16,99 €
Ein Buch für alle Lebenslagen In einer zunehmend komplexen und sich rasant verändernden Welt sehnen sich viele Menschen nach Orientierung, Klarheit und Verständnis. Kurze und prägnante Formulierungen helfen dabei, schwierige Situationen einzuordnen und sich auf das wirklich Wichtige zu konzentrieren. Der richtige Satz zur richtigen Zeit kann ein Leben verändern. Benjamin Bargetzi sammelt solche Sätze, seit er 16 ist. Die besten 42 fasst er in diesem Buch zusammen, erklärt, wie sie neurowissenschaftlich funktionieren und warum sie so gut für uns sind. Um ganz nebenbei den letzten Stand der Wissenschaft zu vermitteln, stützen sich seine Ausführungen auf die modernsten und spannendsten Theorien der Neurowissenschaft, wodurch das Buch gleichzeitig zum wissenschaftlichen Sachbuch wird.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Nie wieder sinnlos
Benjamin Bargetzi gilt als einer der erfolgreichsten Keynote-Speaker und Visionäre Europas für die Schnittstelle von Mensch und Zukunft. Er erforschte und studierte das menschliche Gehirn, Psychologie und Philosophie an führenden Universitäten in Oxford, London, Singapur und Zürich. Sein Forschungsfokus liegt darauf, wie das menschliche Gehirn mit Veränderungen und Risiken umzugehen lernt, wie es sich dem Ungewissen stellt, wie Furcht überwunden werden kann und wie man sich als Mensch nachhaltig psychologisch transformiert. Benjamin Bargetzi entwickelte neben biologischen auch künstliche Intelligenzen, arbeitete bei Tech-Giganten wie Google und Amazon und beim World Economic Forum, bevor er sich wieder der Erforschung des Menschen und seines Geistes zuwandte.
Nie wieder sinnlos erforscht in 42 Aphorismen den menschlichen Geist, seine Freiheit und die Suche nach Sinn. Der international renommierte Visionär und Kognitionsforscher Benjamin Bargetzi verbindet Neurowissenschaften, Philosophie und Psychologie, um Fragen zu beantworten, die so alt sind wie die Menschheit selbst: Was verursacht unser Leiden? Wie können wir mentale Souveränität erlangen? Und was bedeutet es, ein sinnerfülltes Leben zu führen?Das Buch ist eine Einladung, das eigene Leben bewusst zu betrachten, die Muster des Denkens zu hinterfragen und neue Wege zu wagen. Jeder der 42 Aphorismen nimmt den Leser mit auf eine Entdeckungsreise: von den großen Weisheiten der Philosophie zu den neuesten Erkenntnissen der Neurowissenschaft. Hier verschmelzen Wissenschaft und Lebenserfahrung zu Impulsen, die berühren und verändern.Nie wieder sinnlos ist mehr als ein Buch – es ist ein Dialog mit uns selbst.
Benjamin B. Bargetzi
42 Impulse, die Dein Leben verändern, und wie sie neurowissenschaftlich funktionieren
Ullstein
Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de
Econ ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2025Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Lektorat: Jordan Wegberg, BerlinUmschlaggestaltung: Brian Barth, BerlinUmschlagabbildung: shutterstock/makarAutorenfoto: © Jonathan BargetziE-Book powered by pepyrus
ISBN 978-3-8437-3574-2
Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.
Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.
Hinweis zu UrheberrechtenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Das Buch
Titelseite
Impressum
Artefakt 0
Artefakt 0
Kapitel I Deus sive natura – zwischen Freiheit und Biologie
Artefakt 1
Artefakt 2
Artefakt 3
Artefakt 4
Artefakt 5
Artefakt 6
Artefakt 7
Artefakt 8
Artefakt 9
Artefakt 10
Artefakt 11
Artefakt 12
Kapitel II Nicht hängen bleiben
Artefakt 13
Artefakt 14
Artefakt 15
Artefakt 16
Artefakt 17
Artefakt 18
Artefakt 19
Artefakt 20
Artefakt 21
Artefakt 22
Artefakt 23
Artefakt 24
Artefakt 25
Artefakt 26
Artefakt 27
Kapitel III Von lächelnden Wölfen
Artefakt 28
Artefakt 29
Artefakt 30
Artefakt 31
Artefakt 32
Artefakt 33
Artefakt 34
Artefakt 35
Artefakt 36
Kapitel IV Ars vivendi – von Reue und Lebenskraft
Artefakt 37
Artefakt 38
Artefakt 39
Artefakt 40
Artefakt 41
Artefakt 42
Danksagung
Literaturempfehlungen und wissenschaftliche Belege
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Artefakt 0
Gewidmet all jenen, die suchend sind –und manchmal mehr fühlen, als ihnen lieb ist.
Das Grau zwischen Schwarz und Weiß
Dies ist kein Buch der Dogmen und auch keines der letzten Wahrheiten. Dies ist ein Buch der Gegensätze, der Vermutungen, Fragen und Hypothesen, ein Buch der Weite des menschlichen Fühlens. So ist es auch ein Buch der Anerkennung dessen, wie wunderbar unlogisch, inkonsequent und stochastisch der Mensch und sein Geist oftmals sind. Ein Buch der Neigungen, Triebe und des Willens, der Ansätze, eines der inneren Ruhe und des Strebens nach den Sternen zugleich. Dies ist ein Buch für jeden und keinen.
Liebe Leserinnen und Leser, es freut mich von Herzen, dass ihr dieses Buch heute in den Händen haltet, denn ich schreibe daran schon gut fünfzehn Jahre. Was in meiner Jugend als Notizensammlung philosophischer Gedanken und Beobachtungen der Welt begann, wurde schnell zu der brennenden Passion, die Weiten der Philosophie, der Neurowissenschaften und der Psychologie mit lebensnahen Themen zu vereinen. Mein persönlicher Lebensweg brachte mich von der Schweiz nach England und Asien, von der Erforschung des biologischen Gehirns und der Psychologie hin zu der von künstlicheren Intelligenzen, vom Schweizer Dorf auf die Speaker-Bühnen und in die Konzernleitungstreffen dieser Welt; vom immerzu strahlenden und neugierigen Kind zum Erwachsenen mit Licht und Dunkelheit gleichermaßen im Herzen.
Was euch als Essenz dieser kurzen Lebensreise im kommenden Buch erwartet, sind zweiundvierzig Einblicke in den menschlichen Geist, verpackt in kurze, prägnante Aphorismen: Statt in achtzig Tagen um die Welt reisen wir einmal in zweiundvierzig Sätzen um das Gehirn. Während ich meine letzten Jahre vermehrt den Maschinen, Algorithmen und futuristischen Zukunftsszenarien gewidmet habe, ist dieses Buch eine freudvolle Rückkehr zu meinen Wurzeln in der Erforschung des Menschen und der Natur seines Denkens, ja, seiner Denkkunst – so seht mir nach, liebe Lesende, wenn dieses Buch ab und zu poetischere Züge annimmt. Das Werk bedient sich entsprechend Metaphern, die weitaus religiöser und spiritueller klingen mögen, als ich es bin – dieses Glück war mir bislang nicht vergönnt.
Die Grundeinheiten und Atome dieses Buches sind sogenannte Artefakte, Kurzkapitel, die jeweils aus einem philosophischen Aphorismus und seiner neurowissenschaftlichen und psychologischen Analyse bestehen, um die gewonnenen Erkenntnisse zu relativieren. Die meisten dieser großen Sätze stammen von wichtigen Denkerinnen und Denkern, einige wenige sind meine eigenen. Das Buch soll so faszinierende Aspekte der neurowissenschaftlichen Literatur aus neuen Winkeln beleuchten, die hier mit der Philosophie vermählt werden.
Das Wort Artefakt kommt aus dem Lateinischen und bedeutet »ein von Menschenhand geschaffenes Ding«: Denn trotz aller großen Philosophie und gründlichen Wissenschaft in diesem Werk sind diese Artefakte immer noch Schöpfungen des Geistes, Symbole und Ausdrucksformen unserer allzu menschlichen Geschichten und Hypothesen, die versuchen, die Essenz des Lebens mit Bildern, Worten und Modellen einzufangen. Das Thema des Buches – der Sinn im Leben und die Freiheit – könnte jedoch subjektiver nicht sein: Ein Alltag, ein Haushalt, ein Schicksal und ein Leben, die dem einen als Paradies erscheinen, mögen dem anderen ein tragischer Käfig sein.
Dieses Buch ist so mehr als Land- und Seekarte denn als ein Regelwerk zu lesen, mehr Entdeckungsreise denn festes Gesetz und endgültige Erkenntnis; eine vereinfachte Darstellung der Welt, die – wie es Kartografien nun mal an sich haben – niemals dem tatsächlichen Gelände entspricht. Eine Karte ist ein Modell, eine Konzeption, eine Abstraktion der Wirklichkeit, die sie nie vollständig wird abbilden können – eine Hypothese, welche die Seewege und Küsten, Wanderwege und Geländeformationen dieser Welt pragmatisch darstellt. In ebendiesem Sinne versucht das vorliegende Buch, euch praktische Ratschläge für das Leben mitzugeben, ohne aber zu behaupten, dass sie die Welt wahrlich abbilden.
Das vorliegende Werk kann so als abenteuerlustige Seefahrt durch die Inseln der Philosophie gelesen werden, manche dunkel, manche hell, die meisten schimmernd in den Grautönen dazwischen. Ihr werdet Widersprüche erleben, Gegensätze, Fragezeichen: Denn was sonst ist das Leben? »Nie wieder sinnlos« lautet das Wertversprechen dieses Buches, doch behandelt es zum größten Teil Konzepte der Freiheit und der mentalen Souveränität. Die Neurowissenschaft lehrt uns vieles darüber, wieso der Geist ständig so belastet, so trüb, so lebensunfroh ist und wie er frei werden kann, doch seinen Sinn, seinen Inhalt, seinen Nordstern müsst ihr ihm schon selbst schaffen – innerhalb des Vakuums dieser Freiheit.
Die ersten Artefakte des Buches dienen hierbei als wissenschaftliche Grundlagen für die späteren, die sich zunehmend den philosophischen Analysen widmen. So bieten die ersten Artefakte eine wissenschaftliche Werkzeugkiste und Grundlage, ein Fundament für die späteren Analysen, welche vermehrt die zentrale Frage nach Sinn und Freiheit behandeln. Dem Buch ist eine systematische Übersicht angehängt, in der die verwendete wissenschaftliche Literatur und weitere Leseempfehlungen aufgeführt sind.
Das vorliegende Werk lädt euch Lesende dazu ein, über die tiefere Bedeutung alltäglicher Weisheiten nachzudenken und im Verlaufe dieser Artefakte und Inseln auch eure eigene Lebensgeschichte, eure eigenen Werte und Erfahrungen in unsere gemeinsame Schifffahrt gen Sinn und Freiheit einzubringen.
Denn für uns mögen diese Aphorismen oftmals nur Wörter und Druckerfarbe sein, während sie für ihre Autorinnen und Autoren die Weisheit einer Lebenszeit und unzählige Stunden des Fühlens, Reflektierens und der persönlichen Geschichte bedeuten. Die richtige Musik im Hintergrund, die richtige emotionale Stimmungslage, die richtigen Gedanken, ja vielleicht sogar der richtige Humor und die richtigen Tränen sind nötig, um diese Sätze so zu lesen, wie sie ursprünglich geschrieben und gedacht wurden.
Aber so lesen muss man sie ja auch nicht. Denn ihr seid frei, liebe Leser. Frei zu lesen, frei zu leiden, frei zu lachen, frei zu lernen. Ihr seid frei, das Buch so zu nehmen, wie es derzeit gerade zu eurem Leben, euren Ankerpunkten, euren persönlichen Erfahrungen, Eigenschaften und Anlagen passt. Und so wünsche ich viel Spaß auf dieser individuellen Reise.
Benjamin B. Bargetzi, Januar 2025
»Nicht die Dinge selbst beunruhigen uns Menschen, sondern die Ansichten, die wir von ihnen haben« – Epiktet
Um uns in den kommenden zweiundvierzig Artefakten langsam dem Geheimnis der Freiheit anzunähern, müssen wir erst klären, was der Kern der Freiheit überhaupt ist. Die Freiheit ist ein komplexes und vielschichtiges Konzept, das sich in verschiedenen Disziplinen und Denkströmungen unterschiedlich entfaltet: So gibt es den philosophischen Freiheitsbegriff, der sich insbesondere mit Fragen nach dem freien Willen, der moralischen Selbstbestimmung und der ontologischen Existenz des Menschen beschäftigt; es gibt den politischen Freiheitsbegriff, der oft als die Freiheit vor Unterdrückung oder zur Bewahrung von Grundrechten verstanden wird; und es gibt die psychologische Freiheit, die sich mit der Freiheit im eigenen Kopf beschäftigt. Die Freiheit scheint also ein Zustand zu sein, der durch eine Reihe von gesetzlichen, materiellen, psychologischen, gesellschaftlichen und biologischen Faktoren eingeschränkt werden kann – etwas, das im ständigen Kampf zwischen seiner vollständigen Entfaltung und den Rückstößen der Welt steht. Doch kann man die Freiheit an sich wirklich einschränken?
Der griechische Philosoph Epiktet gehört zu den wichtigsten Vertretern der stoischen Schule. Er wurde circa 50 n. Chr. in die Sklaverei geboren und bekam vermutlich nie einen richtigen Namen – Epiktet bedeutet auf Altgriechisch so viel wie »erworbenes Besitztum«. Epiktet wurde von seinem Besitzer schwer misshandelt, sogar so sehr, dass dieser ihm eines Tages das Bein brach, wodurch Epiktet bis zu seinem Tod humpelte. Wie er freikam, ist nicht dokumentiert, doch 95 n. Chr. wurde sein Besitzer Epaphroditos – selbst ein ehemaliger Sklave, der die Gunst des Tyrannen Nero gewann und so zu einem mächtigen Politiker unter ihm wurde – hingerichtet, wodurch Epiktet seine politische Freiheit wiedererlangt haben könnte.
Doch diese Freiheit ließ Epiktet den Erzählungen nach herzlich unbekümmert. Schon Jahre zuvor hatte er begonnen, sich intensiv mit der stoischen Philosophie zu beschäftigen und sie in seinem Sklavenalltag zu praktizieren, seinen Fokus auf einen ganz anderen Freiheitsbegriff als den politischen gerichtet. Die Kernbotschaft der Stoa liegt darin, dass nicht äußere Ereignisse uns beunruhigen oder unfrei machen, sondern die Art und Weise, wie wir sie wahrnehmen und bewerten. Epiktet ging so weit, dass er die ständigen Schläge seines Peinigers als ebenso nebensächlich wie das Wetter wahrzunehmen begann und sich dankbar an kleinen Dingen erfreute, seien es der Sonnenaufgang am Morgen oder ein Vogelgezwitscher. Nach seiner Freilassung widmete er den Rest seines Lebens der Philosophie und der Lehre von Freiheit, innerem Frieden und Glück. Selbst in der Sklaverei liegt es – so Epiktet – an uns selbst, uns geistig frei zu machen und dankbar für das Kleine zu sein, egal, was um uns herum geschieht. Eine ebenso radikale wie bewundernswerte Philosophie.
Gemäß Epiktet stammt all unser Leiden daher, dass wir die Ereignisse um uns herum zu kompliziert bewerten: Ist es denn wirklich so schlimm, seinen Job zu verlieren, wenn man eine liebende Familie und Freunde hat, die einen auf der Suche nach dem neuen Weg unterstützen? Ist es denn wirklich so schwerwiegend, mal einen schlechten Tag zu haben, wenn man am Morgen gesund aufwachen darf? Ist es so tragisch, den Bus zu verpassen oder im Stau zu stehen? Denken wir das nächste Mal an Epiktet, wenn wir uns wieder wegen Kleinigkeiten aufregen. Der Weg zu einem guten Leben liegt der Stoa zufolge darin, unterscheiden zu können zwischen den Dingen, die wir durch Anstrengung und Fleiß kontrollieren können, und den Dingen, die wir akzeptieren und als Tatsachen in unser Leben zu integrieren lernen müssen, egal wie unangenehm oder schlimm sie sind.
Nehmen wir an, wir erfahren von einer schweren Krankheit bei uns selbst oder einem nahen Familienmitglied. Unsere ersten Reaktionen sind vermutlich Panik, Angst und das Gefühl, dass alles außer Kontrolle gerät. Doch folgt man Epiktets Lehre, erkennt man, dass nicht die Krankheit selbst diese Verzweiflung verursacht, sondern unsere Ansicht über ihre Schwere und Bedeutung. Eine solche Situation ist grausam und schlimm – doch wo hilft unser Fokus nun am meisten? Wir können diese schwierige Zeit nutzen, um tiefgehende Gespräche mit den Liebsten zu führen, unsere Prioritäten zu überdenken und kostbare Momente bewusster zu erleben. Die Situation bleibt unverändert schwer, doch unsere innere Einstellung und der Fokus unserer Taten geben uns den inneren Frieden und die Stärke, damit umzugehen. Aus eigener Erfahrung kann ich bestätigen, dass einem in solchen Momenten oftmals nichts anderes bleibt, als die Freiheit eben gerade im Geiste und im Fokus auf das Wohlergehen der anderen zu suchen. Dies ist keine apathische Passivität, sondern die proaktive Entscheidung, sich vollständig auf das zu konzentrieren, was in unserer Macht liegt, und uns nicht außerhalb dieses Kreises zu verlieren.
Eine der effektivsten Formen der modernen Psychotherapie ist die kognitive Verhaltenstherapie, die sich darauf spezialisiert, die Dinge, die uns leiden lassen, durch aktives Handeln und kognitive Umbewertung zu überwinden, indem sie der Frage folgt: »Ist alles wirklich so wichtig und schlimm, wie ich mir es vorstelle?« Die Therapie baut auf einer ähnlichen Prämisse auf wie Epiktets Lehre: Es sind nicht die Lebensereignisse wie Scheidungen, Jobverlust oder Stress bei der Arbeit an sich, die uns belasten, sondern unsere negativen Gedanken und harschen Bewertungen des eigenen Lebens, statt uns auf diejenigen Aspekte unseres Lebens zu fokussieren, die wir de facto vorantreiben und für die wir aufrichtig dankbar sein können. Biologisch gesehen versetzt das ständige Wälzen von Zukunftssorgen den Körper in einen dauerhaften Angst- und Stresszustand, der zu einer verstärkten Ausschüttung von Cortisol führt, dem Stresshormon unseres Körpers, das freigesetzt wird, um auf belastende Situationen mit anhaltender Kraft und Fokus zu reagieren. Es ergänzt die unmittelbaren und schnellen Alarmreaktionen des Adrenalins durch langfristige, beständige Energieversorgung.
Kurzfristiges Cortisol ist etwas Hilfreiches für den Körper; ein chronisch erhöhter Cortisolspiegel jedoch steht im Zusammenhang mit vielen negativen gesundheitlichen Folgen wie einem geschwächten Immunsystem, Gewichtszunahme und erhöhtem Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Mit anderen Worten: Stress in kleinen Dosen hilft uns, Probleme proaktiv und mit Fokus und Energie anzugehen – anhaltender, chronischer Stress zerstört uns biologisch von innen und zehrt wortwörtlich an unserer Lebenszeit. Tragischerweise wird so aus den ständigen Sorgen um die Zukunft eine sich selbst erfüllende Prophezeiung: Die Betroffenen werden krank, schlafen zu wenig, leben unglücklich und sterben früh. Die eigene psychologische Einstellung zum Leben wird zu einer biologischen Vorhersage unserer Zukunft.
Kognitiv-behaviorale Therapien helfen Menschen, ihren Ängsten und Sorgen proaktiv entgegenzutreten und ihre gefestigten Denkmuster zu hinterfragen, um ein Gefühl von Kontrolle und Freiheit zurückzugewinnen. Diese Therapieform hat in der Behandlung von Depressionen, posttraumatischen Belastungsstörungen und Angst-, Zwangs- und Essstörungen große Erfolge erzielt. Epiktets Lehren haben also in der modernen Psychologie durchaus eine wissenschaftliche Grundlage.
Ebenso zeigt die psychologische Resilienzforschung, dass Menschen, die besser mit widrigen Lebensumständen umgehen können als andere, oft instinktiv genau das tun, was die Stoa rät: Sie akzeptieren die Dinge, die sie nicht ändern können, legen sie mental beiseite und konzentrieren sich vollständig auf das, was in ihrer Kontrolle liegt. Die Forschung zeigt auch, dass solche Resilienz trainiert werden kann, indem man sich in Flexibilität, Gelassenheit und Optimismus übt und ein enges, vertrautes soziales Umfeld pflegt.
Ein weiteres Konzept, das die Stoa wissenschaftlich stützt, ist die erlernte Hilflosigkeit: Der mentale Zustand eines Menschen, der sich wiederholt negativen und unkontrollierbaren Situationen ausgesetzt sieht und so irgendwann zu der internalisierten Überzeugung gelangt, nichts an seinem Schicksal ändern zu können. Solche Menschen geben nach und nach die Hoffnung auf und versuchen gar nicht mehr, etwas an ihrem Leben zu ändern. Und wir alle kennen solche Menschen: Vielleicht uns sehr nahe Freunde oder auch die eigenen Kinder oder Großeltern, welche sich mehr und mehr abschotten, harscher zu sich und der Welt werden, den Glauben an sich selbst verlieren und daran, dass die Welt jemals besser werden wird, und in dieser Dunkelheit, in diesem schleichenden Selbsthass und in dieser Ohnmacht mehr und mehr psychologisch ertrinken.
Eine solche Überzeugung führt zu Passivität, innerer Leere und Resignation, selbst wenn sich Möglichkeiten zur Veränderung bieten und jemand eine rettende Hand ausstreckt: Die Betroffenen haben gelernt, dass ihre Handlungen sowieso nichts bewirken, und versuchen erst gar nicht mehr, ihrem vermeintlichen Schicksal zu entkommen. Dasselbe Phänomen lässt sich traurigerweise systematisch bei Menschen und Tieren beobachten, die sich repetitiver Gewalt, dem grausamen Terror von Schlachthäusern, militärischer Folter oder Mobbing ausgesetzt sehen oder in einer sehr toxischen, emotional zehrenden Beziehung leben. Sie alle lernen zu glauben, keine Kontrolle über das eigene Schicksal zu haben, und finden sich mit der Realität ab, wodurch sich auch die eigenen körperlichen Ressourcen herunterfahren, statt sich auf einen Kraftakt und Ausbruch vorzubereiten. Auch auf einer politischen, kollektiven Ebene lässt sich erlernte Hilflosigkeit beobachten: Menschen in autoritären Regimen verlieren den Glauben, dass sich jemals etwas ändern wird, und beginnen die Umstände einfach hinzunehmen, weil Kämpfen sich ja sowieso nicht lohnt. Das erlaubt es wiederum den Machthabern, ihre Dominanz weiter zu festigen. Irgendwann wird man innerlich leer, verbittert und gibt die Hoffnung auf, dass sich etwas ändern wird, ja widersetzt sich sogar noch denen, die Wandel hervorbringen wollen. Wie heißt es so schön bei Hamlet: Lieber den Teufel, den man kennt, als einen, den man nicht kennt.
Man findet in dieser Leere und der wiederkehrenden Pein gar noch ein vertrautes, paradoxerweise fast schon gemütliches Kissen, auf das man sich betten will und das zur Gewohnheit wird. Dieser Glaube wird zum festen Ankerpunkt des Geistes, an dem wir uns orientieren und von dem aus wir die Welt verstehen: Man wird zum Sklaven seines eigenen Geistes und seines Umfelds. Und doch liegen die Kraft und Verantwortung für unser Morgen gemäß der Stoa nur in einer einzigen Hand: der unseren.
Doch halt – hat denn Epiktet nicht auch geraten, dass wir uns mit dem Leben abfinden sollen, so wie es eben ist? Immerhin sprach er in seiner berühmten Lehre: »Manche Dinge liegen in unserer Macht, andere nicht. In unserer Macht liegt: unser Begehren, Ablehnen, unsere Meinungen und Bestrebungen, kurz: alles, was wir ganz und gar selbst tun und selbst sind. Dagegen liegen nicht in unserer Macht: der Leib, Besitz, Ruf, Ämter und, allgemein, alles, was nicht von uns selbst stammt.« Der große Unterschied zwischen Epiktet und der erlernten Hilflosigkeit liegt darin, dass die Stoa für Selbstkontrolle und Gelassenheit steht, die Hilflosigkeit dagegen für betrübte Resignation.
Würde man zwei Personen – die eine resigniert, die andere stoisch nach Epiktet – in einen sogenannten fMRI-Hirnscanner legen, um ihre Hirnaktivitäten zu messen, so fände man bei jener mit erlernter Hilflosigkeit eine Fehlanpassung des Gehirns an die Umwelt vor: Durch die ständig wiederkehrenden Stressoren in der Außenwelt (Leistungsdruck, aggressive Atmosphäre daheim, wiederkehrende belastende Themen) wird der Körper in einen Zustand chronischer Erregung und Alarmbereitschaft versetzt. Aufgrund dieser neurobiologischen Überfunktion fühlen sich Menschen mit erlernter Hilflosigkeit erschöpft und hilflos, da die kontinuierliche Cortisolausschüttung zu einer Erschöpfung der physischen und psychischen Ressourcen führt und depressive Symptome verstärkt. Das Gehirn agiert in konstantem Panikmodus, dem es nicht entfliehen kann, bis irgendwann alle Energie aufgezehrt ist – aus Überreaktion wird Ermüdung. Die Betroffenen werden passiv, apathisch und oftmals aggressiv und reizbar, können ihren Alltag kaum bewältigen und vernachlässigen Ernährung, Bewegung, Schlaf und notwendige medizinische Behandlungen.
Das Gehirn eines Stoikers hingegen zeichnet sich durch eine verstärkte Aktivierung des präfrontalen Kortex aus, der für kognitive Kontrolle, Entscheidungsfindung und emotionale Regulation zuständig ist. Die Forschung zeigt, dass Meditation und stoische Praktiken die Aktivität im präfrontalen Kortex fördern, zu besseren Entscheidungsfindungen führen und gleichzeitig die Aktivität im limbischen System reduzieren, insbesondere in der Amygdala, die für emotionale Reaktionen wie Sorgen, Angst und Furcht verantwortlich ist.
Folglich wird – in derselben Situation gefangen – ein Mensch mit erlernter Hilflosigkeit ermüden, da sein Gehirn ständig nur kreist und zerrt, während der Stoiker seine Kräfte spart, das Leid auf eine neue Weise interpretiert (beispielsweise: »Ich lerne dank dieser schweren Zeit neue Wahrheiten über meinen Charakter und meine Emotionen und was für mich in meinem Leben stimmig ist und was nicht – und das ist ein Gewinn«) und bereit ist, eine Chance zu ergreifen, sobald sie sich bietet. Durch das bloße Streben nach einem besseren Leben bringt der Körper ungeahnte Kräfte auf und setzt Botenstoffe wie Dopamin und Serotonin frei, die uns die Energie und Zuversicht geben, das erwünschte Leben zu erlangen: Wie wir uns wahr-nehmen, definiert, was für uns wahr wird.
Diese kognitive Umwertung aus Psychotherapie und Stoa ist eine wissenschaftlich bewährte Methode, um Menschen zu befähigen, auch mit den schlimmsten Schicksalsschlägen umzugehen, indem sie sich auf das fokussieren, was sie kontrollieren können, und den Rest ausblenden. Die erlernte Hilflosigkeit hingegen führt dazu, dass Menschen sich in die Wichtigkeit und Schwere des Elends hineinsteigern und es als gottgegeben betrachten. Der entscheidende Unterschied liegt im Glauben, dass sie machtlos oder aber der Situation mächtig sind: Es sind der Glaube an sich selbst, an die eigene Macht und Machbarkeit, das Vertrauen in den Fluss des Lebens und der Optimismus, die den Unterschied zwischen stoischer Ruhe und resignierter Hilflosigkeit ausmachen. Welchen dieser Wege wirst du am Scheideweg wählen, mein Leser?
Es sind nicht die Dinge selbst, die uns gefangen halten, sondern unsere Ansichten über sie. Wie wir unsere eigene Position in der Welt und unser Umfeld wahrnehmen, dient neurologisch gesehen als sich selbst erfüllende Prophezeiung dessen, wie wir unser Leben verbringen werden.
»Die Frage ist falsch gestellt, wenn wir nach dem Sinn des Lebens fragen: Das Leben ist es, das uns Fragen stellt« – Viktor Frankl
Knapp zwei Jahrtausende nach Epiktet lebte der österreichische Psychiater und Neurologe Viktor Frankl, der sich bereits als junger Medizinstudent leidenschaftlich für Themen wie Suizidprävention und die Unterstützung von Menschen mit Depressionen interessierte. Er war fasziniert und zugleich erschüttert von der existenziellen Frage, warum manche Menschen sich das eigene Leben nehmen. Dann, im Jahr 1942, wurde seine Familie auseinandergerissen und in die Konzentrationslager der Nationalsozialisten deportiert. Frankl kam gemeinsam mit seinem Vater nach Theresienstadt, wo dieser noch im selben Jahr in seinen Armen verstarb.
Frankl schrieb später, dass es die Liebe zu seiner Frau war, die ihn durch die drei Jahre im Konzentrationslager getragen hatte – die Hoffnung, dass sie irgendwo da draußen auf ihn wartete und dass sie gemeinsam überleben würden. Auch schrieb er in seinem großen Werk … trotzdem Ja zum Leben sagen, wie er einen fundamentalen Unterschied erkannte zwischen denjenigen Deportierten, die zusammenbrachen und starben, und denen, die trotz Unterernährung, Krankheiten und der Hölle um sie herum weiterkämpften: Alle, die weiterkämpften, hatten einen Grund dafür – sei es der Glaube an die Wiedervereinigung mit der Familie, an ein besseres Morgen oder an einen höheren spirituellen oder religiösen Sinn. Die Überzeugung, dass es sich zu überleben lohnte, entschied letztlich darüber, ob jemand körperlich überlebte oder nicht – natürlich unter der Voraussetzung, dass sie nicht erst unter grausamen Umständen umgebracht wurden, unabhängig von ihrem Lebenswillen, der noch so stark sein konnte.
Als der Krieg endete und Frankl das Lager verließ, erfuhr er, dass seine Mutter, sein Bruder und seine Frau allesamt ermordet oder ihrer Erschöpfung erlegen waren. Er war allein, es wartete niemand auf ihn. Frankl beschrieb, wie dieser Moment der Erkenntnis und der immensen seelischen Qual seine Überzeugung verstärkte, dass der Mensch selbst im größten Leid noch einen Sinn finden muss, um weiterleben zu können. So setzte er sich als neues Lebensziel, Bücher zu schreiben, Therapien durchzuführen und Vorträge zu halten, um Menschen mit Suizidabsichten aus ihren Abgründen zu helfen. Diese Mission gab ihm die Kraft, weiterzugehen trotz des Verlusts von allem, was er je geliebt hatte.
Sein liebster Aphorismus und die zentrale Inspiration zu seinem Lebenswerk stammt von dem deutschen Philosophen und Philologen Friedrich Nietzsche: »Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie.« Dieser Gedanke begleitete Frankl während seiner eigenen extremen Erfahrungen im Konzentrationslager, wo er immer wieder vor der Wahl stand, aufzugeben oder weiterzumachen, ohne zu wissen, ob sein Leid womöglich noch Jahrzehnte fortdauern würde. Seine Lebenslehre betont so ganz im Sinne von Epiktet, dass der Mensch trotz der schlimmsten äußeren Zwänge und Umstände immer die Freiheit besitzt, seine innere Haltung selbst zu wählen: Diese Freiheit bringt aber auch Verantwortung für das eigene Leben mit sich, ohne jegliche Akzeptanz für Ausreden. Das Leben ist es, das uns die Fragen stellt, nicht wir ihm.
Als Psychiater stellte Frankl häufig fest, dass Menschen, denen es äußerlich betrachtet an nichts mangelte – die materiell abgesichert waren, scheinbar alle Freuden des Lebens genießen konnten und sich regelmäßig hedonistischen Vergnügungen wie Alkohol, Partys, kurzen Bettgeschichten und anderen flüchtigen Freuden hingaben –, dennoch oft unter einer tiefen inneren Leere litten, die er als existenzielles Vakuum bezeichnete: Es entsteht, wenn Menschen keinen höheren Sinn im Leben finden und nur dem Genuss hinterherlaufen. Trotz des oberflächlichen Glücks dieser Menschen, die vermeintlich alles haben, zeigte sich, dass die wiederholte Suche nach kurzfristigem Vergnügen ohne Sinn und Ziel langfristig zu einem Zustand psychischer Erschöpfung und Unzufriedenheit führt.
Bereits Aristoteles beschrieb im vierten Jahrhundert v. Chr. in seiner Nikomachischen Ethik, dass es drei grundlegende Wege gibt, wie Menschen Erfüllung in ihrem Leben zu finden versuchen: das lustvolle hedonistische Leben, das sich auf körperliche Freuden, gutes Essen, Feiern und kurzfristige Vergnügen des Körpers konzentriert; das öffentliche Leben, das sich auf Tüchtigkeit, Tugend, Anstrengung und aktives Engagement in der Gesellschaft fokussiert; und das intellektuelle Leben der geistigen Freiheit, der Kunst, Philosophie, Wissenschaft und des Denkens. Die letzteren zwei Formen nannte er Eudaimonia, das blühende Leben, das durch Tugendhaftigkeit und die Verwirklichung des eigenen Potenzials gekennzeichnet ist, was nach Aristoteles dem Menschen eine tiefere und anhaltendere Erfüllung bringt als bloße hedonistische Freuden – eine Schlussfolgerung, die auch Frankl und die modernen Neurowissenschaften teilen.
Wir denken zurück an die erlernte Hilflosigkeit und die Stoa aus Artefakt 1 – Frankl wählte selbst im Konzentrationslager noch den Weg des kognitiven Umwertens statt der Erstarrung in Ohnmacht und Hilflosigkeit. Er wählte den Weg eines neuen Sinns im Leben, als er den alten gemeinsam mit seiner Familie verlor, um seine mentale Freiheit und Resilienz zu bewahren. Seine psychiatrischen Untersuchungen und seine eigene Lebenshistorie veranlassten Frankl so, den Willen zum Sinn als zentralste Antriebskraft des Menschen zu postulieren und zu schlussfolgern, dass es keinen wichtigeren Hebel gibt, um die mentale und körperliche Gesundheit eines Menschen aufrechtzuerhalten, als einen Sinn im Leben zu haben. Doch um diesen eigenen, tiefsten Sinn und Zweck überhaupt klar und ungetrübt erkennen und wählen zu können, muss man seinen Geist erst frei machen von all den Umständen, Sorgen und dem Ballast, die ihn ablenken und verwirren – nur indem wir bewusst entscheiden, wie wir auf die Herausforderungen des Lebens reagieren wollen, erlangen wir die tiefste Form von Freiheit. Wie Frankl treffend schrieb: »Wenn du eine Situation wahrlich nicht mehr ändern kannst, bist du gefordert, dich selbst zu ändern.«
Ohne einen Willen zum Sinn, diesen tiefsten unserer Antriebe, wie ihn Frankl nannte, der uns drängt, im Leben einen eudaimonischen Zweck noch finden zu müssen; ohne ihn zerbrechen wir neurologisch, emotional und körperlich. Die Freiheit gibt uns die Wahl, aus mehreren Zielen die wahrlich unseren auszusuchen, doch erst der Wille zum Sinn gibt uns diese großen Ziele vor.
Manchmal ist es so nicht das Leben selbst, das wir ändern müssen, sondern die Art, wie wir ihm begegnen – und darin liegt unsere größte Stärke.
»Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind, sondern wie wir sind« – Anaïs Nin
Wir haben uns auf unserer bisherigen Reise entlang der Inseln der Philosophie einer sehr radikalen Einstellung gewidmet: dem Gedanken, dass wir Menschen immerzu die Freiheit besitzen, unsere innere Haltung zu wählen, egal, was um uns herum geschieht, und dass wir allein dafür verantwortlich sind, unserem Leben einen Sinn zu geben – komme, was wolle. Das ist eine sehr große Last, die wir hier tragen – ist es denn wirklich so einfach?
Unser Denken und seine Wahrnehmung sind keine präzise Wissenschaft; sie sind ein künstlerischer Prozess, bei dem unser Gehirn beständig versucht, die chaotischen Eindrücke der äußeren Welt in ein kohärentes Bild zu verwandeln und es mit unseren bestehenden Werten, Vorurteilen, Überzeugungen und Erfahrungen zu vereinen. So wie eine Landkarte nie die wahre Welt abbildet, spiegeln auch unsere Gedanken, Werte und Vorstellungen nicht die Welt an sich wider, sondern das, was wir in ihr sehen und sehen wollen: Dies ist unser tiefes Bedürfnis nach Kohärenz und für uns stimmigen Geschichten, die wir über uns selbst und die Welt erzählen wollen. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass unser Gehirn unaufhörlich unsere Modelle der Realität aktualisiert, indem es einen beständigen Kreislauf von Abgleichungen zwischen unserem bestehenden Wissen, Fühlen und Wollen mit den Sinneseindrücken der Außenwelt und den Bewegungen in unserer Innenwelt aufrechterhält. Diese inneren Modelle basieren auf sogenannten Ankerpunkten, die durch unsere Erfahrungen und Erwartungen geformt werden. Wir interpretieren die Welt stets durch das Prisma unserer individuellen Geschichte und der emotionalen Reaktionen, die sie in uns hinterlässt.
Stellen wir uns vor, zwei Freunde stehen am Ufer eines kalten Sees. Der erste springt hinein: Ihm ist zunächst sehr kalt, doch sein Körper passt sich schnell an und nimmt das Wasser schon bald als warm und angenehm wahr. Nun springt der zweite hinein und wird das Wasser ebenfalls erst als kalt wahrnehmen, auch wenn der erste das nicht mehr tut – in diesem Moment haben zwei Menschen unterschiedliche Wahrnehmungen derselben Realität, weil sie zu diesem Zeitpunkt eben gerade verschiedene Ankerpunkte – in der Literatur auch Priors genannt – haben.
Wenn wir ins kalte Wasser springen, tritt eine starke physiologische Reaktion ein: Der Körper erlebt einen Kälteschock, das sympathische Nervensystem wird aktiviert, und der Organismus versucht, sich durch Verengung der Blutgefäße zu schützen, um Wärme im Körperkern zu bewahren. Psychologisch spielt sich dabei ein ebenso wichtiger Prozess ab: Das Gehirn nimmt die Kälte als potenziell gefährlich wahr und versetzt den Körper in einen Alarmzustand. Doch nach einer gewissen Zeit reinterpretiert das Gehirn die Kälte, da es merkt, dass keine tatsächliche Bedrohung vorliegt, und aktiviert mithilfe seiner Fähigkeit zur Thermoregulation ein Gefühl von Wärme, sodass sich unser Fokus von der vermeintlichen Gefahr des Wassers wieder auf andere Prioritäten und gar Spaß verlagern kann.
Das kalte Wasser ist ein Beispiel, wie schnell unsere mentalen Ankerpunkte der Wahrnehmung – sprich dessen, was wir als wahr annehmen – verschoben werden können. Stellen wir uns nun zwei weitere Menschen vor, die beide einen schweren Misserfolg erleben. Der eine hat in der Vergangenheit bereits viele Rückschläge erlebt, ist jedoch durch sie gewachsen und hat gelernt, sie als Chancen für Verbesserung zu betrachten. Von ihm wird dieser Misserfolg möglicherweise als vorübergehende Hürde wahrgenommen, die es zu überwinden gilt. Der andere hingegen hat kaum Erfahrungen mit Misserfolgen und betrachtet den Vorfall als persönlichen Angriff oder Beweis seiner Unzulänglichkeit. Diese unterschiedliche Wahrnehmung desselben Ereignisses zeigt, wie tiefgehend unsere inneren Modelle und emotionalen Reaktionen durch vergangene Erlebnisse und Prägungen bestimmt werden. Dies ist ein Beispiel dafür, wie unsere Ankerpunkte auch sehr langsam und über unsere Lebensspanne verteilt geformt werden können.
Unser Denken und Unterbewusstsein besteht aus Tausenden solcher biologischen, erfahrungsbasierten, aber auch kulturellen, sozialen und wertebasierten Priors, die allesamt beeinflussen, wie wir die Welt wahrnehmen. Genau deshalb unterscheidet unsere Wahrnehmung sich von der anderer. Dabei passen sich kulturelle und wertebasierte Ankerpunkte fast immer langsamer und schwerer an wahrgenommene Diskrepanzen an als physikalische und biologische Priors. Ein spannender Befund: Diejenigen Menschen, die sich im kalten Wasser wiederholt einreden, dass es zu kalt für sie ist, und laut darüber schimpfen, werden physiologisch gesehen weniger schnell warm als diejenigen, die sich auf das Wasser einlassen und sich daran erfreuen. Wir wiederholen: Diejenigen, die sich am kalten Wasser erfreuen, leiden weniger als die, die sich darüber beschweren.
Nehmen wir an, jemand glaubt fest daran, dass die Welt ein zutiefst gefährlicher und bösartiger Ort ist und alle anderen Menschen schlecht, hinterhältig und falsch sind. Diese Überzeugung beeinflusst unbewusst, wie diese Person alltägliche Situationen interpretiert – sie sieht potenzielle Bedrohungen, wo andere vielleicht keine sehen. Wenn nun etwas passiert, das dieser Überzeugung widerspricht, zum Beispiel dass ein freundlicher Fremder ohne ersichtlichen eigennützigen Grund Hilfe anbietet, fällt die Anpassung dieser mentalen Ankerpunkte schwer. Das gebrannte Kind könnte diese Freundlichkeit eher misstrauisch betrachten oder aktiv nach einem verborgenen Motiv dahinter suchen, statt seine Meinung über die Welt zu überdenken und zu relativieren.