windelband (1924) oder historische versus zeitlose Forschungsthemen (viele Autoren) bewähren sich allerdings nicht als Unterscheidungskriterien. Siehe z. B. Lübbe (1989), S. 64 ff.
5 Die biologische Eingebundenheit der Menschen ist für viele Ethiker ein Problem, das sie mit philosophischer Begriffsakrobatik zu umgehen versuchen. Das kann man an dem Speziesismus-Vorwurf studieren, den englische Tierschützer in den 1960er Jahren erhoben haben. Er richtet sich gegen die traditionelle Vorstellung, dass mit der Zugehörigkeit zur Art (Species) „Homo sapiens“ ein moralischer Sonderstatus verbunden sei. Auch der Philosoph Peter Singer (2004) ist der Ansicht, dass Ethik nicht durch die Artzugehörigkeit, sondern vor allem mit der Leidensfähigkeit begründet werden muss. Ethik komme durch Abwägen zwischen den Interessen der jeweils betroffenen Lebewesen zustande, ohne Rücksicht auf die Art, Rasse oder andere biologische Zuordnungen. Singer lieferte gute Argumente gegen Ausbeutung und Misshandlung von Tieren und Menschen, nicht aber gegen Abtreibung, Sterbehilfe oder Infantizid. Insbesondere im Zustand der Bewusstlosigkeit sei das Interesse am eigenen Leben nicht erkennbar. Darum solle man in hoffnungslosen Fällen dieser Art die Euthanasie nicht prinzipiell verbieten. Man kann nachvollziehen, dass Ethiker abendländischer Tradition durch diese Lehre nicht nur schockiert, sondern auch wieder motiviert wurden, eine Sonderstellung des Menschen und damit eine Grenze zwischen Mensch und Tier zu konstruieren. Das gelingt allerdings nur, wenn man die Bedeutung der Worte umfrisiert, was nicht wirklich weiterhilft. So bekannte sich der Theologe Härle (2010) kurzerhand zum Speziesismus als einem kulturellen Fortschritt der Menschheit, in dem man keinen Vorwurf erkennen könne. Die ethische Interessenabwägung sei eine Aufgabe von Individuen, die „biologisch und sozial“ dem Menschengeschlecht angehören, das seinerseits als „personal“ zu qualifizieren sei. Daraus folgt: Menschen und Tiere mögen im Leiden vereint sein. Für die ethische Beurteilung zerfallen sie nach dieser Formulierung wieder in zwei Klassen, die man durch das philosophische Konstrukt des Person-Seins zu unterscheiden trachtet. Siehe auch Schockenhoff (2009). Die Gemeinsamkeiten von Menschen und Tieren zu erforschen, ist voraussichtlich ergiebiger, als über mögliche Unterscheidungskriterien zu spekulieren. Für einen Überblick zum Speziesismus-Vorwurf siehe Darbrock et al. (Hrsg.) (2010) und dort insbesondere den Beitrag von Ruth Denkhaus.
6 1. Mose 2,7 f.
7 1. Mose 1,27.
8Homer, Ilias 18, 417–420.
9 Mary Shelley (1818).
10 Treguboff (1994).
11 Bulgakow (1984).
12Crichton (1990).
13 Das Wort Verhaltensweisen (behaviors) schließt alle Lebensregungen ein vom Stoffwechsel und Erregungsvorgängen der Zellen bis zu den menschlichen Handlungen, wie z. B. Sprechen. Im Kap. IV werden einige nach neurobiologischen Kriterien unterscheidbare Verhaltensweisen angesprochen wie Orientierungs- oder Kommunikationsverhalten, rationales, intuitives, spontanes und motorisches Verhalten. Die Unterscheidung von menschlichem Handeln einerseits und „bloßem Verhalten“ andererseits, z. B. Janich (2009), Illies (2003), ist für neurobiologische Forschungsansätze nicht aufschlussreich.
14 In dem einsehbaren Zeitbereich kann man als Prinzip allen Geschehens „Zufall und Notwendigkeit“ (Monod 1975) erkennen. Das Prinzip verrät aber nur, nach welchen Gesetzmäßigkeiten etwas geschieht, und nicht, was ursprünglich passiert und was künftig noch zu erwarten ist. Siehe z. B. Darwin (1859), Eigen (1975, 1984) u. a.
15 Z. B. Janich (2008, 2009), Falkenburg (2012), Küng (2005).
16 Nietzsche (1873–6).
17 „Aber ein Hund erhob auf dem Lager sein Haupt und die Ohren, / … / Hier lag Argos, der Hund, von Ungeziefer zerfressen. / Dieser, da er nun endlich den nahen Odysseus erkannte, / wedelte zwar mit dem Schwanz und senkte die Ohren herunter, / Aber er war zu schwach, sich seinem Herrn zu nähern. / / Aber Argos umhüllte der schwarze Schleier des Todes, / Da er im zwanzigsten Jahr Odysseus wieder gesehen.“ Homer, Odyssee 17. Gesang 291 ff.
18 Lorenz (1963), S. 281.
19 Siehe Kapitel IV. 3.b.
20Schleicher (1873).
21 1. Mos. 11,6–8.
22 Herder (1770)
23Maas (1957).
24 1. Mose 1,21.
25 Zusammengestellt z. B. am Anfang von Darwin (1859) in einem Abschnitt „An historical sketch of the progress of opinion on the origin of species“. Dort steht in der 2. Fußnote u. a. in Anspielung auf Goethes Überlegungen zur zeitgenössischen Entwicklungslehre: „Goethe was an extreme partisan of similar views“. Das Selektionsprinzip hat aber noch niemand bei Goethe nachweisen können.
27 Stammesgeschichtlich nach griechisch phylon: Stamm und genesis: Ursprung.
28 Hennig (1994), Ax (1988).
29 Überblick in Bieri (2007), Janich (2008). Die Beziehung zwischen Körper und Geist wurde in neuerer Zeit als Interaktionismus beschrieben, aber auch als Parallelismus, Epiphänomenalismus, Okkasionalismus, Funktionalismus, als ontologische Gegebenheit oder als Scheinproblem usw. Für das Leib-Seele-Verhältnis wurden je nach Interpretation viele verschiedene Begriffe geprägt, wie z. B. Monismus, Dualismus, Identitätstheorie, philosophischer und psychologischer Behaviorismus usw. Es handelt sich um Worte mit definierter Bedeutung, aber ohne konkreten Bezug zu neurobiologischen Tatbeständen. „Mit Worten lässt sich trefflich streiten“ (Goethe, Faust 1, 1997).
30Popper, Eccles (1977), Zeki (1993, 1998), Kandel (2006, 2012).
31 Posttraumatic stress disorder, z. B. nach Vergewaltigung oder soldatischem Fronteinsatz.
32Schiller (1800). Sprüche des Konfuzius. In: Schiller (2004). Bd. 1, S. 227.
In der Odyssee wird berichtet, wie Kirke mit ihrer Zauberrute die Gefährten des Odysseus in Schweine verwandelte. Gegen Wundergeschichten dieser Art ist in Märchen wie auch in dem frühgriechischen Epos nichts einzuwenden, zumal Kirke vom Dichter als Göttin eingeführt wurde. Ihr war somit Wundersames durchaus zuzutrauen. Interessant an der Geschichte ist, dass nur die Körper der Männer verwandelt wurden, ihr Seelenleben aber menschlich blieb.
„Denn sie hatten von Schweinen die Köpfe, Stimmen und Leiber, / Auch die Borsten; allein ihr Verstand blieb völlig wie vormals. / Weinend ließen sie sich einsperren.“33
Das ist ein früher Hinweis auf die Unterscheidung von Leib und Seele. Er ist älter als die ältesten erhaltenen philosophischen Texte der Menschheit. Zu keiner Zeit dürfte den Menschen die Unterscheidung von Leib und Seele oder, wie man auch sagen könnte, von Körper und Geist fremd gewesen sein. Sie erscheint intuitiv einleuchtend. So sagt man auch heute noch bei fröhlichen Mahlzeiten: „Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen.“ Wie weit man sich auf intuitiv einleuchtende Vorstellungen verlassen darf, ist allerdings eine ganz andere Frage. Sie wird in dieser Schrift an vielen Stellen und auch schon in diesem Kapitel mehrfach angesprochen. Hier soll erst einmal festgestellt werden, dass Menschen im täglichen Leben keine Probleme mit der Unterscheidung von Leib und Seele haben. Ob Leib und Seele wirklich zweierlei sind, ist damit aber noch nicht entschieden.
Nicht nur der Leib, auch die Seele gilt – insbesondere in der Neuzeit – als Privatbereich und schützenswertes Gut jedes einzelnen Menschen. Die Seele ist unentbehrlich für die Begründung der persönlichen Freiheit. Auf ihre Freiheit wollen die Menschen nicht verzichten. Wie ernst es ihnen damit ist, zeigt die volkstümliche, vielfach umgedichtete Hymne „Die Gedanken sind frei“.34 Vorformen dieses Liedes kann man bis in die Antike zurückverfolgen. Leib und Seele sind offensichtlich zentrale Themen bei der persönlichen Selbstbestimmung der Menschen.
Wie man über Leib und Seele zu denken habe, steht und stand – früher mehr als heute – auch unter der Interpretationshoheit von Menschen und Institutionen, die über religiöse und weltanschauliche Lehren zu wachen und deren Werte im öffentlichen Interesse zu schützen haben. Das Grundgesetz unterscheidet nicht zwischen Weltanschauung und Religion. Philosophen machen aber manchmal darauf aufmerksam, dass Religionen in der Regel historisch begründet werden mit Schöpfungsmythen, Religionsstiftern oder Offenbarungserlebnissen, während der philosophische Glaube mehr auf die Überzeugungskraft von Gedanken gegründet sei.35 Diese Unterscheidung ist in lebenspraktischer Hinsicht allerdings unerheblich, zumal auch philosophische Weltanschauungen ihre historischen Voraussetzungen haben. Weltanschauungen beider oder vermischter Art genießen in rechtsstaatlichen Demokratien mit gutem Recht gesetzlichen Schutz. Sie erfüllen eine unverzichtbare Aufgabe bei den Menschen, weil deren Wissen und Können bekanntlich begrenzt sind. Weltanschauungen geben Orientierung diesseits und auch jenseits der Grenzen menschlichen Wissens und Könnens.36
Das Nachdenken über Leib und Seele beschäftigte die Menschen mit verstärkter Intensität, seit Descartes (1596–1650) der Seele nicht-materielle Eigenschaften zugeschrieben hatte. Das war damals nichts Neues. Aber nach dem Einbruch der modernen Naturwissenschaft in das Leben der Renaissance-Menschen kamen die mit der Lehre des Descartes verbundenen Schwierigkeiten deutlicher zum Vorschein. In der heutigen Physik ist bekanntlich nicht vorgesehen, dass übernatürliche Größen auf materielle Gegebenheiten einwirken. Nur unter der Voraussetzung, dass Leib und Seele gemeinsame Eigenschaften haben, können ihre Wechselwirkungen eine Angelegenheit der Naturwissenschaft sein. Unter der cartesianischen Vorstellung muss man sich dazu andere Gedanken machen.
Erlösungsreligionen kommen ohne grundsätzliche Unterscheidung von Leib und Seele nicht aus. Schreibt man der Seele einen überirdischen, ontologisch eigenständigen Ursprung zu, kann man sie sich als Bewohnerin des Körpers vorstellen, den sie am Ende des Lebens verlässt. Der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele, die Seelenwanderung oder auch die Auferstehung der Toten zum ewigen Leben verlangt nach jeweils passend abgestimmten Vorstellungen von der Seele. Weil Religionsausübung seit den Anfängen der Menschheitsgeschichte nachweisbar ist, überrascht es nicht, dass genaue Vorstellungen über das Wesen von Leib und Seele bereits in vorwissenschaftlicher Zeit existierten, als vom Körper mit seinen Sinnesorganen und dem Gehirn nur wenig bekannt war.
Was die Menschen früher geglaubt haben, verschwindet nicht plötzlich aus dem Bewusstsein ihrer Nachkommen. Zumindest die Terminologie überlebt oft den Untergang längst vergessener gedanklicher Zusammenhänge und Vorstellungen. Das gilt auch für die Worte Seele, Seelsorge, Seelenleben, seelische Nöte oder Bedürfnisse, die ungeniert auch von Menschen verwendet werden, die keineswegs davon überzeugt sind, dass sie eine vom Leib unabhängige Seele besitzen. In der Umgangssprache sprechen sie trotzdem munter über den Körper im Gegensatz zur Seele und unterscheiden zwischen psychogenen und körperlichen Erkrankungen. Menschen tolerieren je nach ihrer gerade angesagten Lebenssituation eine erstaunliche Mannigfaltigkeit von widersprüchlichen Vorstellungen über das Verhältnis von Leib und Seele.
Ob Leib und Seele zwei selbstständige Teile sind, aus denen der Mensch zusammengesetzt ist (A) oder Beschreibungen verschiedener Eigenschaften derselben Sache (B), das ist eine Grundsatzfrage. Im Fall (A) sind Leib und Seele im Menschen irgendwie vermischt, aber trotzdem qualitativ verschieden. Im Fall (B) sind Leib und Seele nur scheinbar verschieden wie zwei Ansichten desselben Gegenstands. Ob man die grundsätzliche Alternative „(A) oder (B)“ ohne neurobiologische Kenntnisse schon vorweg klären kann, ist fraglich. Unbestritten ist nur, dass Leib und Seele irgendwie zusammenhängen.
Die Beziehungen zwischen Leib und Seele kann man studieren, auch wenn die skizzierte Grundfrage „(A) oder (B)“ noch nicht vollständig beantwortet ist. Man sollte nicht verlangen, dass die richtige Antwort wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung bereits vorliegen muss, bevor man weiterführende Überlegungen anstellen kann. Es könnte sich herausstellen, dass die Verbindung von Leib und Seele ohne dritte Instanzen wie Vernunft, Gott, die Hirnstruktur und/oder die Gene gar nicht zu verstehen ist. „(A) oder (B)“ könnte sich dann als falsche Alternative erweisen. Bei genauerer Kenntnis weiterer Einzelheiten würde man das Verhältnis vielleicht ganz anders interpretieren. Wegen dieser Unklarheit muss man, wenn man über das Verhältnis von Leib und Seele reden will, ziemlich viel offenlassen. Mangelndes Wissen kann man nicht durch scharfsinnige und widerspruchsfreie Formulierungen ersetzen. Die „Sprache der Hirnforschung“ wegen ihrer Ungenauigkeit zu kritisieren, ist nicht sachgemäß.39
In diesem Buch soll die Aufmerksamkeit vor allem auf die Neurobiologie gelenkt werden. Das Wissen über die Beziehungen von Leib und Seele ist in neuerer Zeit durch diese Wissenschaft erheblich bereichert worden. Trotzdem gibt es keine einfache und schon gleich keine verallgemeinerungsfähige Theorie über alle Beziehungen zwischen Leib und Seele. Solange grundsätzliche Fragen offenbleiben müssen, sollte man sich zunächst mit begrenzten, dafür aber jederzeit überprüfbaren Einzelheiten beschäftigen. Diese sind wegen ihrer Überprüfbarkeit verlässlicher und darum in höherem Maße aufschlussreich als weitreichende Spekulationen.
Die neurobiologische Forschung hat viele spezielle Verbindungen zwischen Leib und Seele aufgedeckt. Dafür liefert dieses Buch in allen Kapiteln Beispiele. Um sie zu verstehen, muss man sich mit den Forschungsergebnissen auseinandersetzen. Die Unübersichtlichkeit der Zusammenhänge von Leib und Seele zwingt die Neurobiologen zur Bescheidenheit, d. h. zum Anerkennen von Einsichten mit begrenztem Aussagewert. Darum bevorzugen Neurobiologen spezielle Forschungsergebnisse. Sie leben nach der volkstümlichen Weisheit „Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert“ oder „Der Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach“.
Man muss allerdings auch über das, was man noch nicht richtig verstanden hat, irgendwie reden können. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert wurde es üblich, die verschiedenen Leib-Seele-Vorstellungen in dualistische und monistische Theorien zu unterteilen. Die bisher angesprochenen Vorstellungen wären am ehesten den dualistischen zuzuweisen. Die monistischen Leib-Seele-Theorien sind auf die Unterstellung gegründet, dass entweder nur der Geist oder nur die Materie wirklich existieren. Wer den letzten Grund der Welt in seinem eigenen Wahrnehmungs- und Denkvermögen vermutet, muss folgern, sein Geist sei der Ursprung aller Dinge: „Es ist der Geist, der sich den Körper baut“.40 Verbreiteter ist heute die physikalistische Version des Monismus, nach der nur physikalisch Nachweisbares als wirklich vorhanden angesehen werden soll.41 Seelisches kann dann als eine andere Ansicht derselben Sache beschrieben werden. Theorien, in denen unterstellt wird, dass Leib und Seele letztlich dasselbe seien, kann man auch Identitätstheorien nennen.
Die Unterscheidung von Monismus und Dualismus bewährt sich beim Leib-Seele-Problem allerdings nur, wenn bekannt ist, was mit diesen Begriffen gesagt und was nicht gesagt werden soll. Der Leib gehört offensichtlich zur materiellen Seite des Menschen, was aber nicht bedeutet, dass damit schon gesagt wäre, was man früher mit dem Wort Materie meinte oder was man heute darunter zu verstehen hat. Mit der Unterscheidung ist auch nicht geklärt, ob die materielle Welt und der mentale Bereich menschlicher Vorstellungen ihrer Natur nach grundsätzlich verschieden sind oder nur so erscheinen. Die Gelehrten haben keine Mühe gescheut, die Frage, ob man sich Leib und Seele als zweierlei oder als eine Einheit vorstellen soll, mit vielen zusätzlichen Problemen zu belasten, z. B. mit der Frage, was der Leib und die Seele, zusammen oder jedes für sich genommen, eigentlich seien. Derartige „Was-ist-Fragen“ zielen auf das Wesen der Dinge. Das Wesen der Dinge kann immer nur eine Deutung sein. Man kann allerdings seine Vorstellungen zum Wesen der Dinge zu einem Begriffssystem ausbauen und dann über die logischen Beziehungen zwischen den Begriffen debattieren.
Einen hervorragend klaren Überblick über die denkbaren Beziehungen von Leib und Seele lieferte Christian Illies (2006)42 in einem lesenswerten Buch. Er unterscheidet einen Bereich (N), in den alles fällt, wofür naturwissenschaftliche Erklärungen zuständig sind, von einem nicht-physischen Bereich (non-N), der „durch einen anderen wissenschaftlichen Bezugsrahmen erklärt werden soll“. Zur Erklärung des Verhältnisses von Leib und Seele zueinander lässt er noch etwas Drittes (D) zu, das die tatsächlich vorhandene Spannung zwischen (N) und (non-N) „lösen könnte oder traditionell gelöst hat“. Für (D) führt er philosophiehistorische Beispiele an, die zur Überbrückung des Gegensatzes von N und non-N entwickelt wurden. Dazu gehören die Lebenskraft des Vitalismus, der élan vital aus der Denktradition der französischen Lebensphilosophie, der Wille zur Macht bei Nietzsche, das Vernunftprinzip und weitere Vorschläge, die von Illies kritisch diskutiert werden. Er selbst entwickelt vor dem Hintergrund der modernen Naturwissenschaft seine Konvergenzanthropologie, in der die innige Verbindung von Leib und Seele meisterhaft vorgeführt wird. Die Grundfrage „(A) oder (B)“ lässt Illies allerdings nicht offen. Im Rückgriff auf philosophische Vordenker entscheidet er sich vorweg für (A). Danach sind Leib und Seele Angelegenheiten, die eng miteinander verknüpft, aber ihrer Natur nach grundsätzlich verschieden sind. Für Illies ist die Eigenständigkeit des Geistes eine unverzichtbare Voraussetzung seiner Konvergenzanthropologie. Damit wird die Möglichkeit einer naturwissenschaftlichen Erklärung des Geistes von vornherein ausgeschlossen. Der Geist oder die Seele sind nach diesem Vorurteil mit körperlichen Vorgängen nicht vollständig zu erklären.
Ein verbindendes Element von Leib und Seele ist die Information. Man kann den umgangssprachlichen Begriff im geistigen und körperlichen Bereich und auch in der Technik verwenden. So kann man sagen, in einem Bild oder einem Modell stecke Information von dem abgebildeten Gegenstand. Man versteht auch, was damit gemeint ist, dass die Sinnesorgane Information aus der Umgebung in das Nervensystem übertragen. Ein wenig von der Information gelangt ins Bewusstsein und führt zu Wahrnehmungen. Die darin vorhandene Information wird im Nervensystem verknüpft und ergänzt mit anderer dort schon vorhandener Information, was zum Erkennen, Erinnern und sonstigen mentalen Erlebnissen führt. Man muss die Einzelheiten nicht genau kennen, um zu verstehen, dass sich der Informationsgehalt bei der Abfolge dieser Vorgänge ändern kann. Auch für den Informationsgehalt der einzelnen Verarbeitungsstadien gilt: Es gibt Gemeinsamkeiten und Unterschiede. In dieser Formulierung gibt es zwischen Information in leiblicher oder seelischer Form keine unüberwindlichen Grenzen. Die Hauptschwierigkeit besteht darin, dass von den Informationsverarbeitungsvorgängen in Sinnesorganen und Gehirn normalerweise fast nichts ins Bewusstsein gelangt. Das erschwert das Verständnis für den Zusammenhang von Leib und Seele.
Wieweit die technische Informationstheorie für das Verständnis von Leib und Seele verwendbar ist, ist eine interessante Frage. Die Informationstheorie befasst sich mit der quantitativen Erfassung, Übertragung, Speicherung und Verarbeitung von Information. Das sind Themen, die auch für die Hirnforschung wichtig sind. Davon wurde hier noch nichts mitgeteilt. Aber schon in der umgangssprachlichen Bedeutung ist die Information hilfreich für das Verstehen von Beziehungen zwischen Leib und Seele.
Vergleiche von Leib und Seele mit etwas anderem waren und sind, was sie sind, nämlich hinkende Vergleiche mit etwas anderem. Sie bieten wie die informatische Unterscheidung von Hard- und Software nur in Teilaspekten Vergleichbares zu Gehirn und Geist. Als „Gespenst in der Maschine“43 wurde die Seele in einem viel gelesenen Buch mit Methoden der Logik abgeschmettert. Weil der Autor den Menschen dann aber doch nicht mit einer seelenlosen Maschine gleichsetzen wollte, schrieb er schließlich auf Seite 451 seines Werkes, es müsse „der verwegene Sprung zu der Hypothese gewagt werden, dass er [der Mensch] vielleicht ein Mensch sei“. Dass der Mensch ein Mensch sei, gilt nach dieser gedankenreichen Untersuchung als Hypothese, und das Verhältnis von Leib und Seele bleibt ein Geheimnis. Wer von scharfsinnigen Spekulationen mehr erwartet, überschätzt die Möglichkeiten des bloßen Nachdenkens über Leib und Seele ohne Berücksichtigung der naturwissenschaftlichen Aspekte der Angelegenheit.