Nibelar: Das Bündnis - Christine Troy - E-Book

Nibelar: Das Bündnis E-Book

Christine Troy

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Beschreibung

Nachdem Felsstadts Zwergenkönig und Dalwas Ältester von einem Fabelwesen namens Mooswürger heimgesucht worden sind, müssen des Königs Nichte Raja und die Elfengeschwister Saruna und Gweldon rasch handeln. Um das Leben der beiden zu retten, begeben sie sich auf eine gefährliche Reise in die Genusischen Sümpfe. Denn dort, und nur dort, wächst die einzige Pflanze, die Heilung verspricht: die Fauldorne. Die Feuerelfen Zemeas und Azarol aus Walgerad begleiten die Freunde durch das gefährliche Moor. Doch bald schon stellt sich heraus, dass ihre kleine Gruppe weit mehr als ein einfaches Rettungsteam ist. Denn sie alle sind Teil eines Bündnisses, auf dem schon bald die Hoffnung ganz Nibelars ruhen wird.

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Nibelar

Das Bündnis

Christine Troy

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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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www.papierfresserchen.de

© 2023 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

Mühlstr. 10, 88085 Langenargen

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Taschenbuchauflage erschienen 2012

Cover gestaltet mit Bildern von © Chorazin – Fotolia lizensiert

Landkarte innen: Viviane Sezer

Bearbeitung: CAT creativ - www.cat-creativ.at

ISBN: 978-3-86196-143-7 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-747-5- E-Book

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Inhalt

Hochzeitsmahl

Dalwas

Schlechte Kunde

Aufbruch

Verbündete

Die Genusischen Sümpfe

Wiedersehen

Das Unvermeidliche

Walgerad

Der Wemarin

Ein nasser Fund

Jarkodas

Verogandisches Wörterverzeichnis

Die Autorin

Unser Buchtipp

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Für meine Großmutter Maria Isolde

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*

Kapitel 1

Hochzeitsmahl

Schwarz war die Nacht, eisig der kalte Nordwind und verschneit waren die Hänge der sich weit erstreckenden Bergkette. Der Mond warf sein spärliches Licht auf die Landschaft und ließ den pulvrigen Schnee, den der Wind ungestüm durch die klare Luft trieb, wie Tausende Diamantsplitter glitzern.

Am Fuße der Bergkette, welche nur mehr spärlich von Fichten und Kiefern bewachsen war, traten zwei dunkle Wesen unter einem Baum hervor. Ihre Gestalten waren kaum zu erkennen, da sie bodenlange Mäntel trugen, deren Kapuzen sie weit ins Gesicht gezogen hatten. Sie schienen schon einige Zeit auf dem Weg zu sein, denn auf ihren Gewändern begann sich bereits eine dünne Eisschicht zu bilden.

Mit langen, eleganten und doch zügigen Schritten wanderten die beiden einen schmalen, leicht ausgetretenen Pfad entlang: vorbei an einer ganzen Reihe mächtiger Steinbrocken, einem verschneiten, mit Holzfässern beladenen und ganz offensichtlich vergessenen Karren, bis hin zu einer imposanten Felswand, hinter der sich schroff das weite Gebirge erstreckte. Stillschweigend schritten die Gestalten an der kargen Steinwand entlang und fanden sich wenige Minuten später vor einem reißenden Gebirgsbach wieder. Über diesen führte eine hölzerne, kunstvoll verzierte Brücke. Der Blick des Größeren fiel sogleich auf einen im schwachen Mondlicht nur schwer erkennbaren Höhleneingang auf der anderen Seite. Mit einer kurzen Handbewegung wies er seinem Begleiter den Weg.

Kleine Fackeln tauchten die niedrige Höhle, durch die sie nun halb gebeugt schritten, in warmes Licht. Vom Ende des Durchgangs her klangen ein leises Stimmenmeer sowie der Rhythmus feierlicher Festtagsmusik. Schon hatten die Gestalten die Höhle hinter sich gelassen und traten auf eine von scharfen Felsen umzingelte Lichtung. Prächtige, aus massivem Stein gebaute Häuschen standen gut verteilt um ein hohes, mit prunkvollen Türmen und Kuppeln verziertes Gebäude, welches Ausgangspunkt des Lichts sowie des Lärmpegels war.

Zielstrebig gingen die beiden auf das palastartige Gebilde zu. Eine schwere, bis knapp unter das Dach reichende Holztür verschloss das dahinterliegende rege Treiben, welches mit einem Mal verstummte, sowie die beiden eintraten.

Ein großer, aufwendig mit Blumen und Kerzen geschmückter Saal erstreckte sich vor ihnen. Kleine, teils korpulente, teils richtig dicke Wesen, ganz klar als Zwerge zu bezeichnen, tummelten sich darin. Die meisten rot- oder grauhaarig. Die männlichen Zwerge trugen vornehme Gewänder und ordentlich gezwirbelte oder wild verwachsene Bärte. Die Damen waren größtenteils in noble Roben gewickelt oder trugen edle Kleider, die mit glitzernden Steinen besetzt waren. Ihre Haare waren hübsch geflochten und zu regelrechten Kunstwerken gesteckt.

Die eben noch fröhlich klingende Musik verstummte abrupt und der ganze Saal starrte die Wanderer an, die nun ihre schweren Mäntel ablegten: zwei groß gewachsene, schlanke Männer mit sonderbar spitzen Ohren und schmalen, schwungvollen Augenbrauen: Elfen. Das Haar des Größeren der beiden war bereits gänzlich ergraut. Seine volle Mähne reichte ihm bis zu den Schultern. Fahl und verlebt wirkte sein altes, jedoch gutmütig erscheinendes Gesicht. Der andere etwas kleinere, deutlich schmalere und wesentlich jüngere trug sein pechschwarzes Haar kinnlang. Unter seinen freundlich lächelnden Lippen wuchs ein kurzer, sauber gepflegter Spitzbart. Die beiden waren in noble, dunkelgrüne Roben mit geschmackvollen Goldverzierungen gekleidet.

Die Zwerge schienen die beiden Männer zu kennen, denn die Musik spielte wieder auf und das Fest nahm seinen gewohnten Lauf.

Gut gelaunte Zwergendamen, beladen mit großen runden Tabletts, auf denen sich Bierkrüge reihten, drängten sich durch die Menge, um für das Wohl der Anwesenden zu sorgen. Die warme Luft war erfüllt von dem Geruch wohlschmeckender Speisen, herbem Zigarren- und zartem Fliederblütenduft. Lautstark übertönte die festliche Musik das Stimmenmeer der ausgelassen feiernden Menge. Ein freudiger Schrei erklang, und eine ganz in Weiß gekleidete Zwergenfrau stürzte auf die Neuankömmlinge zu. Glücklich fiel sie dem Jüngeren der beiden um den Hals und herzte und küsste ihn.

„Oh Gweldon!“, drang es aus ihr. „Ich freue mich so, dass ihr kommen konntet!“ Ein breites Lächeln lag auf ihrem zierlichen Gesicht, als sie sich dem Älteren zuwandte und ihn umarmte. „Wir befürchteten bereits, ihr würdet nicht mehr kommen.“

„Von wegen wir. Du hattest Panik, dass sie nicht kommen würden. Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass sie sich unsere Hochzeit nicht entgehen lassen“, berichtigte ein gut gebauter, rothaariger Zwerg mit stattlichem Vollbart, der sich behände Durchlass durch die Menge verschaffte. Er trug einen noblen, moosgrünen Anzug, und seine widerspenstigen Haare waren, so gut es ging, zu einem vornehmen Seitenscheitel gekämmt. Auch er schien sich über das Eintreffen der Wanderer zu freuen. „Weldran, Gweldon“, sagte er und schüttelte beiden kräftig die Hand. „Wie schön, euch zu sehen.“

„Danke, wir freuen uns sehr, hier zu sein“, lächelte der Alte freundlich.

„Also, nun kommt aber“, drängte die quirlige Zwergenfrau. „König Algar wartet bereits.“ Sie deutete den Elfen, ihr zu folgen, packte ihren untersetzten Gemahl bei der Hand und zog ihn quer durch das feierliche Gelage. Vorbei an ausgelassen tanzenden Zwergen und einer langen Tafel, voll beladen mit bunt verpackten Geschenken, bis hin zu einem mächtigen, steinernen Thron, auf dem ein grauhaariger, alter Zwerg residierte. Er trug eine goldene, mit dunkelblauen Edelsteinen bestückte Krone. Seinen Bart hatte er sorgfältig zu einem Zopf geflochten, der ihm bis zur Brust reichte, und der sich nun, da sich ein Lächeln auf seine Lippen legte, ein ganzes Stück nach oben hob.

„Weldran, mein Freund!“, rief der Zwergenkönig aus, als er die Neuankömmlinge erkannte. Freudig erhob er sich aus seinem Thron und umarmte den weisen Elfen. „Willkommen in Felsstadt. Wie schön, dass ihr gekommen seid! Und Gweldon, mein lieber Junge, wie groß du geworden bist.“ Erstaunt schüttelte der Alte dem stattlichen, jungen Mann die Hand. „Kommt, bitte setzt euch und bedient euch nach Herzenslust.“

Er wies auf die reichlich gedeckte Tafel, die sich zu beiden Seiten des Throns quer durch den Raum erstreckte. Zwar waren die hölzernen Stühle für die Elfen etwas klein geraten, dennoch nahmen sie dankbar Platz. Auch die drei Zwerge gesellten sich zu ihnen.

„Also“, hob der junge Gweldon an und wandte sich an das Brautpaar, „Raja und Ranon, ich möchte euch von Herzen zur Vermählung gratulieren. Auch soll ich euch die besten Glückwünsche von meiner Schwester Saruna überbringen.“

Das gut gelaunte Zwergenpaar, welches sich auf dem Sessel zur Linken des Königs niedergelassen hatte, erwiderte die Glückwünsche mit einem freudigen Nicken.

„Danke, Gweldon. Und richte bitte auch Saruna unseren Dank aus“, sagte Raja und lächelte den Elfen glücklich an. Sie sah bezaubernd aus: das elegante weiße Kleid, das leuchtend rote, kunstvoll geflochtene und zum Kranz gesteckte Haar, die rosigen Wangen, die vollen, sanft geschwungenen Lippen und die großen, topasfarbenen Augen.

„Auch ich gratuliere. Möge eure gemeinsame Zukunft von Glück und Liebe geprägt sein.“

Während Weldran dem Paar seine Glückwünsche überbrachte, erschien eine Zwergendame am Tisch. Sie trug ein mit Gerstensaft- und Honigweinkrügen beladenes Tablett. Hinter ihr traten zwei weitere Frauen an den Tisch und trugen die köstlichsten Speisen auf. Es gab knusprig gebackenen Truthahn, gedämpften Fisch, die verschiedensten Fleischsorten auf alle möglichen Arten zubereitet, gedünstetes Gemüse und reichlich kross gebackenes Brot. Auch allerhand Süßspeisen reihten sie vor den Gästen auf.

„Habt Dank für eure Glückwünsche, Weldran“, erwiderte Ranon, der kaum den Blick von den Köstlichkeiten nehmen konnte. „Aber nun“, er wies auf das Festmahl vor ihnen, „bedient euch bitte, greift zu!“

Der rothaarige Zwerg hatte den Satz kaum zu Ende gesprochen, als er auch schon nach einer Truthahnkeule griff und sie sich schmecken ließ. Dankbar nickend folgten die Elfen der freundlichen Einladung und nahmen sich etwas von der Tafel.

Raja war die Einzige, die keine Zeit zum Essen fand. „Kommt, Onkel!“, sagte sie beschwingt und griff nach König Algar. „Wir beide haben noch einen Tanz offen.“

Der Alte schien wenig begeistert, doch er erhob sich aus seinem Thron und führte seine Nichte zum Tanz in die Mitte des Saals. Trotz seines anscheinend hohen Alters wirbelte der König die kleine Zwergenfrau so gekonnt über das Parkett, dass sich schon bald ein freudig klatschender Zuschauerkreis um die beiden bildete. Nach gut zehn Minuten brachte Raja den König zurück. Dieser sank erschöpft in seinen Thron. Zufrieden drückte die kleine Frau ihm noch einen Kuss auf die Stirn und wandte sich dann an Gweldon.

„Komm“, sagte sie und hielt ihm auffordernd die Hand hin, „du bist als Nächster dran.“

„Muss das wirklich sein?“, versuchte er, sich zu drücken.

„Ja, keine Widerrede!“

Lachend und mit einem leichten Kopfschütteln griff der junge Elf nach der Hand der Zwergin und begleitete sie zur Tanzfläche. Inzwischen war es später Abend und die Musikanten spielten, zu Gweldons Erleichterung, etwas langsamere Stücke. Es war ein ungewohntes Bild, wie die kleine, eher rundliche Zwergin an der Seite des großen, schmalen Elfen tanzte. Einigen Gästen schien dies aufgefallen zu sein, denn ein belustigtes Lächeln huschte über ihre Gesichter. Gweldon und Raja merkten davon jedoch herzlich wenig, sie hatten sich schon so lange nicht mehr gesehen, dass sie viel zu viel zu besprechen hatten, als auf ihre Umgebung zu achten.

„Nochmals herzlichen Glückwunsch zur Vermählung. Ich weiß, wie sehr du dich darauf gefreut hast“, fing der Elf das Gespräch an.

„Danke“, erwiderte die Kleine und errötete leicht. „Aber jetzt erzähl doch mal, wie war die Reise und warum ist Saruna nicht mitgekommen?“

Ein ernster Ausdruck legte sich auf Gweldons Gesicht und zwischen seinen Augenbrauen bildete sich eine kleine Sorgenfalte.

„Nun“, sprach er dann, „unsere Reise war sehr angenehm. Wir kamen gut voran und brauchten dank der sich zurückhaltenden Schneestürme gerade mal drei Tage. Und Saruna konnte uns nicht begleiten, da sie kurz vor unserem Aufbruch erkrankte.“ Nachdenklich wandte er den Kopf ab und bemerkte, wie König Algar und Weldran sich angeregt unterhielten. Zwar konnte er nicht hören, worüber die beiden sprachen, doch schien es sich um etwas Besorgniserregendes zu handeln, denn ihre Mienen waren ernst und voller Sorge.

„Oh, das tut mir leid. Hoffentlich wird sie bald wieder gesund“, sorgte sich Raja.

Gedankenverloren nickte ihr Gweldon zu. Seine Aufmerksamkeit galt noch immer den beiden Alten, die soeben im Begriff waren, den Saal zu verlassen. Einen Augenblick sah er ihnen noch verwundert nach, dann wandte er sich wieder seiner Tanzpartnerin zu.

Einige Runden tanzte das ungleiche Paar noch durch den Saal, bis sich Gweldon schließlich vor der kleinen Lady verbeugte. „Verzeih bitte, aber nun bin ich wirklich erschöpft“, keuchte er.

Raja nickte schmunzelnd. Ihr war gar nicht anzusehen, dass sie an die zwei Stunden am Stück getanzt hatte. Zwar war das Rot ihrer Wangen ein ganzes Stück kräftiger geworden, doch ihr Atem ging immer noch erstaunlich langsam.

Gemütlich setzten sich die beiden wieder zu Ranon, der soeben seine Mahlzeit beendet hatte und zufrieden sein wohlgefülltes Bäuchlein tätschelte. Raja, die sich auf seinem Schoß niedergelassen hatte, drückte ihm einen dicken Kuss auf die knubbelige Nase. Dann wandte sie sich wieder an Gweldon. „Gerade ging mir wieder die Sache mit Saruna durch den Kopf“, sagte sie betrübt. „Schade, dass sie heute nicht hier sein kann.“

Der Elf nickte zustimmend.

„Aber weißt du was, wenn ich gerade so an Saruna denke, fällt mir was Witziges ein. Kannst du dich noch an den einen Winter in Dalwas erinnern? Als wir drei vergeblich versuchten, Leuchtschrecken zu fangen?“

Gweldon lachte herzhaft: „Wie könnte ich das vergessen? Wir waren über und über mit dem leuchtend roten Schreckensekret verschmiert, und das widerliche Zeug ließ sich einfach nicht mehr abwaschen. Ich kann mich nur zu gut an das Gesicht meines Vaters erinnern, als er uns entdeckte. Er war furchtbar erschrocken und dachte, dass wir die Feuerpocken hätten.“

„Ja, ich glaube, Weldran fand das Ganze weniger amüsant“, gluckste die Kleine.

Die restliche Abendunterhaltung bestand aus den lustigsten Kindheitsgeschichten, die sie zusammen erlebt hatten. Die beiden waren so vertieft in ihre Erinnerungen, dass sie es kaum bemerkten, als sich die beiden alten Herren wieder zu ihnen gesellten. Anscheinend hatten sie ihr Gespräch beendet, denn jetzt lauschten sie interessiert den Erzählungen der kleinen Frau.

Als die ihre letzte Geschichte zu Ende gebracht hatte und sich eine kurze Stille ergab, erhob sich Weldran mit einem müden Seufzer aus seinem Stuhl.

„Es ist schon sehr spät, Gweldon.“

„Oh, aber natürlich: Ihr habt eine lange Anreise hinter euch“, sagte Algar verständnisvoll. „Raja hat, soweit ich weiß, schon alles für euch vorbereitet.“

„Ja“, bestätigte die Kleine. „Folgt mir, ich zeige euch eure Schlafkammern.“

„Das ist sehr freundlich“, entgegnete Weldran. „Ich danke euch für den netten Abend und wünsche eine geruhsame Nacht.“

Gweldon verbeugte sich vor dem König, nickte Ranon höflich zu und folgte zusammen mit seinem Vater der kleinen Zwergenfrau, die sie zu ihren Schlafkammern führte.

*

Kapitel 2

Dalwas

Es war noch früh am Morgen. Die ersten Sonnenstrahlen erkämpften sich gerade ihren Weg über die schneebedeckten Bergkuppen und tauchten die Lichtung in einen fahlen Schein. Die Luft war erfrischend klar und schneidend kalt. Alles schien noch zu schlafen, und auf Felsstadt, der Zwergenstadt am Rande des Selatoggebirges, lag eine angenehme Stille. Eine Stille, die nur vom knirschenden Schnee unter den Füßen der beiden Elfen, die sich soeben auf den Heimweg gemacht hatten, unterbrochen wurde.

Gweldons Blick strich wehmütig über die schlafende Stadt. Zu gerne wären er und sein Vater ein wenig länger hiergeblieben, hätten die Idylle der Berge genossen und mit Raja, König Algar und allen anderen noch ein paar erholsame Tage verbracht. Doch die Sorge um Saruna und eine wichtige bevorstehende Ratsversammlung, bei der Weldran nicht fehlen durfte, drängte sie nach Hause.

Die lange Anreise saß dem jungen Elfen noch in den Knochen. Bei jedem Schritt schmerzten seine Waden. „Dennoch“, dachte er bei sich, „war Rajas Hochzeit die Strapazen wert gewesen.“ Seit sie ein kleines Mädchen war, hatte sie schon von ihrem großen Tag ganz in Weiß geträumt, und Gweldon wusste, wie wichtig es ihr war, dass er, sein Vater und eigentlich auch Saruna an diesem besonderen Tag teilnehmen würden. Nie hätte sie es ihnen verziehen, wenn sie einfach nicht gekommen wären.

Doch um ganz ehrlich zu sein, vermutete Gweldon, dass es einen weiteren Grund für ihre Reise gab. Gestern Abend hatten sich Algar und sein Vater eine ganze Weile zurückgezogen. Offensichtlich hatten die beiden etwas Wichtiges zu besprechen gehabt. Noch wusste er nicht, um was genau es sich dabei gehandelt hatte, aber auf dem Heimweg würde er seinem Vater auf den Zahn fühlen und es gewiss herausfinden. Irgendetwas lag hier in der Luft, das fühlte er.

„Dann wollt ihr uns also tatsächlich heute schon wieder verlassen?“, erklang plötzlich leise eine betrübte Stimme. Es war Raja. Die kleine Frau stand, dick eingehüllt in einen langen Pelzmantel und mit warmen Lederstiefelchen, hinter den beiden Männern. Auf ihrem verschlafenen, zerknitterten Gesicht lag ein vorwurfsvoller Ausdruck.

Gweldon seufzte und schenkte ihr ein halb schiefes Lächeln. „Es tut mir leid. Wir wären gerne länger geblieben, das darfst du uns glauben, aber wir müssen nach Hause. Vater hat noch einiges zu erledigen, und ich möchte nach Saruna sehen.“

„Das verstehe ich natürlich“, räumte die Zwergin ein. „Aber ihr braucht nicht den ganzen weiten Weg nach Hause zu laufen. Ich habe mir erlaubt, die Felsschwingen für euch vorbereiten zu lassen. Kommt.“ Raja forderte die Elfen mit einer Handbewegung auf, ihr zu folgen.

„Das ist aber wirklich nicht nötig“, erwiderte Weldran, der von ihrer Idee alles andere als angetan schien. Ganz im Gegensatz zu Gweldon, dessen Augen vor Vorfreude leuchteten.

„Ich bitte euch, das ist doch selbstverständlich“, antwortet Raja kurz und führte die beiden zu einer der unzähligen Höhlen, die sich weitläufig im unteren Teil des Gebirges erstreckten. „Wartet hier!“, sagte sie und ließ die Elfen vor dem finsteren Höhleneingang zurück.

Kurze Zeit später hallten schwere Schritte und lautes Schnauben aus dem Inneren. Zwei leuchtend orangefarbene Augenpaare funkelten aus der Dunkelheit. Nun trat Raja aus der Höhle, in beiden Händen einen dicken Strick, an welchem sie zwei Felsschwingen führte: stattliche Tiere mit prunkvollen Hörnern, schmalen Schädeln, muskulösen Körpern und kräftigem braunem Fell. Irgendwie sahen sie fast wie übergroße Steinböcke aus. Eigentlich beinahe identisch, bis auf zwei Unterschiede: Erstens hatten die Felsschwingen anstatt der braungrünen Augen leuchtend orangefarbene, die unergründlich tief waren. Und zweitens wuchsen ihnen auf Höhe des Schulterblattes kräftige braune Schwingen, die ausgebreitet ein gigantisches Ausmaß annahmen. Alles in allem sehr eindrucksvolle Geschöpfe, die ein ganzes Stück größer als die Zwergin waren. Aus den Nüstern der Felsschwingen trat heißer Atem, welcher in der klirrenden Kälte sofort verdampfte.

Raja seufzte tief und trat betrübt zu den Elfen. „Ach“, klagte sie, „ihr werdet mir furchtbar fehlen.“ Sie überreichte den Männern die beiden Tiere. „Sie kennen den Weg bereits und werden nach eurer Ankunft von selbst wieder nach Hause fliegen. Ihr braucht euch also ihretwegen keine Gedanken zu machen“, sagte sie und strich den Steinböcken über ihr struppiges Fell.

Gweldon beugte sich zu ihr herab und nahm sie kräftig in den Arm. „Ich verspreche dir, dass wir uns bald wiedersehen“, meinte er und bedachte sie mit einem liebevollen Blick.

Raja nickte nur, denn ein aufrichtiges Lächeln wollte ihr einfach nicht gelingen.

Dann wandte sich auch Weldran an die kleine Frau. Er reichte ihr förmlich die Hand, doch sie ließ es sich nicht nehmen und umarmte auch ihn. Ein dezentes Schmunzeln umspielte die Lippen des alten Herrn, als er ihre Umarmung erwiderte.

„Vater, wir müssen los“, drängte Gweldon.

Raja, die nun ein paar Schritte zurückgewichen war, um den beiden bestmögliche Abflugbedingungen zu bieten, wischte sich eine Träne, die gerade über ihre Wange zu kullern drohte, aus den Augenwinkeln.

„Ach du liebe Güte, in der Eile hätte ich doch fast noch was Wichtiges vergessen“, sagte Gweldon und kramte in seiner Westentasche. Schließlich zog er ein kleines, rundes, in giftgrüne Blätter verpacktes Geschenk hervor. „Hier, eine kleine Aufmerksamkeit zur Hochzeit. Es ist von mir und meiner Schwester.“ Geheimnisvoll lächelnd überreichte er Raja das Päckchen.

Nun konnte die Kleine ihre Tränen nicht mehr zurückhalten, eine nach der anderen rollte über ihre apfelroten Wangen. „Danke“, erwiderte sie mit heiserer Stimme und drehte sich beschämt zur Seite.

„Gern geschehen“, schmunzelte er. „So, nun müssen wir aber weiter!“ Er wirbelte herum und schwang sich auf seine Felsschwinge. Sein Vater hatte bereits auf der anderen Platz genommen. Mit ein paar schweren Schritten traten die Geschöpfe ein Stück von der Höhle weg, um im nächsten Moment ihre Schwingen auszubreiten und sich elegant in die Lüfte zu heben. Gekonnt hielten sich die beiden Männer an dem dicken Strick fest, den die Tiere um den Hals trugen, und klammerten ihre Beine um die Bäuche der Felsschwingen. Gweldon schien der Flug großen Spaß zu machen. Strahlend vor Freude hatte er die Augen weit aufgerissen, um ja keinen Moment seiner besonderen Heimreise zu verpassen. Sein Vater hingegen wirkte weniger erfreut. Zwar schien er sicher auf dem Tier zu sitzen, doch nahm sein Gesicht eine leicht grünliche Verfärbung an. Auch wagte er es nicht, seine zu schmalen Schlitzen verzogenen Augen vom Halfter abzuwenden. Obwohl sie gerade eben abgehoben hatten, waren sie von Raja und der Zwergenstadt schon so weit entfernt, dass nur noch die Umrisse zu erkennen waren.

Die Geschwindigkeit der Felsschwingen war nur schwer einzuschätzen. Sie mussten jedoch enorm schnell sein, denn die Natur unter ihnen verwandelte sich zu einer einzigen weißen Fläche mit ein paar wenigen braungrün verschwommenen Flecken. Der schneidend kalte Wind hatte den Männern längst die Kapuzen vom Kopf gerissen und ließ ihr Haar ungestüm durch die Luft peitschen. Die Zeit verging, und aus der weißen, gebirgigen Landschaft unter ihnen wurde eine sumpfige, die sich wiederum wenig später in eine grüne, von etlichen Bächen und Rinnsalen durchzogene Auenlandschaft verwandelte.

„Nibelar, Land der Großen Drei“, ging es Gweldon durch den Kopf, als sie über Cindur flogen. Cindur war die östlichste Hauptstadt der Menschen, deren Völker neben den Elfen und Zwergen das Land regierten. Zwar gab es neben den Großen Drei noch etliche andere Rassen wie Wemaren, Grabsöldner oder Küstenrufer, doch da keines ihrer Völker aus mehr als einigen Hundert Einwohnern bestand, zählten sie lediglich zu den sogenannten Klein-, oder wie die Großen Drei sie nannten, zu den „Randvölkern“. Dalwas, Walgerad und Ildria wurden von Elfen regiert, Degenhol und das gesamte Selatoggebirge zählten zu den Gebieten der Zwerge und von Miragon bis hoch nach Felia, über Scheldasan bis hin zu den östlichen Küsten von Cindur gehörte das Land den Menschen. Auch wenn es unter den Menschen und Zwergen die eine oder andere Meinungsverschiedenheit über die Ländereien gab, so lebten sie doch in Frieden miteinander. Und so erblühte und gedieh das Land über die Jahre hinweg in all seiner Pracht. Gweldon genoss noch die berauschende Aussicht, als die Felsschwingen auf einen riesigen Wald zusteuerten, der sich ähnlich einer gigantischen Mauer nach beiden Seiten erstreckte, soweit das Auge reichte.

„Das Andusgehölz!“, rief Gweldon seinem Vater zu, der nur knapp vor ihm flog. „Nun hast du es bald geschafft! Noch ein paar Minuten und wir sind zu Hause!“

„Zum Glück!“, antwortete der Alte, ohne den Blick von den Zügeln zu nehmen, die er nach wie vor verkrampft umklammert hielt.

Der junge Elf schmunzelte belustigt und sog genüsslich die herrlich nach Holz, Erde und Moos duftende Luft ein. Inzwischen war die Sonne aufgegangen, und ihre warmen Strahlen tauchten das stetig dichter werdende Blätterdach in ein sattes Grün. In den Wipfeln trällerten die ersten Vögel bereits ihre Lieder, und auch der Waldboden schien langsam aber sicher zu erwachen. Eine dicke Wildsau trottete mit ihren verschlafenen drei Jungtieren durch das Unterholz, und da und dort huschten kleine, pelzige Tiere über die mit Moos und Efeu bewachsenen Baumstämme.

Nun verlangsamten die Felsschwingen ihr Tempo, denn sie hatten ihr Ziel beinahe erreicht. Die Bäume in diesem Teil des Waldes waren gigantisch und ihre Stämme unglaublich dick. Sie mussten bereits viele Hundert Jahre alt sein. Das Licht, das durch ihr Blätterdach fiel, leuchtete smaragdgrün.

„Sieh nur, Vater, wir sind da!“, rief Gweldon freudig. „Da vorne liegt Dalwas!“

Ungern hob der alte Elf den Blick. „Dalwas“, murmelte er und betrachtete erleichtert das aufwendig in die Kronen der Bäume gebaute Dorf. Überall führten edel geschwungene Holztreppen vom farnbewachsenen Waldboden an den Baumstämmen entlang zum Dorf. Dort verbanden große Plattformen sowie leicht gewölbte Brücken mit liebevoll verzierten Geländern die Bäume miteinander. Im oberen Teil der Stämme waren kunstvoll die Behausungen der Elfen eingearbeitet, deren niedliche, runde Fenster von leuchtenden Kerzen erhellt wurden.

Schon steuerten die Felsschwingen auf eine der Plattformen zu und landeten anmutig. Während Gweldon vergnügt von seinem Bock hüpfte, rutschte sein Vater halb verkrampft und mit steifen Gliedern vom Rücken seines Tiers. Die beiden Elfen waren kaum abgestiegen, als die Steinböcke auch schon wieder ihre Schwingen ausbreiteten, sich in die Lüfte erhoben und durch den sengend grünen Wald davonflogen.

„Unglaublich“, schwärmte Gweldon mit strahlenden Augen. „Drei Tage haben wir zu Fuß für die Anreise nach Felsstadt gebraucht, während die Felsschwingen für dieselbe Strecke kaum zwei Stunden benötigten.“

„Das mag schon sein“, zuckte der Alte mit den Schultern. „Ich wäre trotzdem lieber zu Fuß gegangen.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und schritt über die Plattform in Richtung eines großen Baumpilzes davon.

Gweldon schüttelte schmunzelnd den Kopf, füllte seine Lunge mit der wohlriechenden Waldluft und sprintete seinem alten Herrn nach.

„Vater“, erhob Gweldon die Stimme, „ich wollte dich noch fragen, was da gestern mit König Algar war. Ich habe gesehen, dass ihr euch über etwas wohl Ernstes unterhalten habt.“

Neugierde lag in seinem Blick, als er versuchte, die Gedanken seines alten Herrn zu erforschen.

„Oh, nun, also es war nichts Wichtiges. Mach dir keine Sorgen, mein Sohn“, antwortete der Alte nur kurz, doch seine Augen blitzten eigenartig auf und seine Miene verhärtete sich, als wollte er dahinter ein Gefühl der Sorge verstecken.

Selbstverständlich entging das dem jungen Elfen nicht, doch bevor er eine weitere Frage stellen konnte, öffnete sein Vater die runde, kunstvoll verzierte Haustür. Leise traten sie ein. Während Weldran sich sofort zurückzog, strich Gweldons Blick suchend durchs Haus. Vorbei an den vielen leuchtenden Kerzen, die in den Fenstern standen, über den edlen Kamin, auf dem die schönsten in dunklen Stein gemeißelten Figuren thronten. Vorbei an der großen Holztruhe gleich neben der Haustüre und der hölzernen Bank inmitten des Zimmers, auf der kleine moosgrüne Filzkissen lagen.

Alles war ruhig, zu ruhig. Ein Gefühl der Sorge brannte sich in den Magen des Elfen. Er seufzte und wollte sich gerade auf der Bank niederlassen, um seinen müden Beinen etwas Erholung zu verschaffen, als eine leise Stimme ertönte: „Gweldon? Bist du das?“

Erschrocken fuhr der junge Mann auf und starrte in den hinteren Teil des Zimmers, wo ein langer Gang zu den anderen Räumlichkeiten führte. Dort stand eine wunderschöne Elfe. Sie schien nur wenig jünger zu sein als er. Ein himmelblaues, bodenlanges Nachthemd bedeckte ihren zierlichen Körper. Ihre Haut war schneeweiß, ihr schulterlanges Haar pechschwarz und ihre von vollen Wimpern umrandeten Kulleraugen waren dunkelbraun. Eine Stupsnase sowie ein schmaler Mund und zart geschwungene Augenbrauen zierten das offenbar bekümmerte Gesicht des Mädchens. Sie hatte die schlanken Arme vor der Brust verschränkt und die Augen noch nicht ganz geöffnet, sie schien eben aufgestanden zu sein. Verschlafen blinzelte sie den Elfen an.

„Oje, Saruna, jetzt haben wir dich aufgeweckt“, sorgte sich Gweldon.

„Wie? Nein. Ich … ich wollte sowieso gerade aufstehen“, versicherte sie.

„Wie fühlst du dich? Ist das Fieber gesunken? Hat der Nesselsaft gewirkt und hattest du genug davon? Wenn nicht, braue ich dir rasch einen neuen.“

„Nein danke, Bruderherz!“, bedankte sich Saruna und schenkte ihm ein besänftigendes Lächeln.

Sofort wirkte der Elf etwas beruhigter. „Ich habe mir schreckliche Sorgen gemacht: das plötzliche Fieber und dann der Schwächeanfall.“ Er sah sie ratlos an.

„Ja. Ich weiß auch nicht, woher das so plötzlich kam. Aber jetzt geht es mir wieder besser.“ Sie verzog die Lippen zu einem schiefen Lächeln. „Zum Glück und dank deiner hervorragenden Kräuterkenntnisse. Du bist wirklich ein erstklassiger Alchemist.“

„Na ja, ich wusste, dass der Nesselsaft bei gewöhnlichem Fieber reine Wunder bewirkt, aber in deinem Fall, mit dem plötzlichen Schwindel und dem unerklärlichen Schwächeanfall, war ich mir da nicht mehr so sicher. Was wäre gewesen, wenn ...“

„Gweldon!“, unterbrach die Elfe ihren Bruder. „Sieh mich an! Es geht mir gut. Es ist alles wieder in Ordnung.“

Nun wich der ernste Ausdruck aus seinem Gesicht, und die Spannung in seinen Schultern ließ nach. „Gut“, sagte er und ließ sich auf der Bank mit den gemütlichen Filzkissen nieder. „Dann bin ich beruhigt.“

Saruna trat in den Raum und gesellte sich zu ihm. „Also, nun erzähl mal, wenn ich schon nicht dabei sein konnte. Wie war die Hochzeit?“ Die Elfe blickte ihren Bruder neugierig aus ihren dunklen, mandelförmigen Augen an.

Dieser legte die Stirn in Falten und zwirbelte mit Zeigefinger und Daumen seinen Spitzbart.

„Hmm, mal überlegen, wo fange ich an? Ah ja, ich weiß schon.“

Geduldig erzählte er seiner Schwester von der Reise ins Zwergenreich, von ihrer treuen Freundin Raja, deren Gemahl Ranon, König Algar und den Hochzeitsfeierlichkeiten. Gerade als er mit einem belustigten Grinsen von der Heimreise und den Felsschwingen begann, erschien ein gedankenverlorener Weldran am Ende des Flurs. In einer Hand eine vergilbte Schriftrolle, in der anderen ein stark qualmendes Reagenzglas, dessen Inhalt an ein verdorbenes Ei erinnerte.

„Oh, Gweldon, da bist du ja!“, unterbrach er die Geschwister. „Sag mal, hast du zufällig noch ein paar von den Feuerwurzeln, die du letzte Woche gesammelt hast?“

Neugierig fiel der Blick des Alten auf die beiden Elfen, die sich gerade erhoben, um sich ihrem alten Herrn zu widmen.

„Nein, tut mir leid. Soviel ich weiß, haben wir sie schon vor Tagen aufgebraucht.“ Forschend betrachtete Gweldon das Gesicht seines Vaters. „Aber wenn du noch welche brauchst ... ich wollte sowieso gerade zur Schillerlichtung hinunter.“

„Ach, das trifft sich ja gut. Dann sei doch bitte so nett und bring mir ein, zwei Stück mit“, bat dieser, bevor er sich, wieder in seine Schriftrollen vertieft, zurückzog.

„In Ordnung, dann weiß ich ja, was ich heute noch vorhabe“, lachte Gweldon und schnappte sich seine Kräutertasche von der Holztruhe. „Wie sieht es aus, Schwesterherz? Hast du Lust, mich zu begleiten?“

„Aber immer“, erwiderte Saruna beschwingt. „Ich ziehe mir noch rasch ein anderes Gewand an und hole uns was zu essen.“ Schon verschwand sie im Nebenraum, um sich kurz darauf in einem olivgrünen Einteiler, der sich ihrer Figur perfekt anpasste, wieder vor den jungen Alchemisten zu stellen und ihm eine rotbackige, glänzende Frucht hinzuhalten.

„Danke“, sagte er, griff zu und biss genüsslich in das köstlich aussehende Obst. „Also, dann lass uns gehen“, murmelte er mit vollem Mund.

Saruna zog gerade die schwere Haustür hinter sich zu, als eine raue, etwas heisere Stimme erklang. Sie gehörte zu Fuldaf, einem der ältesten Elfen ihres Dorfes. Sein Haupt war nahezu kahl und wurde lediglich von ein paar borstigen, grauen Haaren bedeckt. Tiefe Falten, die wohl treffender als Furchen zu bezeichnen wären, gruben sich in sein Gesicht. Seine schmalen Lippen wurden von einer langen Narbe, die sich quer über seinen Mund bis hinunter zum Kinn zog, förmlich entstellt. Müde stützte er sein Gewicht auf einen knorrigen Stab.

Allem Anschein nach wollte der Alte gerade zu ihnen, schien aber überrascht von Gweldons Anwesenheit. „Hallo!“, begrüßte Fuldaf die Geschwister freundlich. „Ich wusste gar nicht, dass du schon wieder zurück bist, Gweldon. Ich wollte gerade nach Saruna sehen und ihr ein Fläschchen Nesselsaft gegen das Fieber bringen.“ Er hielt ein faustgroßes Glasfläschchen mit einer grasgrünen Flüssigkeit darin hoch.

„Oh, das ist nett von dir, aber das Fieber ist bereits in der Nacht gesunken. Ich brauche den Saft also nicht mehr. Trotzdem danke.“

Der Alte nickte Saruna höflich zu, verstaute das Fläschchen in seiner Robe und wandte sich dann an Gweldon. „Mit dir und deinem Vater hatte ich eigentlich in frühestens drei Tagen gerechnet“, sagte er verwundert.

„Ja, dank der Felsschwingen hat sich unser Heimweg erheblich verkürzt“, erklärte der junge Elf.

Ein verschmitztes Grinsen huschte über die Lippen des Alten, und in seinen Augen funkelte der Schalk. „Das erklärt natürlich alles“, gluckste er. „Nun, dann werde ich doch besser mal sehen, wie eurem Vater die Heimreise bekommen ist“, grinste er und trat durch die Tür ins Haus.

„Komm“, stupste Saruna ihren Bruder, „gehen wir!“

Flink huschten die zwei die paar Schritte über den Baumpilz hinab, der zum Haus führte. Seit Gweldons und Weldrans Ankunft musste einige Zeit vergangen sein, denn ihr eben noch ruhig schlafendes Dörfchen war inzwischen zum Leben erwacht. Überall herrschte reges Treiben. Elfenkinder spielten vergnügt Fangen und jagten einander über die Brücken und Plattformen. Junge Damen, die Körbe voller Pilze und Kräuter trugen, gingen geschäftig ihrer Wege, und da und dort hatten sich kleine Grüppchen gebildet, die sich angeregt unterhielten. Auf einer der aufwendig verzierten Holzbänke, die am Wegesrand standen, saßen zwei alte Herren, die gemütlich ihre Pfeife rauchten und den sonnigen Morgen genossen. Es war ein wundervoller Tag. Die Vögel in den Baumkronen zwitscherten ihre fröhlichen Lieder, und das warme Sonnenlicht, das durch das dichte Blätterdach fiel, hüllte das ganze Dorf in seinen grünen Schein.

Ohne lange Zeit zu verlieren, machten sich die Geschwister über die Plattformen, Brücken und Treppen auf den Weg nach unten in den Wald. Der feuchte Waldboden roch herrlich nach Pilzen und Moos. Saruna nahm einen tiefen Atemzug, bevor sie über einen schmalen Trampelpfad zum Weg liefen, der zwischen den gigantischen Baumstämmen in südliche Richtung führte. Giftgrüne Farnfelder sowie moosbewachsene Baumstümpfe und Steinbrocken säumten ihren Weg. Von hier unten waren die Baumwipfel, deren Blätterdach undurchdringlich erschien, mit bloßem Auge kaum zu erkennen.

Während Gweldon mit zusammengezogenen Augenbrauen und ernstem Gesicht seine Kräutertasche durchforstete, summte Saruna gedankenverloren vor sich hin. Ihre Stimme klang sanft und die Melodie fröhlich.

„Ach, da bist du ja“, murmelte der Alchemist erleichtert, als er auf den Gegenstand stieß, den er gesucht hatte. Seine Miene entspannte sich wieder, und er zog ein kleines, scharfes Messer hervor.

„Dein Kräutermesser?“, erkundigte sich die junge Frau.

„Ja, einen Moment lang habe ich wirklich befürchtet, ich hätte es verloren.“

„Du und dein geliebtes Kräutermesser“, lächelte die Elfe, während ihr Bruder die scharfe Klinge mit dem in Leder gebundenen Holzheft zurück in die Tasche packte. Gweldon liebte dieses alte, unscheinbare Ding. Er hatte es vor vielen Jahren, als er noch ein kleiner Junge war, von seiner inzwischen verstorbenen Mutter geschenkt bekommen. „Ein richtiger Alchemist, und möge er noch so klein sein, braucht ein anständiges Kräutermesser“, hatte sie damals zu ihm gesagt. Und so war es auch, es verging kein Tag, an dem er es nicht verwendete.

Jeder in die eigenen Gedanken versunken wanderten die Geschwister noch eine ganze Weile schweigend durch den Wald. Hier, so tief im Andusgehölz, schien der Forst ein Eigenleben zu besitzen. Das Astwerk hoch über ihnen knarrte und raschelte im Wind, gerade so, als würden sich die Bäume miteinander unterhalten. Und im Unterholz, zu ihren Füßen, brachten die tierischen Bewohner das Meer aus Farnen zum Wiegen.

„Oh, sieh doch!“, sagte der Alchemist schließlich. „Wir sind da.“

Vor den Geschwistern erstreckte sich eine Lichtung, deren Anblick kaum in Worte zu fassen war. Eine malerische Landschaft: Die riesigen Bäume, die sonst so eng aneinandergereiht waren und deren Blätterdach so dicht war, dass nie ein Lichtstrahl den Boden direkt hätte berühren können, standen hier so weit voneinander entfernt, dass sich eine fünfzig Fuß weite Lücke ergab. Das helle Tageslicht fiel wie ein Scheinwerfer auf die mit saftigem Gras und goldgelben Blumen bewachsene Lichtung. Einige Sträucher, deren Blätter blutrot waren, standen verteilt auf der kleinen Wiese. Lautes Vogelgezwitscher erfüllte die Luft, und am Boden tummelten sich die verschiedensten Kleintiere.

„Also, dann werde ich mich mal an die Arbeit machen“, sagte Gweldon gut gelaunt und steuerte auf einen der rotblättrigen Sträucher zu.

„Kann ich dir helfen?“, erkundigte sich Saruna.

„Nein danke, im Moment nicht. Aber ich sag Bescheid, sobald ich dich brauche.“ Mit diesen Worten ging der Alchemist vor dem Strauch in die Hocke und begann, das lockere Erdreich um dessen Strunk herum abzutragen.

„Ah“, seufzte die Elfe und ließ sich im saftig grünen Gras nieder. „Der Frühling ist heute wieder mal besonders schön.“ Sie pflückte eine der goldgelben Blumen und schnupperte daran. „Sag mal, wie war das Wetter eigentlich oben im Norden? Liegt in Felsstadt noch viel Schnee?“

„Ja“, antwortete Gweldon, der inzwischen mit seinem Kräutermesser und einigem Fingerspitzengefühl die ersten Wurzelstücke freigelegt hatte. „Es wird wohl noch einige Wochen dauern, bis die Felder um Felsstadt wieder bestellt werden können, aber ich vermute, dass bis spätestens Anfang des Sommers die Schneedecke verschwunden ist. Ganz im Gegensatz zum oberen Teil des Selatoggebirges“, fügte er hinzu.

„Mhm“, nickte die junge Frau versonnen, „die nördlicheren Gebiete wie Selatog oder Zwergenruh gelten im Allgemeinen als bitterkalt und verschneit.“

„Stimmt. So, nun könnte ich deine Hilfe brauchen“, sagte der Alchemist.

„Wie? Oh, aber natürlich.“ Flink hüpfte die schmale Frau auf und eilte an die Seite ihres Bruders. „Was kann ich tun?“

„Moment. Erst einmal brauchst du die hier.“ Gweldon kramte in seiner Kräutertasche und förderte einige graue Stofffetzen zutage. „Hier, bitte! Und nun werde ich ein paar große Wurzelstücke abtrennen und dir reichen. Deine Aufgabe ist es, die Dinger ordentlich in den Stoff einzuhüllen. Aber nimm dich vor dem milchigen Saft an den Schnittflächen in Acht. Er brennt schrecklich, wenn du ihn auf die Haut bekommst, und hinterlässt widerliche Blasen.“

„Ist gut.“

„Also dann, hier kommt das erste.“ Ein sauberer Schnitt mit dem Kräutermesser, und Gweldon hielt ein schwarzes, wie ein Korkenzieher gedrehtes Wurzelstück in Händen.

„Sieht unscheinbar aus“, bemerkte Saruna.

„Mag sein, aber das täuscht, der Saft der Feuerwurzel ist nicht zu unterschätzen, er ist gefährlich“, sagte Gweldon, riss eines der roten Blätter vom Strauch und träufelte einige Tropfen vom milchig weißen Saft der Wurzel darauf. Die Elfe staunte, als sich der Saft blubbernd und Bläschen schlagend Schicht für Schicht durch das Blatt fraß und schließlich auf das darunter liegende Gras tropfte, wo sein Weg in einigen Wassertropfen ein Ende fand.

„Gefährlich und doch unsagbar nützlich“, fügte der Alchemist hinzu, schnappte seine Kräutertasche und holte daraus einige Utensilien hervor: einen steinernen Mörser mit passendem Stößel, eine Glasflasche, gefüllt mit einer muschelgrauen Flüssigkeit, und ein faustgroßes Stoffbündel, aus welchem er drei getrocknete Blätter nahm. „Sieh her“, mit diesen Worten schnitt der Alchemist die Feuerwurzel der Länge nach entzwei, sammelte all ihren Pflanzensaft im Mörser und rieb die getrockneten Blätter dazu. Dann rührte er die Masse so lange um, bis sie von einer schleimig grauen Konsistenz war.

Als Gweldon das Gefäß vor sich auf den Boden stellte und Saruna einen genaueren Blick auf dessen Inhalt erhaschte, rümpfte sie unwillkürlich die Nase. Sie sagte aber nichts, sondern verfolgte gespannt, wie sich ihr Bruder nun des Glasfläschchens annahm.

„Was ist da drin?“, fragte sie.

„Gelbmaullauge“, erklärte Gweldon, und mit diesen Worten schwenkte er das Fläschchen behutsam. Augenblicklich veränderte sich der muschelgraue Inhalt. Erst war nur eine grauweiße schlierige Substanz zu erkennen, doch dann veränderte sich die Flüssigkeit in ein sonnengelbes Öl. Mit einem leisen Plopp öffnete Gweldon den Korkverschluss und schüttete unter dampfenden Schwaden die Hälfte des Inhalts in seinen Steinmörser. Noch einmal alles ordentlich mit dem Stößel vermengt, und er widmete sich seiner Schwester. „So“, sagte er lächelnd. „Ich bin fertig. Feuerwurztinktur. Du kannst mir gerne deinen rechten Arm reichen.“

„Meinen Arm?“

„Ja, deinen Arm.“

„Aber ich habe doch gar nichts …“, murmelte Saruna mit argwöhnisch zusammengezogenen Brauen, tat aber, wie ihr geheißen, und reichte Gweldon ihren rechten Arm.

„Ich habe gesehen, dass du dich auf dem Weg hierher an einem Ast gekratzt hast“, sagte der, nahm einen Fingerhut voll von der fertigen, gelblich schimmernden Feuerwurztinktur und strich sie über einen geröteten Kratzer kurz über Sarunas Handgelenk. Augenblicklich zog die Arznei in ihre Haut ein, und wo gerade noch der Kratzer gewesen war, war nun nichts mehr zu sehen, nichts als die makellose Haut der jungen Frau.

„Einfach immer wieder unglaublich, deine Feuerwurztinktur“, sagte sie leise und umfasste ihr Handgelenk.

„Unglaublich? Na ja, nützlich würde ich eher sagen.“ Mit ein paar flinken Handgriffen füllte Gweldon die fertige Tinktur in ein leeres Glasfläschchen, verstaute dieses mit all den anderen Sachen in seiner Tasche und griff erneut zu seinem Kräutermesser. „Also dann, lass uns die Wurzeln ausgraben und hier weiterkommen. Du hast die Stofffetzen, die ich dir gegeben habe?“

„Natürlich, hier.“ Die Elfe hob zur Bestätigung einen der grauen Fetzen hoch. „Und der Saft kann da bestimmt nicht durch?“, versicherte sie sich.

„Nein, keine Sorge, den Stoff habe ich zuvor in Schartenmilch getränkt. Der Saft kann also nicht durch.“

Diese Erklärung genügte Saruna. Ohne weitere Fragen zu stellen, nahm sie das korkengleiche Wurzelstück, das ihr ihr Bruder hinhielt, entgegen, hüllte es flink in einen der Stofffetzen und legte es beiseite. Ein zweites, drittes und viertes folgten.

„Das hier ist das letzte“, erklärte der Alchemist, als er kurze Zeit später Saruna das fünfte und größte Wurzelstück reichte.

Sorgfältig eingehüllt legte sie es zu den anderen. „Gut, ich bin fertig. Was kann ich nun tun?“

„Na ja, hier sind wir mehr oder weniger fertig. Aber wenn ich so überlege, bräuchte ich noch dringend eine Handvoll Nesselkappen.“

„Eine Handvoll Nesselkappen, kommt sofort.“ Schon stand die Elfe auf, lief in den Wald und verschwand im Unterholz.

Gweldon nahm derweil eine längliche Glasphiole aus seiner Tasche und träufelte deren bläulichen Inhalt auf die abgeschnittenen Wurzelenden. Dann bedeckte er sie gewissenhaft mit einigen weißen Körnern aus seiner Manteltasche, buddelte das Loch wieder zu und drückte die Erde fest. „Gut“, murmelte er zu sich selbst, „das hätten wir.“

Er schnappte sich die Phiole und die in die grauen Fetzen gehüllten Wurzelstücke und verstaute alles in seiner Kräutertasche. „Saruna?“, rief er und erhob sich. Keine Antwort. „Saruna!“, wiederholte er, diesmal um einiges lauter. „Ich bin so weit, wir können gehen!“, brüllte er, während sein Blick suchend über die Umgebung strich. Wieder keine Reaktion. Mit ernster Miene wollte sich der Alchemist soeben auf die Suche nach seiner Schwester machen, als es ein Stück vor ihm im Unterholz knackte und ein faustgroßer Gegenstand auf ihn zugeflogen kam. Mit einem hohlen Knall zerplatzte er auf seiner Brust. Brauner, beißender Rauch stieg auf und brannte und kitzelte Gweldon zugleich in der Nase. Abwechselnd niesend und hustend fuchtelte er den Staub aus seinem Gesicht. Nun ertönte ein leises, stetig lauter werdendes und schließlich schallendes Lachen.

„Du bist gemein“, tadelte eine liebliche, von einem unterdrückten Kichern gequälte Stimme.

„Ach was“, sagte eine kräftige, tiefe Stimme unbeirrt. „Das hält der schon aus. Abgesehen davon war das eine kleine Rache für den Filzbeerenvorfall von letzter Woche. Ich habe ganze zwei Tage gebraucht, um das klebrige Zeug wieder aus meinen Haaren zu bekommen.“

„Loweon?“, vermutete Gweldon und rieb sich die tränenden Augen.

„Ganz recht“, bestätigte die tiefe Stimme mit einem triumphierenden Unterton.

„Das hätte ich mir denken können.“

Blinzelnd öffnete der Alchemist die Augen und erblickte zwei Personen, die über die Wiese auf ihn zukamen. Die erste war seine Schwester Saruna. Sie hatte die Hände voll mit grünen, kapselförmigen Pflanzenstücken und schien sich ein Lachen zu verkneifen.

Ganz im Gegensatz zu ihrem breit grinsenden Gegenüber, der zweiten Person: ein hochgewachsener Elf mit schulterlangem, zusammengebundenem Haar. Auf den Rücken gebunden trug er einen Bogen sowie einen nahezu leeren Köcher. Seine linke Hand umklammerte einen kleinen Dolch, und in der rechten hielt er einen knollenförmigen, braunen Pilz, den er lässig in die Luft warf und wieder fing.

„Du hättest eben dein Gesicht sehen sollen, als die Rauchknolle auf deiner Brust zerplatzte“, gluckste der hochgewachsene Loweon.

Nun entrang sich auch Saruna ein Kichern.

„Ja, ja, sehr witzig“, brummte Gweldon und klopfte sich die krümeligen Pilzreste vom Mantel. „Und übrigens hatte ich mit der Filzbeerensache nichts zu tun. Ich habe dich ganz bestimmt nicht in den Strauch geschubst, du Tollpatsch bist gestolpert.“

„Was heißt hier Tollpatsch? Du hast mir ein Bein gestellt, ich habe es genau gesehen“, protestierte der Lange.

„Ach was, das hast du wohl eher geträumt“, grinste Gweldon verschmitzt. „Aber nun sag mal, was machst du denn schon so früh am Vormittag auf der Schillerlichtung?“

„Na ja, Saruna hatte gestern noch hohes Fieber, also wollte ich heute Morgen nach ihr sehen. Auf dem Weg zu eurem Haus begegnete mir dann Fuldaf. Er wirkte ziemlich aufgebracht und meinte nur, dass ihr beiden im Wald seid, um Feuerwurzeln zu sammeln. Tja, und da die Schillerlichtung die einzige Stelle ist, an der man heute noch Feuerwurzeln findet, wusste ich ja, wo ich zu suchen hatte.“

„Du sagst, Fuldaf war aufgebracht?“, fragte Saruna mit besorgter Miene.

„Ja. Ich weiß auch nicht, aber er erschien mir ziemlich nervös. Sein Gesicht war vor Aufregung ganz rot gefleckt.“

„Hmm, seltsam. Hat er denn sonst noch was gesagt? Ich meine außer, dass wir beide hier unten wären.“

„Nein, eigentlich nicht, das war alles. Aber ich glaube, er hatte es ziemlich eilig“, gab Loweon achselzuckend zur Antwort.

„Sag mal“, wandte er sich dann neugierig an den Alchemisten, „wie ist es eigentlich möglich, dass ihr schon zurück seid? Wenn ich mich nicht verrechnet habe, dürftet ihr frühestens in drei Tagen wieder hier sein. Also, wie bitte konntet ihr so schnell sein?“

„Ganz einfach“, Gweldon schürzte verschmitzt die Lippen, „mithilfe der Felsschwingen. Raja war so freundlich, uns von den Tieren nach Hause bringen zu lassen.“

Loweons Kinnlade klappte ungläubig hinunter. „Wie, du meinst die Felsschwingen? Die geflügelten Böcke der Felsstadter Königswache?“

„Genau die.“

„Und du durftest wirklich auf ihnen fliegen?“

„Ja, den ganzen Weg von Felsstadt nach Dalwas“, sagte der Alchemist stolz.

„Das glaub ich ja nicht. Ich würde alles dafür geben, um auch nur ein einziges Mal auf einem dieser Tiere sitzen zu dürfen.“ Loweons Augen sprühten vor Faszination. „Man sagt, sie wären schneller als der Wind und ihre Schwingen so kräftig, dass sie mit einem einzigen Flügelschlag einen ganzen Baum entwurzeln könnten. Erzähl, wie war der Flug? Es muss einfach atemberaubend gewesen sein.“

„Na ja“, grinste Gweldon breit. „Was soll ich sagen, es war unglaublich, mit nichts zu vergleichen. Leider dauerte der Flug kaum zwei Stunden und ich ...“

„Gweldon“, unterbrach Saruna ihren Bruder, „können wir bitte nach Hause gehen?“

Der Alchemist wandte sich seiner Schwester zu. „Natürlich, ich wollte nur noch eben ...“ Er verstummte, als er den harten Ausdruck auf ihrem lieblichen Gesicht bemerkte. „Was ist los? Was hast du?“ Seine Stimme klang besorgt.

„Ich weiß nicht. Ich fühle mich nicht so gut. Können wir bitte gehen?“

„Ist es das Fieber, kommt es etwa zurück?“ Schon drückte er ihr den Handrücken auf die Stirn.

„Nein, keine Sorge, das ist es nicht. Ich fühle mich einfach unwohl.“

„Gut, dann bringe ich dich sofort nach Hause.“ Gweldons Blick schwenkte zurück auf seinen Freund. „Kommst du mit?“

„Nein, ich muss noch runter ans Klageriff. Aber ich werde morgen Abend nach euch sehen.“

„In Ordnung, dann bis morgen.“

Während Loweon in östlicher Richtung im Wald verschwand, geleitete Gweldon, den Arm stützend um ihren Rücken geschlungen, seine Schwester über die Lichtung auf den schmalen Pfad, der zum Dorf führte. „Ist dir schwindelig? Oder unwohl? Ich hätte notfalls ein Herbkraut dabei.“ Der Alchemist deutete auf seine Kräutertasche.

Saruna blieb stehen und schüttelte den Kopf. „Nein, es ist kein solches Unwohlsein. Es ist vielmehr ein … ein ...“ Sie schien verzweifelt nach den richtigen Worten zu suchen. „Es ist wie ein Brennen in der Brust. Ein Gefühl, das mir sagt … das mir sagt, dass wir sofort nach Hause müssen.“ Schon rannte die Elfe los.

„Saruna?“ Gweldon sprintete ihr überrascht hinterher. „Was ist denn los?“

„Ich weiß es nicht. Aber ich glaube, wir müssen so schnell wie möglich nach Hause.“

*

Kapitel 3

Schlechte Kunde

Die runde, kunstvoll verzierte Tür sprang auf und die Elfen stürmten ins Haus. Im Flur stand ein korpulenter, rothaariger Zwerg mit leidvoller Miene. Als er die Geschwister sah, senkte er sein Haupt und wies mit der Hand auf den nächsten Raum. Unsicher, was sie im Zimmer nebenan erwarten würde, traten die beiden vor die Tür, klopften zaghaft und traten ein. Was sie nun zu sehen bekamen, war sowohl verwunderlich als auch Angst einflößend. Raja stand da, neben dem Bett ihres alten Herrn. Dieser lag reglos und mit geschlossenen Augen auf seinem Bett. Seine Haut war sonderbar blass, das Gesicht fahl und irgendwie eingefallen und die Atmung ging flach.

Eigentlich hätte Raja vor Freude überschäumen müssen, denn Saruna war seit jeher eine ihrer besten Freundinnen, und die beiden hatten sich die letzten Jahre über kaum zu Gesicht bekommen. Doch die kleine Frau schien alles andere als erfreut. Sie hatte ihren Blick auf den alten Weldran gesenkt, traurig strich sie mit ihren kurzen Fingern über seine blasse Hand.

„Ist er …“, hauchte Saruna und trat steif vor Entsetzen ans Bett.

„Nein“, beruhigte sie die Zwergin sogleich. „Keine Sorge, es wird alles wieder gut. Aber ich denke, wir müssen uns unterhalten.“ Ihr strenger Blick haftete auf Weldran, als sie mit den beiden sprach. Schließlich seufzte sie tief und wandte sich an die Geschwister. „Kommt“, sagte sie, ihre Stimme klang brüchig, „lasst uns nach draußen gehen. Es gibt da so einiges, das ihr wissen solltet.“

Gweldon nickte ernst und verließ leise mit Raja das Zimmer. Saruna hingegen blieb wie angewurzelt stehen. Sie konnte den Blick nicht von ihrem Vater nehmen. Trauer und Unverständnis überkamen sie. Einige Minuten verharrte die junge Frau in absoluter Stille, bevor sie mit gesenktem Kopf und trauriger Miene den Raum verließ.

Raja und Gweldon hatten sich bereits auf dem Sofa im Wohnzimmer niedergelassen. Raja hatte den Kopf zwischen ihre kleinen Hände gelegt und betrachtete mit starrem Blick den Boden zu ihren Füßen. Ihr war die Verzweiflung anzusehen. Auch Gweldon wirkte niedergeschlagen. Sein unergründlicher Blick ruhte auf einer der dunklen Steinfiguren auf dem Kaminsims. Es war ein Fabelwesen aus ihren Legenden, ein sogenannter Mooswürger. Die Figur stellte eine in gekrümmter Haltung lauernde Gestalt aus Morast und Zweigen dar.

Zaghaft und mit verschränkten Armen trat die Elfe an die beiden heran. „Raja“, hauchte sie. Ungern hob die Zwergin den Kopf. Ihre Augen waren stark gerötet und die Brauen so streng zusammengezogen, dass sich eine tiefe Sorgenfalte gebildet hatte. Endlich erhob sich Gweldon, den Blick noch immer fest auf das Fabelwesen geheftet, trat er an den Kamin, nahm die Figur vom Sims, drehte sie nach allen Seiten und betrachtete sie argwöhnisch.

Saruna, die ihn genau beobachtet hatte, murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. Dann räusperte sie sich hörbar, sah ihren Bruder fragend an und sagte: „Mooswürger?“

Doch Gweldon antwortete nicht. Er war so vertieft in seine Gedanken, dass er die Frage seiner Schwester vollkommen überhört hatte. Ganz im Gegensatz zu Raja, deren Kopf nun zu Saruna herumschwenkte. Sie warf der Elfe ein erzwungenes Lächeln zu und tippte mit ihrer kleinen Hand fordernd auf das Sofa. Saruna verstand und setzte sich neben die Zwergin.

Diese begann zu erzählen.

Nachdem sich Gweldon und Weldran heute Morgen auf den Heimweg gemacht hatten, entschied Raja, als Erstes nach ihrem geliebten Onkel zu sehen. Da die Nacht anstrengend und lang gewesen war, wollte sie sich versichern, dass es dem alten Herrn gut ging. So begab sie sich auf direktem Weg in seine Gemächer. Im Korridor, der zum königlichen Schlafgemach führte, herrschte jedoch eine eigenartige Stimmung. Die Wachen, die eigentlich vor der Zimmertür hätten stehen müssen, hatten diese aufgerissen und starrten auf etwas, das sich im Raum befand. Wie versteinert standen sie da, die Augen vor Panik weit aufgerissen, den Mund unwillkürlich geöffnet, als wären sie vor Entsetzen nicht in der Lage, ihn wieder zu schließen. Dann entfuhr einer der Wachen ein lauter Schrei und sie stürzte mit erhobener Axt ins Zimmer. Anscheinend wachgerüttelt vom Schrei befreite sich auch die zweite aus ihrer Starre und lief der ersten hinterher.

Auch Raja rannte zum Gemach ihres Onkels. Noch auf dem Weg dorthin hörte sie ein eigenartiges Geräusch, ein Geräusch, als würde man mit einer Axt einen gewaltigen Matschklumpen zerteilen. Und dann hallte durch die Hallen ein spritzendes Klatschen, als ob jemand einen ganzen Eimer voll Wasser oder Schlamm auf den Fußboden geschüttet hätte. Von den Wachen selbst war lediglich ein angewidertes Schnauben zu hören.

Und dann, als Raja endlich die Zimmertür erreicht hatte, war plötzlich alles ruhig. In König Algars Zimmer standen die beiden Wachen, von oben bis unten mit Schlamm verschmiert, die Äxte erhoben. Auf dem Boden vor ihnen, keine fünf Fuß neben des Königs Bett, lag ein gigantischer dunkler Haufen. Als Raja näher an diesen herantrat, erkannte sie, dass er aus Moos, einigen Ästen und fauligem Schlamm bestand. Abgesehen davon verströmte er einen stechend unangenehmen Geruch, welcher schon bald das gesamte Zimmer verseuchte.

Eine der Wachen vermutete, dass es sich bei diesem triefenden Haufen um einen Mooswürger handelte und dass das Geschöpf dem König einen flechtenartigen Parasiten in den Hals gepflanzt hatte. Leider lag der Wachmann mit seiner Vermutung richtig. Denn als sie sich des reglos im Bett liegenden und nur mehr flach atmenden Königs annahmen, fanden sie bald eine grünlich gelbe Flechte in dessen Hals.

Natürlich wollte Raja das Gewächs sofort entfernen, doch sie wurde von einer der Wachen zurückgehalten und aufgeklärt. Laut Legende war es unmöglich, eine von einem Mooswürger eingepflanzte Flechte zu entfernen, denn bei solch einem Versuch würde sich das parasitengleiche Gewächs auf der Stelle verhärten und binnen Minuten auf das Doppelte bis Dreifache anwachsen, was für den Wirt einen schmerzhaften Erstickungstod bedeutete.

Nach langem Hin und Her blieb nur mehr eine Möglichkeit: Um das Leben des Königs zu retten, musste jemand nach Dalwas zu den Waldelfen reisen, in der Hoffnung, dass deren weiseste Alchemisten und Kräuterkenner ein Heilmittel besäßen.

Nachdem Raja mit ihrem Bericht über die jüngsten Ereignisse in Felsstadt geendet hatte, senkte sie den Kopf und legte ihn zwischen ihre kleinen Hände. Beim Gedanken an ihren geliebten Onkel und dessen hilflosen Zustand wurde ihr ganz flau im Magen.

Saruna, die beim Anblick ihrer Freundin erst einmal einen kurzen Augenblick brauchte, um sich wieder zu sammeln, flüsterte schließlich: „Aber was ist jetzt mit Felsstadt? Wer kümmert sich ...“

Die Frage wurde von einer bekannten Stimme, die vom Flur her zu ihnen drang, beantwortet, noch bevor die Elfe sie zu Ende stellen konnte: „Ranon wird sich um Felsstadt kümmern. Keine Sorge, die Bewohner sind sicher.“

Die raue Stimme gehörte zu Fuldaf. Gestützt auf seinen knorrigen Stab tapste der Alte in den Raum. Die Miene versteinert, die Lippen zum strengen Strich gezogen ruhte sein Blick auf Gweldon, der nun die Steinfigur wieder zurück an ihren Platz stellte.

Saruna betrachtete den Narbengesichtigen ernst. „Und so ein Mooswürger war auch hier bei uns. Stimmt�s? Ich meine, Vater hat genau dieselben Symptome wie König Algar“, sagte sie überzeugt.

„Ja“, antwortete Fuldaf knapp, „das heißt, wir vermuten es. Leider ließ ich euren Vater vorhin kurz allein, um von mir zu Hause ein paar alte Schriftstücke zu holen, nach denen er verlangt hatte. Als ich wiederkam, traf ich Raja, sie hatte ihn kurz vor mir im Flur auf dem Boden gefunden. Wir trugen ihn zusammen in sein Bett.“ Fuldaf kratzte sich nachdenklich mit seinem Stock am Kopf und sprach weiter. „Raja erzählte mir sogleich, was der Grund für ihre Anwesenheit war, und nach einem kurzen Blick in Weldrans Hals stand fest, dass er von dem gleichen flechtenartigen Gewächs wie König Algar befallen war. Eigenartigerweise fanden wir euren Vater aber ganz alleine vor. Weit und breit kein Mooswürger oder sonst irgendetwas, das ihm so etwas hätte antun können. Wir durchsuchten das gesamte Haus, aber es war niemand da. Auch gab es keinerlei Anzeichen für einen Kampf. Ganz seltsam.“

Fuldaf schüttelte ratlos den Kopf. Einige Sekunden der Stille verstrichen. Angst über die Ungewissheit stand im Raum. „Könnt ihr euch noch an die Geschichten über die Mooswürger erinnern?“, brach Fuldaf das Schweigen. Fragend strich sein Blick über die Gesichter der drei.

„Selbstverständlich“, antwortete Gweldon rasch.

„Natürlich“, fügte Raja hinzu.

Saruna knabberte nachdenklich auf ihrer Unterlippe. „Kommt darauf an. Welche meinst du? Es gibt bestimmt ein Dutzend verschiedene“, sagte sie dann.

Der Alte nickte ihr verständnisvoll zu. Dann ging er die paar Schritte zum Sofa und ließ sich mit einem Seufzer nieder. Nachdenklich legte er den Zeigefinger auf seine Lippen. Einen Moment schien er angestrengt über etwas zu grübeln, denn seine buschigen Augenbrauen waren zu einem einzigen grauen Balken zusammengezogen. Schließlich entspannten sich seine Brauen wieder, seine Gesichtszüge wurden weich, und er blickte zu Gweldon. „Ich meine die Legenden von den Fauldornen.“

Gweldon zuckte überrascht die Schultern. „Natürlich kenne ich sie. Jeder Kräuterkundige in Dalwas kennt sie. Es sind die ersten Geschichten, die man erzählt bekommt. Und es gibt, wie Saruna schon erwähnte, sehr viele Sagen und Legenden, auch über die Dornen.“

Er nickte seiner Schwester bestätigend zu. Dann sah er zu Fuldaf, dessen Miene sich kein Stück verändert hatte. Er schien auf weitere Erklärungen des jungen Elfen zu warten. Gweldon deutete seinen Gesichtsausdruck richtig, überlegte einen Moment und fuhr dann fort:

„Die Fauldornen werden in etlichen Sagen in unterschiedlichsten Zusammenhängen erwähnt. Es wird dabei aber ständig wiederholt, dass die Pflanzenteile, ganz gleich, ob gekocht, roh, geschnitten oder gepresst, über unfassbar viel Energie verfügen. Diese wirkt besonders stark in Tränken oder Tinkturen. In der Alchemie verwendet wandeln sie die Mixturen auf die verschiedensten Arten. Mal werden diese einfach nur stärker oder verändern Farbe und Geruch, ein andermal beeinflussen sie gleich die gesamte Wirkung von Grund auf. Was genau passiert, kann man im Voraus nie sagen. Anscheinend hängt alles vom Alter der Dornen ab. So sollen junge Gewächse lediglich die Wirkung verstärken, während die älteren Exemplare absolut nicht einschätzbar sind. Leider hatte ich noch nie in meinem Leben das Glück, eine zu finden. Was daran liegt, dass sie ausschließlich in den Genusischen Sümpfen vorkommt. Genauer noch: nur unter Faulweiden. Die Wurzeln der Weiden sind mit dicken Dornen, den eben genannten Fauldornen, bestückt. Das Ausgraben an sich wäre wahrscheinlich kein allzu großes Hindernis. Laut den Legenden liegt das Problem vielmehr bei den Hütern der Weide.“

Nun unterbrach ihn Raja. „Mooswürger?“, brachte sie mit belegter Stimme hervor.

Gweldon nickte. „Ja. Den Legenden zufolge beschützen sie die Weiden mit ihrem Leben. Warum, weiß jedoch keiner so genau.“

Nun räusperte sich Fuldaf und zog aus seiner Manteltasche ein vergilbtes, klein zusammengefaltetes Schriftstück. „Laut einer sehr, sehr alten Legende – mein Urgroßvater hat sie mir zu seiner Zeit erzählt – sind Mooswürger eigentlich Wanderer. Pilger, um genau zu sein, deren Weg unglücklicherweise durch die Genusischen Sümpfe führte. Als sie sich erschöpft unter den Faulweiden niedergelassen hatten, wurden sie von deren Wurzeln unter die Erde gezogen. Nach ein, zwei Tagen bildete sich ein monströser Baumpilz am Fuße der Weide. Darin, wie ihr euch wahrscheinlich vorstellen könnt, waren die leblosen Körper der Opfer. Das Wachstum des Pilzes war enorm. In kürzester Zeit war er an die drei Fuß hoch und zwei Fuß breit. Mit Ende des Wachstumsprozesses durchbrachen die Geschöpfe dann das faulige Pilzfleisch und wurden als Mooswürger wiedergeboren. Ihre Gestalt hatte sich stark verändert. Zwar hatten sie immer noch Arme, Beine, Rumpf und Kopf, doch ihr Körper war auf das Doppelte angewachsen. Wobei, Körper ist in dieser Hinsicht meiner Meinung nach der falsche Ausdruck. Wo einst Haut, Fleisch, Knochen und Haare waren, befand sich nun eine widerwärtige Mischung aus Moor, Moos, kleinen Zweigen, Pilzen und fauligem Schlamm. Vom enormen Gewicht ihres neuen Körpers halb in die Knie gezwungen, bewegten sich die Wesen fortan nur mehr gebeugt voran, sodass sie ihre Hände, ich würde sie eher als Moospranken bezeichnen, beim Gehen über den Boden schleiften. Eigentlich, so heißt es, wären die Mooswürger friedfertige Geschöpfe, die keiner Seele etwas zuleide tun könnten, zumindest solange man ihre Faulweiden zufriedenlässt. Tja, und da, soweit ich weiß, weder Weldran noch Algar sich jemals an einer Faulweide vergriffen haben, schätze ich mal, dass dieser Teil der Legenden wohl kaum stimmen kann.“

Als Fuldaf die Geschichte zu Ende erzählt hatte, reichte er Gweldon das Schriftstück. Der nahm es an sich und öffnete es neugierig. „Ich sollte es für euren Vater holen, es ist sehr alt und inzwischen bei den meisten Waldelfen in Vergessenheit geraten“, fügte der Narbengesichtige hinzu.

Der junge Elf gab sich alle Mühe, die veraltete Schrift zu entziffern. Einige Minuten lang haftete sein konzentrierter Blick auf dem Pergament. „Oh“, durchfuhr es ihn dann, „jetzt verstehe ich, worauf du hinauswillst. Es geht um die Fauldornen und ihre besondere Wirkung. Fauldornen verändern nämlich nicht nur die Zusammensetzung von Gebrautem wie Elixieren oder Tinkturen, sondern sie haben auch in roher Form eine ganz eigene Wirkung. Roh verzehrt würde schon eine geringe Menge von ihnen ausreichen, um sämtliche Schleimhäute vom Mund bis hinunter in den Magen zu verätzen. Bei den Augen ist es noch schlimmer. Dort würde schon ein Krümel ausreichen, um dem Betroffenen auf ewig das Augenlicht zu rauben.“ Nun hob Gweldon den Blick von der Schriftrolle, um Fuldaf in die Augen sehen zu können. „Du willst die Parasiten in ihren Hälsen wegätzen, stimmt�s?

Der Alte nickte knapp. „Es ist die einzige mir bekannte Möglichkeit.“

Bei dem Gedanken, ihrem geliebten Onkel ein solch gefährliches Gewächs zu verabreichen, verkrampfte sich Rajas Magen schmerzhaft und ihr entglitt ein stiller Seufzer. Saruna erkannte die Furcht ihrer Freundin. Beruhigend streichelte sie ihr mit der Hand über den Rücken.

„Ich verstehe es einfach nicht“, flüsterte die Zwergin verständnislos. „Was wollen sie bloß von uns? Ich meine, wir haben ihnen doch nichts getan … gar nichts. Also verflucht, was wollen sie von uns?“ Wut flammte heiß wie Feuer in der kleinen Frau auf.

„Ich weiß es nicht“, gestand Fuldaf mit ruhiger Stimme. „Aber eines weiß ich so sicher, wie ich hier sitze: Der Parasit wird weiter wachsen. Drei bis maximal fünf Tage, und er ist ausgereift.“

Saruna sah den Alten eindringlich an. „Und wenn wir bis dahin keine Fauldornen besorgt haben, werden die beiden … sie werden ersticken.“ Beim letzten Wort versagte der Elfe die Stimme.

Fuldaf sah sie besorgt an und nickte traurig.

„Dann bleibt uns nicht mehr viel Zeit. Wir müssen sofort aufbrechen“, entschied Gweldon.

„Nein, nicht sofort!“, fuhr der Alte ihn an. Er hob seine Hand und wies auf das nächste Fenster. Langsam, aber sicher neigte sich der Tag dem Ende zu. Nicht mehr lange, und die Dämmerung würde ihren schwarzen Schleier über das Elfendorf und alles andere legen.

„Es ist zu gefährlich. Wir wissen nicht, ob die Mooswürger noch irgendwo in der Nähe sind“, fügte Fuldaf streng hinzu. „Abgesehen davon habt ihr noch ein bisschen was zu tun. So eine Reise bedarf schließlich einiger Vorbereitung.“