Nicht wie ein Liberaler denken - Raymond Geuss - E-Book

Nicht wie ein Liberaler denken E-Book

Raymond Geuss

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Beschreibung


»Schlussendlich müssen wir entscheiden, welche Art von Menschen wir sein möchten, als Individuen ebenso wie als Kollektiv. Die Philosophie kann dabei eine Rolle spielen, aber wir sollten darüber hinaus auf Ressourcen zurückgreifen, die breiter sind als diejenigen, die die Philosophie zur Verfügung stellen kann.«

Für die meisten Menschen im »Westen« ist der Liberalismus zu einer Gegebenheit quasinatürlicher Art geworden, zu einem auf Dauer gestellten Hintergrundrauschen. Und doch gibt es in jeder Gesellschaft Winkel abseits des kulturellen Mainstreams. Der Philosoph Raymond Geuss ist in einem solchen Winkel aufgewachsen und zeichnet in seinem Buch nach, wie er in jungen Jahren mit einer ethisch-politischen Perspektive vertraut gemacht wurde, die sein Denken nachhaltig geprägt hat.

1959 kommt der begabte Sohn eines tiefkatholischen Stahlarbeiters auf ein Internat am Stadtrand von Philadelphia. Umgeben von Eisenhowers Amerika, versuchen ungarische Priester dort, den jungen Geuss zu immunisieren: gegen den repressiv-autoritären Kommunismus, dem sie entflohen waren, aber auch gegen den geistlosen liberalen Kapitalismus, in dem sie nun leben. Danach – es ist Vietnamkrieg und »1968« – geht Geuss zum Studium nach New York, wo er auf legendäre akademische Lehrer wie Sidney Morgenbesser trifft, und nach Westdeutschland, wo er das erste Mal Adorno liest.

Nicht wie ein Liberaler denken führt mit analytischer Klarheit durch die intellektuellen Strömungen, die Geuss‘ ablehnende Haltung zu Liberalismus und Autoritarismus geformt haben. Eine faszinierende persönliche Ideengeschichte und eine fesselnde Darstellung der Möglichkeiten und Grenzen der Philosophie.

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Cover

Titel

3Raymond Geuss

Nicht wie ein Liberaler denken

Aus dem Englischen von Karin Wördemann

Suhrkamp

Impressum

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Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Not Thinking like a Liberal bei The Belknap Press of Harvard University Press

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2023.

Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023© 2022 by The President and Fellows of Harvard CollegeAlle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werksfür Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Umschlagfoto: Joy Lions, Beautiful Light, aus der Serie »Church of the Holy Sepulchre«, 2016, Privatsammlung, © Joy Lions/Bridgeman Images

eISBN 978-3-518-77570-7

www.suhrkamp.de

Widmung

9Aber schon der nächste Tag brachte eine arge Enttäuschung. Törleß hatte sich nämlich gleich am Morgen die Reclamausgabe jenes Bandes gekauft, den er bei seinem Professor gesehen hatte, und benützte die erste Pause, um mit dem Lesen zu beginnen. Aber vor lauter Klammern und Fußnoten verstand er kein Wort, und wenn er gewissenhaft mit den Augen den Sätzen folgte, war ihm, als drehe eine alte, knöcherne Hand ihm das Gehirn in Schraubenwindungen aus dem Kopfe.

– Robert Musil, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Vorwort

Einleitung

1 Mein Schicksal

Von der Gegenreformation bis zum Ungarnaufstand von 1956

Von Indiana nach Philadelphia

2 Liberalismus

»Liberal«: Adverbial, systematisch, doktrinell

Katholische Internatsschulen: Stereotypen

Die Souveränität des Individuums

Cromwell bei der Belagerung von Ross

Vernunft

3 Autoritarismus

Drei Bedeutungen von Autorität

Leben ohne Autorität

4 Religion, Sprache und Geschichte

Das unübersetzbare Wort übersetzen

Sola scriptura

Kanonbildung

Unfehlbarkeit

5 Menschliche Vielfalt

Verlaine und Villon

Religion: Offenbarung, Ethik, Ästhetik

Aude discrepare

Zuweisung von Schuld

6 Dann also doch liberal?

Wann Aneignung kein Plagiat ist

Begriffe mit variabler Blendenweite

7 Zwischenspiel. Nostalgie, eine Fahrt in die Stadt, Ankunft

Die Fahrt in die Stadt

Ankunft

8 Robert Paul Wolff. Das Elend des Liberalismus

Spaß und Spiele

Lectio difficilior

– die schwierigere Lesart

Rawls

Anarchismus

9 Sidney Morgenbesser. Philosophie als praktischer Surrealismus

Sidney und die Kellnerin

Sidney und der Jurist

Sidney, Robert Paul Wolff und die Oxford Dons

Sidney und die Motivation

10 Robert Denoon Cumming. Menschliche Natur und Geschichte

Mill und das Lothringerkreuz

Human Nature and History

11 Von Heidegger zu Adorno

Unzureichendes Griechisch

Paul Celan

Kretzschmar

Unklarheit

Negativität

12 Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft

Liberalismus in unserer Welt

Vision, Hoffnung und Handeln

Abkürzungen

Anmerkungen

Vorwort

Einleitung

1 Mein Schicksal

2 Liberalismus

3 Autoritarismus

4 Religion, Sprache und Geschichte

5 Menschliche Vielfalt

6 Dann also doch liberal?

7 Zwischenspiel

8 Robert Paul Wolff

9 Sidney Morgenbesser

10 Robert Denoon Cumming

11 Von Heidegger zu Adorno

12 Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft

Danksagung

Namenregister

Informationen zum Buch

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11Vorwort

Unter welchem Blickwinkel man sie auch betrachtet, die Gegenwart ist ausweglos. Das ist nicht die unwichtigste ihrer Eigenschaften.

– Unsichtbares Kollektiv, Der kommende Aufstand (2007)

Das politische, soziale und ökonomische Modell angelsächsischer Provenienz, das ein kapitalistisches Wirtschaftssystem mit einer liberalen Form der parlamentarischen Demokratie kombiniert, schien für Großbritannien und seine englischsprachigen ehemaligen Kolonien vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des 20. Jahrhunderts gut zu funktionieren – vor allem für die Eliten dieser Länder. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sah es sogar so aus, als etabliere es sich als maßstabsetzende Größe für alle modernen Gesellschaften. Seit dem letzten Jahrzehnt werden nun allerdings Auflösungserscheinungen sichtbar. Die Beschleunigung des Niedergangs während der Jahre, als Donald Trump in den Vereinigten Staaten das Sagen hatte und im Vereinigten Königreich die Kampagne für den Austritt aus der Europäischen Union lief, war schwindelerregend.

Es lag immer eine gewisse Spannung in der Art, wie das angelsächsische Modell in Großbritannien und den Vereinigten Staaten wahrgenommen wurde. Einerseits wurde es als ein allgemeingültiges Paradigma dargestellt, das alle Menschen in allen Gesellschaften erstrebten und dessen Übernahme unabweisbar in ihrem eigenen Interesse liege. Eine regelgeleitete internatio12nale Ordnung aus parlamentarisch verfassten kapitalistischen Gesellschaften sei »das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung«, wie Marx formuliert, allerdings bezogen auf ein vollkommen anderes politisches Projekt, den Kommunismus nämlich.1 Andererseits wurde ganz unmissverständlich angenommen (obgleich wohl niemals offen ausgesprochen), dass »wir« – Großbritannien und die Vereinigten Staaten als politische Gebilde sowie die Mitglieder der dominanten sozioökonomischen Gruppen dieser beiden Gesellschaften – als zwangsläufiges Ergebnis verlässlich an der Spitze bleiben würden, wenn die gesamte Welt die kapitalistische liberale Demokratie übernähme. Hier wird erkennbar, welch immense ideologische Macht ein Konstrukt hatte, das universalistische Ansprüche mit nüchtern kalkuliertem Eigennutz zusammenbrachte, und zwar insbesondere dann, wenn es sich durch handfeste wirtschaftliche und militärische Erfolge zu bestätigen schien. Ich glaube, für jeden, der in einer dieser beiden Gesellschaften aufwuchs, ist es schwer zu verstehen, wie vermessen es war, anzunehmen, dass diese beiden Aspekte – der universalistische und der exzeptionelle – für immer zuverlässig korreliert bleiben würden. Selbst diejenigen, die zweifellos sozial, wirtschaftlich oder politisch geknechtet waren und von denen man hätte erwarten können, dass sie keinerlei besonderen Beweggrund hatten, diese Ideologie zu akzeptieren, fanden es nicht unbedingt einfach, ihre Unzufriedenheit zu äußern, weil ihnen die passenden Begriffe und ein geeigneter Rahmen fehlten. Mitglieder von Randgruppen mit ihren eigenen theoretischen Traditionen, selbst wenn diese zutiefst vormodern waren, hätten vielleicht eine größere Chance gehabt, den Konflikt zwischen diesen beiden Aspekten klar zu sehen. Als die wirtschaftliche und politische Situation für die Vereinigten Staaten und für 13Großbritannien unruhiger wurde, ließ sich die Spannung zwischen den beiden Konzeptionen schwerer ignorieren und bewältigen. Donald Trump in seiner ungehobelten Art erkannte dies und zog eine schlüssige, wenngleich abstoßende Folgerung.

Die Wirtschaftskrise von 2008 wurde direkt durch die Deregulierung des Bankensystems verursacht, das heißt durch die Anwendung von Ideen, die unzweifelhaft wie maßgebliche liberale Prinzipien für den Finanzsektor aussehen. Eine Zeitlang waren die Menschen anscheinend unwillig, die Bedeutung dieser Tatsache anzuerkennen, und wenn sie es taten, war ihre Reaktion überraschend gedämpft. Der von dem ökonomischen Kollaps ausgelöste Stress hatte jedoch die Wirkung einer sanften Welle, die eine Weile brauchte, bis sie sich ausgebreitet hatte. Erst mit Verzögerung, fast ein Jahrzehnt später, bewirkte sie, dass die politischen Systeme in den Vereinigten Staaten und Großbritannien in ernsthafte Schwierigkeiten gerieten. Wie immer die Ätiologie genau sein mag, Trump und der Brexit haben dem internationalen Appeal einer Gesellschaftsform, die sich rechtfertigt, indem sie John Locke, Adam Smith, die Federalist Papers und John Stuart Mill anführt, erheblich geschadet. Der Liberalismus ist ein so wichtiger Teil des ideologischen Rahmens der angelsächsischen Länder, dass nicht zu erwarten ist, dass der reale wirtschaftliche und politische Niedergang der Vereinigten Staaten und des Vereinigten Königreichs für das Schicksal des Liberalismus folgenlos bleiben kann.

Ich schrieb diesen Text im Januar 2021, während eines Lockdowns in der Coronavirus-Pandemie, kurz nachdem das Vereinigte Königreich die Europäische Union verlassen hatte. Obwohl ich das Hinscheiden des Liberalismus nicht betrauere, stehen meine Überlegungen auch in diesem anderen, etwas unterschiedlichen, politischen Zusammenhang. In einer gewissen 14Hinsicht ist der gesamte Text ein indirektes Lamentieren über den Verlust, den der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU mit sich bringt. Meine unglaublich privilegierte Stellung als emeritierter Professor mit diversen Ansprüchen (auf Pension zum Beispiel) schützt mich verhältnismäßig gut vor den katastrophalen wirtschaftlichen Folgen des Brexits. Der Verlust von vielem, was von der politischen Macht und dem Einfluss der Briten in der Welt übrig blieb, ist etwas, was meines Erachtens gar nicht so schlecht sein mag, aber der gewaltige kulturelle Verlust, der als eine Begleiterscheinung des Durchtrennens unserer Bindung an die Europäische Union eintritt, ist wohl etwas, über das ich wahrscheinlich nie hinwegkommen werde.

Das Nachdenken über den Brexit und darüber, was die Zukunft für uns bereithalten wird, ruft in mir automatisch Erinnerungen an das Philadelphia wach, das ich noch kannte, als ich dort in den 1950er Jahren aufwuchs, kurz bevor ich auf das Internat wechselte. Es war eine Stadt, die verzweifelt versuchte, einem Image gerecht zu werden, das sie aus einer fernen Vergangenheit bezog, und sie war sich völlig darüber im Klaren, dass sie daran scheiterte. Philadelphia war in den 1790er Jahren eine bedeutende Stadt gewesen, aber um das Jahr 1955 fand alles Wichtige woanders statt, in New York, in Washington, D. ‌C. oder in Chicago. Den in Philadelphia lebenden Menschen war das in einer vagen und unausgesprochenen Weise durchaus bewusst. Auch meine Internatsschule lebte in einer hochgradig stilisierten Vergangenheit, die ich in diesem Buch beschreiben werde. Beim Brexit geht es zum Teil ebenfalls um einen Traum der Rückkehr zu einer fantasierten Vergangenheit, in der die Bevölkerung des Vereinigten Königreichs rassisch und kulturell ungewöhnlich homogen zusammengesetzt war und die Gesellschaft mächtig genug und auf ihren Inseln ausreichend iso15liert war, um Entscheidungen treffen zu können, ohne die Ansichten, Interessen und Bedürfnisse ihrer unmittelbaren Nachbarn oder sogar vom Rest der Welt großartig einbeziehen zu müssen. Das Thema dieses Buchs ist in erster Linie der Liberalismus, in zweiter Linie ist es die Logik des Lebens in einer Nostalgieblase.

Die Leserinnen und Leser mögen mehr über die Einzelheiten katholischer Theologie, den Glauben und die Praktiken des Katholizismus, über obskure religiöse Polemik und über die frühchristliche Geschichte erfahren, als sie erwartet haben, und mehr, als sie leichthin tolerieren können. Die Aufnahme dieser Erörterung in den Text könnte aus einer Reihe von Gründen seltsam erscheinen. Schließlich bin ich kein Experte für irgendeinen dieser Stoffe, und meine Ansichten dazu sind nicht mehr als Berichte über das, was ich 1960 von einem Lehrer in der weiterführenden Schule hörte, der selbst kein Meister auf irgendeinem der genannten Gebiete war, auch nach damaligem Wissensstand nicht. Der Grund dafür, dies gerade jetzt wieder aufzuwärmen, ist der Kerngedanke, auf den ich mit dieser Geschichte hinauswill. Ich möchte behaupten, dass das Aufwachsen als Mitglied einer gesellschaftlichen Untergruppe mit ihrer eigenen sehr verdichteten und in hohem Maße theoretisch durchdachten Geschichte und mit einer Erklärung dafür, wie sich diese Geschichte in die übrige Welt als Ganzes einfügt, einen kognitiven Vorteil verschaffen kann, wenn es darum geht, der Verlockung weitverbreiteter Illusionen zu widerstehen, die tief verwurzelt sind und durch den üblichen Gang sozialer Prozesse fortwährend bestärkt werden. Dies kann selbst dann zutreffen, wenn die Ideologie der betreffenden Untergruppe für sich betrachtet nichts ist, was man nach reiflicher Überlegung annehmen wollen würde.

16Lenin und Lukács haben beide von der Notwendigkeit einer Ideologie für das Proletariat gesprochen. Es war keine ausreichende Voraussetzung, unterdrückt zu sein oder sogar zu wissen, dass man unterdrückt war; man musste auch Möglichkeiten haben, das empfundene Elend nicht bloß auszudrücken (zum Beispiel in Liedern), sondern es zu artikulieren, theoretisch zu verarbeiten und es mit einer allgemeinen Sicht auf die Gesellschaft, das menschliche Handeln und die Geschichte zu verbinden. Man brauchte so etwas wie das, was der Katholizismus zur Verfügung stellte. Deshalb bin ich bei meinen Erörterungen katholischer Einzelheiten vielleicht ausführlicher geworden, als es manche für unbedingt nötig halten würden. Es erschien mir zu diesem Zweck angemessen, den Leserinnen und Lesern einen Eindruck davon zu vermitteln, wie substanziell, wie detailgenau, wie zusammenhängend, historisch weitreichend und geschichtsbewusst diese ideologische Form war. Ein weiterer Grund ist wohl das überraschende und für mich bestürzende Wiederaufleben der traditionellen Religion in westlichen Gesellschaften in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren. In Anbetracht meines generell von Feuerbach geprägten Ansatzes zur Religion, der die Religion aus unbefriedigten menschlichen Bedürfnissen hervorgehen sieht, hätte ich dieses Wiederaufleben nach den ungeheuren Misserfolgen des politischen Handelns, die spätestens gegen Ende der 1970er Jahre deutlich geworden sind, und der obszönen Zunahme der menschlichen Ungleichheit seit den 1990er Jahren eigentlich erwarten sollen. Doch in Wirklichkeit war ich überrascht. Ich ging davon aus, dass die Menschen in sehr viel stärker privatisierten und esoterischen Formen nach Befriedigung suchen würden.

Die Schwierigkeit – und in gewisser Weise wahrscheinlich die entscheidende philosophische Schwierigkeit unserer Zeit – 17ist natürlich, dass wir gegenüber allen totalisierenden ideologischen Konstruktionen wie dem Kommunismus und dem Katholizismus zu Recht misstrauisch geworden sind. Das bedeutet, dass sich die wirklich totale Ideologie unserer Ära, die Verbindung aus Demokratie, Liberalismus und Kapitalismus, nicht als eine totale Ideologie, sondern tatsächlich als etwas anderes präsentiert; in einigen ihrer raffinierteren Formen präsentiert sie sich sogar als die Antiideologie schlechthin.

Es ist nicht schwer, diese spezielle Täuschung zu durchschauen, doch selbst wenn uns das gelungen ist, sind wir immer noch mit einer von Haus aus instabilen und unangenehmen Situation konfrontiert: Wir benötigen anscheinend aus einer Vielzahl von Gründen so etwas wie eine umfassende Weltanschauung, und doch haben wir allen Grund zu glauben, dass keine oder zumindest keine von den uns verfügbaren zufriedenstellend sein wird. Das intellektuelle Leben einer einigermaßen aufmerksamen und intelligenten Person wird in unserer Zeit aus einer Reihe von Geschäftsreisen, Expeditionen, Wanderungen und fast ziellosen Spaziergängen durch eine Landschaft bestehen, die ihren Charakter anscheinend im Wesentlichen von diesem großen Paradox erhält: dass allumfassende Weltanschauungen offenbar sowohl unentbehrlich als auch unhaltbar sind. Normalerweise folgt eine Geschäftsreise einer bekannten Route zu einem beabsichtigten Endpunkt, eine Expedition hingegen ist eine Reise ins Unbekannte. Beiden ist jedoch gemeinsam, dass sie stark teleologisch strukturierte Aktivitäten sind; sie sind auf ein Ziel ausgerichtet (selbst wenn das Ziel, wie im Fall einer Expedition, die Entdeckung von etwas Neuem ist). Eine Wanderung ist damit nicht vergleichbar, sondern ist mehr durch innere Spontaneität charakterisiert und richtet sich im besten Fall nach der jeweiligen Laune und dem augenblick18lichen Vergnügen. Ein wirklich zielloses Umherwandern ist sogar noch weniger strukturiert. Der nun folgende Text erzählt die Geschichte eines individuellen Wegs durch diese Landschaft. Im Rückblick habe ich ihm mehr Gestalt, Einheit und Struktur und mehr Orientierungssinn verliehen, als er zu haben schien, während ich damit beschäftigt war, auf ihm fortzuschreiten. Oft glich dieser Weg nur dem ziellosen Umherstreifen in einer außerordentlich unwirtlichen Umgebung.

Es scheint sich allerdings für mich jetzt bewahrheitet zu haben, dass es möglich ist, diesen individuellen Weg als eine kohärente Erzählung von der Art wiederzugeben, wie ich sie im Folgenden schildere. Das ist für sich genommen nicht belanglos, weil die zusammenhängende Darstellung ohne willkürliche Verbiegung, Verdrehung, Hinzufügung und Auslassung in einem untragbaren Umfang vielleicht nicht realisierbar gewesen wäre. Die wirkliche Relevanz meines Berichts ist etwas, das ich dem Urteil der Leser und Leserinnen überlassen muss.

19Einleitung

Es gibt keine andere Welt, nur eine andere Art zu leben.

– Jacques Mesrine, L'instinct de mort

Führende Politiker heutiger Gesellschaften in Westeuropa und Nordamerika charakterisieren die Regierungsformen, in denen sie wirken, gern als »liberale parlamentarische Demokratien«. Das ist offensichtlich in einer Reihe von Hinsichten eine problematische Selbstbeschreibung.1 Viele dieser Gesellschaften sind eigentlich Erbmonarchien, in denen feudale religiöse Strukturen immer noch eine gewisse Rolle spielen. Der Premierminister im Vereinigten Königreich hat einige prärogative Befugnisse, die vom König oder der Königin stammen und nicht der normalen parlamentarischen Kontrolle unterliegen, und ähnlich wie im Iran haben die religiösen Oberhäupter politische Macht: Bischöfe verfügen automatisch über einen Sitz im House of Lords, der oberen Kammer der gesetzgebenden Versammlung. Nach strenger Auslegung der Bedeutung von »Demokratie« kann keine parlamentarische Regierungsform wahrhaft »demokratisch« sein.2 Aktuell sind wir auch Zeugen von Versuchen, ausgesprochen illiberale, aber vorgeblich demokratische Regierungsformen zu schaffen, wie etwa in Ungarn. Dennoch scheint diese allgemeine Charakterisierung von Ländern wie Kanada, Griechenland, Norwegen, Spanien, Mexiko, den Vereinigten Staaten, Italien und der Tschechischen Republik insgesamt gesehen nicht völlig verfehlt zu sein, besonders im Hinblick auf die zwangsläufig ungefähre und flexible Natur jeglicher Beschrei20bung in der Politik. Schließlich handelt es sich um eine allgemeine Beschreibung, die auf viele verschiedene Fälle anwendbar sein soll. In der Politik ist es eine höchst politische Angelegenheit, ob man bestimmte zentrale Begriffe eher eng oder eher weit auslegt, und das bedeutet, die zugrundegelegten Begriffe müssen sich zumindest dem Prinzip nach dafür eignen oder dürfen sich nicht von Anfang an dagegen sperren. Ich habe in diesem Buch nicht vor, »Demokratie« oder die Idee einer »parlamentarischen« Regierungsform zu diskutieren, obwohl beide Begriffe sehr wichtige Themen sind. Ich werde mich vielmehr auf die Beschreibung »liberal« konzentrieren.

Meiner Ansicht nach bildet noch immer irgendeine Form des Liberalismus den grundlegenden Bezugsrahmen, der das politische, ökonomische und soziale Denken in der englischsprachigen Welt strukturiert. Der Text, den Sie lesen werden, ist keine soziologische Analyse moderner staatlicher Gemeinwesen oder eine Reihe philosophischer oder politischer Argumente gegen die wichtigsten Grundsätze des Liberalismus (gleichgültig, wie man ihn definiert) oder eine kritische Diskussion zu den Folgen des Versuchs, in einer Welt wie der unsrigen eine Gesellschaft anhand dieser Prinzipien zu organisieren. All diese Projekte wären überaus verdienstvolle Vorhaben, sind jedoch nicht meine. Und wer versuchen sollte, dieses Buch zu lesen, um herauslösbare Argumente gegen den Liberalismus zu finden, wird den eigentlichen Punkt verfehlen und enttäuscht werden. Es handelt sich vielmehr um so etwas wie eine ethnographische Darstellung einer bestimmten Nische in der Ökologie moderner Gesellschaften, die zudem eine starke autobiographische Komponente enthält. Große, komplexe Gesellschaften lassen solche verhältnismäßig unabhängigen Positionen in Zwischenräumen zu, deren Zahl und Art sich erheblich unterschei21den; aber eine Eigenschaft, die diese Nischen meistens aufweisen, ist die, dass sie in hohem Maße auf einen besonderen Kontext und manchmal auch auf eine bestimmte geschichtliche Konstellation angewiesen sind. Die Nische, die ich beschreiben werde, war ganz gewiss fragil und am Ende dieses Buchs werde ich etwas darüber sagen, wie sie sich schließlich auflöste, als eine kurze geschichtliche Konstellation, die sie ermöglicht hatte, ihr Ende fand. Dennoch ist das, was ich beschreibe, nicht bloß eine rein theoretische Möglichkeit, sondern etwas, dass in einer relativ fortgeschrittenen westlichen Gesellschaft bereits in den frühen 1960er Jahren existieren konnte. Diese Tatsache hat, wie ich zeigen möchte, Konsequenzen dafür, wie wir über unsere politische Welt nachdenken können.

Die philosophische Gewohnheit einer konzentrierten Einzelkritik an klar formulierten Thesen ist nicht nutzlos, aber sie hat für die Diskussion von großen, historisch langlebigen Bewegungen wie dem Christentum, dem Nationalismus oder auch nur dem Darwinismus einen begrenzten Wert. Zwischen Religionen, politischen Ideologien und wissenschaftlichen Theorien gibt es offenkundig wichtige Unterschiede, aber in einigen Hinsichten ist es möglich, sie als etwas Ähnliches zu behandeln – beispielsweise bezogen auf ihre Fähigkeit, große Menschengruppen über mehr als eine Generation anhand von Konstellationen relativ abstrakter Begriffe und Ideen zusammenzubringen. Die Widerlegung (etwa durch Aufzeigen innerer Widersprüche, schwacher oder fehlerhafter Argumentation oder einfach empirischer Unrichtigkeit) ist eine vollkommen sinnvolle Kategorie, wenn man ein scharf definiertes, fest umrissenes Ziel in Form einer bestimmten, voll ausformulierten Aussage hat. Die genannten breit angelegten Bewegungen haben jedoch das Merkmal, dass sie damit überhaupt nicht vergleichbar sind. 22Zwar haben sie klare ideelle Bestandteile, die in einem gewissen Sinne wesentlich für sie sind, aber sie sind auch in mancherlei Hinsichten amorph, an ihren Rändern offen, und ähnlich wie lebendige Organismen besitzen sie die Fähigkeit, sich (auf mannigfaltige Weise) zu wandeln, während sie ihre Identität beibehalten. Es ist nicht bloß ein Mangel oder ein Nachteil, dass sie so offen angelegt sind; ihre amorphe Beschaffenheit bildet vielmehr einen Teil dessen, was sie so wertvoll macht. Sie sind nicht nur Beschreibungen einer existierenden Wirklichkeit, sondern außerdem Programme für die künftige Forschung, die theoretische Entwicklung und fürs Handeln. Die Fähigkeit, sich zu wandeln, anzupassen und zu entwickeln gehört zu dem, was sie wesentlich ausmacht. Sie sollen uns unter anderem durch eine ungewisse Zukunft führen, uns insbesondere dabei helfen, angesichts neuer unbekannter Situationen Entscheidungen zu treffen und uns neue Meinungen über diese zu bilden. Sie müssen daher aus sich heraus für Veränderung, Evolution und Wandel offen sein.

Genau genommen sind es drei Dinge, die man im Kopf behalten muss, wenn man über solche Bewegungen nachdenkt. Als erstes den nietzscheanischen Punkt, den ich soeben erwähnt habe, nämlich dass sie keine Definition im strikten Sinne haben.3 Sie haben eine Geschichte, und in dieser Geschichte teilen ihre unzähligen Varianten jederzeit genug Eigenschaften, um uns ihre Identifizierung als Fälle derselben Sache zu ermöglichen (zum Beispiel christliche Sekten im Gegensatz zu platonischen Schulen). Bestimmte Dinge sind für sie bedeutender als andere: Der Glaube an die Wiederauferstehung der Toten ist zum Beispiel für die meisten Formen des frühen Christentums von größerer Bedeutung als etwa der Vegetarismus – den manche Sekten ebenfalls praktizierten.4 Dies kann sich jedoch 23ändern, und Einstellungen oder Überzeugungen, die einmal zentral erschienen, können mit der Zeit nebensächlich werden (oder sogar aufgegeben werden, wie etwa die Verbote, Eide zu leisten oder als Geldwechsler zu arbeiten), während andere in den Mittelpunkt der Bewegung rücken können, wie beispielsweise die Obsession mit bestimmten Themen der Sexualmoral, die in einigen jüngeren Versionen des Christentums besondere Bedeutung erlangt hat.

Zweitens gibt es ein generelles Argument zur Rolle der »Widerlegung«, das von Thomas Kuhn und aus der späteren Diskussion seines Werks stammt.5 Was immer in einer idealen Welt stimmen mag: Es ist einfach nicht zutreffend, dass die Art, wie die Wissenschaft im Laufe der Zeit vorankommt, einem einfachen Prozess in zwei Schritten entspricht, dem zufolge die Menschen so lange etwa am Darwinismus festhalten, bis von den augenscheinlich einzelnen Bestandteilen der Theorie einer »widerlegt« wird (indem gezeigt wird, dass er mit anderen Bestandteilen oder mit der Realität unvereinbar ist), und dann in einem zweiten Schritt, sobald eine solche Widerlegung erfolgt ist, der zugrundeliegende theoretische Ansatz im Ganzen verworfen wird. Bewegungen sind unendlich kreativ darin, Wege zu finden, eine offenkundige Widerlegung zu umgehen oder abzutun, von denen nicht alle per se verwerflich sind. Denn selbst Einwände, die zu einem bestimmten Zeitpunkt wichtig zu sein scheinen, können sich als welche herausstellen, die auf Fehlern der einen oder anderen Art beruhen. Historische Konfigurationen wie das Christentum oder der Nationalismus, die von sich aus keine wissenschaftlichen Theorien sind, können angesichts von Widerspruch oder Widerlegung auch mutieren oder sich sogar angesichts eines allgemeinen historischen Wandels verändern. Das ptolemäische Modell unseres Sonnensys24tems ist vielleicht ein extremer Fall für den Fortbestand einer Erklärung trotz einer Chronologie des Scheiterns, in der jede Diskrepanz zwischen dem, was die Theorie fordern würde, und dem, was aufgrund der tatsächlichen Erfahrung der Fall war, nur als ein Zeichen dafür betrachtet wurde, dass die Grundtheorie einer weiteren Verfeinerung bedürfe. Ptolemäus zufolge bewegten sich die Planeten, der Mond, die Sterne und die Sonne auf festen Kreisbahnen um die Erde. Bei eingehender Prüfung schienen die Positionen, die von den Planeten, dem Mond und der Sonne beobachtbar eingenommen wurden, jedoch nicht denen zu entsprechen, welche die Theorie verlangen würde. Anstatt nun eine der beiden zentralen Annahmen des Ptolemäus zu ändern – wonach sich die Sonne und die Planeten um die Erde bewegten und ihre Himmelsbahn stets vollkommen kreisförmig sei –, zogen es einige Astronomen vor, dem Modell weitere Kreisbahnen von Himmelskörpern um imaginäre Punkte hinzuzufügen, um das Ergebnis etwas mehr dem anzunähern, was sie beobachteten. Der einzige Grund dafür, diese »Epizykeln« hinzuzufügen, war die Rettung der Theorie. Ursprünglich hatte die Bezeichnung »Epizykel« einen klaren konkreten Bezug zu ergänzenden hypothetischen Bewegungen, die dem von der Theorie anerkannten Grundstock hinzugefügt wurden, mittlerweile bezieht sie sich aber auf ad hoc Ergänzungen zu einer Theorie, die lediglich deshalb eingeführt werden, um der Widerlegung zu entgehen. Es gibt keinen angebbaren besonderen Punkt, bis zu dem es noch vernünftig ist, die Theorie durch Korrekturversuche zu retten, und ab dem das nicht mehr sinnvoll ist. Das macht es viel schwieriger, eine evidenzbasierte Beurteilung von anderen Kräften zu unterscheiden, die daran mitwirken könnten, eine existierende Theorie aufrechtzuerhalten. Man kann tatsächlich im Prinzip immer wei25tere solcher Epizykel hinzufügen, und wenn man genügend Zeit und Einfallsreichtum hat, kann der Tag, an dem die Theorie aufgegeben wird, weil sie »endgültig« widerlegt worden ist, ad kalendas graecas [bis auf den Sankt-Nimmerleins-Tag] aufgeschoben werden.

Drittens gibt es das marxistische Argument, wonach man eine Religion nicht loswird, indem man zeigt, dass deren Behauptungen falsch sind, sondern nur, indem man das zugrundeliegende Bedürfnis stillt, dessen ausbleibende Befriedigung ursächlich für sie ist; und man kann sich durchaus vorstellen, dass dieser Punkt allgemeiner gelten kann.6 Das heißt, selbst wenn man per impossibile den Menschen das Christentum als eine spezielle Form der religiösen Riten und Glaubensinhalte abgewöhnen könnte, die Menschen aber weiterhin ein tieferliegendes Bedürfnis hätten zu glauben, dass ihr Leben in irgendeine externe metaphysische und normative Struktur eingebettet sei, wäre damit nur eines bewirkt: Man würde eine Form der auf Trost beruhenden Religion durch eine andere ersetzen. Solange die Menschen in ihrer sozialen Welt nicht die Sicherheit und Zufriedenheit fänden, die sie bräuchten, würden sie damit fortfahren, die Befriedigung jener Bedürfnisse auf irgendeine andere imaginäre Welt zu projizieren. Und dann würden noch so viele Widerlegungen von Einzelheiten jener Projektion den zugrundeliegenden Mechanismus nicht daran hindern können, weiter zu funktionieren und immer neue Illusionen hervorzubringen. Theodor W. Adorno versuchte die Richtigkeit dieser Annahme zu beweisen, indem er die Astrologie-Spalten in den Zeitungen der 1940er Jahre analysierte. Eine unzufriedene Bevölkerung, die nicht an Gott glaubte, konnte nicht umhin, an die Sterne zu glauben.7

Außerdem geben Menschen eine gut eingebürgerte Denk26weise und Lebensweise, die einigen ihrer Grundbedürfnisse entspricht, normalerweise nicht auf, sofern sie nicht erkennen können, dass sie eine vernünftige Alternative dazu haben. Eine vernünftige Alternative wäre eine solche, in der das Grundbedürfnis verschwinden würde oder auf andere Weise angemessen befriedigt wäre. Was ist eine »vernünftige« Alternative jedoch konkret? Wie grenzt man das Spektrum der Möglichkeiten ein? Welche Arten von Bedürfnissen müsste eine Alternative zum Christentum befriedigen können? Was würde denjenigen, die für Kritik an einigen charakteristischen Eigenschaften des Christentums empfänglich wären, die Gewissheit geben, die sie benötigen, um ausreichend motiviert zu sein, das Christentum aufzugeben? Wie umfassend und einleuchtend würde eine Alternative zum Darwinismus sein müssen? Da es sich hierbei um in einem sehr allgemeinen Sinn politische Fragen handelt, ist es keineswegs überraschend, dass dieselbe Art von Fragestellungen aufkommt, wenn über politische Ideologien wie den Liberalismus diskutiert wird. Der Liberalismus im Gegensatz zu was? Und überdies: Welche Bedingungen müsste etwas erfüllen, damit es eine vernünftige Alternative zum Liberalismus sein könnte?

Die Behauptung, dass es keine Alternative gibt, ist ein starker und oft wirkungsvoller Anspruch, wie die politische Karriere der ehemaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher gezeigt hat. »Es gibt keine Alternative« bedeutete in ihrem Fall in Wahrheit »Es gibt keine ökonomisch und politisch akzeptable Alternative«, und »ökonomisch akzeptabel« wiederum hieß: hinreichend vorteilhaft für die Akteure der Wirtschaft, mit deren Interessen sich Thatcher identifizierte. Sie mag das selbstdefinierte Wohl dieser Akteure tatsächlich vollkommen aufrichtig mit dem nationalen Interesse gleichgesetzt ha27ben. Andere waren hinsichtlich dieser Gleichsetzung natürlich skeptisch. Es gibt allerdings eine Variante der strategischen Behauptung »Es gibt keine Alternative«, die ebenfalls höchst erfolgreich gewesen ist: die Erzeugung falscher Dichotomien. Unübertroffener und unangefochtener Meister in dieser Spielart des Sophismus war der frühere britische Premierminister Tony Blair. Wenn man die Menschen glauben machen konnte, die einzige politische Wahl bestehe darin, entweder die US-Invasion im Irak zu befürworten oder alles zu billigen, was das Regime der Baath-Partei im Irak jemals zu verantworten hatte, war die Aufgabe, Unterstützung für die Kriegsbeteiligung zustande zu bringen, erheblich leichter. Auch dies ist eine Version des »Es gibt keine Alternative«, weil eines der Elemente in der falschen Dichotomie extra so formuliert ist, dass es inakzeptabel wird.

»Liberalismus oder Autoritarismus« ist genau eine solche falsche Dichotomie. Der »Autoritarismus« selbst bezeichnet einige rhetorisch zunehmend extremere Beschreibungen einer angeblichen Alternative zum Liberalismus, von denen vielleicht der Faschismus als der Endpunkt, als die ultimative Form des Antiliberalismus betrachtet werden kann. Der Liberalismus in dem besagten Sinne ist ohne Frage eine amorphe und wechselnde Sammlung von Dingen mit einer ausgeprägten Fähigkeit, sich zu erneuern, einen Gestaltwandel zu vollziehen und die Formulierung seiner Grundüberzeugungen zu revidieren. Warum sollte man dann, wenn das zutrifft, erwarten, er habe nur einen einzigen Gegensatz? Warum sollte es dann nur eine einzige Reihenfolge zunehmend stärkerer Gegensätze geben, die alle in derselben Dimension liegen? Die Kritikpunkte an einigen der besonders charakteristischen Lehrsätzen des Liberalismus sind vielsagend und gut bekannt, und doch scheint er sie alle überlebt zu haben. Was nahelegt, dass seine Anziehungskraft in der 28Tatsache wurzelt, dass er auf besonders zufriedenstellende Weise auf tiefe menschliche Bedürfnisse antwortet und den Eigeninteressen der mächtigen wirtschaftlichen und sozialen Gruppen entgegenkommt.

Dies bringt uns zu Marx' Analyse der Religion zurück. Wäre es möglich, sich politische Ideologien als etwas vorzustellen, das gleichermaßen in Fantasien wurzelt, die sich auf die Befriedigung dringlicher menschlicher Bedürfnisse richten, denen man unter den existierenden sozialen und ökonomischen Bedingungen nicht Rechnung tragen und gerecht werden kann? Was würde man herausfinden, wenn man die Beständigkeit des Liberalismus von diesem Gesichtspunkt aus betrachten würde? Wenn man die Fantasie, ein völlig souveränes Individuum zu sein, für das Kernstück des Liberalismus hält, wie ich es tue, wäre es doch wohl offensichtlich, dass eine solche Fantasie die Reaktion auf eine starke Angst ist, einen echten Verlust an Handlungsfähigkeit in der Welt zu erleiden. Diese Angst ist in der Welt, in der wir leben, durchaus berechtigt, und so ist die Fantasie eindeutig mit der Befriedigung eines wirklichen Bedürfnisses verbunden, selbst wenn die Form, welche die Befriedigung annimmt, illusionär ist. Eine Schwierigkeit besteht darin, dass eine wirkliche Veränderung der Welt, die solche Ängste grundlos machte, es erfordern würde, dass viele Menschen auf eine Art und Weise handeln, die tatsächlich die Sicht verstärken könnte, der zufolge sie souveräne Initiatoren ihres Handelns sind. Es wird zudem immer schwieriger, sich den Ausstieg vorzustellen, sobald man sich darüber klar wird, dass der Liberalismus nicht bloß eine selbsterzeugte Illusion ist. Er dient nicht allein als imaginärer Trost für frustrierte Bedürfnisse, sondern nutzt tatsächlich wirksam und spürbar einigen mächtigen Wirtschaftsakteuren. Für die Unternehmensleiter in den 29Industrien mit fossilen Brennstoffen ist der Nutzen des Liberalismus keineswegs imaginär, und sie haben einen sehr starken Anreiz sowie reichlich Mittel, um zu seiner Erhaltung beizutragen und seinen Zugriff auf die Bevölkerung zu festigen.

Gibt es also oder gab es (in jüngster Zeit) eine Alternative zum Liberalismus? Gibt es eine Alternative zum Liberalismus, die sich der Dichotomie »liberal oder autoritär« widersetzt oder sogar der Dimension entzieht, in der dieser Gegensatz angeblich liegt? Dieses Buch versucht, die Spur eines Lebenswegs nachzuzeichnen, der vom liberalen Konsens abweicht, ohne deshalb autoritär zu sein, und davon eine dichte Beschreibung zu geben. Es ist ein möglicher Weg oder war jedenfalls in der nunmehr jüngsten Vergangenheit ein möglicher Weg, weil einige Menschen ihn tatsächlich gegangen sind (ich zum Beispiel). Die Absicht ist also deskriptiv anstatt ausdrücklich argumentativ. Das heißt, dieses Buch ist ein Versuch, das Bild einer Lebensform samt einer Reihe von Überzeugungen zu zeichnen, die nicht nur möglich ist, sondern wirklich existiert hat, wobei dies der Konstruktion von Argumenten zugunsten einer Position oder der Widerlegung von Einwänden gegenübergestellt werden soll. Einige Leser und Leserinnen mögen der Ansicht sein, dass sich der Text mehr wie eine historische oder ethnographische Arbeit liest und weniger wie eine philosophische Abhandlung, denn schließlich hat es die Philosophie, so könnten sie meinen, nicht mit Beschreibungen, sondern in Wirklichkeit mit Argumenten, mit der Beteiligung an einer Dialektik von These und Gegenthese, von Vorschlag und Einwand, Widerlegung und Gegenvorschlag zu tun. Diese Ansicht zur Philosophie teile ich allerdings nicht.

Anders gesagt, ich habe immer gedacht, zu zeigen, dass »es möglich (realistisch) ist, in dieser Weise zu denken«, sei ein bes30seres Mittel zur Beschreibung des Ziels der Philosophie als der normale – und normalerweise auch törichte – Versuch, zu zeigen, dass »es notwendig ist, in jener Weise zu denken«. Ich war immer etwas abgeschreckt von der Idee, dass die Philosophie im Wesentlichen als eine Angelegenheit verstanden werden sollte, bei der es darum geht, Argumente zu finden und zu widerlegen – eine Art über den Gegenstand nachzudenken, die man schon nach den Dissoi logoi im fünften Jahrhundert vor Christus hätte beerdigen sollen.8 Mein Unbehagen mit dem Argument-Widerlegung-Modell hängt zusammen mit zwei weiteren charakteristischen Eigenschaften der Art, wie Philosophie mittlerweile betrieben wird, die ich unglücklich finde. Die erste ist der an Gladiatorenkämpfe erinnernde Ablauf eines Großteils der philosophischen Diskussion. Nietzsche, der darin Burckhardt folgte, lenkte die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass die griechische Kultur agonzentriert war und dass dies besonders für die Philosophie als eine kulturelle Praxis galt – wobei man der Fairness halber sagen muss, dass Nietzsche bestens in der Lage war, die relevanten Texte selbst zu lesen und diesbezüglich nicht auf die Anleitung von irgendjemand anders angewiesen war. Hilft uns aber der formalisierte Konflikt immer, ein Verständnis zu erarbeiten und die Wahrheit aufzudecken? Die zweite Eigenschaft, die mir nicht gefällt, ist von Robert Nozick in dem Vorwort zu einem seiner Bücher beschrieben worden. Er sagt dort, er möchte ein so starkes Argument liefern, dass es das Hirn derjenigen durchbrennen lässt, die es hörten und verstünden, und sie zwingt, es anzunehmen.9 Abgesehen von den ersichtlich sadomasochistischen Elementen darin, sieht es für mich nicht so aus, als sei eine Herangehensweise, die Diskussionen auf diese Weise begrifflich fasst – als die Suche nach einem derartigen Argument oder einer derarti31gen Wiederlegung –, die geeignetste Form, irgendein Verständnis der Welt zu erlangen. Vielleicht ist das der Hauptgrund dafür, warum ich zur vorherrschenden philosophischen Kultur eine Distanz verspüre, denn ich bin nicht so sehr darauf aus, in argumentativen Auseinandersetzungen zu gewinnen oder Menschen davon zu überzeugen, dass sie sich meinem Willen beugen müssen, sondern vor allem daran interessiert, ein gewisses Verständnis von manchen grundlegenden Eigenschaften der Welt zu erwerben. Wenn das Verstehen ein begrifflicher Schlüssel ist, hat dies auch Konsequenzen dafür, wie man sich eine Diskussion vorstellen kann – von der Möglichkeit einer gemeinschaftlichen Bemühung ganz zu schweigen.

In Anbetracht der Tatsache, dass dies generell die von mir vertretene Position ist, spare ich mir die Entschuldigung für das Vorhandensein einer starken autobiographischen Komponente in diesem Buch, dessen Struktur sich tatsächlich aus einer Reihe von Ereignissen in meinem Leben ergibt. Jemandem, der glaubt, die Philosophie sollte eine rein argumentative Disziplin sein, aus der alle autobiographischen Anteile zu verbannen sind, möchte ich zunächst erwidern, dass dies unmöglich ist und es deshalb einen gewissen Vorteil darstellt, wenn man diesbezüglich ausdrücklich ist: Vorzugeben, dass der autobiographische Anteil nicht existiert, wird ihn nicht verschwinden lassen, sondern stattdessen Scheinheiligkeit und Selbsttäuschung unterschiedlichster Art kultivieren. Und was soll außerdem diese Obsession mit der Reinheit? Sidney Morgenbesser, mein wichtigster Philosophielehrer an der Universität, pflegte zu sagen, der Behaviorismus sei die These, dass ein Anthropomorphismus bei der Erforschung des menschlichen Verhaltens unangebracht sei. Meiner Meinung nach war dies einer von Sidneys besten Scherzen, weil sehr witzig und tiefgründig zugleich. Im 32selben Duktus, wenn auch ohne den Humor, könnte ich fragen, wo sonst die Autobiographie denn passend untergebracht wäre, wenn sie im Nachdenken über das souveräne menschliche Subjekt und dessen wechselvolles Leben überhaupt keinen Platz hätte.

Da nun das autobiographische Element in etwas eingebettet ist, das im Grunde genommen ein ethnologischer Bericht ist, sollte ich vielleicht einen wichtigen Punkt unterstreichen. Viele der Standpunkte, die ich beschreibe – beispielsweise dann, wenn ich von den Inhalten meines Religionsunterrichts an der Schule spreche –, geben