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Ein Ermittler am Abgrund. Eine Wahrheit, die alles verändert. Tom Berger, Hauptkommissar mit Vergangenheit, steht kurz vor dem Ende seiner Laufbahn. Als ein junger Mann tot aufgefunden wird, scheint alles klar – Drogen, Suizid, Routinefall. Doch Toms Instinkt sagt etwas anderes. Zwischen verlassenen Zechen, Akten voller Widersprüche und einem Netz aus Angst und Korruption sucht er nach Antworten – und findet dabei sich selbst. Während die Presse schweigt und Kollegen wegsehen, stößt Tom auf Spuren, die ihn an das eigene Versagen erinnern. Je näher er der Wahrheit kommt, desto gefährlicher wird sie. Für ihn. Für die, die er liebt. Für alles, was bleibt. „Nicht perfekt, nur echt“ ist ein intensiver, realitätsnaher Psychothriller über Moral, Schuld und das Menschsein in einer Welt, die Fehler nicht verzeiht. Atmosphärisch, sprachlich präzise, emotional ehrlich – ein Roman, der bleibt, wenn das Licht ausgeht. Zentrale Themen Wahrheit & Schuld Hochsensibilität & Empathie im Polizeiberuf Moralische Zerrissenheit Gesellschaftliche Verantwortung Familie, Verlust & Vergebung Systemkritik (Behörden, Medien, Macht Strukturen) Authentizität & Echtheit
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Seitenzahl: 367
Veröffentlichungsjahr: 2025
Nicht Perfekt nur Echt
Zwischen Fassade und Wahrheit-ein Leben ohne Maske
Danilo Sieren
Auflage 1
Roman
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1: Der Anruf
Kapitel 2: Rückkehr ins Revier
Kapitel 3: Die Familie des Opfers
Kapitel 4: Die Koordinaten
Kapitel 5: Die Struktur
Kapitel 6: Die Stimmen
Kapitel 7: Der Ursprung
Kapitel 8: Die Jagd
Kapitel 9: Schattenlinien
Kapitel 10: Die Schwelle
Kapitel 11: Enthüllung
Kapitel 12: Die Offenlegung
Kapitel 13: Die Ermittlungen
Kapitel 14: Was bleibt
Kapitel 15 Impressum
Vorwort
Was als Krimi begann, war nie nur die Suche nach einem Täter. Es war die Suche nach Wahrheit nicht nur im Außen, sondern tief im Inneren. Die Spuren, denen wir gefolgt sind, führten nicht nur zu einem Verbrechen, sondern zu einem Menschen, der sich selbst verloren hatte.
Mit „Nicht Perfekt nur Echt“ verlässt die Geschichte den klassischen Pfad des Kriminalromans und öffnet sich einem neuen Raum: dem der Echtheit. Es geht nicht mehr um Indizien, sondern um Gefühle. Nicht mehr um Schuld, sondern um Selbstakzeptanz. Der Fall ist abgeschlossen aber die eigentliche Reise beginnt erst jetzt.
Dieser Roman ist für alle, die wissen, dass das Leben nicht in Schwarz und Weiß verläuft. Für alle, die sich zwischen den Zeilen wiederfinden. Und für jene, die den Mut haben, sich selbst zu begegnen nicht perfekt, aber echt.
Danilo Sieren
Württembergerstr. 44
44339 Dortmund
Kapitel 1 Der Anruf
Die Nacht war still, bis auf das leise Summen der Straßenlaterne vor dem Fenster. Tom Berger saß in seinem abgedunkelten Wohnzimmer, die Zigarette zwischen den Fingern längst verglüht, der Aschenbecher überfüllt. Auf dem Couchtisch lag eine halb geleerte Flasche Rotwein, daneben ein zerknitterter Zeitungsausschnitt ein Artikel über einen Mordfall, der nie gelöst wurde. Der Fall, der ihn nie losgelassen hatte. Es war kurz nach zwei, als das Telefon klingelte. Nicht das Handy, das irgendwo unter einem Stapel alter Akten lag, sondern das Festnetztelefon. Ein Relikt aus einer Zeit, in der man noch glaubte, dass Dinge Bestand hätten. Tom starrte das Gerät an, als würde es ihn herausfordern. Drei Mal klingelte es, dann hob er ab.
Berger.
Stille. Dann ein Atemzug. Und eine Stimme, brüchig, kaum hörbar. Sie müssen mir helfen.
Tom richtete sich auf. Die Stimme war weiblich, jung, aber mit einem Ton, der zu viel erlebt hatte.
Wer sind Sie?
Ich... Ich kann nicht sagen. Noch nicht. Aber es geht um den Fall. Den Jungen. Damals.
Tom spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Der Fall. Es gab viele Fälle, aber nur einen, der ihn bis heute verfolgte. Der Mord an dem zehnjährigen Leo Mertens, vor acht Jahren. Er war damals Einsatzleiter gewesen. Der Junge war verschwunden, später tot aufgefunden. Keine Spuren, keine Zeugen. Und keine Gerechtigkeit. Was wissen Sie? fragte er, die Stimme nun schärfer. Ich war dort. Ich habe etwas gesehen. Aber ich konnte nicht sprechen. Ich hatte Angst.
Tom stand auf, ging zum Fenster, blickte hinaus in die Dunkelheit. Die Stadt schlief, aber er wusste: Die Wahrheit schlief nie. Sie wartete. Manchmal jahrelang.
Wo sind Sie?
Ich kann nicht sagen. Noch nicht. Aber ich werde mich wieder melden. Und dann müssen Sie bereit sein.
Ein Klicken. Die Verbindung war getrennt. Tom blieb stehen, das Telefon noch am Ohr, als könnte er die Stimme zurückholen. Dann legte er auf, langsam, fast ehrfürchtig. Etwas hatte sich verändert. Die Vergangenheit war zurück und sie wollte Antworten. Tom saß wieder auf dem Sofa, das Glas Rotwein in der Hand, aber der Geschmack war ihm fremd geworden. Der Anruf hatte etwas in ihm ausgelöst, dass er lange verdrängt hatte. Acht Jahre waren vergangen, seit Leo Mertens tot aufgefunden wurde in einem verlassenen Industriegebäude am Stadtrand, eingewickelt in eine alte Plane, als hätte jemand versucht, ihn zu verstecken und gleichzeitig auszulöschen. Er hatte damals alles gegeben. Die Spurensicherung, die Verhöre, die nächtelangen Analysen. Und doch war der Fall versandet. Keine DNA, keine Zeugen, keine brauchbaren Hinweise. Nur ein toter Junge und eine Familie, die daran zerbrach. Tom stand auf, ging zum Regal und zog eine alte, graue Mappe hervor. Fall Mertens stand in verblassten Buchstaben auf dem Deckel. Er hatte sie nie abgegeben, nie archiviert. Offiziell war der Fall abgeschlossen mangelnde Beweislage. Inoffiziell war er nie vorbei.
Er schlug die Mappe auf. Fotos, Berichte, Skizzen. Das Bild von Leo, aufgenommen bei der Einschulung, lächelnd, mit Zahnlücke. Tom starrte es lange an. Dann blätterte er weiter. Tatortfotos. Die Plane, die Blutspuren, die leere Halle. Und ein Detail, das ihm damals aufgefallen war: ein zerbrochener Schlüsselanhänger in Form eines Sterns, direkt neben der Leiche. Niemand hatte ihn zuordnen können.
Er griff zum Notizblock und schrieb:
Anruferin Zeugin? Schlüsselanhänger? Verbindung? Dann stand er auf, zog sich die Jacke über und verließ die Wohnung. Die Nacht war kühl, der Asphalt glänzte vom Regen. Er fuhr zum alten Revier, das inzwischen nur noch als Verwaltungsstelle genutzt wurde. Dort, im Kellerarchiv, lag vielleicht noch etwas, das ihm helfen konnte. Die Tür war verschlossen, aber Tom hatte noch seinen alten Zugangsausweis. Er hielt ihn an das Lesegerät ein grünes Licht blinkte, die Tür öffnete sich. Der Flur war leer, die Neonröhren flackerten. Er ging direkt zum Archivraum, öffnete die Tür und trat ein.
Regale voller Akten, staubige Kartons, vergilbte Etiketten. Er suchte das Fach mit dem Buchstaben M, zog eine Schublade auf leer. Kein Fall Mertens. Kein Hinweis. Nichts. Tom runzelte die Stirn. Das war nicht normal. Selbst abgeschlossene Fälle wurden archiviert. Er suchte weiter, durchforstete die Datenbank am alten Rechner auch dort: keine Einträge. Als hätte jemand den Fall gelöscht. Er lehnte sich zurück, starrte auf den Bildschirm. Dann hörte er Schritte. Leise, vorsichtige Schritte. Jemand war hier. Er schaltete den Monitor aus, trat zurück in den Flur. Die Schritte kamen näher. Ein Schatten bewegte sich am Ende des Gangs. Tom trat aus dem Licht, wartete. Der Schatten blieb stehen. Berger? fragte eine Stimme.
Tom trat vor. Es war Jana Krüger, eine junge Kommissarin, die erst kurz vor seiner Pensionierung ins Team gekommen war. Sie trug eine Lederjacke, die Haare zum Zopf gebunden, die Augen wach. Was machst du hier? fragte sie.
Ich könnte dich dasselbe fragen.
Ich arbeite noch hier. Du nicht.
Tom nickte. Ich suche etwas. Der Fall Mertens. Jana sah ihn lange an. Dann sagte sie leise: Der Fall wurde vor zwei Monaten aus dem Archiv entfernt. Interne Anweisung. Von wem?
Das weiß ich nicht. Aber ich habe Kopien. Ich konnte nicht anders. Sie zog einen USB-Stick aus der Jackentasche, reichte ihn ihm. Du solltest vorsichtig sein, Tom. Manche Dinge wollen nicht gefunden werden. Perfekt, Danilo. Dann geht’s weiter mit Teil 3 von Kapitel 1 aus Stille Zeugen. Tom hat gerade von Jana Krüger einen USB-Stick erhalten, der möglicherweise brisante Informationen enthält. Die Spannung steigt und die Handlung nimmt Fahrt auf.
Tom fuhr zurück in seine Wohnung, den Stick fest umklammert, als wäre er ein Beweisstück. Die Straßen waren leer, nur vereinzelt huschten Autos durch die Dunkelheit. In seinem Kopf ratterten die Gedanken: Wer hatte den Fall aus dem Archiv entfernt? Warum jetzt? Und was wusste die Anruferin wirklich? Zuhause angekommen, schaltete er den Laptop ein. Das alte Modell, das er nie ans Netz anschloss. Sicherheit war ihm wichtig. Er steckte den USB-Stick ein, öffnete den einzigen Ordner darauf: Mertens Archiv. Darin: gescannte Vernehmungsprotokolle, Tatortfotos, interne Memos. Und eine Datei mit dem Namen Vermerk_Krüger_vertraulich.docx.
Er öffnete sie.
Vermerk vom 12. Mai 2025 Jana Krüger Bei Durchsicht alter Fallakten stieß ich auf Unstimmigkeiten im Fall Leo Mertens.
Der Schlüsselanhänger wurde nie offiziell registriert. Ein Zeuge namens R. K. wurde nie vernommen, obwohl er laut Streifenbericht am Tatort war.
Interne Kommunikation zwischen KHK Berger und KHK Voss wurde gelöscht.
Ich vermute, dass der Fall bewusst blockiert wurde. Weitere Nachforschungen folgen.
Tom starrte auf den Bildschirm. R. K. das musste Rainer Kessler sein. Ein Hausmeister, der damals in der Nähe des Tatorts arbeitete. Er erinnerte sich vage an den Namen, aber in den offiziellen Akten war er nie aufgetaucht. Warum?
Er griff zum Telefon, suchte die Nummer aus dem alten Adressbuch. Kessler lebte noch immer in Dortmund, in einem kleinen Reihenhaus am Rand der Stadt. Tom wählte die Nummer. Es klingelte lange. Dann eine Stimme, rau und müde. Kessler.
Tom Berger. Polizei. Ich war damals am Fall Mertens dran. Stille. Dann ein Husten.
Ich erinnere mich.
Sie wurden nie vernommen. Warum?
Ich wollte reden. Aber man hat mir gesagt, ich soll den Mund halten.
Wer hat das gesagt?
Ein Mann. Dunkler Mantel. Kam zwei Tage nach dem Mord. Hat mir Geld gegeben. Und gesagt, ich soll vergessen.
Tom spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Was haben Sie gesehen?
Ich sah jemanden aus der Halle kommen. Groß, kräftig, mit einer Tasche. Ich dachte, es sei ein Obdachloser. Aber dann sah ich das Auto. Schwarzer Audi, keine Kennzeichen. Könnten Sie ihn wiedererkennen?
Vielleicht. Wenn ich ihn sehe.
Tom schrieb alles auf. Dann fragte er: Haben Sie den Schlüsselanhänger gesehen?
Ja. Leo hatte ihn immer dabei. Ein Stern, silbern. Ich habe ihn am Boden gesehen, neben der Halle.
Tom bedankte sich und legte auf. Die Puzzleteile begannen sich zu fügen. Ein verschwundener Zeuge, ein verschwiegener Beweis, ein Mann im Mantel. Und ein Auto ohne Kennzeichen. Er wusste, was er als Nächstes tun musste: KHK Voss aufsuchen. Sein ehemaliger Kollege, der damals die Spurensicherung leitete und der heute in der internen Revision arbeitete. Wenn jemand wusste, was vertuscht wurde, dann er. Tom fuhr früh am Morgen los. Die Stadt war noch ruhig, die Straßen glänzten im Licht der aufgehenden Sonne. Er hatte kaum geschlafen, aber sein Kopf war klar. Die Informationen von Kessler und Jana hatten etwas in ihm ausgelöst eine Mischung aus Wut und Entschlossenheit. Wenn jemand versucht hatte, den Fall zu vertuschen, dann musste er es wissen. Und Voss war der Schlüssel.
KHK Voss lebte inzwischen in einem renovierten Altbau in der Südstadt. Früher war er ein Mann mit Prinzipien gewesen korrekt, sachlich, manchmal zu korrekt. Doch in den letzten Jahren hatte sich etwas verändert. Tom hatte es gespürt, aber nie benennen können.
Er klingelte. Es dauerte lange, bis die Tür geöffnet wurde. Voss stand im Türrahmen, graues Haar, müder Blick, ein Morgenmantel über dem Hemd.
Tom. Was für eine Überraschung.
Ich brauche Antworten.
Voss seufzte, trat zur Seite. Komm rein.
Die Wohnung war ordentlich, fast steril. Keine persönlichen Fotos, keine Bücher, nur Aktenordner und ein Laptop auf dem Tisch. Tom setzte sich, Voss schenkte Kaffee ein.
Es geht um Leo Mertens.
Voss erstarrte. Dann setzte er sich gegenüber. Der Fall ist abgeschlossen.
Nicht für mich. Und nicht für die Mutter. Und nicht für den Zeugen, den du nie vernommen hast.
Voss sah ihn lange an. Dann sagte er leise: Man hat mir gesagt, ich soll aufhören.
Wer?
Interne Revision. Es gab Druck von oben. Ich weiß nicht, wer genau. Aber es ging um etwas Größeres. Tom lehnte sich vor. Du hast Beweise verschwinden lassen. Nein. Ich habe sie gesichert. Auf einem Stick. Ich wollte sie irgendwann übergeben. Aber ich hatte Angst. Wovor?
Vor dem, was ich gesehen habe.
Voss stand auf, ging zum Schreibtisch, öffnete eine Schublade und holte einen kleinen Stick hervor. Er reichte ihn Tom. Da ist alles drauf. Interne Memos, gelöschte Protokolle, ein Video. Ein Video?
Von einer Überwachungskamera. Die Halle, in der Leo gefunden wurde. Es zeigt jemanden, der die Leiche ablegt. Aber das Gesicht ist nicht zu erkennen. Nur die Bewegung. Und das Auto. Tom nahm den Stick, sein Herz pochte. Warum hast du das nie gesagt?
Weil ich wusste, dass ich dann nicht mehr sicher bin. In diesem Moment klingelte es an der Tür. Voss erstarrte. Erwartest du jemanden? fragte Tom.
Nein.
Voss ging zur Tür, öffnete sie einen Spalt. Dann fiel er zurück ein dumpfer Schlag, ein Schatten huschte durch den Flur. Tom sprang auf, sah einen Mann in dunkler Kleidung, maskiert, mit einem Schlagstock. Der Mann rannte, Tom hinterher. Doch als er die Straße erreichte, war der Angreifer verschwunden nur ein schwarzer Audi bog gerade um die Ecke.
Tom kehrte zurück. Voss lag am Boden, blutend, aber bei Bewusstsein.
Sie wissen, dass du wieder ermittelst, flüsterte er. Tom kniete sich neben ihn, drückte ein Tuch auf die Wunde. Dann wird es Zeit, dass sie wissen, was ich gefunden habe. Tom saß wieder in seinem Wohnzimmer, das Licht gedimmt, der Laptop vor sich. Der Stick von Voss lag neben der Tastatur, als wäre er ein Sprengsatz, der nur darauf wartete, gezündet zu werden. Er atmete tief durch, klickte auf die Datei Video_Halle_Leo.mp4 und ließ sie abspielen.
Die Aufnahme war körnig, schwarz-weiß, mit einem Zeitstempel: 3:14 Uhr, 17. Oktober 2017. Die Kamera zeigte den Hintereingang der alten Industriehalle. Es regnete leicht, die Tropfen glänzten im Licht der Straßenlaterne. Dann trat eine Gestalt ins Bild groß, breitschultrig, mit einer Kapuze. Sie trug eine Sporttasche, schwer, schleppend. Tom spürte, wie sich seine Kehle zuschnürte. Die Gestalt öffnete die Tür, verschwand für etwa zwei Minuten, dann trat sie wieder heraus ohne Tasche. Sie blickte kurz zur Kamera, hob die Hand, als wollte sie etwas sagen. Dann stieg sie in einen schwarzen Audi und fuhr davon. Tom stoppte das Video, spulte zurück, zoomte auf das Gesicht. Unscharf, aber ein Detail stach hervor: ein Tattoo am Hals, halb sichtbar unter der Kapuze. Ein stilisierter Falke. Tom kannte dieses Symbol. Es gehörte zu einer Gruppe, die in Dortmund seit Jahren unter Beobachtung stand Die Falken, eine lose organisierte Bande mit Verbindungen zu Drogenhandel, Schutzgelderpressung und illegalen Waffengeschäften.
Er öffnete seine alte Ermittlungsdatenbank, suchte nach dem Symbol. Drei Treffer. Einer davon: Markus Falke Riedel, 38, mehrfach vorbestraft, zuletzt wegen Körperverletzung. Wohnhaft in einem Hochhauskomplex in der Nordstadt. Tom notierte die Adresse. Dann griff er zum Telefon, rief Jana Krüger an.
Ich habe etwas. Ein Video. Ein Mann mit einem Falken-Tattoo. Ich glaube, es ist Riedel.
Ich kenne ihn. Der ist gefährlich.
Ich muss mit ihm reden.
Nicht allein.
Ich bin nicht mehr im Dienst, Jana.
Dann tu wenigstens so, als wärst du es. Tom lächelte. Ich melde mich, wenn ich bei ihm war. Er legte auf, zog sich die Jacke über und verließ die Wohnung. Die Sonne war inzwischen aufgegangen, aber die Stadt wirkte grau, als würde sie etwas verbergen. Er fuhr zur Nordstadt, parkte in einer Seitenstraße und ging zu dem Hochhaus. Der Eingangsbereich war verwahrlost, Graffiti an den Wänden, der Fahrstuhl defekt. Er nahm die Treppe bis zum achten Stock. Wohnung 8B. Er klopfte. Keine Antwort. Dann ein Geräusch Schritte, leise, vorsichtig. Die Tür öffnete sich einen Spalt. Ein Mann mit kurz geschorenem Haar, muskulös, das Tattoo deutlich sichtbar. Was willst du? fragte er.
Tom Berger. Ich war Ermittler im Fall Leo Mertens. Der Mann lachte leise. Das ist lange her. Aber nicht vorbei.
Du solltest gehen.
Ich habe dich auf Video. Die Halle. Die Tasche. Der Mann erstarrte. Dann sagte er: Du weißt nicht, was du da gesehen hast.
Dann erkläre es mir.
Ich war nicht allein. Ich habe nur geliefert. Mehr nicht. Für wen?
Das sag ich nicht. Die sind größer als du denkst. Tom trat einen Schritt näher. Wenn du mir nicht hilfst, bist du der Einzige, der fällt.
Der Mann sah ihn lange an. Dann sagte er: Es gibt einen Namen. Aber wenn du ihn aussprichst, bist du tot. Sag ihn.
Keller.
Tom spürte, wie ihm der Boden unter den Füßen wegzog. Keller war ein interner Ermittler offiziell sauber, aber seit Jahren unter Verdacht, Verbindungen zur Unterwelt zu haben. Wenn er involviert war, dann war der Fall größer als gedacht. Tom wusste, dass er vorsichtig sein musste. Wenn Keller wirklich involviert war, dann bewegte er sich in einem Netz aus Macht, Einfluss und Schweigen. Ein direkter Angriff wäre sinnlos. Er musste beobachten, verstehen und dann zuschlagen. Er begann mit den Basics: Keller war offiziell bei der internen Revision der Polizei Dortmund tätig, zuständig für Verfahrenssicherheit und Compliance. Ein harmloser Titel für jemanden, der laut Gerüchten Akten verschwinden ließ und Ermittlungen manipulierte. Tom kannte die Spielchen. Er hatte sie selbst gesehen und manchmal, wenn nötig, mitgespielt. Er fuhr zum Polizeipräsidium, stellte sich in einiger Entfernung auf, beobachtete den Eingang. Keller kam gegen 9:15 Uhr, wie ein Uhrwerk. Dunkler Mantel, Aktentasche, Sonnenbrille. Er sprach mit niemandem, ging direkt hinein. Tom notierte alles. Dann fuhr er zu Kellers Wohnadresse ein modernes Apartmenthaus in der Innenstadt, mit Tiefgarage und Sicherheitsdienst. Am Abend kehrte Keller zurück. Wieder allein, wieder schweigend. Tom folgte ihm unauffällig, parkte in der Nähe, beobachtete das Gebäude. Gegen 22:30 Uhr verließ Keller das Haus erneut diesmal zu Fuß, ohne Aktentasche. Tom folgte ihm durch die Straßen, bis sie in ein Viertel kamen, das Tom kannte: das alte Industriegebiet, nicht weit von der Halle, in der Leo gefunden wurde. Keller betrat ein Gebäude, das offiziell leer stand. Tom wartete, dann schlich sich näher. Ein Fenster war leicht geöffnet. Er hörte Stimmen gedämpft, aber deutlich.
Das mit Berger wird ein Problem.
Er ist allein. Niemand hört ihm zu.
Aber er hat das Video.
Dann müssen wir es holen. Und ihn zum Schweigen bringen. Tom spürte, wie sich sein Körper anspannte. Sie wussten Bescheid. Und sie planten etwas. Er zog sich zurück, machte Fotos vom Gebäude, notierte die Uhrzeit. Dann fuhr er nach Hause aber nicht direkt. Er wechselte mehrfach die Route, achtete auf Verfolger. Als er endlich ankam, war es kurz nach Mitternacht. Er sicherte das Video, die Dokumente, die Fotos alles auf einem verschlüsselten Stick, den er in einem alten Buch versteckte. Dann setzte er sich an den Schreibtisch und begann zu schreiben: eine Übersicht über alle bisherigen Erkenntnisse, Namen, Orte, Zusammenhänge. Er wusste, dass er nicht mehr lange allein arbeiten konnte. Er brauchte Verbündete. Und er brauchte Schutz. Am nächsten Morgen rief er Jana an.
Ich habe Keller gesehen. Er trifft sich mit jemandem in einem alten Gebäude. Sie planen etwas.
Was genau?
Mich auszuschalten. Und das Video zu vernichten. Dann müssen wir schneller sein.
Ich will, dass du offiziell ermittelst. Ich bleibe im Hintergrund. Das wird nicht einfach.
Nichts daran ist einfach.
Jana schwieg. Dann sagte sie: Ich bin dabei. Tom legte auf, lehnte sich zurück. Die Jagd hatte begonnen, aber diesmal war er nicht allein.
Am nächsten Abend trafen sich Tom und Jana in einem kleinen Café am Hafen, weit entfernt vom Präsidium und den Augen derer, die sie beobachteten. Jana hatte eine Tasche dabei, darin ein Laptop, ein Aufnahmegerät und eine Mappe mit internen Dokumenten. Tom brachte den Stick mit dem Video und den Fotos vom Industriegebäude.
Wenn wir das öffentlich machen, wird es Wellen schlagen, sagte Jana leise.
Genau das wollen wir, antwortete Tom. Aber wir müssen es klug angehen. Wenn Keller merkt, dass wir ihn bloßstellen wollen, schlägt er zuerst zu.
Sie beschlossen, einen Zwischenweg zu gehen: eine kontrollierte Veröffentlichung über einen Journalisten, dem Tom vertraute Lukas Feld, ein investigativer Reporter, der schon früher mit brisanten Fällen an die Öffentlichkeit gegangen war. Tom rief ihn an, vereinbarte ein Treffen für den nächsten Tag. Doch noch bevor sie das Café verließen, klingelte Janas Handy. Sie sah aufs Display, runzelte die Stirn.
Unbekannte Nummer.
Nicht rangehen, sagte Tom sofort.
Aber Jana hob ab. Krüger.
Stille. Dann eine Stimme, verzerrt, elektronisch verfremdet. Ihr seid zu tief drin. Hört auf. Oder ihr werdet Teil der Akte.
Die Verbindung brach ab.
Jana sah Tom an. Sie wissen, dass wir zusammenarbeiten. Dann haben wir keine Zeit mehr.
Sie verließen das Café, trennten sich, um keine Spuren zu hinterlassen. Tom fuhr nach Hause, überprüfte seine Wohnung alles schien normal. Doch als er den Laptop öffnete, war die Datei mit dem Video verschwunden. Der Stick war leer. Er griff zum Buch, in dem er die Kopie versteckt hatte, auch dort: nichts.
Tom erstarrte. Jemand war hier gewesen. Er griff zum Telefon, rief Jana an. Keine Antwort. Dann eine Nachricht auf seinem Display:
Sie ist nicht erreichbar. Du bist der Nächste. Tom starrte auf den Text. Die Vergangenheit war zurück und sie hatte Zähne.
Kapitel 2: Rückkehr ins Revier
Tom Berger stand vor dem Polizeipräsidium Dortmund, das graue Gebäude wirkte wie ein Mahnmal aus Beton und Schweigen. Acht Jahre war er nicht mehr hier gewesen nicht seit seiner Pensionierung, nicht seit dem Fall Leo Mertens. Und doch hatte sich kaum etwas verändert. Dieselben Fenster, dieselben Türen, dieselbe Kälte, die ihn damals schon empfangen hatte. Er trat ein, nickte dem Pförtner zu, der ihn mit einem kurzen Blick erkannte, aber nichts sagte. Die Gänge waren belebt, Beamte in Uniformen, Zivilfahnder, junge Kommissarinnen mit Akten unter dem Arm. Tom fühlte sich wie ein Geist, der durch eine Welt wanderte, die ihn vergessen hatte.
Im dritten Stock lag das Büro der Mordkommission. Er klopfte an die Tür von Hauptkommissar Ralf Neumann, einem Mann, der früher sein engster Vertrauter gewesen war bis der Fall Mertens alles veränderte.
Berger? Neumann sah auf, überrascht, aber nicht feindselig. Was machst du hier?
Ich brauche Zugang zu den alten Fallakten. Und ich brauche deine Hilfe.
Neumann lehnte sich zurück, musterte ihn. Der Fall ist abgeschlossen.
Nicht für mich. Und nicht für Jana Krüger. Neumanns Blick veränderte sich. Sie ist verschwunden. Ich weiß. Und ich glaube, es hängt mit dem Fall zusammen. Tom setzte sich, legte die Fotos auf den Tisch das Industriegebäude, Keller, der schwarze Audi. Neumann betrachtete sie schweigend. Du weißt, dass das gefährlich wird.
Ich weiß, dass ein Kind ermordet wurde. Und dass wir versagt haben.
Neumann seufzte. Dann stand er auf, ging zum Aktenschrank, zog eine Mappe hervor Fall Mertens interne Kommunikation. Er legte sie auf den Tisch.
Das ist alles, was ich noch habe. Der Rest wurde ausgelagert. Oder gelöscht.
Tom blätterte durch die Seiten. Memos, Vermerke, ein Bericht von Keller auffallend knapp, ohne Details. Dann ein Vermerk von Voss, datiert zwei Tage nach dem Fund der Leiche: Hinweis auf mögliche Zeugin weiblich, ca. 20 Jahre, gesehen in Nähe des Tatorts. Keine weitere Ermittlung. Tom starrte auf die Zeile. Warum wurde sie nie vernommen? Keller sagte, es sei irrelevant.
Und ihr habt ihm geglaubt?
Neumann schwieg.
Tom stand auf. Ich brauche ihre Identität. Und ich brauche Zugang zum internen Archiv.
Das wird nicht einfach.
Nichts daran ist einfach.
Neumann nickte. Ich sehe, was ich tun kann. Tom saß in seinem Wagen vor der Klinik am Rombergpark, einem abgelegenen psychiatrischen Zentrum am südlichen Rand von Dortmund. Die Bäume warfen lange Schatten über die Auffahrt, und das Gebäude wirkte wie ein Ort, an dem Erinnerungen konserviert wurden, ob man wollte oder nicht. Die Frau, die laut dem Vermerk von Voss als mögliche Zeugin galt, war nie offiziell vernommen worden. Doch Tom hatte über Neumann einen Namen erhalten: Mira Lenz, damals 22, heute 30. Sie war nach dem Mord an Leo Mertens in stationäre Behandlung gekommen Diagnose: paranoide Schizophrenie. Doch was, wenn ihre Wahnvorstellungen in Wahrheit Beobachtungen waren, die niemand hören wollte?
Tom meldete sich am Empfang, zeigte seinen alten Dienstausweis. Die Pflegerin war skeptisch, aber nach einem kurzen Telefonat mit der Leitung wurde ihm ein Besuch gestattet. Zimmer 214, sagte sie. Aber bitte keine direkten Fragen zum Fall. Sie ist labil.
Tom nickte, ging den langen Flur entlang. Die Türen waren nummeriert, manche offen, manche verschlossen. Stimmen hallten durch die Gänge, manche klar, manche wirr. Dann stand er vor Zimmer 214.
Er klopfte. Keine Antwort.
Langsam öffnete er die Tür. Mira saß am Fenster, die Haare lang und ungepflegt, die Augen leer, aber wachsam. Sie drehte sich nicht um.
Mira? sagte Tom leise.
Sie kommen spät, sagte sie, ohne sich zu bewegen. Ich bin Tom Berger. Ich war damals Ermittler im Fall Leo Mertens. Leo. Der Junge mit dem Stern.
Tom erstarrte. Sie erinnern sich?
Ich vergesse nichts. Ich sehe alles. Immer. Er trat näher, setzte sich auf den Stuhl gegenüber. Was haben Sie damals gesehen?
Ein Mann. Dunkel. Groß. Er hatte eine Tasche. Und einen Vogel. Einen Vogel?
Auf der Haut. Ein Falke. Er hat Leo getragen wie ein Paket. Und dann kam der andere.
Welcher andere?
Der mit dem Mantel. Der sagte, ich soll schweigen. Oder ich verschwinde wie Leo.
Tom spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Können Sie ihn beschreiben?
Er roch nach Leder und Angst. Und er hatte eine Stimme wie Glas. Tom schrieb alles mit. Dann fragte er: Warum haben Sie nie gesprochen?
Ich habe gesprochen. Aber niemand hat gehört. Sie drehte sich zu ihm, die Augen nun klarer, fokussierter. Sie hören. Aber werden Sie auch reden? Tom nickte. Ich verspreche es.
Dann nehmen Sie das. Sie griff unter ihr Kissen, holte ein altes Notizbuch hervor. Ich habe alles aufgeschrieben. Für den Tag, an dem jemand zuhört.
Tom nahm das Buch, bedankte sich, versprach, wiederzukommen. Als er das Zimmer verließ, hörte er sie flüstern: Die Wahrheit ist ein Schatten. Und Schatten sterben nicht. Tom saß in seinem Wohnzimmer, das Notizbuch von Mira aufgeschlagen vor sich. Die Seiten waren voll mit krakeliger Schrift, Zeichnungen, Symbolen ein Chaos auf den ersten Blick, aber mit einer inneren Ordnung, die sich langsam offenbarte. Mira hatte nicht nur Erinnerungen niedergeschrieben, sondern auch Beobachtungen, Namen, Orte, Uhrzeiten. Es war ein Tagebuch der Schatten.
Ein Eintrag stach besonders hervor:
Tom las die Zeilen mehrfach. Riedel der Mann mit dem Falken-Tattoo war also nicht allein. Und Keller war offenbar derjenige, der die Fäden zog. Doch was bedeutete sauber? Und wie viele wussten davon?
Er blätterte weiter. Ein anderer Eintrag, datiert zwei Tage später:
Tom spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Mira war damals bereits unter Beobachtung und niemand hatte sie geschützt. Er machte sich Notizen, markierte die Einträge, verglich sie mit seinen eigenen Aufzeichnungen. Dann stieß er auf einen Namen, den er nicht erwartet hatte:
Tom starrte auf die Zeile. Mira hatte ihn damals gesehen und er hatte sie übersehen. Die Schuld kroch wie ein kalter Nebel in seine Gedanken. Er war Teil des Systems gewesen, das sie zum Schweigen gebracht hatte.
Er griff zum Telefon, rief Neumann an. Ich brauche Zugang zu den alten Einsatzprotokollen. Besonders zu den Streifenberichten vom 17. Oktober 2017. Das wird schwierig. Die sind nicht digitalisiert. Dann gib mir die Schlüssel zum Archiv. Neumann zögerte. Dann sagte er: Komm morgen früh. Ich begleite dich.
Tom legte auf, lehnte sich zurück. Das Notizbuch lag offen vor ihm, wie ein Mahnmal. Die Wahrheit war da, aber sie war fragmentiert, gebrochen, versteckt in den Rissen der Erinnerung. Er wusste, dass er tiefer Graben musste. Und dass die Antworten, die er finden würde, ihn verändern würden. Am nächsten Morgen war das Präsidium noch ruhig, als Tom und Neumann das Archiv betraten. Der Raum war kühl, die Regale voll mit Akten, die niemand mehr ansah Geschichten, die nie zu Ende erzählt wurden. Neumann schloss die Tür hinter sich, schaltete die Neonröhren ein. Das Licht flackerte kurz, dann wurde es still. Wir suchen den Streifenbericht vom 17. Oktober 2017, sagte Tom. Und alles, was mit dem Einsatz in der Nähe der Halle zu tun hatte. Neumann ging zum Regal mit den Einsatzprotokollen, zog mehrere Mappen heraus. Sie blätterten gemeinsam durch die Berichte Verkehrsunfälle, Ruhestörungen, ein Einbruch. Dann stießen sie auf einen Vermerk:
Einsatz 17.10.2017 03:20 Uhr
Streife 4B meldet verdächtige Aktivität in Industriegebiet Nord. Zwei Personen beobachtet, keine Ansprache erfolgt. Weiterfahrt nach Rücksprache mit Leitstelle.
Das ist es, sagte Tom. Warum wurde das nie in die Ermittlungen aufgenommen?
Neumann runzelte die Stirn. Die Leitstelle hat den Einsatz als irrelevant eingestuft. Keine weitere Maßnahme. Wer war damals in der Leitstelle?
Neumann blätterte weiter. Diensthabender: Keller. Tom schloss die Augen. Es passte alles zusammen. Keller hatte den Einsatz abgeblockt, die Streife weitergeschickt und damit die einzige Chance auf eine direkte Konfrontation mit den Tätern verhindert.
Was ist mit den Beamten von Streife 4B? fragte Tom. Müller und Degenhardt. Müller ist in Rente, Degenhardt arbeitet jetzt in Essen.
Ich spreche mit Müller.
Neumann nickte. Ich besorge dir die Adresse. Während Neumann telefonierte, blätterte Tom weiter durch die Akten. Dann stieß er auf eine Mappe, die falsch einsortiert war Fall: Jonas Reuter 2016. Ein Mordfall, ein Jahr vor Leo Mertens. Ein Junge, ebenfalls zehn Jahre alt, ebenfalls in einer verlassenen Halle gefunden. Die Parallelen waren frappierend. Neumann. Kennst du den Fall Reuter?
Kaum. Wurde damals als Einzelfall behandelt. Täter unbekannt. Das ist kein Zufall.
Tom nahm die Mappe, verglich die Tatortskizzen. Beide Jungen waren in ähnlicher Position gefunden worden, beide mit Spuren eines silbernen Gegenstands in der Nähe bei Leo der Sternanhänger, bei Jonas ein zerbrochener Armreif.
Das ist ein Muster, sagte Tom. Und wir haben es nie gesehen. Neumann sah ihn lange an. Dann sagte er: Vielleicht wollten wir es nicht sehen.
Tom packte die Akten zusammen. Ich spreche mit Müller. Und dann mit Degenhardt. Wenn sie etwas gesehen haben, ist es Zeit, dass sie reden. Tom fuhr in ein ruhiges Wohnviertel am Rand von Dortmund. Die Häuser waren gepflegt, die Gärten ordentlich, die Straßen leer. Walter Müller, ehemals Streifenpolizist, lebte hier seit seiner Pensionierung. Laut Neumann war er ein Mann mit Prinzipien aber auch mit Angst vor dem System, das ihn einst ernährte.
Tom klingelte. Nach einer Weile öffnete ein älterer Mann mit grauem Haar und skeptischem Blick.
Herr Müller? Ich bin Tom Berger. Ich war damals Ermittler im Fall Mertens.
Müller nickte langsam. Ich erinnere mich. Kommen Sie rein. Die Wohnung war schlicht, aber sauber. Ein Regal mit Kriminalromanen, ein Fernseher, der stumm lief, ein Funkgerät auf dem Tisch offenbar hörte Müller noch immer den Polizeifunk mit. Was wollen Sie? fragte er, als sie sich gesetzt hatten. Ich habe den Einsatzbericht vom 17. Oktober 2017 gelesen. Sie und Degenhardt haben zwei Personen im Industriegebiet gesehen. Warum wurde das nie weiterverfolgt?
Müller sah ihn lange an. Dann sagte er: Weil man uns gesagt hat, wir sollen weiterfahren.
Von wem?
Von der Leitstelle. Keller war am Funk. Er sagte, es sei ein interner Vorgang. Wir sollen uns raushalten.
Und Sie haben das einfach akzeptiert?
Was hätten wir tun sollen? Keller war mächtig. Wer sich ihm widersetzte, verschwand aus dem Dienst. Tom lehnte sich vor. Was haben Sie gesehen? Müller zögerte. Dann sagte er: Zwei Männer. Einer trug eine Tasche. Der andere stand Wache. Ich sah ein Auto schwarzer Audi, keine Kennzeichen. Ich wollte aussteigen, aber Degenhardt hielt mich zurück. Er sagte, wir sollen nicht reinfunken. Dass das gefährlich wird.
Hat Degenhardt mehr gewusst?
Vielleicht. Er war nervös. Und am nächsten Tag war er wie ausgewechselt.
Tom machte sich Notizen. Dann fragte er: Haben Sie je mit jemandem darüber gesprochen?
Nur einmal. Mit Voss. Der sagte, ich soll schweigen. Dass es größer ist, als ich denke.
Tom spürte, wie sich die Puzzleteile weiterfügten. Keller, Voss, Degenhardt alle hatten gewusst, dass etwas faul war. Und alle hatten geschwiegen.
Ich brauche Ihre Aussage, Herr Müller. Offiziell. Ich bin alt. Was bringt das noch?
Gerechtigkeit. Für Leo. Für Mira. Für alle, die vergessen wurden. Müller sah ihn lange an. Dann sagte er: Ich gebe Ihnen, was ich habe.
Er ging zum Schrank, holte eine alte Mappe hervor. Darin: handschriftliche Notizen, ein Ausdruck des Einsatzprotokolls, ein Foto aufgenommen mit seinem privaten Handy, damals. Es zeigte die Halle, den Audi, und zwei Schatten davor. Ich habe es nie gelöscht, sagte Müller. Falls eines Tages jemand fragt.
Tom nahm die Mappe, bedankte sich. Als er ging, hörte er Müller leise sagen:
Manche Schatten sind tiefer als die Nacht. Tom fuhr nach Essen, die Autobahn war leer, der Himmel wolkenverhangen. Die Adresse, die Neumann ihm gegeben hatte, führte ihn in ein unscheinbares Mehrfamilienhaus in einem ruhigen Viertel. Frank Degenhardt, ehemals Streifenbeamter, lebte hier seit seinem Wechsel aus Dortmund angeblich aus persönlichen Gründen. Doch Tom vermutete mehr.
Er klingelte. Es dauerte lange, bis die Tür geöffnet wurde. Degenhardt stand im Türrahmen, blass, eingefallene Wangen, die Augen müde. Er wirkte wie ein Mann, der zu viel gesehen hatte und zu wenig gesagt.
Berger, sagte er tonlos. Ich hab’s mir gedacht.
Ich brauche Antworten.
Ich hab keine.
Sie waren damals mit Müller unterwegs. Sie haben etwas gesehen. Degenhardt trat zur Seite, ließ ihn wortlos eintreten. Die Wohnung war dunkel, die Vorhänge zugezogen, der Tisch leer. Kein Fernseher, kein Radio nur ein Stapel Bücher über Trauma, Schweigen, Schuld.
Ich habe alles vergessen, sagte Degenhardt, als sie sich setzten. Niemand vergisst so etwas.
Manchmal muss man vergessen, um zu überleben. Tom legte die Fotos auf den Tisch die Halle, der Audi, die Schatten. Degenhardt sah sie nicht an.
Ich war jung. Ich dachte, ich könnte etwas verändern. Aber dann kam Keller.
Was hat er gesagt?
Dass ich schweigen soll. Dass ich sonst meine Familie gefährde. Und Sie haben geschwiegen.
Ich habe mich versetzen lassen. Ich dachte, Abstand hilft. Hat er nicht.
Degenhardt sah ihn zum ersten Mal direkt an. Leo war nicht der Erste.
Tom nickte. Ich weiß. Jonas Reuter. Ein Jahr vorher. Und es gab noch einen. 2015. In Hamm. Der Fall wurde nie öffentlich gemacht.
Tom erstarrte. Warum nicht?
Weil Keller ihn übernommen hat. Und weil der Junge aus einer Pflegefamilie kam, die niemand vermisste. Tom machte sich Notizen. Drei Fälle. Drei Jungen. Drei Tatorte. Und ein Mann, der alles kontrollierte.
Ich brauche Ihre Aussage.
Ich kann nicht.
Dann geben Sie mir etwas. Irgendetwas. Degenhardt stand auf, ging zum Regal, holte eine alte Mappe hervor. Darin: ein Brief, handgeschrieben, datiert auf den Tag nach dem Einsatz.
Ich habe gesehen, was ich nicht hätte sehen dürfen. Zwei Männer, eine Tasche, ein Kind. Ich habe geschwiegen. Aber ich erinnere mich. Und ich hoffe, dass eines Tages jemand fragt. Tom nahm den Brief, bedankte sich. Als er ging, sagte Degenhardt leise:
Manche Fragen kommen zu spät. Aber manche Antworten warten ewig. Zurück in seiner Wohnung breitete Tom die Akten aus: Leo Mertens, Jonas Reuter, der unbekannte Junge aus Hamm. Drei Kinder, drei Tatorte, drei Jahre und ein Muster, das niemand hatte sehen wollen. Oder nicht hatte sehen dürfen. Er verglich die Tatortskizzen, die Fundorte, die Uhrzeiten. Alle drei Morde geschahen zwischen 3 und 4 Uhr morgens. Alle drei Opfer waren männlich, zwischen neun und elf Jahre alt. Und alle drei wurden in verlassenen Industriegebäuden abgelegt, als wären sie Teil eines Rituals.
Tom öffnete die Mappe von Müller erneut. Darin, zwischen den Seiten, fand er ein Dokument, das ihm vorher nicht aufgefallen war: eine Liste mit Namen, handschriftlich, ohne Titel. Die Handschrift war ihm vertraut Keller. Er hatte sie oft genug gesehen. Die Liste enthielt etwa zwanzig Namen. Manche durchgestrichen, manche mit einem Stern markiert. Tom erkannte drei davon sofort: Leo Mertens, Jonas Reuter, und den Jungen aus Hamm Nico Brandt. Der Name war nie öffentlich geworden, aber Tom hatte ihn in einem alten Vermisstenbericht gesehen. Er blätterte weiter. Ein vierter Name war mit einem roten Kreuz versehen: Luca Stein, elf Jahre alt, vermisst seit zwei Wochen. Kein öffentlicher Aufruf, keine Medienberichte. Tom runzelte die Stirn. Warum war dieser Fall nicht bekannt?
Er griff zum Telefon, rief Neumann an. Kennst du den Namen Luca Stein?
Nie gehört. Warum?
Er steht auf einer Liste. Keller hat sie geführt. Drei Namen sind bereits tot. Luca ist der vierte.
Neumann schwieg. Dann sagte er: Ich prüfe das. Gib mir eine Stunde.
Tom legte auf, starrte auf die Liste. Die Namen waren nicht alphabetisch, nicht chronologisch, aber sie hatten eine Struktur. Manche waren mit Adressen versehen, andere mit Kürzeln, die Tom nicht zuordnen konnte.
Er begann, die Namen zu recherchieren. Einige waren Kinder aus Pflegefamilien, andere aus schwierigen sozialen Verhältnissen. Alle hatten eines gemeinsam: Sie waren leicht zu übersehen. Keine Lobby, keine Presse, keine Stimme.
Dann klingelte sein Handy. Neumann.
Luca Stein. Vermisst seit 13 Tagen. Die Familie hat Anzeige erstattet, aber der Fall wurde nicht priorisiert. Zuständig: Keller. Tom schloss die Augen. Es war kein Zufall. Keller hatte Zugriff auf die Fälle, die niemand verfolgte. Und er hatte eine Liste geführt eine Liste von Kindern, die verschwinden durften. Wir müssen Luca finden, sagte Tom.
Ich stimme dir zu. Aber wir brauchen mehr. Wir brauchen Jana.
Sie ist noch immer verschwunden.
Tom stand auf, griff zur Jacke. Dann suche ich sie. Und ich fange bei Keller an. Tom hatte sich in einem leerstehenden Bürogebäude gegenüber dem Präsidium eingerichtet. Von dort aus konnte er Keller beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. Er hatte eine Kamera mit Teleobjektiv, ein Notizbuch, eine Thermoskanne mit Kaffee und Geduld. Viel Geduld.
Die ersten zwei Tage waren ereignislos. Keller kam und ging wie gewohnt, sprach mit Kollegen, führte Besprechungen. Doch am dritten Tag änderte sich etwas. Gegen 21:40 Uhr verließ Keller das Gebäude nicht wie üblich durch den Haupteingang, sondern durch den Lieferanteneingang auf der Rückseite. Er trug keine Aktentasche, sondern einen Rucksack. Tom folgte ihm unauffällig. Keller ging zu Fuß, bog in eine Seitenstraße ab, dann in eine Tiefgarage unter einem alten Lagerhaus. Tom blieb auf Abstand, machte Fotos. Nach etwa zehn Minuten verließ Keller die Garage diesmal nicht allein. Zwei weitere Männer begleiteten ihn, beide in dunkler Kleidung, einer mit einem auffälligen Gang, der andere mit einem Headset.
Tom erkannte den Mann mit dem Headset: Riedel, der Mann mit dem Falken-Tattoo. Der Kreis schloss sich.
Die drei stiegen in einen schwarzen Audi keine Kennzeichen und fuhren los. Tom folgte ihnen bis zu einem alten Bürokomplex am Stadtrand, offiziell seit Jahren leerstehend. Die Männer betraten das Gebäude durch einen Seiteneingang. Tom wartete, dann schlich sich näher.
Er fand ein Fenster, das nicht ganz geschlossen war, und hörte Stimmen.
Der Junge ist noch nicht gefunden, sagte Keller. Die Familie hat angefangen zu fragen, antwortete Riedel. Dann muss es schnell gehen. Wir dürfen keine Spuren hinterlassen. Was ist mit Berger?
Er ist allein. Aber er ist hartnäckig.
Sollen wir ihn ausschalten?
Noch nicht. Aber wenn er weiter bohrt, wird er Teil der Liste. Tom zog sich zurück, sein Herz raste. Sie planten etwas und sie hatten Luca Stein. Der Junge war noch am Leben. Vielleicht. Aber nicht mehr lange.
Zurück in seiner Wohnung, sichtete Tom die Fotos, die Tonaufnahmen, die Notizen. Es war genug, um eine interne Untersuchung zu erzwingen aber nicht genug für eine öffentliche Anklage. Er brauchte mehr. Und er brauchte Jana. Er griff zum Telefon, rief Neumann.
Ich habe Keller, Riedel und einen dritten Mann in einem Lagerhaus gesehen. Sie sprachen über Luca. Und über mich. Das reicht für einen Durchsuchungsbefehl. Nicht offiziell. Wir müssen es anders machen. Was schlägst du vor?
Ich gehe rein. Du sicherst mich ab.
Das ist Wahnsinn.
Das ist notwendig.
Neumann schwieg. Dann sagte er: Ich bin dabei. Tom legte auf, packte seine Ausrüstung. Die Schatten hatten ihn lange genug verfolgt. Jetzt war es Zeit, dass er ihnen entgegentrat. Tom und Neumann trafen sich in einem verlassenen Parkhaus nahe dem Lagerhaus. Es war spät, die Straßen leer, die Luft schwer. Neumann hatte eine kleine Einheit aus zwei vertrauenswürdigen Kollegen organisiert Kira Lehmann und Yusuf Demir, beide erfahren, diskret und skeptisch gegenüber Keller. Wir gehen leise rein, sagte Neumann. Keine Uniformen, keine Sirenen. Wir sichern das Gelände, dann du, Tom, gehst mit mir in den Kellerbereich.
Tom nickte. Ich will Luca finden. Und Jana. Wenn sie dort ist.
Sie zogen sich dunkle Kleidung über, überprüften ihre Ausrüstung. Dann bewegten sie sich in Richtung des Lagerhauses, umkreisten es, suchten nach Zugangspunkten. Kira entdeckte eine Seitentür, die nicht vollständig verriegelt war. Mit einem kleinen Werkzeug öffnete sie sie lautlos.
Drinnen war es dunkel, die Luft roch nach Staub und Öl. Die Gruppe bewegte sich vorsichtig durch die Gänge, vorbei an alten Büroräumen, leeren Regalen, zerbrochenen Fenstern. Dann hörten sie Stimmen gedämpft, aber deutlich.
Er kommt heute, sagte eine Stimme. Berger. Wir müssen bereit sein. Was ist mit dem Jungen? fragte eine andere. Er ist ruhig. Noch.
Tom spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Sie waren zu spät oder gerade rechtzeitig.
Neumann gab ein Zeichen. Kira und Yusuf sicherten die Flure, während Tom und Neumann sich dem Ursprung der Stimmen näherten. Eine Tür, leicht geöffnet, Licht dahinter. Tom trat vor, blickte hinein und sah Keller, Riedel und einen dritten Mann, den er nicht kannte. Auf einem Stuhl, gefesselt, saß ein Junge Luca Stein. Blass, verängstigt, aber lebendig.
Tom stürmte vor, Neumann direkt hinter ihm. Polizei! Hände hoch! Chaos brach aus. Riedel griff nach einer Waffe, Keller versuchte zu fliehen, der dritte Mann zog ein Messer. Neumann warf sich auf Keller, Tom rang mit dem Messerträger, während Yusuf und Kira von hinten eingriffen.
Nach wenigen Minuten war alles vorbei. Die Männer lagen gefesselt am Boden, Luca wurde befreit, zitternd, aber unverletzt. Tom kniete sich neben ihn.
Du bist sicher jetzt, sagte er leise.
Doch dann hörte er etwas ein Geräusch aus dem hinteren Teil des Gebäudes. Schritte. Eine Tür, die zuschlug. Tom sprang auf, rannte los, folgte dem Geräusch durch einen dunklen Gang, eine Treppe hinunter und fand eine Tür, halb geöffnet. Dahinter: Jana Krüger. Gefesselt, aber wach. Ihre Augen weiteten sich, als sie Tom sah.
Du hast mich gefunden, flüsterte sie.
Tom löste die Fesseln, half ihr auf. Ich dachte, du wärst tot. Keller wollte mich zum Schweigen bringen. Aber ich habe gehört, was sie planen.
Was?
Es gibt noch mehr Namen. Noch mehr Kinder. Tom spürte, wie sich alles in ihm zusammenzog. Der Fall war nicht vorbei. Er hatte gerade erst begonnen. Zurück im Präsidium saßen Tom und Jana in einem abhörsicheren Raum. Keller war in Gewahrsam, Riedel ebenfalls. Der dritte Mann ein ehemaliger Jugendamtsmitarbeiter hatte bereits gestanden, dass er Informationen über gefährdete Kinder weitergegeben hatte. Gegen Geld. Gegen Schweigen.
Jana war blass, aber fokussiert. Sie hatte sich schnell erholt, ihre Stimme war fest, ihre Augen wach. Gemeinsam mit Tom analysierte sie die Liste, die Keller geführt hatte. Jeder Name war ein Kind, das in irgendeiner Weise durch das System gefallen war, Pflegekinder, Kinder mit psychischen Auffälligkeiten, Kinder ohne stabile Bezugspersonen.
Das ist keine Zufallsliste, sagte Jana. Das ist ein Raster. Ein Raster für Verwundbarkeit, ergänzte Tom. Sie haben gezielt Kinder ausgesucht, die niemand vermisst. Oder deren Verschwinden leicht zu erklären war.
Sie fanden Verbindungen zu Jugendämtern, zu medizinischen Einrichtungen, zu internen Polizeiberichten. Keller hatte Zugriff auf alles und er hatte es genutzt. Nicht allein, sondern als Teil eines Netzwerks, das sich über mehrere Städte erstreckte. Neumann trat ein, legte neue Unterlagen auf den Tisch. Wir haben Keller verhört. Er schweigt. Aber Riedel hat gesprochen. Und? fragte Tom.
Es gibt einen Mann, der alles koordiniert. Keller war nur ein Mittelsmann. Der Kopf sitzt in Düsseldorf. Ein ehemaliger Richter. Name: Konrad Vellmer.
Tom starrte auf das Foto. Ein Mann mit grauem Haar, strengem Blick, ein Symbol der Justiz und offenbar der Dunkelheit. Was ist sein Motiv? fragte Jana.
Macht. Kontrolle. Und ein krankes Bedürfnis nach Ordnung. Er glaubt, dass manche Kinder das System belasten. Und dass man es reinigen muss.
Tom spürte, wie sich alles in ihm zusammenzog. Die Morde waren keine Zufälle. Sie waren Teil eines Plans. Einer Ideologie. Wir müssen ihn stoppen, sagte er.
Das wird schwierig, antwortete Neumann. Er hat Einfluss. Kontakte. Und er weiß, wie man Spuren verwischt. Dann machen wir Lärm.
Tom stand auf, nahm die Liste, die Fotos, die Aussagen. Wir gehen zur Presse. Zu Lukas Feld. Und wir bringen alles raus. Jana nickte. Aber wir müssen vorsichtig sein. Wenn wir zu früh gehen, verlieren wir alles.
Dann gehen wir klug. Und entschlossen. Sie verließen das Präsidium, die Liste fest in der Hand. Die Wahrheit war nicht länger ein Schatten. Sie war ein Feuer und Tom war bereit, es zu entzünden.
Kapitel 3: Die Familie des Opfers
Tom Berger stand vor einem kleinen Reihenhaus in Dortmund-Huckarde. Die Fassade war grau, das Dach leicht beschädigt, der Garten verwildert. Es war das Haus, in dem Leo Mertens aufgewachsen war bis zu dem Tag, an dem er verschwand. Acht Jahre waren vergangen, doch die Zeit hatte hier keine Heilung gebracht.
Er klingelte. Es dauerte lange, bis die Tür geöffnet wurde. Eine Frau stand im Rahmen, blass, die Augen müde, das Gesicht eingefallen. Sabine Mertens, Leos Mutter. Sie erkannte Tom sofort und sagte nichts.
Frau Mertens, begann Tom vorsichtig. Ich weiß, dass ich nicht willkommen bin. Aber ich habe neue Informationen. Und ich glaube, dass wir endlich Antworten bekommen können. Sie sah ihn lange an. Dann öffnete sie die Tür weiter. Kommen Sie rein.
Das Wohnzimmer war dunkel, die Vorhänge zugezogen, die Luft schwer. Auf einem Regal standen Fotos von Leo als Baby, als Kleinkind, beim Fußball. Tom spürte, wie sich sein Herz zusammenzog.
Was wollen Sie? fragte Sabine.
Ich habe Hinweise, dass der Mord an Leo Teil eines größeren Musters war. Es gibt andere Kinder. Und es gibt Männer, die dafür verantwortlich sind.
Das sagen Sie jetzt. Nach acht Jahren.
Ich war blind. Aber jetzt sehe ich.
