Nicht ohne meine Mutter - Meral Al-Mer - E-Book
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Meral Al-Mer

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Beschreibung

Wo Merals Familie herkommt, da herrschen die Männer: stolze, auch kluge Männer, manchmal. Aber häufig brutal, ohne Respekt vor dem Körper einer Frau. Und ohne Angst davor, dass sie sich wehren könnte. Meral hat sich befreit, von ihrem Vater, der sie entführte, als sie ein Jahr alt war. Den sie anzeigte wegen seiner Gewalttätigkeit und grausamen Demütigungen, unter denen sie litt, solange sie bei ihm leben musste. Und sie hat wiedergefunden, was sie so lange entbehrte: ihre Mutter, die sie mehr als 25 Jahre nicht sehen durfte.

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Seitenzahl: 438

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Meral Al-Mermit Beate Rygiert

Nicht ohnemeine Mutter

Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war.Die Geschichte meiner Befreiung

Über die Autorin

Meral Al-Mer wurde in Mönchengladbach geboren, seit 2001 lebt und arbeitet sie als Musikerin, Schauspielerin und Journalistin in Berlin. Sie erhielt diverse Auszeichnungen für ihre journalistische Arbeit, unter anderem eine Nominierung für den Civis Preis, die besondere Anerkennung für herausragende Leistungen im Rahmen des Victor-Klemperer-Wettbewerbs sowie den Axel-Springer-Preis für junge Journalisten. 2010 wurde Meral durch die erste Staffel der Musik-Castingshow X Factor einem breiten Publikum bekannt. Die große Reise ihres Lebens dokumentiert sie auch auf ihrem Blog. http:al-mer.blogspot.de

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Deutsche Erstausgabe

Copyright © 2013/2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Susanne Haffner

Textredaktion: Dr. Ulrike Sterath-Bolz, Friedberg

Titelbild: © Laura Jost, Berlin

Umschlaggestaltung: Tanja Østlyngen

Datenkonvertierung E-Book:

hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-8387-2497-3

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für Saliha & Meral

Für Meral & Mourad

Für Mourad & Hamid

Für Hamid & Elke

Für Elke & Melissa

Inhalt

Prolog – Licht und Schatten

Kapitel 1: Hamids Träume

Kapitel 2: Familienurlaub der besonderen Art

Kapitel 3: Ohne meine Mutter

Kapitel 4: Mutter Nummer drei

Kapitel 5: Der syrische Bruder

Kapitel 6: Der Traum von einer ganz normalen Familie

Kapitel 7: Die vielen Gesichter meines Vaters

Kapitel 8: Vom Mädchen zur Frau – ein Vater sieht rot

Kapitel 9: Die Nebenfrau

Kapitel 10: »Kennst du die Angst …«

Kapitel 11: Sommer 1995

Kapitel 12: »Willst du sterben?«

Kapitel 13: Gefangen

Kapitel 14: »… dann bin ich es!«

Kapitel 15: Eine Familie fliegt in die Luft

Kapitel 16: Tanz auf den Scherben

Kapitel 17: Auf Schleuderkurs

Kapitel 18: In der Klapse

Kapitel 19: Die Anzeige

Kapitel 20: Der Prozess

Kapitel 21: Die Melancholie des Sieges

Kapitel 22: Neue Ufer

Kapitel 23: Abschied von Elke

Kapitel 24: »Schöne Grüße von deiner Mutter!«

Kapitel 25: Die Reise

Kapitel 26: Meine Mutter, die Wüstenkönigin

Kapitel 27: Der Segen

Epilog

Danke

Bildtafeln

PROLOGLicht und Schatten

Meral!«

Ich stehe vor einer Lehmhütte im tiefsten Anatolien, nicht weit von der syrisch-türkischen Grenze entfernt. Dies ist die Heimat meiner Eltern. Ich bin zwölf Jahre alt und schaue zu meinem Vater Hamid hinüber, so wie ich es immer tue, so wie ich es gelernt habe, denn keine Entscheidung in meinem Leben darf ich ohne seine Erlaubnis treffen.

»Meral! Komm herein, Meral!«

In den Augen meines Vaters entdecke ich Angst, und das ist höchst ungewöhnlich. Ich sehe ihm an, dass er mir gerne verbieten würde, diese Hütte zu betreten. Aber er wagt es nicht. Schon allein das ist eine kleine Sensation. Was soll ich tun? Seinem unausgesprochenen Wunsch gehorchen oder die magische Schwelle übertreten?

»Mädchen! Worauf wartest du?«

Ich drücke die Tür auf und gehe hinein. Es dauert einen Moment, bis sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnt haben. Dann erkenne ich eine unfassbar dicke Frau, die wie eine riesige Kugel auf ihrem Sitzfleisch ruht. Ihr Haar leuchtet hennarot. Sie winkt mich zu sich heran und lächelt mit golden blinkenden Zähnen. Diese Frau, die aussieht wie eine orientalische Hexe, ist die Schwester meiner Großmutter, eine der vielen Tanten meines Vaters. Ich habe meine Oma Halima sehr geliebt, erst vor Kurzem ist sie gestorben.

»Komm her«, sagt die rothaarige Großtante mit den goldenen Zähnen. »Lass dich anschauen.«

Sie mustert mich mit ihren lebhaften schwarzen Augen. Ich halte ihrem Blick stand und lächle zurück.

»Ich hab etwas für dich«, sagt sie, »etwas, das schon lange in unserer Familie von Mädchen zu Mädchen weitergegeben wird. Deine Oma wollte, dass du das jetzt bekommst.«

Sie streckt den Arm aus und greift nach einem kleinen Stoffbeutel. Zwei Steine schüttelt sie heraus; einer ist orange, der andere grün.

»Hier«, sagt sie und legt mir die Steine in die Hand. »Die gehören jetzt dir. Trag sie bei dir. Und wenn du einmal eine Tochter hast, dann gib sie an sie weiter.«

Diese Steine trug ich immer bei mir, bis mir eines Abends während eines Auftritts der orangefarbene, den ich besonders liebte, aus der Manteltasche hüpfte und unter der Bühne des Berliner Clubs verschwand. Ich suchte verzweifelt und kehrte am nächsten Tag noch einmal zurück – vergebens. Der Stein hatte beschlossen, mich zu verlassen. Da begriff ich, dass meine Geschichte noch nicht zu Ende ist. Ich verstand, dass mein Leben eine Art Reise ist oder besser gesagt, auf eine bestimmte Reise hinsteuert: auf die Reise hin zu meiner Mutter.

Denn fast dreißig Jahre meines Lebens musste ich ohne meine Mutter zurechtkommen. Die Hälfte dieser Zeit war bestimmt durch die immer übermächtiger werdende Gegenwart meines Vaters und die Abwesenheit meiner leiblichen Mutter. Nicht etwa, weil sie tot war, sondern weil ich ihr entrissen wurde, im Alter von sechzehn Monaten.

Seit dem Tag, an dem ich meinen orangefarbenen Glücksstein verlor, schrieb ich Szenen meines Lebens nieder, wie einzelne Perlen, die noch nicht auf eine Schnur gereiht worden sind. Zunächst einfach für mich selbst, um meine Geschichte besser zu verstehen. Denn ich wollte herausfinden, was zwischen mir und meinem Vater geschah, den ich über alles liebte, so sehr, dass ich es fast nicht geschafft hätte, mich vor ihm in Sicherheit zu bringen. Das Aufschreiben half mir, klarer zu sehen und zu erkennen, wie in diesen Geschichten, in denen es um die Selbstbestimmung von Frauen mit türkischem oder arabischem Hintergrund geht, und die sich alle im Kern sehr ähneln, ein Ereignis zum anderen fügt, bis am Ende eine Katastrophe unausweichlich scheint.

Als ich einen meiner Onkel fragte, ob er mir mehr über die rothaarige Großtante mit den goldenen Zähnen erzählen könnte, sagte er: »Bist du verrückt? Steine von dieser Hexe? Wirf sie weg! Verbrenn sie! Sie sind der Grund, dass dein Leben so ist, wie es ist.«

Aber das glaube ich nicht. Ich glaube ganz fest daran, dass die wirklich Guten in dieser Geschichte die Frauen sind. Sie sind es, die Liebe verschenken, auch wenn sie immer das meiste Leid ertragen müssen: Schläge, Misshandlungen, Ungerechtigkeit und viel zu oft den Verlust ihrer Kinder.

Manchmal sehe ich sie vor mir, die lange Reihe meiner Ahninnen, die aus Syrien stammen und Töchter eines stolzen Nomadenstammes sind. Lebenskluge und starke Frauen, und doch konnte sich keine davor schützen, geschlagen und gedemütigt zu werden. So wie meine Oma Halima, die Schwester jener »Hexe« mit den Steinen, die kurz nach ihrer Heirat von meinem Großvater kopfüber an der Decke aufgehängt und ausgepeitscht wurde. Sie hatte eine große Narbe im Gesicht, und wenn ich sie fragte: »Oma, wo hast du die her?«, dann antwortete sie: »Da hat mich ein Esel getreten.« Nur dass der Esel mein Großvater war, der einen Aschenbecher nach ihr geworfen hatte.

Wie konnten diese Frauen, ohne die ich nicht hier wäre und deren Gene ich in mir trage, dieses Leid ertragen, ohne dagegen aufzubegehren? Ich kenne die Antwort nicht. Ich weiß nur eines: Dass ich diesen Kreislauf durchbrechen muss, ja, schon lange durchbrochen habe, und damit auch das Tabu der Unantastbarkeit väterlicher Gewalt. Dagegen stand ich auf und zog vor Gericht. Ich bekam Recht – und bezahlte einen hohen Preis dafür. Jahrelang fürchtete ich um mein Leben. Noch heute werde ich von meiner Familie mehr oder weniger geächtet. Und doch weiß ich, dass es richtig war, es zu tun. Aus einer muslimischen Familie stammend führe ich heute das Leben einer unabhängigen, selbstbestimmten, modernen Frau.

Es war einmal eine andere Frau, die dies versuchte: Hatun Sürücü, die sich Aynur nannte – Mondlicht. Sie wollte nichts anderes, als so zu leben, wie sie es sich wünschte. Frei sein. Selbst über sich entscheiden. Glücklich sein, so wie sie sich Glück vorstellte. Ihre Familie ließ es nicht zu. Drei Kugeln in ihrem Kopf bereiteten ihrem Leben im Alter von dreiundzwanzig Jahren ein Ende. Das war 2005, und wenn die Schüsse auch von einem ihrer Brüder abgefeuert wurden, so war es doch ihre gesamte Familie, die hinter dieser Tat stand. Es war der erste Ehrenmord in Deutschland, der so genannt wurde, doch Hatun war beileibe nicht die erste Frau, die ihn erlitt. Wie viele Frauen sind vor Hatun Aynur von ihren Familien hingerichtet worden? Tausende? Abertausende?

Hatun war ungefähr so alt wie ich. Als ich mich mit ihrem Schicksal befasste, war ich von den Parallelen zwischen ihrem und meinem Leben so betroffen, dass ich tagelang nur noch weinen konnte. Noch heute kommen mir die Tränen, wenn ich auch nur an sie denke.

Hatun musste sterben. Dass ich noch lebe, ist alles andere als selbstverständlich. Ich wurde so schwer misshandelt, dass ein Schlag mehr, ein etwas stärkerer Würgegriff, einer der vielen Treppenstürze mich leicht hätte töten können. Wie oft fühlte ich den kalten Lauf einer geladenen Pistole an meiner Schläfe und hörte die Frage: »Willst du sterben?«

Ja, damals habe ich ihn mir oft gewünscht, meinen Tod. Ich wollte lieber aufrecht sterben als auf Knien leben. Es gab Zeiten, da war das Leben eine Strafe. Heute lebe ich gern, und ich bin froh, dass ich, im Gegensatz zu Hatun, berichten kann, dass es auch für eine türkisch-arabische Frau ein Leben nach der Familie gibt.

Und so begann ich, mich mehr und mehr meinen Erinnerungen zu stellen, so schmerzhaft sie auch sind. Woran ich mich nicht mehr erinnerte, versuchte ich zu rekonstruieren. Ich begann, Kontakte zu knüpfen und Fragen zu stellen. Und nachdem ich all die traumatischen Erlebnisse noch einmal durchlitten hatte, wagte ich es, mich auch an die schönen Dinge zu erinnern. Denn dies soll kein Buch der Abrechnung werden, keine Geschichte in Schwarz und Weiß, denn kein Mensch hat nur böse Seiten. Wo Schatten sind, da ist auch ganz viel Licht. So wie bei meinem Vater, den ich als Kind mehr liebte als alles andere auf der Welt. Auch wenn er für seine Familie immer mehr zum Monster wurde, so war er doch auch der hilfsbereite, weltgewandte, schillernd charmante und inspirierende Vater, um den mich alle Freundinnen beneideten.

Ich möchte verstehen, wie es dazu kommt, dass Männer wie mein Vater es für nötig halten, wehrlose Kinder und Frauen zu misshandeln. Nur das, was wir verstehen, können wir versuchen zu verändern.

Und schließlich begann ich, eine Reise vorzubereiten, auf die ich mich freue und vor der ich mich gleichzeitig mehr fürchte als vor allem anderen: die Reise zu Saliha, der Frau, die mich geboren hat.

1Hamids Träume

Als ich am 2. Februar 1981 im Elisabeth-Krankenhaus in Mönchengladbach zur Welt kam, war die Ehe meiner Eltern bereits die reinste Katastrophe. Eine Fotografie zeigt meine Mutter im Krankenhausbett, eine Schönheit im orientalischen Prinzessinnennachthemd, ihr wunderschönes Gesicht von dunklem Haar in weichen Wellen umrahmt. Es nützte ihr nichts. Mein Vater wollte keine Kinder, doch Saliha, die hoffte, dass Nachwuchs ihn sanfter stimmen würde, hatte die Pille heimlich abgesetzt. Statt eines Sohnes kam ich, doch mein Vater wurde alles andere als sanfter. Kaum war sie wieder zu Hause, prügelte er Saliha die Treppe zu ihrer gemeinsamen Wohnung unter dem Dach im Haus des Familienclans hinauf und wieder hinunter, weil sie es nicht einmal geschafft hatte, einen Sohn zu gebären – so erzählten es später die Nachbarn.

Oder stimmt das gar nicht? Hat mich Hamid vom ersten Moment an geliebt und in seine Arme geschlossen, tagelang herumgetragen und allen stolz gezeigt? Warum sonst hätte er darauf bestanden, dass ich bei ihm blieb? In dieser Geschichte gibt es so viele Wahrheiten, dass es schwer ist herauszufinden, was tatsächlich geschah.

Mein Vater Hamid Al-Mer und mindestens sechs seiner Geschwister wurden in der Türkei geboren, in einem Dorf in der Nähe von Antakya, nicht weit von der türkisch-syrischen Grenze entfernt. Dieses Gebiet gehörte ursprünglich zu Syrien, und erst in den Sechzigerjahren ging es per Volksentscheid an die Türkei. Darum sprechen die Älteren in meiner Familie sowohl Arabisch als auch Türkisch.

Mein Großvater Abit Al-Mer stammte aus Syrien, aus der Nähe von Aleppo. Als seine Eltern starben, nahm ihn die Familie meiner Großmutter auf, die auf der heute türkischen Seite wohnte. Mit sechzehn heiratete er Halima, seine dreizehnjährige Großcousine, mit der er aufgewachsen war, und Halima gebar ihm Kind um Kind. Die Gegend um Antakya war in den Sechziger- und Siebzigerjahren bitterarm, und darum entschloss sich mein Großvater, als Gastarbeiter nach Deutschland zu gehen.

Nach einigen Zwischenstationen landete er in Hückelhoven bei Mönchengladbach, wo er Arbeit im Steinkohlebergbau fand. Später holte er seine Familie nach, und damit die Söhne gleich mitarbeiten konnten, wurden sie für älter ausgegeben, als sie tatsächlich waren. Während meine Oma Halima noch weiteren Kindern das Leben schenkte – insgesamt neun –, verfolgte mein Großvater den Plan, so schnell wie möglich viel Geld zu verdienen, um dann mit diesem Startkapital wieder zurück in die Heimat zu gehen.

Mein Vater Hamid war der älteste Sohn des Al-Mer-Clans, und oft erzählte er mir, wie froh er gewesen war, dem armseligen Leben in Anatolien zu entfliehen. Seit ich denken kann, hing bei uns im Wohnzimmer die Reproduktion eines Gemäldes, das zwei zerlumpte Betteljungen zeigt, die sich gemeinsam am Boden sitzend über eine Melone hermachen.

»Die beiden erinnern mich an meinen Bruder und mich«, sagte er oft, »als wir einmal eine Melone fanden.«

Von diesem Bild hat er sich bis heute nicht getrennt, so als müsste er sich stets rückversichern, woher er eigentlich kommt, und welchem Schicksal er entronnen ist.

Das Schicksal, das ihn in Hückelhoven erwartete, war allerdings alles andere als das, was er sich für sein Leben erträumt hatte. Was genau das war, darüber sprach er nie. Mein Vater Hamid war äußerst intelligent, und mit einer entsprechenden Schulbildung hätte er viel mehr aus seinem Leben machen können. Er lernte rasch akzentfrei Deutsch, und alles, was neu und unbekannt für ihn war, sog er in sich auf wie ein Schwamm. Mit seinem tiefschwarz glänzenden, kleingelockten Haar, das ihm wie eine Gloriole um den Kopf stand, seinem athletischen Körper und den markanten Augenbrauen, die mit seiner Nase ein entschiedenes Y zu bilden schienen, war er ein attraktiver junger Mann, eine Mischung aus Bob Marley und Tom Selleck. Er besaß einen umwerfenden Charme, sprühte nur so vor Ideen und originellen Einfällen, und die Frauen fühlten sich zu ihm hingezogen. Ja, zu dem Leben, das er sich wohl erträumte, gehörten auch Frauen, am liebsten deutsche, blonde, und stets hatte er mindestens eine solche Freundin. Und das, obwohl er seit seiner Kindheit mit Saliha verlobt war, seiner Großcousine im fernen Dorf in der Nähe von Antakya.

Was er sich mit Sicherheit nicht erträumt hatte, das war sein überaus strenger und gewalttätiger Vater, zu dem er ein schwieriges Verhältnis hatte und der mit eiserner Hand versuchte, sein Leben zu reglementieren. Opa Abit hielt nicht nur seine Töchter unter Kontrolle, er entschied auch, mit wem seine Söhne Umgang haben durften. Nach Hause konnten sie die Freunde ohnehin nicht mitbringen, und Ausgehen war nicht erlaubt. Über jeden seiner Schritte musste mein Vater Rechenschaft ablegen. Alle fürchteten sich vor Opa Abit; er hing über den Geschwistern wie eine dunkle Wolke.

Bei Zuwiderhandeln – und mein Vater fügte sich diesem strengen Regiment mit Sicherheit nicht – misshandelte Opa Abit seine Kinder. Einmal verprügelte er meinen Vater mit dem Schürhaken dermaßen, dass er heute noch Narben am Kopf davon hat, eine besonders dicke hinter dem Ohr. Um der Tortur zu entgehen, sprang Hamid sogar aus dem Fenster im zweiten Stock in den Garten, so groß war seine Angst. Wie seine Brüder musste er seinen Lohn am Monatsende abgeben und konnte froh sein, wenn er ein Taschengeld erhielt.

Heute glaube ich, dass Hamid nie die Anerkennung von seinem Vater erhielt, die ein junger Mann braucht, um ein gesundes Selbstbewusstsein zu entwickeln. Mein Großvater war ein eigenartig kühler und ernster Mensch, und als ich ein einziges Mal für ein Familienfoto auf seinem Schoß sitzen musste, fühlte ich mich unbehaglich – so als säße ich auf einem schrecklich unbequemen Stuhl. Mein Opa war dünn, fast knöchern, trug stets Jeans, karierte Hemden und eine Schiebermütze.

Ich kann mich nicht erinnern, dass mein Großvater auch nur ein einziges Mal das Wort an mich richtete, und doch beobachtete ich ihn bei meinen Besuchen oft stundenlang. Wie alle Männer in meiner Familie achtete auch Abit Al-Mer stets auf sein Äußeres. Er saß auf dem Sofa und feilte sich die Nägel, schnitt sich mit der Nagelschere den Schnurrbart zurecht oder entfernte sich die Haare, die ihm aus der Nase und den Ohren wuchsen. Oft sah ich ihm zu, wie er sich mit einem Zigarettenstopfer aus orangefarbenem Kunststoff Zigaretten machte, manchmal durfte ich dabei sogar helfen. Wenn er auf dem Sofa lag und ein Schläfchen machte, mussten wir alle mucksmäuschenstill sein, damit er ja nicht gestört wurde.

Nein, mein Opa Abit war nicht der Vater, der Sinn für die Träume und Wünsche seines Ältesten hatte, zu denen auch eigenes Geld und natürlich coole Autos gehörten. Dennoch schaffte es Hamid, gemeinsam mit seinem Schwager, Onkel Youssef, den ich immer im Stillen »Mickey Mouse« nannte, weil er einen tätowierten großen Punkt auf der Nasenspitze hatte, einen neuen, lukrativeren Nebenerwerb aufzutun: die Überführung von gebrauchten deutschen Autos nach Saudi-Arabien.

In coolen Autos quer durch Europa, durch die gesamte Türkei, vorbei an Antakya und den staubigen Dörfern, in denen die arme Verwandtschaft nach wie vor Ziegen hielt, Tabak anbaute und in Lehmhütten wohnte, durch Syrien und den Libanon hinunter auf die arabische Halbinsel – das war ganz nach Hamids Geschmack.

Ich sehe die beiden vor mir in – sagen wir – einem hellgrünen Opel-Rekord, dem Alltag, dem Bergbau und vor allem dem strengen Opa Abit entflohen: Youssef am Steuer fährt viel zu schnell eine Landstraße entlang, irgendwo zwischen der türkischen Grenze und der syrischen Stadt Aleppo. Der heiße Asphalt schimmert, als sei er flüssig geworden. Pinkfarbener Oleander am Straßenrand rauscht an ihnen vorüber. Hamid schält Orangen und wirft die Schalen aus dem Autofenster. Aus den Boxen schallt laute Musik.

Hamid zündet einen Joint an und zieht an ihm, reicht ihn seinem Schwager. Er blinzelt in die Sonne und zieht aus der Brusttasche seines Hemds ein Foto hervor. Es zeigt eine hübsche Blondine, Hamids aktuelle Freundin. Youssef schaut kurz darauf, seufzt und sagt: »Alter, mit dir würde ich gerne tauschen!«

Hamid grinst breit und versteht seinen Schwager absichtlich falsch. »Tauschen? Aber gerne. Fahr rechts ran, Kumpel, dann fahr ich eine Weile.«

Youssef schnappt sich das Foto. Etwas flattert aus dem Fenster davon.

»Ey, du Arschloch«, schreit mein Vater in jähem Zorn und boxt seinen Schwager hart gegen die Schulter. »Halt sofort an! Hol das Foto zurück, du verfickte Strafe Gottes!«

Youssef fährt rechts ran und bringt den Wagen zum Stehen. Er lacht gutmütig über Hamids Zorn. Wie ein Zauberer zieht Youssef das Foto wieder hervor. Er hat etwas anderes aus dem Fenster flattern lassen, und der smarte Hamid ist darauf hereingefallen. Der schnappt sich das Foto, lacht grimmig und versetzt seinem Schwager mit der flachen Hand einen leichten Schlag auf den Hinterkopf.

Sie tauschen die Plätze, jetzt sitzt Hamid am Steuer. Es wird Abend, und die beiden nähern sich einer Kleinstadt. Da sind Händler am Straßenrand, die ihre Obst- und Gemüsestände zusammenpacken, auf Karren laden und in Richtung Stadt schieben. Hamid legt eine neue Musikkassette ein, die wehmütige Stimme der arabischen Sängerin Feyruz erfüllt den Wagen.

Plötzlich ein dumpfer Knall. Holzkarrenteile spritzen rechts und links am Wagen vorbei. Melonen zerplatzen auf der Windschutzscheibe. Hamid hält fluchend an. Als sie aussteigen, werden sie von wütenden Menschen angegriffen. Während aus dem Wagen immer noch die Stimme von Feyruz ertönt, bricht draußen ein wahrer Tumult los: Hamid hat nicht nur einen Händlerkarren geschrottet und eine Wagenladung Früchte verdorben. Der Junge, der den Karren schob, liegt bewusstlos in seinem Blut zwischen dem Obst. Hamid ist ihm über beide Beine gefahren. Sie sehen nicht besser aus als die zermatschten Früchte ringsum.

Dem Jungen müssen beide Beine amputiert werden. Hamids coole Reise endet im Gefängnis. Dort lässt er sich zwei Buchstaben und einen deutschen Adler auf den Arm tätowieren: H für Hamid und S für Saliha. Opa Abit bezahlt eine hohe Kautionsgebühr, damit Hamid vorzeitig entlassen wird. Und dann? Wieder gibt es zwei Versionen darüber, wie die Geschichte weitergeht, die unterschiedlicher nicht sein könnten.

Salihas Familie erzählt sie folgendermaßen: Kaum aus dem Gefängnis entlassen, lungerte Hamid Tag und Nacht vor Salihas Haus herum. Ihr Vater hat ihm gesagt, er solle sich eine andere Braut suchen, seine Tochter sei ihm für einen Verbrecher wie ihn, den man aus dem Gefängnis holen müsse, zu schade. Das wollte Hamid aber nicht hinnehmen. Lauthals forderte er Tag für Tag, man solle Saliha herausgeben. Sind sie nicht verlobt? Hat er sich nicht ihre beiden Anfangsbuchstaben auf den Arm tätowieren lassen? Zeigt der deutsche Adler nicht klar und deutlich, dass er gedenkt, Saliha mit nach Deutschland zu nehmen und ihr dort ein schönes Leben zu bieten?

Schließlich, so mein Großvater, Salihas Vater, gab er nach. Die ganze Sache wurde einfach zu peinlich, da fügte er sich lieber. Und bewies Hamid mit seinem Verhalten nicht, wie ernst es ihm mit Saliha war? Also gut, die Hochzeit wurde gefeiert. Ein ganzes Kilo Goldschmuck musste Hamid Saliha zum Brautgeschenk machen. Das ist dort, wo meine Familie herkommt, so üblich und als Absicherung der jungen Frau gedacht, für den Fall, dass etwas schieflaufen sollte mit der Ehe. Die beiden wurden Mann und Frau, und Saliha packte ihre Sachen und kam mit nach Mönchengladbach.

»Nein, nein, nein«, beteuerte Hamid später und mit ihm der gesamte Al-Mer-Clan. »Die Sache war vollkommen anders!« Sein Vater habe ihn erpresst, damals, als er im Gefängnis saß. S stand keinesfalls für Saliha, sondern für Sabine, seine damalige deutsche Freundin. Doch Opa Abit sei zu ihm gekommen und habe ihm angeboten, die Kaution zu bezahlen. Dazu sei er bereit, aber nur unter der Bedingung, dass er endlich sein Versprechen einlöse, Saliha zu heiraten und mit nach Deutschland zu nehmen, so wie es seit Langem ausgemacht war.

»Was hätte ich tun sollen«, fragte Hamid und warf theatralisch die Arme in die Luft. »Wollte ich etwa im Gefängnis verfaulen?« Und so heiratete er Saliha, auch wenn er, wie er behauptete, dazu nicht die geringste Lust hatte. »Sie war ein Mädchen vom Dorf. Sie konnte weder schreiben noch lesen. Was in aller Welt sollte ich mit einer solchen Frau anfangen?«

Großvater Abit war es gelungen, in der Hermann-Löns-Straße in Mönchengladbach-Rheydt zwei Etagen in einem großen Haus zu mieten, in dem die gesamte Familie Al-Mer »Platz« hatte. Das ist natürlich übertrieben, denn wirklich richtig Platz hatte man dort nicht: Es gab ein Schlafzimmer für die Eltern und ein Kinderzimmer, das sich sechs der Kinder bis zu ihrem siebzehnten oder achtzehnten Lebensjahr teilten. Mittelpunkt der Wohnung war die Küche, in der sich auch die einzige Dusche befand, sodass man alle anderen erst rausscheuchen musste, wollte man sich in Ruhe waschen. Ganz oben unter dem Dach war stets eine kleine Wohnung für frisch verheiratete Paare reserviert, bis sie eine eigene Wohnung gefunden hatten. Und hier zogen Hamid und Saliha nach ihrer Hochzeit ein.

Ob sie je eine Phase hatten, in der sie miteinander glücklich waren? Ich weiß es nicht. Saliha war temperamentvoll und hatte ihren eigenen Kopf; sie widersprach Hamid, und das konnte er auf den Tod nicht leiden. Sie weigerte sich, ihr Kopftuch abzulegen und moderne, westliche Kleider anzuziehen. Sie lernte nur das Nötigste auf Deutsch, konnte beim Bäcker »fünf Mohnbrötchen, bitte« sagen, weil Hamid Mohnbrötchen für sein Leben gern aß, und »lecker« oder »schön«. Ansonsten saß sie vor dem Fernseher und sah romantische Schnulzen im türkischen Satellitenfernsehen. Das erzählt jedenfalls Hamid, und dass sie, wenn er abends müde von der Arbeit kam, sich nicht zu ihm ins Bett legen wollte, sondern in Tränen aufgelöst diese schrecklichen Filme anschaute.

Und dann, wie gesagt, kam ich auf die Welt. Doch statt besser, wie Saliha es sich erhofft hatte, wurde alles nur noch schlimmer. Tante Suheila schlug vor, mich Meral zu nennen, das heißt Rehkitz. Sie erzählte mir später, dass ich unglaublich schnell laufen lernte, vielleicht weil meine Eltern unaufhörlich miteinander stritten. Dann machte ich mich davon, kletterte Stufe um Stufe hinunter zu Oma Halima, wo immer jemand war, der mich auf den Schoß nahm und mir etwas Süßes in den Mund stopfte: Trost und Liebesersatz in zuckriger Form. Und so wurde ich zu einem dicken Kind. Statt wie ein Rehkitz sah ich damals eher aus wie ein kleiner Bär.

Hamid hatte nie aufgehört, deutsche Freundinnen zu haben. Um den Zeitpunkt meiner Geburt lernte er Kornelia kennen, die schräg gegenüber wohnte, einen Sohn in meinem Alter hatte und sich gerade von ihrem Ehemann getrennt hatte, weil er sie ständig schlug. Hamid besuchte sie oft. Mich nahm er mit, und während die beiden zusammen waren, spielte ich mit Mark, ihrem Sohn.

Ob Saliha davon wusste? Eine Frau weiß genau, wann ihr Mann fremdgeht, davon bin ich fest überzeugt. Außerdem glaube ich kaum, dass Hamid sich die Mühe machte, seine Affäre geheim zu halten. Machte sie ihm Szenen? Oder strafte sie ihn mit Nichtbeachtung, mit der ganzen Wucht ihrer Verachtung?

Eines Morgens, nachdem sie Hamid Mohnbrötchen geholt und das typische türkisch-arabische Frühstück aus Oliven, Schafskäse, Joghurt, Gurkenscheiben und Tomatenstücken serviert hatte, gerieten Hamid und Saliha aus irgendeinem Grund wieder derart in Streit, dass er ihr die Gabel, mit der er gerade eine Olive aufspießen wollte, in die Schulter rammte. Oder war das vor meiner Geburt? Mal wurde es so erzählt, dann wieder anders. Sicher scheint nur, dass die Gabel tief in Salihas Schulter landete.

»Dein Großvater ist schlimm«, vertraute mir Oma Halima einmal an. »Aber glaube mir eines: Dein Vater ist noch viel, viel schlimmer.« Ich protestierte, denn ich liebte meinen Vater abgöttisch.

2Familienurlaub der besonderen Art

Zieh nicht so die Mundwinkel nach unten«, herrschte mich Jahre später mein Vater oft an, »glotz mich nicht so an, so vorwurfsvoll. Mein Gott, wenn du so schaust, dann siehst du aus wie deine Mutter. Sooo …« Und er zog eine fürchterliche Grimasse, die Mundwinkel wie ein Hufeisen nach unten gezogen. »Grässlich!«

Welche Träume hatte Saliha? Was wünschte sie sich vom Leben? Weinte sie deshalb so viel vor dem Fernsehapparat, weil sie ihre eigenen Wünsche und Träume dort widergespiegelt sah? Oder weinte sie einfach so, aus Rührung, und machte sich über ihre eigenen Wünsche gar keine Gedanken?

Ich war gerade acht Monate alt, als Saliha erneut schwanger wurde. Auch dieses Mal stimmte diese Neuigkeit meinen Vater nicht gnädig, ganz im Gegenteil. Und dann, im Mai 1982, kam er auf eine Idee, wie nur er sie haben konnte. Er beschloss, dass wir »alle zusammen« in die Heimat reisen würden, um mich, sein erstes Kind, der Verwandtschaft vorzustellen. Saliha, im siebten Monat schwanger, war begeistert. Zum ersten Mal seit ihrer Heirat würde sie ihre Familie wiedersehen. Bis sie erfuhr, was Hamid mit »alle zusammen« tatsächlich meinte: seine Geliebte Kornelia würde bei diesem Familienurlaub mit von der Partie sein.

Füge ich die Bruchstücke, die mir später erzählt wurden, zusammen, dann stelle ich mir diese Reise so vor: Meine Mutter, die mich noch stillte, und ich saßen im Heck des Wagens, Hamid am Steuer und Kornelia auf dem Beifahrersitz. »Während der gesamten Fahrt«, beschwerte sich Kornelia später, »hat diese Frau versucht, mich umzubringen.«

Saliha spuckte ihrer Nebenbuhlerin Wasser ins Genick, zog sie am wasserstoffblonden, dauergewellten Haar, fuhr ihr mit den Fingernägeln ins Gesicht. Die ganze lange Fahrt über, die uns durch Österreich, Italien, das damalige Jugoslawien und Bulgarien und schließlich quer durch die Türkei bis an die türkisch-syrische Grenze führte, fast viertausend Kilometer und rund fünfzig Stunden lang, herrschte Krieg in Hamids PKW. Wie viele Male hielt er an und zerrte Saliha aus dem Wagen, um sie grün und blau zu schlagen? Wie oft ließ er sie dort einfach am staubigen Straßenrand liegen, fuhr los, im Schritttempo, um im Rückspiegel zu beobachten, wie sie sich aufrappelte, hinter dem Wagen herlief, ihn fast erreichte, um dann erneut Gas zu geben und ein paar Meter weiterzufahren, es zu genießen, wie sie sich mühsam voranschleppte, nach ihrem Kind rief: »Meral! Meral! Du Hundesohn, gib mir mein Kind!« Dieses Spiel setzte er so lange fort, bis sie nicht mehr konnte, um dann gnädig zu warten, bis sie mit letzter Kraft die Autotür erreichte. Die riss sie auf und kletterte zu ihrem kleinen Mädchen auf die Rückbank, zu mir, die ich schreiend und weinend auf dem Kunstleder gekniet hatte und mit angstvoll aufgerissenen Augen, den Schnuller im Mund, durch die Heckscheibe zusehen musste, wie meine Mutter immer wieder im Niemandsland der Landstraßen zurückgelassen wurde, in den Schmutz fiel, sich aufrappelte, und unter Blut und Tränen nach mir rief.

»Es war die Hölle«, sagte Kornelia später.

Warum um alles in der Welt war sie mitgefahren?

Was genau geschieht, als sie Salihas Heimatdorf erreichen? Wieder gehen die Erzählungen auseinander. Stellt Hamid völlig ohne Skrupel Kornelia als seine Zweitfrau vor? Auch Salihas Vater hatte mehrere Frauen, warum also nicht? Es war typisch für meinen Vater, dass man ihm so ziemlich alles abkaufte, einfach weil er so überzeugend charmant und unschuldig auftreten konnte.

»Ach so, das ist also Kornelia? Willkommen.« Gastfreundschaft ist ein hohes Gut dort, wo wir alle herkommen.

Und irgendwann, früher oder später, sagt Hamid zu Saliha: »Ich geh mal eben meine Verwandten besuchen, sie wollen unsere Tochter sehen. Wir sind bald wieder zurück.«

Saliha nickt. Warum auch nicht? Meine Kleider, auch meine Puppe, alles bleibt bei ihr. Mein Vater will mich ja ein paar Stunden später wieder zurückbringen. Schließlich werde ich noch gestillt.

Hamid nimmt mich meiner Mutter vom Arm. Gemeinsam mit Kornelia besuchen wir tatsächlich irgendwelche Verwandten; noch heute habe ich Fotos davon, die in einer Art Garage oder Stall aufgenommen wurden. Auf ihnen sieht man Kornelia, mit verschwollenen Augen scheint sie sich hinter Onkel Momo verstecken zu wollen. Man sieht auch das Heck von Hamids Wagen und mich, wie ich mich auf dem Schoß dieser fremden Verwandten winde. Wann fahren wir zurück zur Mama?

Aber Saliha wird umsonst auf mich warten. Die nächsten dreißig Jahre wird sie warten. Denn ihr Mann fährt mit mir und seiner deutschen Geliebten einfach nach Hause, zurück nach Deutschland. Saliha lässt er im Haus ihrer Eltern hochschwanger zurück.

War für Kornelia die Reise in die Türkei die Hölle, so war es für mich die Heimfahrt. Ein Foto zeigt mich nur mit einer Windel bekleidet verloren am Straßenrand irgendwo zwischen Mutterland und Vaterland hocken, den gelben Schnuller fest zwischen den Zähnen. »Du hast die ganze Fahrt über nur gebrüllt«, erzählte mir mein Vater später, mit einem tiefen Vorwurf in der Stimme, so als wäre es normal, ein Stillkind seiner Mutter wegzunehmen und fünfzig Stunden lang mit ihm auf der klebrigen Kunstlederrückbank ohne Kindersitz durch die Gluthitze zu fahren. Meine Mutter fehlte mir – und ich schrie. Ich war hungrig nach ihrer Milch – und ich schrie. Sie gaben mir nicht genug zu trinken – und ich schrie. Irgendwo in Jugoslawien baute mein Vater einen Unfall – und ich schrie mir die Seele aus dem Leib. Irgendwann hörte ich auf damit, hatte keine Kraft mehr dazu. Dehydriert, mit Tränen und Rotz verschmiert, landete ich schließlich auf Oma Halimas Schoß.

»Das arme Kind«, sagte sie. Das sollte sie noch oft wiederholen in den folgenden Jahren, und meine drei Tanten Amina, Suheila und Yildiz machten es ihr nach. »Das arme, arme Kind. Vermisst sie ihre Mutter nicht?«

Nein, ich vermisste sie nicht. Denn ich konnte mich an all das nicht mehr erinnern. Wie weggewischt sind die ersten Monate meines Lebens, und meine Mutter Saliha verschwand im dichten Nebel des Vergessens, bis es für mich so war, als hätte es sie nie gegeben. Nur in den wenigen abfälligen Bemerkungen meines Vaters tauchte ihr Zerrbild hin und wieder auf, selten genug. Ich fragte nicht nach ihr. Meine Mutter war dumm und aufsässig, klammerte sich an ihr Kopftuch und zog die Mundwinkel nach unten.

»Nein«, antwortete ich, wenn die Tanten wieder ihr Mitleidsgejammer begannen. »Meine deutsche Mama ist meine Mama.«

Von da an war ich »das arme, verlorene Kind«. Bis Oma Halima ihren Töchtern Schweigen befahl. Lange wusste ich nicht, was sie eigentlich meinten. Wieso sollte ich verloren sein? Bis ich verstand: Von einer deutschen Mutter erzogen, war ich für die Kultur, für das geistige und religiöse Erbe meiner Vorfahren verloren. »Sie spricht ja nicht mal richtig Türkisch.«

Nein, das tat ich nicht. Mein Vater wollte es so. Ich sollte genauso aufwachsen wie die deutschen Kinder in unserer Nachbarschaft, so wie auch er das staubige Dorf mit seinen Ziegen und Analphabeten und »Kopftuchweibern« ein für alle Mal hinter sich lassen wollte. Seine Träume sahen anders aus als die seines Vaters.

Der veranstaltete ein Riesentheater, als Hamid ohne Saliha aus dem Urlaub nach Hause kam. Die Familienehre stand auf dem Spiel, schließlich war man verwandt, wenn auch um einige Ecken. »Pass gut auf meine Tochter auf«, hatte sein Cousin bei der Hochzeit gesagt, und er, Abit Al-Mer, hatte sein Wort gegeben. Dafür, was Hamid Saliha angetan hatte, gab es keine Entschuldigung.

»Du holst sie zurück!«, schrie Großvater Abit meinen Vater an.

Doch der Alte hatte keine Macht mehr über seinen ältesten Sohn. Der weigerte sich einfach. Zog mit dieser deutschen Schlampe zusammen. Scherte sich einen Dreck um Familie und Tradition. Und der Gipfel war: Er weigerte sich, Saliha ihren Goldschmuck auszuhändigen. Ein ganzes Kilo in Gold, Salihas Brautgeld und Absicherung für den Fall, der jetzt eingetreten war. Sie hatte ihren Brautschatz in Deutschland zurückgelassen, ohne Argwohn zu schöpfen; so einen Reichtum nimmt man schließlich nicht mit auf eine Reise.

»Nö, wieso«, sagte Hamid. »Hab ich das nicht alles selbst bezahlt?« Und dabei blieb es.

Oder war es anders? War es meine geliebte Oma Halima, die auf dem Gold saß wie der leibhaftige Drache aus dem Märchen, wie es Salihas Familie später behaupten sollte? Tatsache ist, Saliha war das schlimmste Schicksal zugestoßen, das einer arabischen Frau überhaupt passieren kann: Hochschwanger saß sie wieder bei ihrer Familie, ohne ihren Goldschmuck, ohne ihre Tochter, verlassen von ihrem Mann. Es gab andere Fälle, da wurde eine solche Tochter von der eigenen Familie verstoßen. Saliha blieb dieses Schicksal erspart, denn sie hatte einen gütigen Vater, der auch zu ihr stand, als die Hyänen in der Familie forderten, das Kind in ihrem Bauch abzutreiben. Der ihr half und seine schützende Hand über sie hielt. Der sie zurücknahm und für sie sorgte, für sie und ihren Sohn, den sie zwei Monate später gebar. Sie wollte ihn Baris nennen, das heißt »Frieden«. Doch ihr Vater sagte: »Für Frieden ist es noch zu früh.«

Und so erhielt der Kleine den Namen Mourad, »Wunsch«. Welchen brennenden Wunsch meine Mutter in ihrem Herzen hegte, welcher Wunsch sie mitunter bis an den Rand des Wahnsinns trieb, davon ahnte ich lange nichts.

»Sie könnte ja nach mir suchen«, dachte ich, als ich älter wurde. »Aber wahrscheinlich hat sie mich längst vergessen.«

3Ohne meine Mutter

Als Hamid keine Vernunft annehmen wollte und sich weigerte, Saliha zurückzuholen, tat Großvater Abit das Äußerste, was er als Familienoberhaupt tun konnte: Er verstieß seinen ältesten Sohn.

Normalerweise ist dies für einen Türken wie für einen Araber das Schlimmste, was ihm zustoßen kann, denn ein Leben außerhalb der Familie ist schlichtweg nicht denkbar.

Ob Hamid darunter litt? Wenn dem so war, dann zeigte er es nicht. Er suchte sich gemeinsam mit Kornelia eine eigene Wohnung und zog mit uns nach Mönchengladbach-Rheydt in eine düstere Dreizimmer-Altbauwohnung in der Brucknerallee. Bedeutete das nicht endlich Freiheit? Denn bietet die Großfamilie einerseits Schutz und Rückhalt, so ist sie andererseits auch eine gnadenlose Kontrollinstanz. Jeder ist jederzeit über alle Schritte genauestens informiert, ein Privatleben ist so gut wie unmöglich.

Doch damit war jetzt Schluss. Als aufgeschlossener, moderner Mann, denn als solcher sah er sich, gründete er mit Kornelia eine interkulturelle Patchworkfamilie. Und ich erhielt in Mark einen Bruder, mit dem ich das Kinderzimmer teilte. In dieser Zeit setzen meine ersten Erinnerungen ein, zerbrechlich und isoliert, wie Szenen, die aus dem Zusammenhang eines Filmes gerissen wurden.

Da ist das Gefühl von Geborgenheit, wenn ich auf dem Schoß meines Vaters sitze und mich an seinen Bauch lehne. Während er sich mit anderen Erwachsenen unterhält, streichelt er ganz zart meine Finger. Ich bin eingehüllt in seine Wärme, atme seinen Duft, eine Mischung aus seinem eigenen Körpergeruch, dem Rasierwasser, das er immer benutzt, und seinen Zigaretten – wo immer er geht, überall hängt dieser Vaterduft in der Luft, vertraut und tröstlich.

Hamid kannte sich mit kleinen Kindern gut aus, er wusste genau, wie man sie halten muss; es machte ihm nichts aus, uns die Windeln zu wechseln oder die Nase zu putzen.

Ich liebte es, mit ihm ganz allein zu sein, obwohl das selten genug vorkam. Dann schmierte er mir ein Brot oder kochte Tee für mich. Oder er half mir, meine Strumpfhose anzuziehen. Dazu kniete er sich vor mich hin und raffte die Strumpfhose bis zur Socke zusammen. Ich stand auf einem Bein, hielt mich an seiner Schulter fest und sah hinunter auf sein dichtes, glänzendes Lockenhaar, das ich von ihm geerbt habe. Manchmal fasste ich es auch vorsichtig an; ich berührte es so gern.

Wenn er »in die Stadt« ging, wie er es nannte, nahm er mich oft mit. Zuvor allerdings machte er sich zurecht. Wie alle Männer in meiner Familie, war auch mein Vater sehr eitel und stets gepflegt. Wenn er mit seiner Toilette fertig war, ging es los. Im Auto drehte er die Musik auf und sang laut mit; das liebte ich besonders. Oder er rauchte, kurbelte das Fenster runter und legte den linken Arm dort lässig ab. Manchmal musste er hupen und sich fürchterlich aufregen, wenn er fand, dass einer nicht richtig fuhr. Es kam auch oft vor, dass wir anhielten, weil jemand am Straßenrand eine Panne hatte. Während mein Vater ausstieg und fragte, ob er helfen könnte, sah ich vom Auto aus zu, wie er mal den Werkzeugkasten, das Starterkabel oder auch mal einen Kanister aus dem Auto holte und den Pannenwagen wieder flottmachte.

Dann verabschiedete er sich höflich, und ich werde nie die glücklichen, erleichterten Gesichter dieser Menschen vergessen.

»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll«, sagten sie oft.

»Kein Problem«, antwortete mein Vater und war schon wieder bei mir am Auto. »Hab ich gern gemacht.« Und ich war unendlich stolz auf meinen schönen, hilfsbereiten und geschickten Vater, dem nichts zu schwierig war.

Wenn wir dort angekommen waren, wo wir hinwollten, rief ich oft: »Dort, Papa, da vorne ist ein Parkplatz!«, und bewunderte, wie sicher und flott er den Wagen rückwärts in die Parklücke steuerte.

Wir stiegen aus, und mein Vater ging noch einmal um den Wagen herum, trat mit dem Fuß gegen einen Reifen. Das machte er auch bei fremden Autos, wenn er sich die ansah, und ich dachte mir: »Damit prüft er das Auto, ob auch alles mit ihm in Ordnung ist.«

Dann nahm er meine Hand, und wir gingen »in der Stadt spazieren«. Wir flanierten durch die Einkaufsmeile, und ich hielt seine Hand so lange fest, bis sich zwischen unseren Handflächen ein warmer, feuchter Film gebildet hatte und sie auseinanderflutschten.

»Das ist meine Tochter Meral«, stellte er mich stolz Bekannten oder Arbeitskollegen vor und stupste mich an, damit ich ihnen die Hand gab. Oft gingen wir Eis essen, das heißt: Ich bekam einen Eisbecher, und er nahm einen Kaffee, saß da, rauchte und betrachtete die anderen Menschen.

Ich war vielleicht vier oder fünf Jahre alt, als er mich zu einem Konzert von OPUS mitnahm. Ich saß auf seinen Schultern, und wir sangen: »Live is life/Na na na na na …« Das war ein riesiger Spaß:

When we all give the power

We all give the best

Every minute of an hour

Don’t think about the rest …

Meinem Vater ging es an diesem Abend richtig gut, das konnte ich bei jeder seiner Bewegungen deutlich spüren, die sich auf mich übertrugen, und auch ich war ein winziges Bündel aus Glückseligkeit. Es war mir, als würden wir zu einem einzigen Wesen verschmelzen, und ich wünschte, ich könnte immer dort oben bleiben, meine Hände in seiner Mähne vergraben, und mit ihm gemeinsam singen.

Es war tatsächlich oft die Musik, die uns miteinander verband. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie er mit mir am St. Martins-Tag von Tür zu Tür ging und neben mir stand, wenn ich die Lieder sang und hoffte, mit Süßigkeiten belohnt zu werden.

In meinem Leben ohne Mutter schien mein Vater irgendwann jeden Raum einzunehmen. Er war wie die Sonne, die manchmal wunderbar strahlte und in deren Licht die Dinge wie verzaubert erschienen. Aber es gab auch Tage, an denen sich Wolken vor diese Vatersonne schoben und tödliche Unwetter verursachten. Am schlimmsten aber waren die Tage, wenn die warme Vatersonne sich in einen zornigen Feuerball verwandelte. Ich konnte nie wissen, wann und warum sich die Stimmung veränderte. Dennoch gab ich mir die größte Mühe, ein gutes Kind zu sein, denn im Grund meines Herzens dachte ich, dass ich nur einfach lieb sein und all das tun müsste, was sich mein Vater von mir wünschte, dann wäre alles gut. Es sollte lange dauern, bis ich verstand, dass es nicht an mir lag.

Ein wichtiger Gradmesser der väterlichen Liebe waren die Gutenachtküsse. Ich war süchtig nach ihnen. Bekam ich einen, dann war es ein guter Tag gewesen. Kornelia machte Mark und mich für die Nacht zurecht, und dann durften wir nochmal zu meinem Vater ins Wohnzimmer. Da saß oder lag er auf dem Sofa.

»Iyi geceler«, sagte ich. »Gute Nacht, Papa.«

Er nahm mich in den Arm und kitzelte mich, bis ich lachte, und sagte: »Tebqa-älä-cher, mein Mädchen, schlaf schön.« Ich atmete noch einmal ganz tief seinen Duft ein, so als könnte ich meinen Papa damit in mich aufsaugen, und dann bekam ich ein lautes Küsschen. An diesen Abenden war ich glücklich und schlief schnell ein.

Auch Kornelias ganz eigenen Geruch mochte ich gerne: eine Mischung aus Camel-Zigaretten, Nivea-Creme und Wrigleys Doublemint-Kaugummi, mit dem sie diesen typischen Mundgeruch übertönen wollte, den starke Kaffeetrinker und Raucher nun mal haben. Kornelia sah immer ein bisschen krank aus; sie war stets blass und viel zu dünn. Ihre grünlich-blauen Augen umrandete sie mit Kajal. Eigentlich war Kornelia brünett, aber sie färbte sich ihr Haar blond und trug eine Dauerwelle, wie es in den Achtzigerjahren modern war. Kornelia war lieb zu mir; sie machte keinen Unterschied zwischen mir und Mark, nahm uns gleichermaßen in den Arm und kuschelte mit uns. Das brauchte ich wie die Luft zum Atmen, und wann immer es möglich war, saß ich bei irgendwem auf dem Schoß, schmiegte mich an, konnte gar nicht genug menschliche Wärme bekommen.

Schöne Erinnerungen habe ich auch an die Besuche bei Kornelias Eltern. Ihr Vater war Kirchenwart und konnte wunderbar Orgel spielen, obwohl ihm ein Daumen fehlte. Ihre Wohnung lag direkt neben dem Kirchenraum, man musste nur eine Tür öffnen, und schon war man in der Kirche. Marks Opa bastelte viele schöne Dinge für uns, ich erinnere mich noch an eine Lokomotive aus Holz, mit der wir gerne spielten.

Auf Mark, meinen neuen Bruder, musste ich ständig aufpassen, denn obwohl er ein halbes Jahr älter war als ich, passierte ihm dauernd etwas. Ich liebte Mark und erzählte jedem, der es hören wollte, dass ich ihn später einmal heiraten würde.

Hamid und Kornelia arbeiteten im Schichtdienst, und darum waren wir oft allein in dieser Wohnung mit dem moosgrünen Teppichboden, der Wohnzimmerschrankwand »Eiche rustikal« und der braun-beigen Polstergarnitur. Wenn unsere Eltern Nachtschicht hatten, dann schliefen sie tagsüber und wir mussten leise sein. An solchen langweiligen, stillen Nachmittagen kletterte ich aus meinem grünen Holzgitterbettchen mit dem Bambi-Aufkleber und sah Mark beim Schlafen zu. Viele Male stand ich an seinem weißen Kinderbett und lehnte ihm ganz sacht ein Auto an die Hand.

Wenn Mark wach war, dann baute er leider jede Menge Mist. Einmal trank er alle Reste aus, die in den Gläsern vom Abend zuvor auf dem Couchtisch stehen geblieben waren, und musste mit einer Alkoholvergiftung ins Krankenhaus gebracht werden. Ein anderes Mal nahm er mein geliebtes Monchichi und zündete es an. Ich sehe noch heute vor mir, wie das Kunststoffgesicht des Spielzeugäffchens brutzelte und zerschmolz, bis Mark erschrak und das brennende Ding in sein Bett warf, das natürlich sofort Feuer fing. Diese Art von Unsinn sorgte dafür, dass Mark viel mehr Prügel abkriegte als ich. Mir tat das mehr weh, als wenn ich selbst geschlagen wurde; ich litt ganz fürchterlich mit ihm und hätte ihn so gerne beschützt. Irgendwann begann er zu stottern und entwickelte Tics. Mein Vater lachte darüber, dass Mark zusammenzuckte, wenn er eine bestimmte Handbewegung machte. Oft schlug mein Vater Mark auf den Hinterkopf, einfach so. Das mochte ich gar nicht.

Und dann erinnere ich aus ihrem Zusammenhang gelöste Szenen, in denen sich schwarze Wolken vor die Vatersonne geschoben hatten, sodass er fast nicht mehr zu erkennen war. Eines Tages zum Beispiel setzte man uns aufs Töpfchen und ließ uns allein. Im Fernseher lief Walt Disneys animierte Version des »Zauberlehrlings«. »Hat der alte Hexenmeister sich doch einmal fortbegeben …« Später hatte ich oft Albträume, in denen diese Zauberlehrlings-Mickey-Mouse ihr Unwesen trieb. Nachdem wir unser Geschäft gemacht hatten und niemand da war, uns die Hintern abzuwischen und die Höschen hochzuziehen, fingen wir an, den Inhalt aus den Pötten zu nehmen und überall zu verschmieren. Als mein Vater nach Hause kam, gab es ein böses Erwachen. Wir hatten ganze Arbeit geleistet, die Wände und der weiße Schrank im Kinderzimmer waren braun verschmiert, es stank zum Himmel, die Scheiße war kaum unter unseren Fingernägeln herauszubürsten. Mein Vater packte uns am Schlafittchen und schleppte uns unter wüstem Schimpfen unter die Dusche, wo er uns abbrauste und gleichzeitig verprügelte, sodass wir in der Badewanne immer wieder ausrutschten, hinfielen und die Köpfe anschlugen, Wasser schluckten, blind vom Schaum in den Augen, den Geschmack von Blut vermischt mit Wasser und »dusch das« im Mund.

Ein anderes Mal nahm uns mein Vater mit zum Einkaufen in ein Einkaufszentrum, an dessen Ausgang ein kleines Karussell in Form einer Lokomotive stand. Wir beobachteten, wie eine Omi ihren Enkel da hinaufhob und liefen hin, um uns das aus nächster Nähe anzusehen und meinem Vater, der an der Kasse in einer langen Schlange warten musste, erwartungsvolle Blicke zuzuwerfen. Ganz klar, wir wollten auch mit der Lokomotive fahren. Es dauerte ewig, bis mein Vater an der Kasse fertig war; es gab eine Diskussion mit der Kassiererin, vielleicht hatte er nicht genug Geld dabei. Als er endlich zu uns kam, erkannte ich – zu spät – seine wütende Miene. Grimmig riss er sich mit den Zähnen kleine Hautfetzen von seinen Lippen, packte uns rechts und links an den Händen, dass sie knackten, und zerrte uns nach Hause.

»Ausziehen und hinlegen!«, befahl er uns, kaum dass wir in der Wohnung waren.

Wir hatten fürchterliche Angst, denn wir wussten, dass etwas Schreckliches passieren würde. Mein Vater ließ keinen Zweifel daran, dass er uns bestrafen würde. Wofür, davon hatten wir keine Ahnung. Uns war klar, dass wir seinen Zorn besser nicht noch schüren sollten, und wir kamen seinen Anweisungen so schnell wie möglich nach. Inzwischen hatte er eine Wäscheleine geholt und begann sie quer über den Flur zu spannen. Hier sollten wir uns nebeneinander auf den Rücken legen. Von der Taille abwärts nackt, mussten wir unsere Beine anheben und auf die Schnur legen, und er umwickelte jeden unserer Füße nochmals mit der Wäscheleine, die er dann an beiden Seiten des Flurs fixierte. So lagen wir hilflos wie zwei kleine Käfer auf dem Rücken, die Beine hochgebunden.

Wir wehrten uns nicht, das taten wir nie, denn wir wussten, dass es dann noch viel schlimmer kommen würde. Mein Vater rauchte und schimpfte, dann nahm er einen Stock aus einer großen Zimmerpflanze, einem Ficus Benjamini, und begann mit aller Kraft auf unsere Hintern und Fußsohlen einzuschlagen. Jeder Hieb verursachte einen entsetzlich brennenden Schmerz, bis ich irgendwann gar nichts mehr fühlte. Im Hintergrund rumorte Kornelia, und so klein wir auch waren, wussten wir doch, dass es besser für sie war, sie hielt sich raus.

Mein Vater schlug und schlug, und als er endlich von uns abließ und uns losband, setzte der Schmerz wieder ein. Wir konnten weder sitzen noch gehen. Po und Fußsohlen waren angeschwollen, und an einigen Stellen war die Haut aufgeplatzt. Kornelia ließ uns ein heißes Bad ein, aber das machte alles nur noch schlimmer. Unsere Wunden brannten wie Feuer, und wir wussten nicht, wie wir in der Wanne sitzen sollten. Uns war es nur möglich zu knien, ohne den Po abzulegen. Noch Tage danach konnte ich weder stehen noch gehen. Meine angeschwollenen Füße passten ohnehin in keinen Schuh.

Wie froh war ich, wenn sich die Wolken verzogen hatten, der Sturm vorüber war und mein Vater wieder lieb zu mir war. Ich musste ja etwas falsch gemacht haben, sonst hätte er mich niemals so streng bestraft. Und doch schien es auch ihm leidzutun, und es kam häufig vor, dass ich nach einer solchen Bestrafung ein schönes Geschenk erhielt. Manchmal entschuldigte sich mein Vater auch bei mir, sogar unter Tränen. Später allerdings tat er das nicht mehr.

Nach der Sache mit dem brennenden Monchichi wagten es unsere Patchwork-Eltern nicht mehr, uns allzu lange allein zu lassen. Stattdessen nahm mein Vater uns nun täglich mit zur Arbeit – das heißt: auf den Firmenparkplatz.

Bevor er zur Arbeit ging und uns im Auto zurückließ, zog er jedes Mal unsere Kleider zurecht, denn oft war es bitterkalt.

»Mama kommt gleich«, sagte er. »Halbe Stunde. Ich muss jetzt gehen. Schlaft!«

Er drückte uns Schnuller und Milchfläschchen in die Hände, nahm seine Tasche, stieg aus und schloss ab. Stundenlang saßen Mark und ich im Auto, Tage und Nächte. Die Gitterstäbe des Zauns um das Fabrikgelände und der Parkplatz haben sich mir für immer ins Gedächtnis eingebrannt. Das Auto wurde zu unserem zweiten, ungeliebten Zuhause. Wir schliefen im Auto, spielten im Auto, fürchteten uns im Auto. Vor allem nachts im Dunklen oder in der Anonymität eines Parkhauses, wenn unsere Eltern ausgingen oder Freunde trafen und uns derweil im Auto ließen, hatte ich schreckliche Angst. Noch viele Jahre lang sollte ich immer denselben Albtraum haben: Es ist Nacht. Ich sitze zusammen mit Mark in einem PKW. Der beginnt zu rollen, doch ich kann ihn nicht stoppen …

Der Geruch der Kunstledersitze, der Klang von zuschlagenden Autotüren und das plötzliche Aufblenden von Scheinwerfern sollten mich noch bis ins Erwachsenenalter in Panik versetzen, meinen Herzschlag beschleunigen und mir den Schweiß auf die Stirn treiben. Das ist der Grund, warum ich bis heute keinen Führerschein habe, auch wenn es mir inzwischen nichts mehr ausmacht, mich zu jemandem ins Auto zu setzen.

Damals war ich jedes Mal unendlich erleichtert, wenn mein Vater oder Kornelia kam, um uns aus dem Auto zu holen. Wie ein Äffchen klammerte ich mich an meinen Papa, und alle Angst war vergessen. In seiner Gegenwart war alles gut – vorausgesetzt, die Wolken blieben fern.

Doch die Zeit mit Kornelia neigte sich ihrem Ende entgegen, es gab immer häufiger Streit zwischen den beiden. Und mein Vater tat die seltsamsten Dinge …

Eines Nachts wecken mich Geräusche aus dem Wohnzimmer. Ich stehe auf und gehe nachsehen, was los ist. Da sitzt ein nackter Junge, vielleicht fünfzehn Jahre alt, an unsere Heizung gefesselt. Und dann erkenne ich ihn, es ist einer meiner Onkel, ein Bruder meines Vaters, mein Onkel Mostafa.

Mein Papa lehnt über dem Sofa, er stützt sein Luftgewehr auf der Rückenlehne ab und beschießt seinen Bruder mit den kleinen Pfeilen, die er in einer leeren Pulmoll-Dose aufbewahrt. Eigentlich sind sie für Vögel bestimmt, sie sind rot, gelb und grün. In dem Moment, in dem ich das Wohnzimmer betrete, wendet der Junge, der mein Onkel ist, seinen Kopf zu mir und unsere Blicke treffen sich. Es ist ein intensiver Blick und ich kann darin seine Verzweiflung, den verletzten Stolz und die Empörung erkennen. Die Demütigung, die sein großer Bruder ihm antut.

»Bitte, Bruder«, höre ich ihn sagen, »ich habe wirklich keine Autoradios gestohlen.«

Doch mein Vater hört nicht, sondern schießt weiter …

Mein Onkel war damals ein in der Szene bekannter Graffiti-Sprayer, was von seiner Familie allerdings niemand wusste. In dieser Nacht hatte mein Vater ihn in der Stadt mit seiner gesamten Ausrüstung angetroffen und sofort den Schluss gezogen, mein Onkel müsse ein Autoknacker und Radiodieb sein. Die Sache mit den Pfeilen sollte eine Bestrafung für den Jungen sein, die er nicht so schnell vergessen würde. Er hatte recht damit, mein Onkel vergaß diese demütigende Behandlung tatsächlich sein Leben lang nicht.