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„Zwischen Apfelbaum und Abendlicht“ erzählt das Leben von Jonas, einem stillen, hochsensiblen Jungen, der in einer lauten Welt aufwächst. Schon als Kind hört er Dinge, die andere überhören – das Summen von Stromleitungen, das Flackern einer Lampe, die feine Spannung zwischen Menschen. Doch was für ihn Ordnung ist, wirkt auf andere befremdlich. Seine Mutter Marianne versteht seine Tiefe, sein Vater Rolf versucht, sie zu „reparieren“. Jonas wächst auf zwischen Verständnis und Überforderung, zwischen Zuneigung und Isolation. Er ist nicht krank, aber anders – und diese Andersartigkeit begleitet ihn durch Kindheit, Jugend und Erwachsensein. In der Schule gilt er als Sonderling, in der Familie als schwieriges Kind. Nur Lea, ein Nachbarsmädchen, erkennt früh, dass in seiner Stille etwas Schönes liegt. Doch auch sie verschwindet irgendwann – und Jonas bleibt allein mit seinen Gedanken, seiner inneren Welt, seinen Stimmen.
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Seitenzahl: 383
Veröffentlichungsjahr: 2025
Zwischen Apfelbaum und Abendlicht
Eine Geschichte über das Erinnern, das Verlieren und das Weitergehen
Danilo Sieren
Auflage 1
Roman
Vorwort
Dieses Buch beginnt nicht mit einem Anfang, sondern mit einem Moment. Ein Mädchen fällt. Eine Familie hält den Atem an. Und dann beginnt etwas, das sich nicht in Kapitel fassen lässt: das Weiterleben.
Zwischen Apfelbaum und Abendlicht erzählt von Mira einem Kind, das Geschichten sammelt, weil sie das Leben nicht anders halten kann. Es erzählt von Livia, die Mutter ist und Frau bleibt, von Elias, der Musik spielt, um zu erinnern, von Jonas, der zeichnet, was andere nicht sagen können. Und es erzählt von Nora, die fehlt und gerade deshalb bleibt.
Es ist kein Roman über große Ereignisse. Es ist ein Roman über das, was bleibt, wenn die Ereignisse vorbei sind. Über das Flüstern im Haus, über die Teetasse, die stehen bleibt, über das Heft auf den Knien, das mehr sagt als jede Stimme.
Die Figuren in diesem Buch sind nicht Helden. Sie sind Menschen, die lieben, verlieren, sich streiten, sich wiederfinden. Sie sind wie wir. Und vielleicht ist das der Grund, warum diese Geschichte erzählt werden musste.
Der Apfelbaum im Garten blüht spät. Mira sagt, er träumt. Vielleicht träumen wir alle von dem, was war, von dem, was hätte sein können, und von dem, was wir noch erzählen werden.
Dieses Buch ist eine Einladung. Nicht nur zum Lesen. Sondern zum Erinnern. Zum Zuhören. Zum Bleiben.
Danilo Sieren
Württembergerstr. 44
44339 Dortmund
Der Morgen, an dem Jonas geboren wurde, war einer jener Tage, die sich weigerten, ein Gesicht zu zeigen. Der Himmel über Herne war ein gleichmäßiges Grau, das sich wie ein Tuch über die Stadt legte. Der Regen fiel nicht in Tropfen, sondern in einem feinen, fast unsichtbaren Schleier, der die Straßen glänzen ließ, ohne sie wirklich nass zu machen. Es war der 3. März 1974, ein Dienstag, der sich in nichts von anderen Tagen unterschied außer für Marianne, die im dritten Stock des St.-Elisabeth-Krankenhauses lag und versuchte, ein Kind zur Welt zu bringen.
Marianne war 24 Jahre alt, schmal gebaut, mit einem Gesicht, das zu oft in sich selbst versunken war. Ihre dunklen Haare klebten an der Stirn, ihre Augen waren halb geschlossen, der Schmerz hatte sie in eine Zwischenwelt gedrängt, irgendwo zwischen Körper und Geist. Die Hebamme sprach beruhigend auf sie ein, doch Marianne hörte nur das rhythmische Piepen des Monitors, das wie ein Herzschlag aus einer anderen Dimension klang.
Draußen im Flur saß Rolf, ihr Mann, auf einem Plastikstuhl, die Beine nervös überkreuzt. Er war ein Mann der Ordnung, der Pläne, der Kabel und Sicherungen. Als Elektriker verstand er, wie man Strom leitete, wie man Chaos in Bahnen lenkte. Doch hier, vor der Tür zum Kreißsaal, war er machtlos. Geburt war für ihn ein Vorgang ohne Schaltplan, ohne Sicherung ein Risiko, das sich nicht berechnen ließ.
Als Jonas endlich zur Welt kam, war es still. Kein lauter Schrei, kein Aufbäumen gegen das Licht. Die Hebamme hielt inne, sah auf das kleine, runzelige Gesicht, das sich kaum regte. Dann, nach einem Moment, der sich wie eine Ewigkeit dehnte, kam ein Laut kein Schrei, sondern ein leises, vibrierendes Summen. Als würde das Kind nicht protestieren, sondern lauschen. Marianne öffnete die Augen, sah ihren Sohn an und spürte etwas, das sie nicht benennen konnte. Eine Fremdheit, die nicht bedrohlich war, aber auch nicht vertraut.
Rolf trat ein, sah auf das Neugeborene, nickte knapp. Sieht gesund aus, sagte er, mehr zu sich selbst als zu jemand anderem. Doch als er Jonas in den Arm nahm, zuckte der Kleine leicht zusammen nicht aus Angst, sondern wie bei einem Stromimpuls, der durch ihn fuhr. Rolf bemerkte es nicht. Marianne schon.
In den ersten Tagen lag Jonas oft wach, die Augen weit geöffnet. Er schien nicht zu schlafen, sondern zu beobachten. Die Krankenschwester sagte. Ein wacher Geist Marianne sagte nichts. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Sohn nicht einfach da war, sondern bereits suchte. Nach Mustern. Nach Ordnung. Nach etwas, das er selbst noch nicht verstand.
Die ersten Monate verliefen ruhig. Jonas war ein pflegeleichtes Baby er weinte selten, trank regelmäßig, schlief durch. Doch Marianne spürte, dass etwas anders war. Wenn sie ihn ansah, hatte sie das Gefühl, dass seine Augen nicht suchten, sondern prüften. Als würde er sie durchdringen, ohne Urteil, aber mit einer seltsamen Distanz. Sie sprach mit ihrer Mutter darüber, Hannelore, einer warmherzigen Frau mit einem Hang zur Melancholie. Vielleicht ist er einfach tiefsinnig, sagte sie. Manche Kinder leben nicht an der Oberfläche
Rolf hingegen war zufrieden. Ein stiller Junge ist ein guter Junge, sagte er oft, wenn Jonas stundenlang in seinem Laufstall saß und mit einem Holzklotz spielte, den er immer wieder gegen das Gitter schlug, nicht aus Wut, sondern aus Neugier. Er schien den Klang zu analysieren, die Vibration, das Echo.
Mit einem Jahr begann Jonas zu laufen, aber er sprach kaum. Die Kinderärztin sagte, es sei noch im Rahmen, manche Jungen seien eben später dran. Doch Marianne machte sich Sorgen. Wenn sie mit ihm sprach, sah er sie an, als würde er jedes Wort einzeln prüfen, bevor er es in sein Inneres ließ. Er wiederholte nichts, zeigte nicht auf Dinge, lachte selten. Stattdessen saß er oft da, die Stirn gerunzelt, als würde er versuchen, die Welt zu entschlüsseln.
Sein erster Geburtstag war eine stille Angelegenheit. Marianne hatte einen kleinen Kuchen gebacken, Rolf hatte eine Spielzeuglokomotive mitgebracht. Jonas betrachtete sie lange, drehte sie um, untersuchte die Räder, die Kupplung, das Batteriefach. Als sie sich bewegte, folgte er ihr nicht mit den Augen, sondern mit dem Ohr. Er lauschte dem Motor, dem leisen Surren, das durch den Raum vibrierte.
Die Großeltern kamen am Nachmittag. Hannelore brachte ein Bilderbuch mit, Gustav Rolfs Vater hatte einen alten Schraubenzieher eingepackt. Für später, sagte er und zwinkerte Jonas zu. Der Junge nahm das Werkzeug in die Hand, drehte es langsam, als wäre es ein Schlüssel zu etwas Unsichtbarem. Gustav war wortkarg, aber aufmerksam. Er hatte früher als Schlosser gearbeitet und verstand Jonas’ Faszination für Technik. Du hast Hände wie ein Tüftler, sagte er einmal und schenkte ihm später einen alten Lötkolben. Jonas war begeistert.
Hannelore setzte sich neben Marianne auf die Couch. Er ist anders, nicht wahr?Marianne nickte. Aber ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist, vielleicht ist er einfach tiefer. Manche Kinder leben nicht an der Oberfläche
Jonas war zwei Jahre alt, als er begann, sich für Dinge zu interessieren, die andere Kinder ignorierten. Während Gleichaltrige Spielzeugautos durch die Wohnung jagten oder bunte Bauklötze zu Türmen stapelten, saß Jonas oft auf dem Teppich und betrachtete die Steckdosen. Nicht aus kindlicher Neugier, sondern mit einer Art stiller Ehrfurcht. Er berührte sie nicht er lauschte. Legte sein Ohr an die Wand, als wollte er hören, wie der Strom durch die Leitungen floss. Marianne beobachtete ihn dabei, zunächst belustigt, dann zunehmend irritiert. Er ist eben anders, sagte sie zu Rolf, der nur die Stirn runzelte. Er soll lieber mit Werkzeug spielen als mit Wänden
Mit drei Jahren sprach Jonas in vollständigen Sätzen aber nur selten. Wenn er etwas sagte, war es präzise, fast erwachsen. Die Lampe flackert, weil die Spannung instabil ist, erklärte er einmal, als das Licht im Wohnzimmer kurz zuckte. Rolf sah ihn an, überrascht. Wer hat dir das gesagt?Ich hab’s gehört, antwortete Jonas.Wo?Im Strom
Marianne begann, sich Sorgen zu machen. Nicht, weil Jonas seltsam war, sondern weil er so allein wirkte. Er spielte nicht mit anderen Kindern, auch nicht mit seinen Eltern. Er war höflich, aber distanziert. Wenn man ihn fragte, ob er etwas wolle, antwortete er mit einem knappen Nein, danke. Wenn man ihn in den Arm nahm, blieb er still, ließ es geschehen, aber erwiderte nichts. Es war, als würde er die Welt durch eine Glasscheibe betrachten nah genug, um alles zu sehen, aber zu weit entfernt, um es zu berühren.
Sein zweiter Geburtstag war eine stille Angelegenheit. Marianne hatte einen kleinen Kuchen gebacken, mit einer Kerze in Form eines Blitzes. Jonas betrachtete sie lange, bevor er sie ausblies, nicht mit einem kräftigen Pusten, sondern mit einem vorsichtigen Hauch, als wolle er die Flamme nicht verletzen. Die Großeltern kamen am Nachmittag. Hannelore brachte ein Bilderbuch über Maschinen mit, Gustav hatte eine kleine Taschenlampe mitgebracht, die man aufschrauben konnte. Jonas war begeistert. Er zerlegte sie sofort, legte die Teile ordentlich nebeneinander und erklärte, wie das Licht entstand. Die Batterie schickt Strom durch den Draht, und der Draht sagt der Lampe, dass sie leuchten, soll
Gustav lachte leise. Du wirst mal ein verdammt guter ElektrikerRolf nickte. Wenn er nicht vorher verrückt, wird
Marianne war erschrocken. Sag so was nichtIch meine es nicht böse. Aber der Junge ist… eigen
Mit vier Jahren begann Jonas, sich zurückzuziehen. Nicht aus Angst, sondern aus Überforderung. Wenn zu viele Menschen im Raum waren, wurde er still, starrte auf einen Punkt, als würde er sich in ihn hineinflüchten. Er mochte keine lauten Geräusche, keine plötzlichen Bewegungen. Wenn das Telefon klingelte, zuckte er zusammen. Wenn jemand lachte, hielt er sich die Ohren zu. Marianne sprach mit der Kinderärztin, die sagte. Vielleicht ist er hochsensibel. Das gibt esUnd was macht man da?Man akzeptiert es
Doch Rolf konnte es nicht akzeptieren. Für ihn war Jonas ein Rätsel, das sich nicht lösen ließ. Er versuchte, ihn zu normalisieren nahm ihn mit in den Keller, zeigte ihm Werkzeuge, ließ ihn Kabel halten. Jonas machte alles mit, aber ohne Begeisterung. Er war nicht interessiert an der Arbeit, sondern an dem, was dahinter lag. Was passiert, wenn man den Strom nicht benutzt? fragte er einmal. Rolf zuckte die Schultern. Dann bleibt er da, wo er ist,Und wenn er zu viel wird?Dann gibt’s einen KurzschlussJonas nickte. Wie im Kopf
Marianne hielt inne. Was meinst du damit?Wenn zu viele Gedanken da sind, und sie sich berühren, dann wird alles dunkel
Mit fünf Jahren begann Jonas, sich für Muster zu interessieren. Er zeichnete Stromkreise auf Papier, baute aus Bauklötzen komplexe Strukturen, die wie kleine Kraftwerke aussahen. Er sprach mit sich selbst, flüsterte Formeln, die er irgendwo aufgeschnappt hatte. Er konnte sich stundenlang auf eine Aufgabe konzentrieren, aber wenn man ihn unterbrach, wurde er wütend nicht laut, sondern innerlich. Er zog sich zurück, verschwand in seinem Zimmer, legte sich auf den Boden und starrte an die Decke.
Sein fünfter Geburtstag war anders. Marianne hatte beschlossen, ihn mit nur wenigen Gästen zu feiern die Großeltern, ein Nachbarskind, das Jonas kaum kannte. Es gab einen Kuchen, eine kleine Eisenbahn, ein Buch über Elektrizität. Jonas war höflich, bedankte sich, aber zog sich bald zurück. Gustav folgte ihm ins Zimmer, setzte sich neben ihn. Alles okay, Junge?Jonas nickte. Zu viele StimmenDu meinst die Leute draußen?Nein. Die in meinem Kopf
Gustav schwieg. Er sah seinen Enkel an, der auf dem Teppich saß und mit einem Draht spielte. Was sagen sie?Sie reden durcheinander. Manchmal flüstern sie. Manchmal schreien sieUnd was machst du dann?Ich schalte sie aus
Wie?Ich denke an Strom. Der ist leise
Gustav erzählte es später Marianne, die blass wurde. Ich weiß nicht, was das ist. Ob es nur Fantasie ist oder… mehrVielleicht ist er einfach anders verdrahtet
Mit sechs Jahren kam Jonas in die Schule. Es war ein kühler Septembermorgen, die Sonne kämpfte sich durch einen milchigen Himmel. Marianne hatte ihm ein Hemd gebügelt, das zu groß war, und Rolf hatte ihm einen Ranzen gekauft, der nach Maschinenöl roch. Jonas stand vor dem Schultor, die Hände in den Taschen, während andere Kinder lachten, sich drängten, ihre Schultüten präsentierten wie Trophäen. Seine war schlicht blau, mit einem Blitz darauf. Kein Glitzer, keine Comicfiguren.
Die Lehrerin, Frau Behrens, war eine resolute Frau mit einem Hang zur Ordnung. Sie bemerkte Jonas sofort. Ein stiller Beobachter, schrieb sie in ihr Notizbuch. Jonas sprach wenig, aber wenn er sprach, war es präzise. Er konnte sich Zahlen merken, Muster erkennen, aber beim Lesen stockte er. Nicht, weil er es nicht konnte, sondern weil die Worte sich manchmal auf der Seite bewegten, als würden sie fliehen.
In der Pause saß er allein auf der Bank. Er beobachtete die anderen Kinder, wie sie sich gegenseitig jagten, lachten, stritten. Er verstand die Regeln nicht. Warum war ein Schubsen lustig? Warum war ein lautes Du bist doof! ein Spiel? Er zog sich zurück, baute aus Stöcken kleine Strommasten, verband sie mit Grashalmen, stellte sich vor, wie Energie durch sie floss.
Einmal kam ein Junge namens Kevin zu ihm. Was machst du da?Ich baue ein NetzWofür?Damit alles verbunden bleibtKevin lachte. Du bist komischJonas sah ihn an. Du bist lautKevin ging. Jonas blieb.
Die Wohnung in der Schillerstraße war klein, aber ordentlich. Drei Zimmer, ein schmaler Balkon, ein Keller, in dem Rolf seine Werkbank eingerichtet hatte. Die Wände waren mit Raufasertapete bedeckt, die Marianne jedes Frühjahr neu strich immer in einem hellen Grauton, der kaum auffiel. Jonas hatte ein eigenes Zimmer, das er selten verließ. Es war sein Rückzugsort, sein Labor, sein Schutzraum. Dort stapelte er Kabelreste, Schrauben, alte Batterien, die Gustav ihm mitgebracht hatte. Auf dem Fensterbrett lag ein zerlegter Radiowecker, den Jonas nie wieder zusammensetzte nicht aus Unfähigkeit, sondern weil er lieber verstand, als funktionierte.
Mit sieben Jahren war Jonas ein stilles Kind, das sich in der Schule unsichtbar machte. Frau Behrens, seine Klassenlehrerin, war eine resolute Frau mit einem Hang zur Kontrolle. Sie mochte Kinder, die sich meldeten, die laut lachten, die ihre Hausaufgaben mit bunten Stiften verzierten. Jonas war ihr fremd. Er sprach nur, wenn er gefragt wurde, und selbst dann mit einer Stimme, die kaum über das Pult hinausreichte. Seine Schrift war akkurat, seine Rechenaufgaben fehlerfrei, aber seine Aufsätze wirkten wie technische Berichte. Mein Wochenende. Ich habe einen Stromkreis gebaut. Er funktioniert mit zwei Batterien und einer LED. Die LED leuchtet rot
Frau Behrens sprach mit Marianne beim Elternsprechtag. Er ist sehr intelligent, aber sozial isoliert. Er spielt nicht mit den anderen
Marianne nickte. Er war nie besonders verspielt
Er wirkt manchmal… abwesend. Als würde er woanders sein
Vielleicht ist er das
In der Nachbarschaft war Jonas bekannt nicht wegen seiner Persönlichkeit, sondern wegen seiner Eigenheiten. Frau Krüger aus dem Erdgeschoss sagte einmal. Der Junge ist wie ein Schatten. Man sieht ihn, aber man spürt ihn nicht Herr Lehmann, der pensionierte Mathematiklehrer aus dem dritten Stock, war der Einzige, der Jonas verstand. Er schenkte ihm ein Buch über Elektrizität, das Jonas verschlang. Du hast einen elektrischen Kopf, sagte er. Du denkst in Schaltkreisen
Jonas nickte. Manchmal gibt’s einen Kurzschluss
Mit acht Jahren begann Jonas, sich für Geräusche zu interessieren. Nicht Musik die war ihm zu chaotisch. Sondern Frequenzen. Er baute ein Gerät, das Radiowellen einfing, aber nicht sendete. Er hörte fremde Stimmen, Gesprächsfetzen, manchmal nur Rauschen. Marianne fand ihn einmal nachts wach, die Kopfhörer auf den Ohren, die Augen weit geöffnet. Was hörst du?
Menschen, die nicht wissen, dass sie gehört, werden
Die Großeltern kamen regelmäßig zu Besuch. Hannelore brachte Tee und Geduld, Gustav brachte Werkzeug und Geschichten aus der Werkstatt. Jonas liebte diese Nachmittage. Sie waren ruhig, strukturiert, voller Bedeutung. Hannelore las ihm Gedichte vor Rilke, Benn, manchmal auch Ringelnatz. Jonas hörte zu, stellte Fragen, die Hannelore manchmal überforderten. Was meint Rilke mit ‘Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort’?
Vielleicht, dass Worte verletzen können
Aber Strom verletzt auch. Und der redet nicht
Gustav war der Einzige, der Jonas’ Gedanken nicht für seltsam hielt. Er sah in ihm einen Jungen, der anders dachte, nicht besser, nicht schlechter, nur tiefer. Du bist wie ein Kabel, das durch die Welt läuft. Man sieht dich nicht, aber du verbindest alles
Jonas lächelte. Manchmal bin ich auch eine Sicherung. Wenn’s zu viel wird, schalte ich ab
Jonas war acht Jahre alt, als er zum ersten Mal versuchte, sich einem anderen Kind zu nähern. Es war ein warmer Frühlingstag, die Luft roch nach nassem Asphalt und Flieder, und die Kinder der Schillerstraße spielten auf dem Hof zwischen den Mietshäusern. Jonas saß wie immer am Rand, auf dem Bordstein, ein Stück Draht in der Hand, dass er um einen rostigen Nagel wickelte. Er beobachtete die anderen, nicht aus Neugier, sondern aus einer Art innerer Kartierung, als würde er ihre Bewegungen analysieren, ihre Stimmen vermessen.
Da kam sie. Lea, das Mädchen aus dem zweiten Stock. Sie war ein Jahr jünger als Jonas, hatte rotblonde Haare, Sommersprossen und ein Lachen, das wie ein Windstoß durch die Stille ging. Sie setzte sich einfach neben ihn, ohne zu fragen. Was machst du da?Jonas zögerte. Ich baue eine SpuleWofür?Damit ich Strom speichern kannGroßartig. Kann ich helfen?Jonas sah sie an. Niemand hatte ihn je gefragt, ob er Hilfe wollte. Er nickte.
Sie blieben den ganzen Nachmittag dort, wickelten Draht, klebten kleine Magneten auf Pappe, versuchten, eine Glühbirne zum Leuchten zu bringen. Es funktionierte nicht, aber Jonas war ruhig, fast gelöst. Lea sprach viel, stellte Fragen, lachte über ihre eigenen Fehler. Jonas hörte zu, antwortete knapp, aber ehrlich. Als sie ging, sagte sie. Du bist anders. Aber nicht komisch. Nur… leise
Am nächsten Tag setzte sie sich in der Pause neben ihn. Die anderen Kinder tuschelten, lachten, riefen. Lea liebt den Stromjungen! Jonas wurde rot, stand auf und ging. Lea folgte ihm nicht. Am Nachmittag klopfte sie an seine Tür. Marianne öffnete, lächelte. Jonas ist in seinem ZimmerLea trat ein, setzte sich einfach auf den Boden. Jonas sah sie an. Warum bist du hier?Weil du nicht wie die anderen bist. Und das ist gut
Sie wurden keine Freunde im klassischen Sinn. Aber sie waren Verbündete. Lea war die erste, die Jonas’ Welt nicht nur akzeptierte, sondern betrat. Sie brachte ihm bunte Drähte, alte Batterien, sogar eine kaputte Taschenlampe. Jonas zeigte ihr, wie man sie reparierte. Sie lachte, wenn es funktionierte, und Jonas lächelte nicht laut, aber tief.
In der Schule blieb Jonas ein Außenseiter. Frau Behrens war überfordert. Sie verstand seine Logik nicht, seine Stille, seine Abneigung gegen Gruppenarbeit. Sie sprach mit dem Direktor, der einen Schulpsychologen empfahl. Herr Mertens war ein ruhiger Mann mit grauem Bart und einer Stimme, die wie warmes Wasser klang. Er bat Jonas in sein Büro, zeigte ihm Bilder, stellte Fragen. Jonas antwortete knapp, aber präzise.
Was fühlst du, wenn du allein bist?RuheUnd wenn du unter Menschen bist?StörungenWas meinst du damit?Wie bei einem Stromkreis. Wenn zu viele Kontakte da sind, fließt der Strom nicht richtig
Herr Mertens schrieb in sein Heft. hochsensibel, introvertiert, möglicherweise begabt. Er sprach mit Marianne. Ihr Sohn ist außergewöhnlich. Aber er braucht Schutzräume. Und Menschen, die ihn nicht verändern wollen, sondern verstehenMarianne nickte. Ich versuche es. Aber sein Vater…Dann braucht Jonas wenigstens einen Ort, an dem er einfach sein darf
Dieser Ort wurde das Kellerzimmer. Rolf hatte es ursprünglich als Werkstatt geplant, aber Jonas übernahm es. Er baute Regale, sortierte Kabel, stellte kleine Experimente auf. Gustav brachte ihm alte Geräte, Hannelore Bücher über Physik und Philosophie. Jonas las sie, verstand sie nicht immer, aber spürte, dass darin etwas lag, das zu ihm sprach.
Mit neun Jahren begann Jonas, sich selbst Fragen zu stellen. Nicht kindliche Fragen, sondern existenzielle. Warum gibt es Strom? fragte er einmal Gustav.Weil Bewegung Energie erzeugt,Und warum bewegt sich alles?Weil Stillstand nicht natürlich ist,Aber ich bin oft stillDann bist du vielleicht die Ausnahme
Er begann, über sich selbst nachzudenken. Warum er anders war. Warum Stimmen ihn überforderten. Warum er manchmal das Gefühl hatte, dass seine Gedanken nicht ihm gehörten. Er sprach mit Hannelore darüber. Manchmal ist es, als würde jemand in meinem Kopf reden. Nicht böse. Nur… fremdHannelore nahm seine Hand. Vielleicht sind es Teile von dir, die du noch nicht kennst
Lea blieb an seiner Seite. Sie kam nach der Schule, setzte sich neben ihn, half ihm beim Löten, beim Zeichnen von Schaltplänen. Sie sprach über ihre Familie, ihre Träume, ihre Ängste. Jonas hörte zu, sagte wenig, aber wenn er sprach, war es ehrlich. Du bist wie ein ruhiger Strom, sagte sie einmal. Man merkt dich erst, wenn man dich braucht
Doch nicht alle verstanden Jonas. In der Schule wurde er gemobbt. Kevin, der Junge aus der Parallelklasse, war besonders grausam. Stromspinner, rief er. Jonas, der Roboter! Jonas sagte nichts. Aber zu Hause baute er eine kleine Box, die bei Berührung einen leichten Stromimpuls abgab. Er zeigte sie Gustav. Das ist für Leute, die zu nah kommenGustav lachte. Du bist ein Erfinder. Aber pass auf, dass du nicht vergisst, dass Menschen keine Maschinen sind
Marianne sprach mit Rolf. Jonas braucht Hilfe. Vielleicht TherapieRolf winkte ab. Der Junge ist nur empfindlich. Das geht vorbeiAber was, wenn nicht?Dann muss er lernen, sich zusammenzureißen
Jonas hörte das Gespräch. Er ging in den Keller, setzte sich auf den Boden, schloss die Augen. Er stellte sich vor, dass sein Kopf ein Stromnetz war. Manche Leitungen waren überlastet, andere unterbrochen. Er versuchte, sie zu reparieren mit Gedanken, mit Bildern, mit Erinnerungen. Es half nicht. Aber es beruhigte ihn.
Mit zehn Jahren war Jonas ein Junge, der zwischen den Welten lebte. Die äußere Welt war laut, chaotisch, voller Regeln, die er nicht verstand. Die innere Welt war still, geordnet, voller Muster und Energie. Er begann, Tagebuch zu schreiben nicht in Worten, sondern in Schaltplänen. Jeder Tag war ein Diagramm. Wenn es ein guter Tag war, war der Stromkreis geschlossen. Wenn es ein schlechter war, gab es einen Kurzschluss.
Lea verstand das. Sie begann, eigene Pläne zu zeichnen. Nicht technisch, sondern emotional. Heute war ich traurig. Also ist mein Stromkreis offen Jonas nickte. Dann brauchst du eine VerbindungWelche?Vielleicht mich
Jonas war zwölf, als sich die Welt zu verschieben begann. Nicht plötzlich, nicht laut, sondern wie ein Stromausfall, der sich langsam durch die Leitungen frisst. Erst flackert das Licht, dann wird es dunkler, dann ist es weg. So fühlte es sich an. Die Dinge, die ihm früher Halt gegeben hatten, seine Kabel, seine Pläne, seine stillen Nachmittage mit Lea begannen, sich zu verändern. Nicht, weil sie verschwanden. Sondern weil er sie nicht mehr greifen konnte.
Die weiterführende Schule war größer, lauter, unübersichtlicher. Die Flure rochen nach Schweiß und Desinfektionsmittel, die Lehrer sprachen schneller, die Mitschüler lachten schriller. Jonas ging durch die Gänge wie durch ein fremdes Kraftwerk überall Geräusche, Bewegungen, Impulse, die er nicht kontrollieren konnte. Er versuchte, sich klein zu machen, unsichtbar. Aber das funktionierte nicht mehr. Die anderen bemerkten ihn. Und sie mochten ihn nicht.
Was ist mit dem? fragte ein Junge namens Timo, als Jonas in der ersten Woche allein am Rand des Pausenhofs stand.Der redet nicht, sagte ein anderer.Vielleicht ist er taubOder einfach gestört
Jonas hörte alles. Er sagte nichts. Aber in seinem Inneren begann etwas zu brodeln. Nicht Wut, sondern eine Art elektrisches Zittern. Als würde ein Kurzschluss bevorstehen.
Lea war noch da. Sie war in einer anderen Klasse, aber sie suchte ihn in den Pausen, setzte sich neben ihn, sprach über ihre neuen Lehrer, ihre neuen Freundinnen. Jonas hörte zu, aber er spürte, dass etwas anders war. Lea war offener geworden, lachte mehr, sprach über Jungs, über Mode, über Dinge, die ihn nicht interessierten. Sie war nicht abweisend, aber sie war nicht mehr ganz bei ihm.
Du bist stiller als früher, sagte sie einmal.Ich denke vielWoran?An Strom. Und an DunkelheitDunkelheit?Wenn die Sicherung fällt
Lea sah ihn lange an. Du bist manchmal wie ein Raum ohne Fenster
Jonas zog sich zurück. Er verbrachte die Nachmittage allein im Keller, baute komplizierte Schaltungen, die nichts taten, nur existierten. Er zeichnete Pläne, die sich im Kreis drehten, ohne Anfang und Ende. Er begann, Stimmen zu hören. Nicht laut, nicht fremd, sondern wie Gedanken, die nicht seine waren. Sie flüsterten, kommentierten, stellten Fragen. Warum bist du hier? Was willst du wirklich? Was, wenn du gar nicht existierst?
Er sprach nicht darüber. Nicht mit Marianne, nicht mit Gustav, nicht mit Herrn Mertens, der ihn noch einmal in die Schule eingeladen hatte. Wie geht es dir, Jonas?Gut. Was beschäftigt dich?StromUnd sonst?Nichts
Aber das stimmte nicht. In seinem Inneren war Chaos. Gedanken, die sich überschnitten. Gefühle, die sich nicht benennen ließen. Eine Leere, die sich wie ein schwarzes Loch ausbreitete.
Die Tage wurden dunkler, obwohl der Sommer kam. Jonas spürte es nicht in der Haut, sondern in den Gedanken. Die Sonne schien, aber in ihm war Schatten. Er ging zur Schule, sprach mit niemandem, saß in der letzten Reihe und starrte auf die Tafel, ohne zu sehen, was dort stand. Die Lehrer bemerkten es, aber sie hatten keine Worte dafür. Er ist abwesend, sagte Frau Behrens. Er wirkt wie unter Strom
Lea war noch da, aber sie war anders. Sie trug jetzt Lippenstift, sprach über Jungs, über Partys, über Dinge, die Jonas nicht verstand. Sie war freundlich, aber fern. Wenn sie ihn ansah, lag in ihrem Blick eine Mischung aus Sorge und Ungeduld. Du musst raus, sagte sie. Du kannst nicht immer nur in deinem Kopf lebenJonas antwortete nicht. Er wusste, dass sie recht hatte. Aber er wusste auch, dass sein Kopf der einzige Ort war, an dem er sich sicher fühlte.
Zu Hause wurde es schwieriger. Rolf war gereizt, Marianne erschöpft. Die Gespräche waren kurz, funktional, wie zwischen Kollegen. Jonas spürte die Spannung, auch wenn niemand sie aussprach. Einmal hörte er Rolf sagen. Der Junge braucht Disziplin. Nicht VerständnisMarianne antwortete leise. Er braucht HilfeEr braucht einen Tritt
Jonas ging in den Keller, setzte sich auf den Boden, schloss die Augen. Er stellte sich vor, dass sein Gehirn ein Stromnetz war. Manche Leitungen waren überlastet, andere unterbrochen. Er versuchte, sie zu reparieren mit Gedanken, mit Bildern, mit Erinnerungen. Es half nicht. Aber es beruhigte ihn.
Eines Nachmittags kam Gustav vorbei. Er hatte eine alte Schaltung mitgebracht, ein Relikt aus seiner Lehrzeit. Vielleicht interessiert dich das, sagte er. Jonas nahm das Gerät, untersuchte es, zerlegte es vorsichtig. Es ist schön, sagte er.Warum?Weil es funktioniert. Ohne zu reden
Gustav setzte sich neben ihn. Du bist stiller als früherIch bin müdeWovon?Von allem
Gustav schwieg. Dann sagte er. Ich weiß, dass du anders bist. Und ich weiß, dass das schwer ist. Aber du bist nicht kaputt. Du bist nur… komplexJonas sah ihn an. Wie ein Stromkreis?Genau
In der Schule wurde Jonas zu einem Phantom. Die Lehrer sprachen über ihn, aber nicht mit ihm. Die Schüler ignorierten ihn oder verspotteten ihn. Nur Herr Lehmann, der alte Mathematiklehrer, nahm ihn ernst. Er gab ihm Bücher, sprach mit ihm über Logik, über Systeme, über die Schönheit der Ordnung. Du denkst wie ein Ingenieur, sagte er. Aber du fühlst wie ein Dichter
Jonas begann, Gedichte zu schreiben. Keine Reime, keine Metaphern, sondern Zeilen, die wie Strom flossen.
Ich bin ein Kabel ohne Quelle.Ich bin ein Licht ohne Schalter.Ich bin ein Raum ohne Fenster
Er zeigte sie niemandem. Nur Lea. Sie las sie, schwieg lange, dann sagte sie. Du bist traurigIch bin leerWillst du, dass ich gehe?Nein. Aber ich weiß nicht, ob du bleiben kannst
Lea blieb. Aber sie war nicht mehr ganz da. Sie hatte neue Freunde, neue Interessen. Jonas verstand das. Aber es tat weh. Nicht wie ein Schnitt, sondern wie ein Stromausfall plötzlich, still, endgültig.
Eines Tages kam er nicht zur Schule. Marianne fand ihn im Keller, zusammengerollt auf dem Boden, die Augen offen, aber leer. Sie rief den Arzt, der sprach von Erschöpfung, von Überforderung, von einer möglichen Depression. Rolf war wütend. Das ist doch keine Krankheit. Das ist FaulheitMarianne schrie ihn an. Zum ersten Mal. Du siehst ihn nicht. Du willst ihn nicht sehen
Jonas kam in eine Klinik. Für zwei Wochen. Es war ein stiller Ort, mit weißen Wänden und leisen Stimmen. Er sprach mit einer Therapeutin, Frau Lindner, die ihm Fragen stellte, die er nicht beantworten konnte. Was fühlst du?StromUnd was bedeutet das?Dass ich nicht weiß, ob ich echt bin
Frau Lindner schrieb viel. Sie sprach von Hochsensibilität, von innerer Fragmentierung, von der Notwendigkeit, Räume zu schaffen. Jonas hörte zu, sagte wenig. Aber er begann, wieder zu schreiben.
Ich bin ein Fehler im System.Ich bin ein Ton, den niemand hört.Ich bin ein Strom, der sich selbst sucht
Als er zurückkam, war Lea nicht mehr da. Sie war umgezogen, mit ihrer Mutter, in eine andere Stadt. Sie hatte einen Brief hinterlassen.
Du bist der tiefste Mensch, den ich kenne.Aber ich kann dich nicht retten.Ich hoffe, du findest jemanden, der dich nicht reparieren will, sondern dich einfach leuchten lässt
Jonas las den Brief oft. Er verstand ihn nicht ganz. Aber er spürte, dass darin etwas Wahres lag. Etwas, das er noch nicht greifen konnte.
Jonas war dreizehn, als er zum ersten Mal das Gefühl hatte, dass sein Körper nicht mehr zu ihm gehörte. Es begann schleichend mit einem Zittern in den Händen, das kam und ging, mit einem Druck auf der Brust, der sich nicht erklären ließ. Er sprach nicht darüber. Nicht mit Marianne, nicht mit Gustav, nicht mit den Lehrern, die ihn längst aufgegeben hatten. Er schrieb es auf in Formeln, in Diagrammen, in Stromkreisen, die sich selbst unterbrachen.
Sein Zimmer war inzwischen ein Labor geworden. Die Wände waren mit Skizzen bedeckt, die Regale voll mit Kabeln, Widerständen, alten Platinen. Er arbeitete stundenlang, manchmal bis tief in die Nacht, ohne zu essen, ohne zu schlafen. Marianne brachte ihm Tee, stellte ihn wortlos auf den Tisch, sah ihn an, sagte nichts. Sie hatte gelernt, dass Worte ihn nicht erreichten, wenn er in seinem Zustand war.
Rolf hingegen wurde zunehmend gereizt. Das ist doch nicht normal, sagte er. Der Junge lebt in einer anderen Welt
Vielleicht muss er das, antwortete Marianne.
Oder er muss endlich lernen, in dieser zu leben
Die Konflikte wurden häufiger. Jonas hörte sie, auch wenn sie flüsterten. Er spürte die Spannung im Haus wie elektrische Ladung. Manchmal glaubte er, dass die Wände summten, dass die Lampen flackerten, wenn er vorbeiging. Er begann, sich selbst zu beobachten wie ein Techniker, der ein fehlerhaftes Gerät prüft. Er schrieb auf, wann die Stimmen kamen, wie laut sie waren, was sie sagten. Sie waren nicht böse. Aber sie waren da.
Er versuchte, sie zu ignorieren. Aber sie wurden lauter. Besonders nachts. Dann lag er wach, starrte an die Decke, stellte sich vor, wie Strom durch die Leitungen floss durch die Wände, durch die Stadt, durch ihn. Er war Teil davon. Oder Störung. Er wusste es nicht.
In der Schule war er ein Geist. Die Lehrer sprachen über ihn, aber nicht mit ihm. Die Mitschüler mieden ihn. Nur Herr Lehmann, der alte Mathematiklehrer, blieb ihm zugewandt. Er gab ihm Bücher über Chaos-Theorie, über Quantenphysik, über Systeme, die sich selbst organisieren. Jonas las sie, verstand sie nicht immer, aber spürte, dass darin etwas lag, das zu ihm sprach.
Du bist wie ein Fraktal, sagte Herr Lehmann einmal. Komplex, unendlich, aber mit Struktur
Jonas nickte. Manchmal verliere ich die Struktur
Dann musst du sie neu zeichnen
Er versuchte es. Aber es wurde schwerer. Die Stimmen wurden zu Gedanken, die sich verselbständigten. Er begann, sich selbst zu hinterfragen. Wer er war. Ob er war. Ob sein Ich nur eine Illusion war, ein Konstrukt, das sich aus Strom und Sprache zusammensetzte. Er sprach mit niemandem darüber. Aber er schrieb es auf.
Marianne fand das Heft. Sie las es, weinte. Dann sprach sie mit Gustav. Ich glaube, er braucht mehr als Tee und Geduld
Gustav nickte. Dann müssen wir ihm helfen, bevor er sich verliert
Sie suchten eine Therapeutin. Dr. Alina Berg, eine junge Frau mit ruhiger Stimme und klarem Blick. Jonas mochte sie nicht sofort. Aber sie sprach anders. Nicht wie jemand, der ihn heilen wollte, sondern wie jemand, der ihn verstehen wollte.
Was ist Strom für dich? fragte sie.
Ordnung
Und was ist Chaos?
Wenn die Ordnung nicht reicht
Und wo bist du?
Zwischen beidem
Sie trafen sich einmal pro Woche. Jonas sprach wenig, aber er begann, zu zeichnen. Nicht nur Schaltpläne, sondern Bilder. Ein Kopf voller Kabel. Ein Herz mit Sicherungskasten. Ein Mensch, halb Maschine, halb Schatten. Alina sah sie, sagte nichts, aber schrieb viel.
Du bist nicht krank, sagte sie einmal. Du bist überlastet
Wie ein Netz?
Genau. Und wir müssen herausfinden, wo die Spannung zu hoch ist
Jonas begann, ihr zu vertrauen. Nicht ganz. Aber genug, um zu sprechen. Über Lea, über die Stimmen, über das Gefühl, dass er nicht dazugehört. Alina hörte zu, stellte Fragen, gab keine Antworten. Aber sie war da. Und das war neu.
Zu Hause wurde es ruhiger. Rolf zog sich zurück, Marianne war vorsichtiger. Gustav kam öfter, brachte Tee, Bücher, Geschichten. Jonas sprach mit ihm über Alina. Sie ist wie ein Transformator, sagte er. Sie macht die Spannung erträglich
Gustav lächelte. Dann halt dich an sie
Doch die Dunkelheit blieb. Sie war nicht laut, nicht dramatisch, sondern wie ein Hintergrundrauschen, das nie ganz verschwand. Jonas lernte, damit zu leben. Er baute Geräte, die nichts taten, aber schön waren. Er schrieb Gedichte, die niemand las. Er ging zur Schule, sprach mit niemandem. Aber er war da. Noch.
Jonas war sechzehn, als er seine Ausbildung begann. Die Werkstatt roch nach Metall, Öl und Kaffee, der nie ganz frisch war. Die Wände waren grau, die Werkbänke verkratzt, die Männer laut. Es war eine Welt, die ihn überforderte, aber auch faszinierte. Hier war alles konkret. Strom floss, wenn man ihn leitete. Fehler ließen sich messen. Lösungen waren möglich.
Sein Ausbilder, Herr Kroll, war ein Mann mit breiten Schultern und einem Gesicht, das von Jahren in der Industrie gezeichnet war. Er sprach wenig, aber klar. Du bist ruhig, sagte er am ersten Tag. Das kann gut sein. Oder gefährlichJonas nickte. Ich bin vorsichtigDann pass auf, dass du nicht zu vorsichtig wirst. Strom braucht Mut
Die ersten Monate waren hart. Jonas lernte, Kabel zu verlegen, Schaltpläne zu lesen, Fehler zu finden. Er war präzise, aber langsam. Die anderen Lehrlinge lachten über ihn, nannten ihn den Professor. Er sagte nichts. Aber er hörte alles.
Nach Feierabend ging er nicht mit den anderen in die Kneipe. Er fuhr nach Hause, setzte sich in den Keller, baute kleine Modelle, schrieb in sein Heft. Die Stimmen waren leiser geworden, aber nicht verschwunden. Manchmal flüsterten sie, wenn er allein war. Manchmal schwiegen sie und das war fast schlimmer.
Mit siebzehn begegnete er Anna. Sie war die Tochter eines Kunden, der eine neue Elektroinstallation wollte. Jonas war mit Kroll vor Ort, verlegte Kabel, prüfte Sicherungen. Anna brachte ihnen Kaffee, lächelte, stellte Fragen. Jonas antwortete knapp, aber ehrlich. Sie blieb stehen, sah ihm zu, wie er arbeitete. Du bist anders, sagte sie.Ich bin ElektrikerNein. Du bist… still
Sie begegneten sich wieder. Zufällig, auf dem Markt, in der Stadtbibliothek, in einem Café, in das Jonas sich selten verirrte. Anna sprach viel, lachte oft, war neugierig. Jonas hörte zu, sagte wenig, aber wenn er sprach, war es klar. Sie mochte das. Du redest nicht viel. Aber du meinst, was du sagst
Sie wurden ein Paar. Langsam, tastend, wie zwei Stromkreise, die sich vorsichtig berühren. Jonas war unsicher. Nähe war schwierig. Berührungen waren fremd. Aber Anna war geduldig. Sie fragte nicht, sie wartete. Und Jonas begann, sich zu öffnen. Nicht ganz. Aber genug.
Mit neunzehn schloss er die Ausbildung ab. Kroll lobte ihn. Du bist kein Teamspieler. Aber du bist präzise. Und das zählt Jonas bekam eine Stelle bei einem kleinen Betrieb, arbeitete in Wohnungen, auf Baustellen, in Kellern. Er mochte die Klarheit. Strom war ehrlich. Menschen nicht immer.
Anna zog zu ihm. Die Wohnung war klein, aber hell. Sie richtete sie ein, hängte Bilder auf, stellte Pflanzen auf die Fensterbank. Jonas ließ es geschehen. Er war froh, dass sie da war. Auch wenn er es selten sagte.
Sie heirateten ein Jahr später. Eine kleine Feier, im Garten von Annas Eltern. Jonas trug einen Anzug, der ihm nicht ganz passte. Er schwitzte, sprach wenig, aber als er Anna ansah, lächelte er. Du bist mein Licht, sagte er.Sie nahm seine Hand. Und du mein Strom
Die Wohnung in der Luisenstraße war klein, aber hell. Zwei Zimmer, eine Küche, ein Balkon mit Blick auf die Hinterhöfe der Stadt. Anna hatte Vorhänge genäht, die in der Nachmittagssonne golden leuchteten. Jonas hatte die Steckdosen neu verlegt, die Lampen montiert, die Sicherungen überprüft. Es war ihr gemeinsamer Anfang still, geordnet, fast zärtlich.
Die ersten Monate der Ehe waren ruhig. Jonas arbeitete viel, kam abends müde nach Hause, setzte sich an den Küchentisch, trank Tee, hörte Anna zu. Sie sprach über ihre Arbeit im Buchladen, über Kunden, über neue Romane. Jonas hörte zu, nickte, fragte manchmal nach. Er war kein Mann der großen Worte, aber Anna spürte, dass er da war auf seine Weise.
Mit zweiundzwanzig wurde Anna schwanger. Jonas war überrascht, dann still, dann vorsichtig glücklich. Er baute ein Kinderbett, las Bücher über Elektrik in Altbauten, sprach mit Gustav über Vaterschaft. Es ist wie ein Stromkreis, sagte Gustav. Du gibst Energie, und manchmal bekommst du sie zurückJonas nickte. Und wenn der Kreis unterbrochen wird?Dann musst du ihn flicken. Immer wieder
Die Geburt war schwer. Anna lag zwei Tage im Krankenhaus, Jonas saß stundenlang auf dem Flur, die Hände verschwitzt, der Blick leer. Als er seinen Sohn zum ersten Mal sah, war es wie ein Stromstoß nicht laut, nicht schmerzhaft, aber tief. Das Kind war klein, rot, schreiend. Jonas hielt es, vorsichtig, als wäre es aus Glas. Er ist da, sagte er.Anna lächelte. Und du auch
Sie nannten ihn Lukas. Ein stilles Baby, wie Jonas einst. Er schlief viel, weinte wenig, beobachtete früh. Jonas war fasziniert. Er baute ihm eine Spieluhr, die mit Lichtimpulsen arbeitete. Lukas starrte sie an, stundenlang, als würde er die Welt darin erkennen.
Der Alltag war ruhig, aber nicht leicht. Jonas arbeitete auf Baustellen, in Kellern, in alten Häusern, die nach Vergangenheit rochen. Er kam müde nach Hause, sprach wenig, war oft in Gedanken. Anna kümmerte sich um Lukas, las ihm vor, sang ihm Lieder. Jonas hörte zu, aber aus der Ferne.
Mit dreiundzwanzig wurde Anna erneut schwanger. Diesmal war Jonas weniger überrascht, aber nicht weniger still. Die Tochter kam im Herbst, bei Regen, in einem Krankenhaus, das nach Desinfektionsmittel roch. Sie nannten sie Mira. Sie war laut, lebendig, voller Energie. Jonas war überfordert. Er liebte sie, aber sie war ihm fremd.
Die Wohnung wurde enger, das Leben lauter. Lukas begann zu sprechen, Mira zu laufen. Anna war müde, Jonas war stiller denn je. Die Gespräche wurden kürzer, die Berührungen seltener. Anna fragte. Bist du glücklich?Jonas antwortete nicht.Bist du da?Ich weiß es nicht
Er begann, sich zurückzuziehen. Nicht aus Ablehnung, sondern aus Überforderung. Die Stimmen kamen zurück, leise, aber deutlich. Sie flüsterten, kommentierten, stellten Fragen. Jonas schrieb sie auf, in einem Heft, das er unter dem Bett versteckte.
Du bist nicht genugDu bist zu vielDu bist falsch
Anna spürte es. Sie sprach mit Marianne, die sagte. Er war schon immer so. Aber jetzt ist es schwererGustav sagte. Er braucht Raum. Und jemanden, der ihn nicht retten will
Doch Anna wollte retten. Sie schlug Therapie vor, Gespräche, Pausen. Jonas nickte, ging zu einem Psychologen, sprach wenig, hörte viel. Es half nicht. Die Dunkelheit blieb. Die Stimmen blieben. Die Leere blieb.
Die Kinder wurden älter. Lukas war ruhig, wie Jonas. Mira war wild, wie Anna. Jonas liebte sie beide aber unterschiedlich. Er verstand Lukas, sprach mit ihm über Strom, über Licht, über Ordnung. Mira fragte nach Farben, nach Tieren, nach Träumen. Jonas antwortete, aber sie lachte. Du bist komisch, PapaIch bin leiseIch bin laut!Das ist gut
Anna wurde stiller. Sie sprach mit Freundinnen, mit ihrer Mutter, mit sich selbst. Jonas hörte es, aber sagte nichts. Die Wohnung war voll, aber leer. Die Liebe war da, aber müde.
Eines Abends, als die Kinder schliefen, sagte Anna. Ich kann nicht mehrJonas sah sie an. Ich weißIch liebe dich. Aber ich verliere michIch habe mich schon verloren
Sie trennten sich still. Kein Streit, kein Drama. Jonas zog aus, in eine kleine Wohnung, mit Blick auf ein Kraftwerk. Die Kinder kamen am Wochenende. Lukas sprach wenig, Mira fragte viel. Jonas baute ihnen Dinge, las ihnen vor, war da auf seine Weise.
Anna blieb freundlich. Sie schrieb ihm Briefe, kurze Nachrichten, schickte Fotos. Jonas antwortete selten. Aber er las alles. Und er weinte. Nicht laut. Aber tief.
Die Wohnung in der Nähe des Kraftwerks war still. Jonas hatte sie gewählt, weil sie funktional war, zwei Zimmer, ein kleiner Balkon, eine Küche, die nach Metall roch. Von seinem Fenster aus konnte er die Türme sehen, die Leitungen, die sich wie Adern durch die Landschaft zogen. Es beruhigte ihn. Strom war verlässlich. Menschen nicht.
Nach der Scheidung war Jonas leer. Nicht wütend, nicht traurig, sondern wie abgeschaltet. Die Wochenenden mit den Kindern waren Lichtpunkte, aber dazwischen war Dunkelheit. Er arbeitete viel, nahm jeden Auftrag an, reparierte Sicherungen, verlegte Kabel, baute Schaltkästen. Die Kunden mochten ihn er war pünktlich, präzise, still. Aber niemand fragte, wie es ihm ging.
In einem dieser grauen Monate begegnete er Markus. Ein Kollege auf einer Baustelle, laut, charmant, voller Geschichten. Markus rauchte, trank, flirtete mit den Kundinnen, lachte über alles. Jonas war irritiert und fasziniert. Markus sprach ihn an, lud ihn auf ein Bier ein, erzählte von Partys, von Frauen, von Nächten, die nie endeten.
Jonas ging mit. Einmal. Dann öfter. Die Kneipen waren laut, die Musik dröhnte, die Gespräche waren oberflächlich. Jonas trank wenig, sprach kaum, aber Markus zog ihn mit. Du musst raus aus deinem Kopf, sagte er. Sonst wirst du verrücktJonas antwortete nicht. Aber er ging weiter mit.
Sie lernten Leute kennen Sven, der immer zu viel trank, Tanja, die lachte, ohne zu hören, Ben, der über alles sprach, aber nichts sagte. Jonas war dabei, aber nicht drin. Er beobachtete, analysierte, lächelte manchmal. Aber er fühlte nichts.
Bis er Nora traf.
Es war ein Abend im Spätherbst, die Kneipe war voll, die Luft schwer. Jonas saß am Rand, trank Tee, als Nora sich neben ihn setzte. Sie war anders. Still, aber präsent. Dunkle Haare, klare Augen, eine Stimme, die wie ein warmer Strom floss. Du bist nicht wie die anderen, sagte sie.Ich bin nur hierAber nicht wirklich
Sie sprachen. Lange. Über Bücher, über Gedanken, über Stille. Nora war Philosophin, arbeitete in einer Bibliothek, las Rilke, schrieb Essays über Einsamkeit. Jonas hörte zu, sprach mehr als sonst. Sie verstand ihn. Nicht alles aber genug.
Sie trafen sich wieder. In Cafés, in Parks, in ihrer Wohnung, die nach Papier und Tee roch. Nora war ruhig, aber direkt. Sie fragte viel, hörte aufmerksam, berührte ihn vorsichtig. Jonas war überfordert, aber auch neugierig. Nähe war schwierig. Aber Nora war geduldig.
Du bist wie ein Stromkreis, sagte sie einmal. Komplex, empfindlich, aber voller EnergieUnd du?Ich bin vielleicht die Erde. Ich leite ab, was zu viel ist
Sie wurden ein Paar. Langsam, tastend, wie zwei Systeme, die sich vorsichtig verbinden. Jonas sprach über die Stimmen, über die Leere, über die Dunkelheit. Nora hörte zu, fragte nicht, aber war da. Sie las seine Texte, seine Pläne, seine Gedichte. Sie verstand die Sprache, die niemand sonst verstand.
Die Beziehung war nicht einfach. Jonas zog sich oft zurück, verschwand in Gedanken, in Arbeit, in Stille. Nora wartete, schrieb ihm Briefe, sprach mit ihm, auch wenn er schwieg. Sie war nicht enttäuscht nur geduldig.
Einmal sagte sie. Ich liebe dich. Auch wenn du manchmal nicht da bist.Jonas antwortete. Ich bin immer da. Nur nicht immer sichtbar
Sie lebten nebeneinander, miteinander, in einem Rhythmus, der nicht laut war, aber tief. Jonas begann, wieder zu schreiben nicht nur Pläne, sondern Gedanken. Er las Rilke, sprach mit Nora über Zeit, über Raum, über das Ich. Er war nicht geheilt. Aber er war nicht allein. Die Wohnung, die Jonas und Nora teilten, war ein stiller Ort. Zwei Zimmer, hohe Decken, Bücherregale bis zur Decke, eine kleine Küche, in der es immer nach Tee und Zimt roch. Jonas hatte die Steckdosen neu verlegt, die Lampen gedimmt, die Kabel hinter den Regalen versteckt. Nora hatte die Wände gestrichen in warmen Farben, die Jonas zuerst irritierten, dann beruhigten.
Sie lebten nebeneinander, miteinander, in einem Rhythmus, der nicht laut war, aber tief. Jonas arbeitete weiterhin als Elektriker, Nora in der Bibliothek. Abends saßen sie oft auf dem Sofa, lasen, sprachen wenig, aber wenn sie sprachen, war es ehrlich. Nora fragte nicht viel sie wartete. Jonas sprach, wenn er konnte. Und manchmal konnte er.
Ich habe Angst, dich zu verlieren, sagte er einmal.Warum,Weil ich mich selbst nicht halten kann,Dann halte ich dich
Ihre Nähe war anders als alles, was Jonas kannte. Sie war nicht fordernd, nicht laut, nicht grell. Sie war wie ein Stromkreis, der sich langsam schließt, vorsichtig, tastend, aber stabil. Jonas begann, sich zu öffnen. Nicht ganz. Aber genug.
Sie verbrachten Wochenenden in Stille, lasen gemeinsam, gingen spazieren, sprachen über Bücher, über Gedanken, über das, was zwischen ihnen lag. Nora war geduldig, aber nicht passiv. Sie stellte Fragen, wenn Jonas sich zurückzog. Sie berührte ihn, wenn er sich verlor. Sie war da nicht als Lösung, sondern als Raum.
Ein Abend im November blieb Jonas besonders in Erinnerung. Es war kalt, der Regen klopfte gegen die Fenster, und sie saßen auf dem Teppich, zwischen Büchern und Teetassen. Nora hatte ein Gedicht vorgelesen, leise, fast flüsternd. Jonas hatte zugehört, die Augen geschlossen, die Gedanken weit.
Du bist schön, wenn du still bist, sagte sie.Ich bin immer stillAber nicht immer schön
Sie lachte, berührte seine Hand, und Jonas spürte etwas, das er lange nicht gespürt hatte Wärme, nicht von außen, sondern von innen. Sie sah ihn an, lange, ohne zu sprechen. Dann küsste sie ihn. Nicht fordernd, nicht flüchtig, sondern wie ein Stromstoß, der nicht schmerzt, sondern heilt.
Sie verbrachten die Nacht miteinander. Nicht laut, nicht wild, sondern wie zwei Systeme, die sich vorsichtig verbinden. Jonas war unsicher, zögerlich, aber Nora war geduldig. Sie führte ihn, nicht mit Worten, sondern mit Blicken, mit Berührungen, mit Atem. Es war keine Flucht, keine Explosion, sondern ein leiser Beginn.
