Niedergang - Michel Onfray - E-Book

Niedergang E-Book

Michel Onfray

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Beschreibung

In einem wortgewaltigen Werk erzählt der französische Philosoph Michel Onfray die Geschichte der jüdisch-christlichen Kultur und prophezeit ihren Untergang. Onfray schildert Aufstieg und Blüte, dann die Infragestellung des christlichen Weltbildes seit der Aufklärung und schließlich den Verfall in unseren Tagen, der einhergehe mit Nihilismus und Fanatismus, wie wir sie in unseren Gesellschaften erlebten. Den Angriffen mörderischer Ideologien wie der des radikalen Islamismus setze die liberale westliche Welt nichts entgegen. Und obgleich bekennender Atheist, erkennt Onfray die große Leistung der bedrohten jüdisch-christlichen Kultur: den Respekt für das menschliche Individuum.

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Zum Buch

In einem großen, wortgewaltigen Werk erzählt der französische Philosoph Michel Onfray die 2000 Jahre alte Geschichte der jüdisch-christlichen Kultur, und er prophezeit ihren unaufhaltsamen Untergang. Onfray schildert ihren Aufstieg und ihre Blüte, dann die allmähliche Infragestellung des christlichen Weltbildes seit Renaissance und Aufklärung und schließlich den Verfall in unseren Tagen, der einhergehe mit Nihilismus und Fanatismus, wie wir sie in unseren Gesellschaften erlebten. Den Angriffen mörderischer Ideologien wie der des radikalen Islamismus setze die liberale westliche Welt nichts entgegen. Und obgleich bekennender Atheist, erkennt Onfray die große Leistung der bedrohten jüdisch-christlichen Kultur: den Respekt für das menschliche Individuum.

Zum Autor

Der Philosoph Michel Onfray, geboren 1959 in Argentan/Frankreich, gründete 2002 in Caen die »Université Populaire«, eine Art Volksuniversität, zu der jedermann Zutritt hat. Jährlich besuchen Tausende Zuhörer seine Vorlesungen. Mit seiner Absage an alle Religionen und dem Plädoyer für ein freies, vernunftbestimmtes Leben entfachte er eine leidenschaftlich und kontrovers geführte Debatte. Er verfasste mehr als 50 Bücher, die in über 25 Sprachen übersetzt wurden. Zuletzt erschienen von ihm bei Knaus Im Namen der Freiheit – Leben und Philosophie des Albert Camus und Anti Freud.

Michel Onfray

NIEDERGANG

Aufstieg und Fall der abendländischen Kultur – von Jesus bis Bin Laden

Aus dem Französischen von Stephanie Singh und Enrico Heinemann

Knaus

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Décadence. Vie et mort du judéo-christianismebei Flammarion, Paris.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2017 Michel Onfray

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Übersetzung

Albrecht Knaus Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Margret Trebbe-Plath

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München, nach einem Entwurf von FAVORITBUERO, München

Umschlagabbildung: © Benjamin West, Zerstörung des Tieres und des Falschen Propheten (Destruction of the Beast and the False Prophet) (Detail), 1804, Öl/Holz, Minneapolis Institute of Arts, MN, USA / The William Hood Dunwoody Fund / Bridgeman Images

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN 978-3-641-22450-9V002www.knaus-verlag.de

»Die Gewässer der Religion fluthen ab und lassen Sümpfe oder Weiher zurück; die Nationen trennen sich wieder auf das feindseligste und begehren sich zu zerfleischen. Die Wissenschaften, ohne jedes Maass und im blindesten laisser faire betrieben, zersplittern und lösen alles Festgeglaubte auf; die gebildeten Stände und Staaten werden von einer grossartig verächtlichen Geldwirthschaft fortgerissen. Niemals war die Welt mehr Welt, nie ärmer an Liebe und Güte. Die gelehrten Stände sind nicht mehr Leuchtthürme oder Asyle inmitten aller dieser Unruhe der Verweltlichung; sie selbst werden täglich unruhiger, gedanken- und liebeloser. Alles dient der kommenden Barbarei, die jetzige Kunst und Wissenschaft mit einbegriffen.«

FRIEDRICHNIETZSCHE, Unzeitgemäße Betrachtungen,III. § 4

Inhalt

VORWORT: Metaphysik der Ruinen – Selbst der Tod stirbt

EINLEITUNG: Kraft und Niedergang – Im Echo eines zusammenstürzenden Sterns

ERSTERTEIL – ZEITDERVITALITÄT

1. GEBURT – Die Fertigung einer Kultur

1. Von den Abenteuern des Nichtkörpers Christi – Die Biographie einer Fiktion

2. Theorie der »Beschneidung der Herzen« – Die Nachkommenschaft der Missgeburt Gottes

3. Ein jüdischer Fausthieb ins Gesicht Christi – Die Geburt des christlichen Antisemitismus

4. Die Erfindung des verstümmelten Körpers – Eine Neurose breitet sich aus

5. Von der Sekte zur Religion – Als das Lamm die Wölfin fraß

2. WACHSTUM – Die Kraft des Glaubens

1. Das Diesseits des Himmelreichs – Parusie, Cäsaropapismus und das Ende der Geschichte

2. Gequälte Körper, gequälte Seelen – Der totalitäre christliche Staat

3. Das bedrohte Paradies – Erstes islamisches Intermezzo

4. Eine Ästhetik der Propaganda – Die Politik der christlichen Kunst

5. Der Leib Christi im Bauch einer Ratte – Scholastik und Dialektik auf Abwegen

3. MACHT – Die gewalttätige Religion

1. Der gerechte Krieg ist auch nur ein Krieg – Die Kreuzzüge als »exquisite Erfindung«

2. Die Kraft des Gesetzes – Inquisition und Schreckensherrschaft

3. Schweine vor Gericht – Die Prozesse zur Auslöschung des Animalischen im Menschen

4. Phänomenologie des Hexenbesens – Zur Kritik der frauenfeindlichen Vernunft

5. Glück und Unglück der Sarazenen – Zweites muslimisches Zwischenspiel

ZWEITERTEIL – ZEITDERERSCHÖPFUNG

1. ENTARTUNG – Die rationale Dekonstruktion

1. Päpste, Antipäpste und Gegenpäpste – Der christliche Fisch stinkt vom Kopf her

2. Die Architektur der antiken Ruinen – Bücher gegen das Buch der Bücher

3. Friss deinen Nächsten wie dich selbst – Wie man Kannibalen ausnutzt

4. Die List der hugenottischen Vernunft – Von der Entsakralisierung des Souveräns

5. Göttliche Seismologie in Lissabon – Die Philosophie des Erdbebens

2. VERGREISUNG – Ressentiment als Prinzip

1. Die Ressentiment-Maschine – Die Revolution frisst ihre Kinder

2. Das Prinzip der Auslöschung – Die Erfindung des Totalitarismus

3. Der transzendentale Sozialismus – Die marxistisch-leninistische Parusie

4. Die konterrevolutionäre Revolution – Faschismus als christliche Reaktion

5. Theorie der Gaskammer – Die Ruinen des Westens

3. VERFALL – Der europäische Nihilismus

1. Die Leidenschaft der Zerstörung – Eine nihilistische Ästhetik

2. Christliche Entchristianisierung – Der immanente Paraklet des Zweiten Vatikanischen Konzils

3. Die Metaphysik des Mai 68 – Der Königsweg des Konsumismus

4. Die Geschichte nach dem Ende der Geschichte – Drittes muslimisches Zwischenspiel

5. Die Entstehung des kleinen Kriegs – Vorletztes muslimisches Zwischenspiel

SCHLUSS: Die entterritorialisierte Macht – Der Weg in eine globale Kultur

CHRONOLOGIE

BIBLIOGRAPHIE

PERSONEN- UNDWERKREGISTER

SACHREGISTER

VORWORTMetaphysik der Ruinen – Selbst der Tod stirbt

Karthago (Tunis)

Freitag, 29. April 2016, am späten Vormittag

Der Himmel ist schwarz. Wie unter der Aschewolke eines Vulkans, aus der kaltes Licht hervorbricht, liegt eine halb zerstörte Stadt. Sie erstreckt sich entlang eines Strandes, von dem sich das Wasser zurückgezogen hat. Neben einem auf Grund gelaufenen Schiff meditiert ein Bischof mit Mütze und Krummstab. Das Gemälde dieser Szene, das mit Monsù Desiderio signiert ist, kommt mit einer nüchternen Farbpalette aus: Teerschwarz für die Nacht und Goldbraun für eine kalte Sonne. Die Stadt muss einst prächtig und glanzvoll gewesen sein: Ihre Ruinen künden von Erhabenheit, Größe und Macht. Eine gewaltige Säule, eine Rotunde auf einem massiven Bogen, ein kunstvoll verzierter Campanile und imposante mehrstöckige Bauten – doch überall Zerstörung, Verfall und Einsturzgefahr, ohne dass deutlich wird, was geschehen ist. Ein Krieg? Solche Verwüstungen können nur mit den militärischen Mitteln heutiger Zeit angerichtet werden. Sollte eine Pestepidemie die Menschen aus der Stadt vertrieben und den Elementen Zeit gegeben haben, ihr Zerstörungswerk zu verrichten? Möglich. Hat ein Erdbeben das Meer zurückgedrängt und das Schiff auf den Strand befördert? Eher wahrscheinlich.

Das Gemälde mit dem Titel Legende des heiligen Augustinus. Ruinen und gescheiterte Einschiffung wurde im 17. Jahrhundert von den beiden Franzosen Didier Barra und François de Nomé geschaffen, die in Neapel lebten. Ein zweites, ähnliches Gemälde ohne gestrandetes Schiff zeigt ein aufgewühltes blaues Meer, aus dem Ruinen auftauchen: Der heilige Augustinus. Imaginäre Ruinen am Ufer des Meeres. Während das erste in der National Gallery in London hängt, befindet sich das zweite in Privatbesitz. Ihren Titel verdanken die Bilder dem Kunstkritiker Félix Sluys, der beiden Malern eine Monographie widmete. Über die Künstler selbst ist wenig bekannt.

Auch wenn Mitra und Krummstab die Attribute des Bischofs sind, so doch nicht des heiligen Augustinus, der sich gleichwohl häufig am Meer aufgehalten haben muss: in Karthago, wo er lehrte, und während seines gesamten Lebens, da er in 30 Jahren 33 Mal ans Meer reiste; in Roms Hafen Ostia, wo er ein Verkündungserlebnis hatte und wo seine Mutter starb, sowie in Hippo, wo er als Priester wirkte und zum Bischof berufen wurde. In Hippo war es dann auch, dass ihm, als er Betrachtungen über das Mysterium der Dreifaltigkeit anstellte, ein Kind erschienen sein soll, das am Strand ein Loch ausgehoben hatte und versuchte, mit einer Muschelschale das Wasser des Meeres hineinzuschöpfen. Augustinus erklärte sein Vorhaben für vergebens. Das Kind, in Wahrheit ein Engel, erwiderte ihm, ehe er, der Philosoph Augustinus, das Mysterium der Dreifaltigkeit ergründen könne, werde es, das Kind, das ganze Meer in sein Loch umgefüllt haben.

Mitra und Krummstab sprechen dafür, dass es sich bei der gemalten Stadt um Hippo handelt, zu deren Bischof Augustinus schon 396 berufen worden war. Diese Funktion sollte er bis zu seinem Tod am 28. August 430 bekleiden. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Stadt seit Wochen von 12 000 Vandalen belagert, angeführt von König Geiserich, dem sich Alanen und Goten angeschlossen hatten. Doch die Barbaren waren arianische Christen. Sie glaubten, dass Gott göttlich und sein Sohn menschlich, aber zur Hälfte göttlich sei. Augustinus sah noch die immensen Schäden, die die Barbaren angerichtet hatten: Sie hatten zwei Bischöfe zu Tode gefoltert, ganze Städte zerstört, Anwesen auf dem Land dem Erdboden gleichgemacht und die Besitzer niedergemetzelt. Sie vergewaltigten geweihte Jungfrauen; verboten den katholischen Kult; plünderten Kirchen und brannten sie nieder. Sie taten, was Christen überall dort taten, wo sie an die Macht gelangt waren, nachdem Kaiser Konstantin das Römische Reich zum Christentum bekehrt hatte.

Die mit Monsù Desiderio signierten Gemälde können also durchaus den heiligen Augustinus am Meer darstellen, sehr wahrscheinlich in Hippo, dem heutigen Annaba in Algerien. Aber wichtiger als diese historische Spur ist die gleichnishafte, metaphorische und philosophische: Das einstmals Große ist dazu bestimmt, zu Staub zu zerfallen, ob Mensch oder Zivilisation. Mochte er auch ein berühmter Kirchenvater, großer Kirchenlehrer, angesehener Theologe, christlicher Philosoph und Heiliger gewesen sein: Augustinus war ein kranker Mann, ein Todeskandidat, ja eine lebende Leiche.

So kündet die verewigte Stadt von der Größe der Zivilisation, für die sie steht: vom imperialen Rom mit seinen heidnischen Cäsaren, stoischen Philosophen und majestätischen Bauten; vom Genie seiner Ingenieure und Architekten, von militärischen Siegen, dem immanenten Denken, vom Rom Vergils und Ciceros, der epikureischen Denker oder der Elegiker Kampaniens. Augustinus bleibt unbeeindruckt. Man kann sich sogar vorstellen, was ihm an diesem Strand ohne Meer durch den Kopf gegangen sein mag: »Alles, was erzählt wurde, ist schrecklich«, so hat er geschrieben. »Die Trümmer, die Feuersbrünste, die Plünderungen, die Morde und die barbarischen Taten. All dies ist wahr. Wir haben gejammert, ohne Trost zu finden, geweint. Ich leugne es also nicht, stimme zu, diese Geschichte ist traurig, und die Stadt hat grausam gelitten […] Ihr wundert euch, dass die Welt untergeht, als würdet ihr euch darüber empören, dass sie älter wird! Die Welt ist wie der Mensch. Er wird geboren, wächst heran und stirbt … Stoßt euch nicht daran, wenn ihr die Gerechten leiden seht! Ihre Leiden sind Prüfung, nicht Verdammnis.« (Sermo 81,8)

Und dann: »Denn die Ungleichheit der Leidenden bleibt auch bei Gleichheit der Leiden bestehen, und wenn auch der gleichen Marter unterworfen, ist Tugend und Laster doch nicht das gleiche […] Daher die Erscheinung, dass in der gleichen Heimsuchung die Bösen Gott verwünschen und lästern, die Guten ihn anrufen und preisen. So sehr kommt es darauf an, nicht welcher Art die Leiden, sondern welcher Art die Dulder sind.« (Vom Gottesstaat, 1,8) In einer bedeutenden theokratischen Tradition sah Augustinus in der Geschichte die göttliche Hand walten: Wenn Gott das Ende des Römerreichs wollte, hatte er gute Gründe dafür. Wenn Rom untergehen sollte, würde es untergehen, wie einst das punische Karthago unter dem Schwert und dem ausgestreuten Salz der Römer unterging.

Was Augustinus allerdings nicht wusste: Der Zusammenbruch der römischen Zivilisation, der er am Meer in Hippo beiwohnte, ermöglichte den Aufstieg der jüdisch-christlichen Kultur, zu deren bedeutendsten Denkern er zählen würde. Vor ihm war die Stadt phönizisch, punisch, numidisch und römisch gewesen. Unter seinem Mandat wurde sie christlich, später vandalisch, byzantinisch und schließlich muslimisch – was sie bis heute ist. Weil das römische Hippo unterging, konnte das christliche erblühen. So wie Augustinus, der in der Übergangszeit dieser beiden Welten lebte, leben auch wir, Sie und ich, in einer Übergangszeit: in der zwischen dem Ende des Judäo-Christentums und dem Anfang von dem, was sich bislang erst unscharf abzeichnet.

Ich streife durch die Ruinen Karthagos, in denen zahlreiche Synoden der Urkirche stattfanden, und blicke auf ein Mittelmeer und in einen Himmel, die noch dieselben sind wie zu Augustinus’ Zeiten. Noch immer wärmt dieselbe Sonne die Seele. Aber alles hat sich verändert und wird sich weiter verändern.

Hinter Monsù Desiderio stehen Maler der Vanitas und der Historie, was ein und dasselbe ist: Der Turm zu Babel als Symbol, dass jedes Bauwerk noch vor seiner Vollendung dem Untergang geweiht ist; imaginäre Ruinen, das ausgehöhlte Gemäuer, der am Boden liegende Schutt; der umgestürzte Schaft einer Säule, der zerbrochene Bogen, die eingestürzte Kuppel und die zersprengte Kirche – all dies sagt dem Betrachter leise das, was einst der Staatssklave dem römischen Kaiser am Krönungstag auf dem Triumphwagen von hinten ins Ohr geflüstert haben soll: Memento mori, »Bedenke, dass auch du sterben musst.«

Blickt man von einem Aussichtspunkt auf die Ruinen von Karthago herab, befällt einen die jähe Erkenntnis, dass der Untergang das Gesetz alles Seienden ist: für den unscheinbarsten Menschen wie für die glanzvollste Zivilisation. Das Christentum hinterließ Ruinen auf seinem Siegeszug, bis sich schließlich in ihm selbst Risse auftaten und es ebenso verfiel wie Stonehenge, Karnak, Babylon, die Cheops-Pyramide, Palmyra, Leptis Magna, Athen oder Rom. Augustinus blickte auf die Ruinen Roms und sollte am Aufbau einer poströmischen Zeit mitwirken, doch auch sein christliches Werk würde dem Verfall anheimfallen wie die Ruinen, welche die Vandalen und ihre Verbündeten hinterlassen hatten. Vergangenes geht unter und schafft Platz für Kommendes, das dann ebenfalls untergeht.

Die Geschichte des Christentums ist voll von Ruinen; man stößt überall dort auf sie, wo man seiner Spur folgt: Ruinen heidnischer Tempel, abgerissen und als Steinbruch zweckentfremdet, ausgeplündert von den ersten Christen, nachdem Kaiser Konstantin ihren sektiererischen Glauben zur Staatsreligion erhoben hatte. Man denke nur an den Konstantinsbogen in Rom, der dem Sieg des christlichen Kaisers über Maxentius an der Milvischen Brücke und dessen erster zehn Herrschaftsjahre gedenkt. Beutegut aus heidnischen Tempeln wurde auch in der ersten christlichen Basilika in Rom und in den Monumenten Konstantinopels verbaut. Das Christentum recycelte das Heidentum in seiner Architektur wie in seinen Legenden.

In der Renaissance tauchten die antiken Ruinen dann wieder auf: Steine mit Inschriften ragten aus dem Boden; Gräber öffneten sich und gaben Schätze preis; Säulenschäfte, Gebälk, Triglyphen und Metopen kamen in brauner Erde zum Vorschein. War über tausend Jahre lang die Wahrheit angeblich in der Bibel niedergelegt gewesen, die den Horizont jeder Ontologie, Philosophie, Wissenschaft, Metaphysik, Geschichte, Politik, Astronomie, Geologie und Moral gebildet hatte, so wurde mit diesen Funden die Archäologie geboren, die eine Geschichtsschreibung der Völker ohne die Heilige Schrift – und damit der Völker – ermöglichte.

Die Überreste dieser untergegangenen Welt erwiesen sich als Schatz: Von der Bibel befreit, ließen sich nun Antworten auf ihre Fragen in Inschriften und Texten zeitgenössischer Autoren aus dieser Welt suchen, die der Boden wieder hergab wie die von Lukrez, der als geistiger und spiritueller Hebel bei der Entstehung einer neuen Welt fungierte. Die antiken Ruinen ruinierten das christliche Weltbild. Antiquitätenhändler beförderten Neues auf den Markt, welches das Christentum ins Reich des Veralteten verwies. Die zu neuem Leben erwachten römischen Überreste bereiteten dem christlichen Leben nach und nach den Untergang.

Risse gefährdeten die christliche Bausubstanz. Explosion in einer Kirche, ebenfalls mit Monsù Desiderio signiert, stellt metaphorisch die Zerstörung eines Gotteshauses durch die heidnische Renaissance und einen Protestantismus dar, der sich im Bildersturm gegen das heidnische Erbe im Christentum ergeht. Während die rechte Hausseite einstürzt, zerschlagen auf der linken Plünderer als Götzen geltende Statuen. Das Gemälde dokumentiert einen bestimmten Aspekt des Zusammenbruchs des Christentums, wohl aus Sicht der katholischen, barocken Gegenreformation: Eine Welt ist ins Rutschen geraten und wird nun mehr mit sich fortreißen, als man zunächst geglaubt hat.

Im Jahrhundert darauf, am 14. Juli 1789, wurde die Bastille gestürmt, ausgeplündert und abgerissen. Der Jakobiner und Bauunternehmer Pierre-François Palloy, der für den Abbruch 800 Arbeiter beschäftigt hatte, verkaufte die Trümmerteile: als steinerne Fingerringe oder Anhänger, wie Mme de Genlis einen trug, der aus dem Bruchstück eines Sockels aus der Bastille angefertigt und mit der Inschrift »Liberté« aus Diamanten versehen war! Die Ketten des Gefängnisses wurden zu patriotischen Medaillons umgearbeitet. Die Holztäfelungen, Schmiedeeisen und Steine fanden ebenfalls Verwertung; manches diente als Baumaterial für die Brücke Pont de la Concorde. Noch lukrativere Geschäfte betrieb Palloy mit den Modellen, die er von dem zerstörten Gefängnis anfertigen ließ und in die Département-Hauptstädte verkaufte. Den Tod Ludwigs XVI. beging er alljährlich mit einem Festschmaus, bei dem man gefüllten Schweinskopf verzehrte. Palloy trug den Beinamen »Der Patriot«. Unter der Restauration zum Royalisten bekehrt, empfing er 1814 aus den Händen des späteren Karl X. den Ordre de Lys. Sic transit …

Der Künstler Hubert Robert, Exponent der Ruinen-Malerei, hat diese Zerstörung in seinem Gemälde Die Bastille in den ersten Tagen ihres Abbruchs eingefangen, das er 1789 im Salon de Paris ausstellte. Mit antiklerikaler Häme verewigte der mondäne und hedonistische Freimaurer auch die Zertrümmerung religiöser Bauten, so in Abbruch der Kirche Saint-Jean-en-Grève oder in Die Abtei von Longchamp. Was ihn jedoch nicht davor bewahrte, während der Schreckensherrschaft für neun Monate im Kerker zu sitzen. Seine Gefangenschaft hielt er malerisch auf Speisetellern fest und stieg, wieder in Freiheit nach dem Thermidor, zum Konservator des Louvre-Museums auf. Unverbesserlich, stellte er 1796 sein Gemälde Imaginäre Ansicht der zerfallenen Großen Galerie des Louvre fertig.

Niemand leugnet den Vandalismus während der Französischen Revolution: Neben der Bastille wurden zahlreiche Adelsschlösser, Burgen und Festungen geplündert; Kirchen mit ihren Skulpturen, Fenstern und Gemälden zertrümmert; Reliquienschreine eingeschmolzen und Symbole der Monarchie zuhauf vernichtet. Aus Bruchstücken königlicher Sarkophage errichteten die Revolutionäre zu Ehren Marats eine Pyramide. Das Pantheon, einst als Abteikirche geplant, diente nach deren Vollendung als weltliche Gedenkstätte, während andere Kirchen zu Tempeln der Vernunft umdeklariert wurden. Die großen und megaloman geplanten revolutionären Bauten Lequeus, Boullées und Ledoux’ blieben – wie die Freiheit für alle – dagegen reine Utopie.

Heidnische Ruinen, römische Ruinen, revolutionäre Ruinen: Ruinen pflastern die Geschichte des jüdisch-christlichen Abendlandes. Wo eine Kultur an Kraft verliert, bleiben massenhaft Ruinen zurück. Die beiden Weltkriege stehen für die Hochzeiten des Nihilismus. Sie verwüsteten Europa und vernichteten neben Menschenleben zahlreiche Städte und Dörfer. So wurde Reims vom 3. September 1914 bis zum 5. Oktober 1918 immer wieder von den Deutschen bombardiert. Von 14 000 Gebäuden überstanden ganze 2000 das Massaker. 350 Granaten wurden auf die Kathedrale abgefeuert. Nach einem Brand lagen das Hauptschiff und der Chor in Trümmern. 1939 bis 1945 brachten Niederlage und Befreiung umfangreiche Zerstörungen mit sich. Nach der Landung der Alliierten am 6. Juni 1944 wurde die Normandie verwüstet, die an Baudenkmälern aus dem Mittelalter und der Renaissance am reichsten war. Caen wurde 65 Tage lang ununterbrochen bombardiert.

Am 10. Juni 1944 ermordete die SS-Panzerdivision »Das Reich« in Oradour-sur-Glane 642 Dorfbewohner, die sie auf dem Hauptplatz zusammengetrieben hatte. Kinder, Frauen, Greise und auf den Feldern aufgegriffene Männer wurden in die Kirche gesperrt, in deren Flammen sie dann umkamen. Fünf Menschen starben im Ofen des Bäckers. In Brunnen tauchten Leichen auf. Mit seinen ausgebrannten Wagen, verkohlten Häusern, der geschmolzenen Kirchenglocke und den Gleisen der Straßenbahn wurde das Dorf zur Gedenkstätte – eine sorgsam gepflegte Ruine zur Erinnerung daran, dass Menschen diese Zivilisation auslöschen wollten.

Neben den Ruinen des Krieges blieben auch die des totalitären Regimes zurück, das den Untergang des Dorfes herbeigeführt hatte. Hitler, der in jungen Jahren Architekt hatte werden wollen und der dann die wohl größte Architekturvernichtung der Geschichte betrieb, beauftragte Albert Speer, die Bauten für sein angestrebtes tausendjähriges Reich so zu konzipieren, dass ihre Ruinen in Tausenden von Jahren denjenigen Roms ähneln würden: der NS-Diktator als neuzeitlicher Nero! Das Projekt einer nationalsozialistischen Zivilisation währte als Barbarei vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 – das tausendjährige Reich hatte ganze zwölf Jahre Bestand – zwölf Jahre unbeschreiblicher Massenmorde.

Zwischen der Landung der Alliierten und dem Einmarsch der Befreiungstruppen in Berlin blieb den Nazis noch Zeit, zahlreiche Spuren ihrer Verbrechen zu verwischen: In den Vernichtungslagern flogen die Gaskammern und Krematorien in die Luft und wurden so zu den Ruinen, in denen später Claude Lanzmann sein Meisterwerk Shoah drehen sollte. Derweil legten Bomber deutsche Städte in Schutt und Asche. Zwischen dem 13. und 15. Februar 1945, wenige Tage nach der Konferenz von Jalta, tilgten sie Dresden gleichsam von der Landkarte, gerade so, als müssten die Amerikaner und die Briten Stalin ihre Entschlossenheit demonstrieren. Bei drei Angriffen warfen 1300 Bomber rund 7000 Tonnen Bomben ab. Geschätzte 25 000 Menschen kamen in den Feuerstürmen und unter den Trümmern ums Leben.

Ruinen hinterließ auch die einstige UdSSR: in Stalingrad natürlich, der Märtyrerstadt, aber auch in vielen anderen Orten dieses Staates, der die Hauptlast des Zweiten Weltkriegs zu tragen hatte. Nach der deutschen Kapitulation verwendete die Sowjetunion den Großteil ihrer Kraft darauf, einem totalitären Regime den letzten Schliff zu geben: mit dem Bau des Eisernen Vorhangs und der Berliner Mauer sowie einem gewaltigen Programm zur Errichtung Tausender von Arbeitslager im ganzen Land. Wie das Dritte Reich, das sich den Aufbau einer neuen Zivilisation auf die Fahnen geschrieben hatte, ging auch der bolschewistische Staat unter: Die Trümmer des Gulag liegen heute unter Gestrüpp oder Schnee verborgen, bisweilen unsichtbar für ahnungslose Besucher.

Die Berliner Mauer wurde abgetragen, aber ihr Beton so wiederverwertet, wie es einst mit den Steinen der Bastille durch den jakobinischen Citoyen geschehen war. Volker Pawlowski, ein ehemaliger Bauarbeiter der DDR, sicherte sich Reste aus dem Abbruch und verkauft sie seither einzeln oder en gros in Berliner Souvenirshops. Manche lässt er wieder bemalen oder, je nach Nachfrage, neu zurechtbrechen. Kleine Bruchstücke verkauft er in Kunststoffkapseln, eingelassen in Postkarten, zertifiziert mit einem selbst gefertigten DDR-Wappen. Ein großes Stück Mauer ging an die CIA, die es in ihren Neubau integrieren ließ. Von den 302 Wachtürmen der Mauer stehen heute noch fünf. Einer dient als Museum.

All diese europäischen, nationalsozialistischen und sowjetischen Ruinen schreiben die Liste der heidnischen, römischen und revolutionszeitlichen fort. Und die jüdisch-christliche Kultur kennt auch eine technologische Ruine: die des Atommeilers von Tschernobyl und der umliegenden Städte und Dörfer. Die Explosion, die sich dort 1986 ereignete, war weniger der Atomkraft selbst als vielmehr marxistisch-leninistischer Misswirtschaft geschuldet, der bürokratischen Erstarrung und einer Art Oblomowismus. Eine Stadt wurde verwüstet und weite Teile Europas radioaktiv verseucht, was man heute vom Touristenbus aus besichtigen kann … Diese Ruine könnte zu einem Vorläufer einer letzten Ruine werden: die der Zivilisation am Ende aller Zivilisationen, auf die wir uns als Menschheit naiv und verantwortungslos zuzubewegen scheinen.

Unser jüdisch-christliches Europa wird schon jetzt, am Ende seines Weges, von einer Ruine symbolisiert, die zu den am meisten besichtigten Bauwerken des Kontinents zählt: der Kathedrale Sagrada Familia in Barcelona, die der vitalistische Architekt Antoni Gaudí im 19. Jahrhundert – genau genommen 1883 – konzipierte, zu der Zeit, als Nietzsche Also sprach Zarathustra veröffentlichte! Die Krypta und die Geburtsfassade erhielten 2005 den Titel des UNESCO-Welterbes, und am 7. November 2010 wurde die Kirche von Papst Benedikt XVI. geweiht. Doch trotz der weltlichen und klerikalen Anerkennung ist die Sagrada Familia bis heute, nach 130 Jahren, noch immer nicht fertiggestellt – und ist damit gewissermaßen eine Ruine vor dem eigenen Untergang!

Bedenken wir, dass Wilhelm der Eroberer nur 18 Jahre (von 1065 bis 1083) benötigte, um die Bauarbeiten am Benediktinerkloster Saint-Étienne (das ich tausend Jahre später täglich von meinem Büro aus im Blick habe) und am Frauenkloster Sainte-Trinité in Caen – neben zahlreichen weiteren – abzuschließen. Und zwischen 1035 und 1066 hatte er im Herzogtum bereits etwa 20 Abteien fertigstellen lassen, und das mit den beschränkten Mitteln der Zeit.

Eine Kultur schöpft ihre Kraft stets aus der Religion, von der sie legitimiert wird. Ist die Religion im Aufstieg begriffen, erblüht auch die Kultur. Ist sie im Niedergang, verfällt auch die Kultur und geht am Ende sogar unter. Als Atheist nehme ich persönlich weder daran Anstoß noch freue ich mich darüber. Ich stelle es fest, wie ein Arzt eine Abschilferung, einen Knochenbruch, Infarkt oder Tumor diagnostiziert. Die jüdisch-christliche Kultur befindet sich im Endstadium ihres Niedergangs.

Nietzsches Verkündigung vom Tod Gottes im Europa des 19. Jahrhunderts läutete das Ende der jüdisch-christlichen Kultur ein. Was der Glaube zur Zeit Wilhelms des Eroberers auf den Baustellen der Kathedralen, Kirchen und Klöster zu leisten imstande war, schafft die ermattete Religiosität des 21. Jahrhunderts nicht mehr. Die Baugerüste, welche die Sagrada Familia wie ein stützendes Korsett umschließen, symbolisieren den Zustand des heutigen Christentums: Es ist in eine seinsphilosophische Sackgasse geraten. In einer besonderen Ironie der Geschichte hat Papst Benedikt XVI. gleichsam den Ruin des Christentums geweiht.

Ebendieser Papst, der in Regensburg Theologie und Philosophie gelehrt hatte, zitierte an der dortigen Universität am Dienstag, den 12. September 2006, Manuel II. Palaiologos, um die Rolle der Gewalt im Islam zu erläutern. Erkannte er angesichts des weltweiten Proteststurms, den er damit auslöste, dass ihm nur noch der Rücktritt blieb? Jedenfalls gab er sein Amt am 28. Februar 2013 auf und zog sich – jetzt wieder als Joseph Aloisius Ratzinger – in die Stille und ins Gebet zurück … Die Sagrada Familia steht als Bauruine da, und der Papst, der sie geweiht hat, ist zurückgetreten. Rom ist nicht mehr in Rom.

EINLEITUNGKraft und Niedergang – Im Echo eines zusammenstürzenden Sterns

13 800 000 000 Jahre vor dem Leser

Der Urknall

Vor jedem Etwas steht ein anderes Etwas, das es verursacht hat. Diese Kausalkette müsste sich bis ins Unendliche zurückerstrecken, denn gäbe es Endlichkeit, stieße man auf eine erste Ursache, einen »ersten unbewegten Beweger« – auf den seienden Gott, wobei man sich fragt, warum dieser Gott nicht seinerseits von etwas anderem verursacht worden ist. Man muss sich mit ewig seienden Söhnen begnügen, deren Väter selbst Söhne sind, ohne dass ein Sohn sein eigener Vater sein kann. Der Vater ist immer älter als der Sohn, aber um Ewigkeiten jünger als die Verhältnisse, die seine Existenz ermöglicht haben.

Die Metaphysik ermöglicht alles, was denn auch ihr Kennzeichen ist. Dagegen begnügt sich die Physik mit der gegebenen Welt. Für mich als Empiriker gibt es nichts anderes als eine materialistische Ontologie. Mit dem Auftreten eines einzigen Ereignisses – zum Beispiel dem allerersten, grundlegenden, genealogischen oder uranfänglichen – wird Geschichte möglich. Geschichtsschreibung ist im Übrigen die Antwort auf eine Reihe von Fragen, die sich als Variationen zur ersten erweisen. Die erste: Woher kommt, was ist? Die folgenden: Wie ist es gekommen? Welche Formen hat es angenommen? Wie? Warum? Außerhalb desjenigen, der Geschichte erlebt, gibt es keine Geschichte ohne den Historiker, der sie erstellt. Geschichte hat folglich keinen Sinn an sich, sondern nur den, den ihr der Historiker gibt, der sie erzählt und unter dessen Gestaltungskraft seines Wortes sie Formen annimmt. Das Wort ist das Fleisch der Geschichte.

Jede Geschichtsphilosophie, die sich als objektiv präsentiert, ist immer nur die Geschichte der subjektiven Philosophie dessen, der sie in den Raum stellt. Den Wahrheitsgehalt einer Geschichtsphilosophie erforscht oder findet man nicht in der Geschichte, sondern im Historiker, der sie als Ordnungsprinzip darlegt. So herrscht bei Hegel die Vernunft weniger in der Geschichte, als vielmehr in der Ordnung, die sie dem denkenden Philosophen aufzwingt, der diese Geschichte zunächst verworren vor sich sieht und sie ins Joch seiner Konzepte spannen will. Ebenso bei Vico oder Herder vor und bei Spengler oder Toynbee nach ihm. Dasselbe gilt für Kant vor und für Marx nach Hegel.

Was Hegel will, will nicht a priori die Geschichte. Vielmehr ist es der Philosoph, der es ihr a posteriori aufzwingt. Und das gilt für jeden, der sich darauf einlässt, eine Geschichtsphilosophie zu entwerfen. Die Geschichte, selbst mit einem Artikel versehen, gehorcht keiner anderen Ordnung als der des Historikers, der wiederum den Neigungen seiner Biographie folgt. Es war Nietzsche, der alles dazu sagte, als er zu Recht darauf verwies, dass jede Philosophie das Erzeugnis einer Autobiographie ist. Die psychische Verwundbarkeit Hegels, die sogar seine Hagiographen ausmachten, zeigt sich in der Überwindung und dem Aufgehobensein in einem Gedankengebäude, das sich aus endlosen Triaden zusammensetzt und in dem sich die ganze Vielfalt des verschiedenartigen, gebrochenen und zersprengten Realen wie Kinderspielzeug in den Schubladen einer Kommode verstauen lässt.

Schopenhauer mit seinem Willen und Nietzsche mit seinem Willen zur Macht, wenn nicht gar Bergson mit seinem Lebenselan oder Deleuze mit seinen Strömen nähern sich dem, was Geschichte ist, am deutlichsten an, wenn sie von der Herrschaft einer Kraft sprechen, die sich dem Verstand entzieht, sich aber bereitwillig der Beobachtung unterwirft. Die beste Erkenntnistheorie – auch in der Geschichtswissenschaft – ist immer noch diejenige, welche Feyerabend in Wider den Methodenzwang darlegte, das in der Originalfassung (1975) den amüsanten Untertitel »Abriss einer anarchistischen Erkenntnistheorie« trägt. Das Besondere an dieser als Methode funktionierenden Antimethode besteht darin, dass sie an das Reale niemals mit dem Apriorischen eines Gedankens oder eines Konzepts und noch weniger mit einer ideologisch diktierten Lesart herangeht. Man muss das Geschehen zunächst auf sich wirken lassen und es dann erst durchdenken.

Die, häufig deutschen, Geschichtsphilosophien basierten alle auf einer apriorischen konzeptionellen Architektonik – Fortschritt bei Kant, Vernunft bei Hegel, Morphologie bei Spengler – auf Kosten des eigentlichen Stoffs der Welt. Das Reale muss sich angesichts der begrifflichen Prachtbauten in Spanien nur gut behaupten. Zu Recht spricht Spengler von der Morphologie der Kulturen, glaubt aber zu Unrecht, dass ein und dasselbe Schema für alle Kulturen funktioniere – als ermögliche es ein einziges logisches Raster, das Fortpflanzungsverhalten der Zecken, den Fototropismus der Sonnenblumen, die Nutzung der Mathematik durch die Menschen und das Krächzen eines Aras am Amazonas zu erfassen. Zwar durchströmt ein und dasselbe Leben alles Lebendige, aber dessen Bewegungen, Formen und Kräfte fallen in den unterschiedlichen Fragmenten der Welt eben jeweils anders aus.

Das Gleiche gilt für Kulturen: Sie alle folgen dem Schema des Lebendigen, werden geboren, sind da, werden größer, wachsen heran, entwickeln sich weiter, strahlen aus, werden müde, erschlaffen, altern, siechen, sterben und verschwinden. Aber nicht alle leben auf dieselbe Weise: Das eine Neugeborene stirbt schon nach Verlassen des Mutterschoßes, während ein anderes zu einem rüstigen Hundertjährigen altert. Der eine führt ein unbeschwertes glückliches Leben ohne Schmerz und echte Leiden, während der andere als Schwerkranker immer wieder in Lebensgefahr schwebt und Qualen und Martern durchleidet. Der eine lebt kurz und intensiv, der andere lange, aber eintönig. Der eine hat glückliche und erhebende, der andere schlechte und erniedrigende Begegnungen und so weiter.

So auch die Kulturen: Alle entstehen, existieren, leben, wachsen und erlöschen, aber nach unterschiedlichen, vielfältigen und unbeugsamen Ordnungen. Die eine währt kurz, die andere lang. Die jüdische, die dem Gesetz Mose unterworfen ist, besteht seit 3000 Jahren trotz zahlloser Widrigkeiten und bei immerhin guter Gesundheit. Die der Etrusker hatte dagegen nur 600 Jahre Bestand, ging im Rom der Königszeit auf und hinterließ uns ihr rätselhaftes Lächeln auf den tönernen Grabplatten toter Ehepaare oder zarte Malereien, Darstellungen weiblicher Körper, die schon vor Jahrhunderten zu Staub zerfallen waren.

Manche, wie das Christentum, hinterließen dauerhafte Spuren in dem Bestreben, sich in die Ewigkeit einzumeißeln, während andere, wie die afrikanischen, polynesischen oder ozeanischen Kulturen, geschnitzte Holzmasken nach dem zeremoniellen Gebrauch den Termiten übergaben, sich für sakrale Riten Flechtwerk auf die Haut zeichneten oder aus geflochtenen Kokosfasern, Vogelfedern und Haaren einen Putz kreierten, den schon ein Regentropfen zunichtemachte. Und doch ist das Lächeln eines gotischen Engels an der Kathedrale von Reims ebenso ausdrucksvoll wie die grinsende Affenmaske, die manche Hemba bei Bestattungszeremonien trugen.

Immer ist es ein und dieselbe Energie, Kraft und Entschlossenheit, die die Menschen in einem Moment durchströmt. Wie sonst ließe sich erklären, dass Stämme, obwohl durch zahllose Bergketten oder eine feindselige Geographie voneinander getrennt, ähnliche Grimassen in Masken schnitzten – hier in einem wilden Gebirge östlich des nepalesischen Kathmandu, dort in einem afrikanischen Dorf der Pendé Mbangu im ehemaligen Belgisch-Kongo? Und beide mit gebogener Nase, einem schmerzverzerrten Mund und Linien, die in dieselbe Richtung deuten. Die zum Schrei aufgerissenen Münder scheinen wie vom selben Geist ins Holz geschnitzt, obwohl die Künstler weder voneinander noch von der jeweiligen Kunst des anderen wussten.

Woher stammt diese Kraft, welche die Geschichte vorantreibt? Aus dem Echo und der gewaltigen Erschütterung nach einer Explosion, dem Zusammensturz eines Sterns. Gleichwohl betrachtet eine Geschichtsphilosophie die Dinge nur über kurze Distanzen hinweg. Zwar haben Historiker unter dem Einfluss Fernand Braudels nach 1958 an etwas gearbeitet, das sie die Langzeitperspektiven (longues durées) nannten, aber welche Zeiträume kann sie im Braudel’schen Sinn schon abdecken? Jahrhunderte, Jahrtausende – winzige Intervalle, lächerlich geringe Abschnitte mit Blick auf die gewaltigen Spannen, in die alles Seiende und Werdende auf dem Planeten eingewoben ist.

Denn in der Geschichtsphilosophie herrscht jener Anthropozentrismus, der von den Historikern gewöhnlich zu Recht angeprangert wird. Dabei wurde die Bewegung, die sämtliche Kulturen – von den frühsten, archaischsten bis zu den letzten und am höchsten entwickelten – vorantreibt, zu einer Zeit angestoßen, die deutlich vor der des Menschen, des Lebens und der Erde lag: in einer Zeit jenseits der Zeit, von der uns die Astronomie heute mehr ein Gefühl als ein Maß, eher Ahnung als Klarheit gibt. Wir leben im Schwung einer Bewegung, welche die modernste Kosmologie beschreibt. Nur wissen wir nichts davon oder wollen es zumindest nicht wissen.

Geschichte, das schriftliche Festhalten von Vergangenheit in der Gegenwart, dient dazu, diese für die Zukunft zu bewahren, und setzt die Zeit voraus. Eine Binsenweisheit. Dabei setzt die Zeit ihrerseits voraus, dass man sich um sie weniger als Philosoph kümmert, der nach einer passenden Definition sucht – so wie Platons unbewegte Form der unbewegten Ewigkeit, Aristoteles’ Anzahl der Bewegungen nach dem Vorher und Danach oder Kants Anschauungsformen a priori – , als vielmehr als empirischer Denker, der weiß, dass die Zeit, zumindest in der uns bekannten Form, mit einer gewaltigen Explosion, eines zusammenstürzenden Sterns, begonnen hat, gewissermaßen mit einer Druckwelle, die sich seit fast 14 Milliarden Jahren ausbreitet und in die alles Lebendige und Seiende eingebettet ist: Stern oder Ameise, ein rotierender Planet, ein in die Sargassosee ziehender Aal, der scheinbar fixstehende Polarstern in unserer Milchstraße, die Weiterentwicklung des Primaten zum Hominiden, Zivilisation oder Mensch.

Vitalismus? Wenn man so will. Denn der Vitalismus wendet sich gegen den Mechanizismus, der reine Beschreibung des Realen anstatt tiefes und intuitives Verständnis davon ist. Die einfache Auflistung menschlicher Handlungen ergibt noch keine Geschichte, genauso wenig wie die Beschreibung sämtlicher Zellen eines Körpers erklärt, was ein Lebewesen ausmacht. Zusammengetragene Fakten ergeben noch keine Ordnung, auch dann nicht, wenn man immer mehr heranschafft oder manche weglässt. Die Kultur gehorcht jener Kraft, die sie vorantreibt, so wie ein Projektil allein dem Gesetz dessen folgt, der es in Bewegung gesetzt hat. Gott selbst ist ein Projektil der Menschen, nicht aber das Bewegende – das ist vielmehr der Atem der großen Explosion, eines zusammenstürzenden Sterns.

Ewigkeit in zeitlichen Kategorien zu denken, erweist sich stets als unlösbare Aufgabe. Das Gleiche gilt für den Raum, insbesondere wenn man ihn in Begriffen wie Lichtjahren denkt. Denn was liegt in 10 000 Lichtjahren Entfernung? Und welche Unterscheidung kann die menschliche Anschauung zwischen 10 000 und zehn Millionen Lichtjahren treffen? Zwar beschreiben zehn Millionen Lichtjahre eine größere Entfernung, aber wie ist dieser Unterschied vorstellbar? Der Ewigkeit eine Dimension hinzuzufügen macht nicht die Ewigkeit, sondern nur unsere Schwierigkeit, sie zu verstehen, noch größer. Das Unendliche lässt sich mit unseren endlichen Begriffen niemals fassen.

Wir sind Gefangene unserer Zeit und des Raumes, in dem wir uns bewegen. Aber unser Verstand, der das Unendliche der Zeit oder des Raumes im Einzelnen nicht zu erkennen vermag, spürt dessen Strudel und steht zitternd vor dem bodenlosen Abgrund. Die Erkenntnisse der Astrophysik bringen ein Denken ins Wanken, das, lässt es sich auf die Reise ins Unsagbare ein, ein Schauspiel wie im Rausch erlebt: die Gefräßigkeit schwarzer Löcher; das unendliche Feld der Multiversen; das Rätsel der dunklen Materie, die fast alles Seiende ausmacht; das Echo des Urknalls, das noch heute vernehmbar ist; der Zusammensturz eines Sterns zum Weißen Zwerg; die rätselhaften Ausgänge der Wurmlöcher; die Explosionen von Supernovae; die elektromagnetische Strahlung der Pulsare; das konzeptionelle Vibrieren der Strings; der Quasar als Quasistern; das beschleunigte sich Ausdehnen des Universums und die Möglichkeit von Leben in anderen Galaxien. Was kann man jenseits unserer engen geistigen Kategorien, denen die Erkenntnisse der Astrophysik verheerend zusetzen, schon wissen und was kann man hoffen?

Nur ein Bild vermittelt eine vage Vorstellung davon, was bis zu unserer Zeit gewesen ist und welchen Platz wir im Universum besetzen. Der Vergleich ist bekannt: Wenn unser Universum ein Jahr mit 365 Tagen alt ist und wir seine Geburt um Mitternacht bei Stunde null des ersten Tages ansetzen, wie und in welchen Etappen geht es dann weiter? Dieser konzeptionelle Kunstgriff wurde in Gestalt eines Urknalls gedacht, der 15 Milliarden Jahre alt ist, auch wenn neuere Schätzungen von 13,8 Milliarden Jahren ausgehen. In dieser Konstellation entspricht folglich ein Jahr 15 Milliarden Jahren, ein Tag 41 Millionen Jahren und 24 Tage einer Milliarde Jahren. Eine Million Jahre sind 36 Minuten, und eine Sekunde entspricht 500 Jahren.

Das heißt, 1. Januar, null Uhr: Urknall, vor dem … etwas war. In neueren Theorien der Quantengravitation taucht die Hypothese auf, dass vor diesem dasselbe Universum, aber mit umgekehrter Ausbreitungsrichtung – also in Kontraktion – existiert haben könnte. Leere und zufallsbedingte Energiefelder in einer weiten eisigen Ausdehnung: Das liegt vor der Geburt unseres Universums. Kräfte gewinnen an Intensität und ballen sich zusammen; Klumpen, dann schwarze Löcher bilden sich, in deren Zentrum die Dichte der Materie zunimmt. Raum stürzt in sich zusammen. Dichte, Temperatur und Raumkrümmung steigen bis auf ein Höchstmaß an, ehe sie erneut abnehmen. Der Urknall bezeichnet diesen Umkehrpunkt – in gewisser Weise ist er schon ein Niedergang.

Führen wir den Vergleich fort: Ende Januar bildet sich unsere Galaxie, die Milchstraße, heraus, die heute als weißes Band über unseren Sternenhimmel zieht. Die Griechen sahen in ihr herabgefallene Milchtropfen aus der Brust Heras. Wir leben in einer Galaxie, die, flach wie ein Pfannkuchen, aus einer Zusammenballung von Sternen besteht. Weil die Erde ein Teil vor ihr ist, sehen wir von uns aus nur ihre Ränder. Durchmesser: 100 000 Lichtjahre. Dicke: 2000 Lichtjahre. Das Zentrum besteht aus einem kompakten Konglomerat aus Sternen, die ein massives schwarzes Loch umkreisen. Von Februar bis August: In unserer Galaxie bilden sich mehrere Zyklen heraus – Nebel, Sternformationen, Weiße Zwerge, Rote Riesen oder Supernovae, von denen einige unweit unseres Nebels explodieren. In dieser Konstellation aus Kräften und Ereignissen entsteht am 31. August unser Sonnensystem mit der Erde. An der Größenordnung unseres Vergleichs bemessen, dauert dieser Prozess einen Tag, während er tatsächlich 41 Millionen Jahre in Anspruch genommen hat.

Das astrophysische Leben geht gleichzeitig mit dem geologischen Leben weiter. Am 6. September tauchen die ältesten bekannten Mineralien auf: australischer Zirkon. Am 12. September bilden sich die ältesten bekannten Felsen heraus: Grüngesteine in Kanada. Nach dem astrophysischen und dem geologischen entsteht am 13. September das biologische Leben, das die ältesten bekannten Spuren hinterlassen hat: organisches Material, das in Grönland zum Vorschein kam. Am 24. September erscheinen die ersten Lebensformen, die uns als Fossilien bekannt sind: in Australien entdeckte Bakterien und Stromatolithen. Am 15. Oktober beginnt die erste Glazialzeit, der Auftakt zu einer Serie von ungefähr 15 weiteren solcher Zeiten bis heute. Dass sie durch kosmische und nicht etwa menschengemachte Klimaveränderungen hervorgerufen wurde, muss nicht erst gesagt werden. Am 25. Oktober: Eukaryotische Einzeller hinterlassen die ältesten bekannten biochemischen Spuren. 31. Oktober: Die kontinentale Erdkruste, eine Plattentektonik und ein erster Superkontinent entstehen. Leben beginnt die Kontinente dauerhaft zu besiedeln. Das Archaikum endet und das Proterozoikum beginnt, beides geologische Zeitalter. Um den 10. November bildet sich in der Atmosphäre freier Sauerstoff. Einen Monat später tauchen Algen, Würmer und Quallen auf. Am 15. und 16. Dezember herrscht allgemeine Glazialzeit. Als letzter Superkontinent entsteht Pangaea und reißt später wieder auseinander. Am 18. Dezember tauchen mit dem Paläozoikum Schalen- und Krustentiere auf, am nächsten Tag erste Fische und am darauffolgenden landlebende Pflanzen- und Tierarten. Mesozoikum: In der Nacht vom 25. auf den 26. Dezember entwickeln sich Säugetiere und die Dinosaurier, die am 30. Dezember um zehn Uhr morgens wieder aussterben.

Tertiär: Erstes menschliches Leben taucht auf, das sich zum heutigen Homo sapiens weiterentwickeln wird. Am 31. Dezember um 21 Uhr – vor sieben Millionen Jahren – erscheint Toumaï als ein entscheidendes Glied im Stammbaum des Menschen. Ein Schädel von ihm wird dereinst im Tschad gefunden werden. Am selben Tag, aber eineinhalb Stunden später – vor 3,2 Millionen Jahren – erscheint Lucy, von der später Reste in Äthiopien entdeckt werden. Lucy hat den aufrechten Gang. Quartär: Am 31. Dezember um 23.59 Uhr und 26 Sekunden malen Menschen in der Höhle von Lascaux. Einige Sekunden später schlägt es Mitternacht. Beim sechsten Schlag entstehen die Cheops- und die anderen Pyramiden. Nur acht Sekunden trennen sie von uns.

Aus der großen Explosion, aus deren Staub alles bestehen wird, geht eine besondere Kraft hervor. Kraft nenne ich jene blinde Gewalt, die allein ihrem geheimen Plan gehorcht und die nicht göttlich, sondern kosmisch ist und uns vom Sein ins Nichtsein befördert. Denn alles Lebendige stirbt, und alles Seiende geht unter: ein Stern wie eine Galaxie, ein Universum wie eine Spezies. Diesem Plan gehorcht blind und unausweichlich alles: geboren werden, sein, wachsen, den Zenit erreichen, verfallen und verschwinden. Diesem Prozess, der alles ergreift, was lebt und sich in Zeit und Raum regt, sind auch die Kulturen unterworfen. Das, was auf diese Kraft folgt und ihr Ende herbeiführt, nenne ich Niedergang.

Der Vergleich lässt sich für die Zukunft weiterspinnen. Demnach befinden wir uns heute einige Sekunden im neuen Jahr. Anfang Mai wird die Sonne zum Roten Riesen anschwellen und alles Wasser auf der Erde verdampfen lassen. Alles, was auf diesem Planeten je stattgefunden haben wird, kommt zum Ende. Der Mensch ist längst verschwunden. Die Erde kreist als geschmolzene Felskugel wie in einem schrecklichen Feuersturm um das Zentralgestirn. Am 10. Mai erlischt die Sonne und schrumpft zum Braunen Zwerg zusammen. Vom Vergangenen bleibt nicht einmal eine Erinnerung zurück.

Man kann folglich keine Geschichtsphilosophie entwerfen, ohne dabei den Menschen in den Kosmos einzubinden. Doch die Geschichtsphilosophien knüpfen ihn an sich selbst in der Überzeugung, dass er mit seinem Willen entscheidet – obwohl über ihn entschieden und bestimmt wird. So wenig wie ein Stern beschließt, irgendwann zusammenzustürzen, oder wie Pangaea die Entscheidung traf, unter dem Druck der Plattentektonik auseinanderzubrechen, gehorcht alles, was war, ist und sein wird, ebendieser beschworenen Kraft. Das Reale ist immer nur die Erfüllung von Fatalität, die schlichte Folge von Determinierung. Wenn Menschen meinen, willentlich zu bestimmen, was mit ihnen geschieht, wiegen sie sich in Illusionen.

Der Mensch lässt sich nicht losgelöst von dem betrachten, was seine Entstehung ermöglichte und was ihn zum Untergang führen wird. Eine Geschichtsphilosophie, die eine Zivilisation nur im Ultrafeinschnitt untersucht, sich vorstellt, dass Menschen, Kulturen und Zivilisationen dem freien Spiel der Kräfte einen klaren Plan entgegenstellen, unterliegt einer Täuschung. Die Kraft, die jene Gewalten entfesselt hat, die die Geschichte ausmachen, kümmert sich so wenig um den Menschen wie der Ozean um die Wassertropfen, aus denen er sich zusammensetzt.

Ein neuer historischer und dialektischer Materialismus muss definiert werden, allerdings mit einer völlig anderen Sichtweise als jener von Marx und Engels. Der historische Materialismus zeigt sich klar und deutlich, wenn man die in der Geschichte wirkenden Gewalten auf jene Kraft zurückführt, die aus der großen Urexplosion hervorgegangen ist. Zeit und Raum, die den Aufbau von Geschichte bestimmen, sind dadurch entstanden. Geschichte ist insofern dialektisch, als sie einer Bewegung gehorcht, die sie sich nicht aussucht, sondern von der sie bestimmt wird. Diese Bewegung hat mit Vitalismus zu tun: Was ist, lebt, um dem eigenen Untergang entgegenzustreben. Das gilt für eine Kultur wie für alles andere auch.

Der Anatom Bichat, der mit 30 Jahren starb, hatte Hunderte von Leichen seziert, manche davon Opfer von Grabschändungen. Als Schüler der Vitalisten Théophile de Bordeu und Paul-Joseph Barthez definierte er das Leben mit Recht als »die Gesamtheit der Kräfte, die dem Tod widerstehen«. Eine Zivilisation kämpft also zunächst gegen das, was sie bedroht. Sie existiert, solange sie sich gegen das behaupten kann, was sie bedroht und ihren Untergang herbeiführen will. Um Fuß zu fassen, muss sie sich mithilfe von Eroberungen durchsetzen. Am Anfang jeder Zivilisation steht zunächst der Barbar. Die Benennungen kehren sich nun um: Hat er gesiegt, wird er zum Zivilisierten und bezeichnet die Unterworfenen als Barbaren. Geschichte wird bekanntermaßen von Siegern geschrieben, die – selten großmütig – die Erinnerung an die Toten auslöschen.

Die Kultur bekämpft alles, was sie bedroht. Da das Entropieprinzip herrscht, existiert sie nur nach der Logik der Negentropie, welche die Homöostase des Systems ermöglicht. Die Kultur stirbt, wenn das, was sie seit ihrem Bestehen gefährdet, eines Tages die Oberhand gewinnt, weil ihre Kräfte nicht mehr ausreichend vital, gebündelt und wirksam sind. Die Negentropie ist die Erklärung für die Fähigkeit, sich dauerhaft an eine veränderliche Umwelt anzupassen. Am Ende obsiegt stets die Entropie, weil die Kraft ihrer Bestimmung nach in Verfall übergeht – so wie das Leben eines Tages in den Tod mündet.

Doch kaum kommt der Tod ins Spiel, wird das Leugnen bestimmend. Ob Individuen oder Kulturen – immer herrscht große Einsicht in den Tod anderer, nie aber in den eigenen. In Die Krise des Geistes hat Paul Valéry dies nach dem Ersten Weltkrieg 1919 in eine wunderbare Formel gegossen, die er später in Variété erneut aufgriff: »Wir Kulturvölker, wir wissen jetzt, dass wir sterblich sind.« Sterblich wird der Leugner sagen, um die Ausdrücke sterbend oder tot zu vermeiden! Und seine Trickkiste öffnend, erklärt er der Kultur – so wie der Arzt in Molières Der eingebildete Kranke dem Patienten – , dass es doch Brechmittel, Abführmittel, Diuretika und Entgiftungsmittel gebe, worauf er seinen Beutel öffnet und den Kranken eine Minute später staunend verscheiden sieht.

Und dabei weiß man doch auch ohne große Bildung: Vorbei sind die Zeiten, da in den ägyptischen Pyramiden Pharaonen beigesetzt wurden, da sich Druiden zwischen keltischen Megalithen versammelten, da der Göttin Athene im Pantheon Opfer dargebracht wurden, da der Senat auf dem Forum Romanum tagte, da dem aztekischen Sonnengott Menschenherzen geopfert wurden und in der Kathedrale von Reims ein König gesalbt wurde. Und der Grund dafür lautet: Weil diese Kulturen tot sind!

Bricht eine Kultur zusammen, gibt es nicht eine einzelne Ursache, sondern allenfalls einen Auslöser, der das Unvermeidliche herbeiführt. Die Liste der Ursachen, die für den Untergang des Römischen Reichs verantwortlich gemacht werden können, liest sich wie ein Inventarverzeichnis: Klimaveränderungen mit langen Dürren; ausgelaugte Böden durch Übernutzung; drastischer Bevölkerungsschwund durch Pestepidemien und Verbreitung der christlichen Sexualmoral; verheerende Barbareneinfälle, Vermischung von Völkerschaften, grassierende Verschwendungssucht und Sittenverfall; erdrückende Steuerlasten, schlechte Finanzpolitik und administrative Mängel; Verlagerung des Handels in den Orient; fehlende klare politische Linien, weil Kaiser ermordet wurden; Niedergang des militärischen Geistes, Verlust an patriotischem Eifer; Zerfall des Reichs in zwei Hälften, defätistische geistige und moralische Krise, Leben in einem Zeitalter der Angst und so weiter.

Keine dieser Entwicklungen war der alleinige Grund für den Niedergang: Ein Reich bricht nicht zusammen, weil die agrarische Wirtschaftsweise, die es groß gemacht hat, plötzlich seinen Untergang herbeiführt! Auch nicht, weil Böden übernutzt werden oder Dürren Hungersnöte heraufbeschwören. Oder weil sich Christen in sexueller Enthaltsamkeit üben oder gar weil der Patriotismus erlahmt. Die meisten dieser angeblichen Ursachen scheinen vielmehr Auswirkungen zu sein! Da die Kraft von der Entropie zersetzt wird und die negentropischen Kräfte nicht ausreichen, um sich dieser Entropie effizient entgegenzustemmen, wirken all diese Mückenstiche in der Haut des Elefanten als tödliches Gift.

So gewinnt am Ende die Entropie die Oberhand: Nachdem sie das Reich belauert, begleitet, bedroht und erschüttert hat, ruiniert und besiegt sie es schließlich vollends. Die Zeit, die in kosmologischer Vorzeit entstand, ist nicht dazu bestimmt, zur Ewigkeit zu werden. Es liegt in ihrer Natur, dass sie volatil, vergänglich, flüchtig – eben vorübergehend ist, um keine Redundanz zu scheuen. Eine Kultur platzt eines Tages wie eine Seifenblase, weil es in der Ordnung der Dinge liegt, dass das Sein des Seienden irgendwann endet.

Der Niedergang ist eine Zwangsläufigkeit. Und doch wird auch politisches Kapital daraus geschlagen. Der Optimist wird behaupten, es brauche nur einen Mann der Vorsehung, um den Dunstschleier der Dekadenz zu vertreiben. Oder eine messianische Perspektive: Die Marxismen oder die Faschismen – darunter der Nationalsozialismus – sind optimistische Heilslehren, geben sie doch vor, dass man nur eine Stoßrichtung brauche, um die Kurve der Entropie umzukehren. Auch der Islamismus fällt in diese Kategorie optimistischer politischer Ideologien, die eine strahlende Zukunft verheißen, wenn man ihren Plan nur umsetzt. Nach der Scharia leben, würde alles auslöschen, was als dekadent gilt. Marxisten, Leninisten, Maoisten, Castristen, Faschisten, Vichyisten, Nationalsozialisten oder Islamisten predigen die Erneuerung, den neuen Menschen und die Wiedergeburt. Sie glauben, die Welt könne anders sein, als sie ist, also besser, florierend, blühend, paradiesisch irgendwie. Wie viel Blut fließt, zählt nicht in diesem proletarischen, nationalistischen, rassistischen oder dschihadistischen Erneuerungswahn. Und dieser Optimismus geht mit anonymen Massengräbern und dem systematischen Scheitern ihrer Projekte in der Geschichte einher.

Der Pessimist wird sagen, man könne nichts tun, so sei es eben, es liege in der Ordnung der Welt, aber es brauche einen starken Damm, der sich dieser schmutzigen Flut entgegenstemme. Die menschliche Natur für die Areligiösen, die Erbsünde für die Christen, der Todestrieb für die Freudianer – alle sind sich einig im Glauben an ein starkes Regime, um die zwangsläufig vorhandene Gewalt im Zaum zu halten. Der Konterrevolutionär Joseph de Maistre setzte auf den Henker, der Neobuddhist Schopenhauer auf den starken Mann, der Pansexualist Freud auf den faschistischen Diktator, Heidegger als Philosoph der Seinsvergessenheit auf den Führer und Emil Cioran, der Mann der Syllogismen der Bitterkeit und der Lehre vom Zerfall, auf das reinigende Schwert der Barbaren.

Der Pessimist gibt sich bisweilen als Optimist, wenn er sich, anders gesagt, zum Reaktionär im etymologischen Wortsinn erklärt, insofern er die alte Ordnung wiederherstellen will. Der Optimist will die Gegenwart durch die Zukunft verbessern, der Pessimist strebt das Gleiche, aber durch die Vergangenheit an. Der eine verheißt durch Fortschritt, der andere durch Rückschritt das Paradies. Der Erste erwartet das Heil von der Zukunft, weil er daran glaubt, dass progressistische Rezepte alles ins Lot bringen. Der Zweite geht davon aus, dass man zu den einstigen Grundlagen zurückkehren müsse, weil früher doch alles besser war. Nun entsteht Gegenwart allerdings weder aus der Zukunft des Optimisten noch aus der Vergangenheit des Pessimisten, sondern aus dem Moment der Tragik.

Denn weder Optimismus noch Pessimismus sind angebracht, wenn sich die dritte Option – das tragische Denken – aufdrängt: Dieses sieht das Reale so, wie es ist, oder bemüht sich zumindest darum. Es begnügt sich nicht mit dem Glauben des Optimisten, dass sich der speiende Vulkankrater noch zuschütten lässt, oder mit dem des Pessimisten, wonach die herabströmende Lava mit einem Deich wenigstens eingedämmt werden könne. Das tragische Denken sieht und zimmert keinen Plan, um das Reale am Sein zu hindern. Die Dinge sind so und nicht anders. Fatum, sagten die Römer. Der speiende Vulkan ist wie der Zusammenbruch der Kultur eine Erscheinung reiner Determiniertheit. Daran Anstoß zu nehmen kommt einem magischen Denken gleich.

Aber, so sagen wohl die Anhänger des freien Willens, muss man denn nicht für die eine oder die andere Sache eintreten? Das eine Lager wählen und das gegnerische ablehnen? Was ausgeblieben ist, hätte stattgefunden, wenn das, was stattfand, ausgeblieben wäre. Was nicht war, wäre gewesen, wenn das Gewesene ungeschehen geblieben wäre. Eine Frage zufällig entstehender Formen für Kräfte, die allein auf Dauer Bestand haben. Wäre Napoleon mit vier Monaten in der Wiege gestorben, hätte an seiner Statt ein anderer das Blut vergossen, auf Europas Schlachtfeldern die Soldaten verheizt und immer mehr Gebiete erobert. Eher unwichtig der Name des Diktators, liegt die Diktatur doch in der Ordnung der Dinge. Und der Widerstand gegen sie gehorcht einem entsprechenden Determinismus – wie auch die Gleichgültigkeit ihr gegenüber. Eigennamen sind Masken, hinter denen sich die Notwendigkeit verbirgt.

Die ewige Wiederkehr ist ein deutlicher Hinweis nicht auf das Gleiche, darauf, was zur Zeit dieses oder jenes Phantoms geschah, sondern auf die Kraft, die sich multiform, polymorph, vielgestaltig zeigt. Gleichgültig die Namen: Tamerlan oder Dschingis Khan waren Strohmänner für eine unablässig wirkende Kraft, die Thanatokratie heißt und als eine von vielen Varianten zum Thema Kraft triumphiert. Sie waren einst, sind aber nicht mehr, wurden vielmehr abgelöst von ihresgleichen, die von anderen, die so wie sie handeln, dereinst ersetzt werden. Gestern Stalin und Mao, heute Kim Jong-un in Nordkorea oder der Kalif al-Baghdadi im »Islamischen Staat«.

In einer jüdisch-christlichen Konfiguration, die sich aus dem Glauben an den freien Willen speist, ist es schwierig, Geschichte als ein Abenteuer zu begreifen, in dem Menschen als Statisten anstatt als handelnde Akteure auftreten. Doch je mehr sie handeln, desto mehr sind sie Statisten. Eine Kultur kristallisiert sich nach dem Stendhal’schen Prinzip des entblätterten Zweigs heraus, den man in die Salzmine bei Salzburg legt: Auf dem Holz heranwachsende Kristalle verwandeln es in ein glitzerndes Objekt. Die Fiktion eines Jesus, dieses rein konzeptuellen Konstrukts, das sich unmittelbar aus den Texten des Alten Testaments speiste, funktioniert wie dieser Zweig, der funkelnde Kristalle ansetzt: Religion, Theologie, Armee, Politik, Kunst, Recht, Staat, Polizei, Justiz, Architektur, Bildung, Schule, Universität und Krieg – mit diesen Kristallen tritt der jüdisch-christliche Zweig in Erscheinung.

Jede Deutung von Kultur ähnelt einer kristallographischen Analyse. Alles ist Kristall: Ein Salzkristall gleicht dem anderen, weil beide der Notwendigkeit gehorchen und keiner die eine anstelle der anderen Art seines Seins gewählt hat. Deshalb gleicht auch ein Quarzkristall dem anderen. Doch auch wenn sie denselben kristallographischen Regeln gehorchen, sind Salz und Quarz verschieden. Das Gleiche gilt für Kulturen: Obwohl auch sie dem dialektischen Prinzip ihres Werdens und dem Spiel von Entropie und Negentropie unterworfen sind, entwickeln sie sich unterschiedlich.

Niemand wählt die Art seines Seins, weil viele, hätten sie die Möglichkeit gehabt, eine andere Wahl getroffen hätten. Baudelaire hat sich nicht mehr für das Dichtersein entschieden als ein anderer, der gerne ein Baudelaire gewesen wäre, ohne dass es ihm gelungen wäre. Die poetische Kraft trifft den einen und geht am anderen vorüber. Dies gilt ebenso für eine Kultur, die durch die Entfaltung ihres zufallsbedingten Programms zu dem wird, was sie ist. Sie ist eine Kraft, die voranschreitet und das Reale in ihre Formen zwingt, um ihre Ansprüche zu kanalisieren. Ihr Werdegang ist Schicksal. Die Kraft reibt sich bis zu ihrer Erschöpfung an der Entropie. Die Summe der bremsenden Faktoren endet eines Tages im Stillstand.

Der Zweig einer Kultur besteht immer aus Spiritualität. In der Geschichte ist kein Beispiel für eine Kultur überliefert, aus deren hartem Kern kein Glaube entstanden wäre, der sich dann – offiziell und kollektiv geworden – in Religion verwandelt hat. Bekanntlich ist eine Religion der Glaube einer erfolgreichen Sekte. Und wie gelangt eine Sekte zum Erfolg? Einzig und allein dadurch, dass sie sich mit Macht und Gewalt ihren Weg bahnt. Die Macht kennt nur die Macht als Verbündete. Was ihr widerspricht oder sich gegen sie wendet, wird auf ihrem Durchmarsch pulverisiert.

Das Christentum triumphierte nicht, weil es die Wahrheit in Händen hielt, sondern weil es mit bewaffneter Gewalt, Polizeimacht, politischer List und kriegerischer Einschüchterung auftrat. Aus einem reinen glanzvollen messianischen Konzept, entstanden aus alttestamentarischen Versen, wandelte sich der jüdische Prophet Jesus zu einer überzeugenden historischen Figur von Soldateskas Gnaden. Darwinistisch und den geringsten Widerstand wählend, schlägt die Geschichte stets den Weg einer aktiven Minderheit ein, um die schweigende Mehrheit zu unterwerfen. So kennzeichnet eine entstehende Kultur stets deren Kampfkraft. Dies wird im ersten Teil dieses Buchs (»Die Zeit der Vitalität«) im Einzelnen ausgeführt.

Doch die Kraft geht weit über Wachmannschaften und schwitzende Legionäre hinaus. Sie weiß sich auch mit Intelligenz zu wappnen und dringt in die Gehirne einer weiteren Minderheit ein, die der Fiktion einen ideologischen Körper spendet: In einer Zeit, in der ein allgemeiner Druck herrschte, sich zum Katholizismus zu bekennen, trugen die Denker, Philosophen, Theologen und Professoren mit dazu bei, den kulturellen Zweig mit Kristallen zu besetzen. Patristik, Rhetorik, Sophistik, Scholastik und Theologie – von überallher strömten diese Legionen heran, um die nach Knoblauch und schlechtem Wein riechenden Soldaten zu unterstützen. Während der eine sein Schwert schärfte und polierte, spitzte der andere die Feder und stellte die Tinte bereit. Die Marschrichtung beider war dieselbe.

Künstler, Maler, Bildhauer, Musiker, Archäologen und Historiker führten dem Armeekorps weitere Divisionen zu. Sie gaben Jesus und den Seinen Gesichter und Körper, Form und Gewänder, Blicke und Stimmen, Fleisch und Blut. Man bastelte Christus ein reales, konkretes Leben, fand für ihn Orte, an denen er zur Welt kam, ihm der Prozess gemacht wurde und er am Kreuz starb. Dann wurde der Boden nach Nägeln und Bruchstücken des echten Kreuzes durchwühlt. Vier Jahrhunderte später lagen Dornen aus der Marterkrone und das adrett zusammengefaltete Gewand des Gekreuzigten vor.

Für diese ideologischen Kleinodien entwarf der Architekt die Schmuckschatullen. Der Abriss antiker Bauten, die wiederverwertete Pracht aus heidnischen Tempeln und der neu errichtete majestätische Glanz – alles kleidete die Idee in eine kunstvoll gearbeitete Form. Die Organe der Macht und des Wissens hatten sich eine Bleibe geschaffen. Für ihre Sichtbarkeit brauchte die Kraft Monumentalbauten. Überall schossen Kultstätten aus dem Boden. Die Ausbreitung dieser Vitalität lässt sich auf einer Karte Europas Jahrhundert für Jahrhundert nachzeichnen: Die fantastische Blütezeit der Basiliken, Abteien, Kirchen, Kathedralen und Klöster zeigt, wie prächtig es der jüdisch-christlichen Kultur ging, wie sie vor Gesundheit nur so strotzte.

Zum Kaiser, dem Legionär, dem Theologen, dem Künstler und dem Architekten gesellte sich der Jurist hinzu. Der Glaube erhielt Gesetzeskraft und das Gesetz Glaubenskraft. Die juristischen Fallstricke funktionierten wie das Netz des römischen Retiarius in der Arena: Hatte es sich erst über den gegnerischen Gladiator gelegt, gab es kein Entrinnen mehr. Das Gesetz war nichts anderes als die Erstarrung einer Gewalt zu einer Form, die denen Vorteile brachte, die sie erschufen. Das Recht verkündete nicht das Gerechte oder das Wahre, sondern die Gewalt. Als eine Mischung aus Priester und Soldat, Philosoph und Professor verlieh der Rechtsgelehrte dieser Gewalt den Anschein des Friedens. Zumindest verbot er jede Anwendung von Gewalt abgesehen von derjenigen, die er selbst ausübte.

Der Professor bildete die Lehrer aus. Schule und Universität produzierten kleine Soldaten im Geist der vorherrschenden Ideologie. Anstelle eines freien Denkens wurde gläubiger Gehorsam gelehrt. Das Wissen kreiste wie der in Trance verfallene Derwisch um sich selbst. Die Arabesken der Scholastik, die Voluten der Rhetorik und das Rokoko der Sophistik überforderten einen Geist, der wie der Fisch im Brackwasser zu ersticken drohte. Was dem Lehrer nicht gelang, verwirklichte der Jurist mit dem Soldaten und dem Gefängniswärter. Der Hörsaal überzeugte nur Überzeugte. Draußen richtete jüdisch-christliche Macht Massaker um Massaker an, während die Studenten auf ihren Bänken stockend die Modi des Syllogismus hersagten: Barbara, Festino, Celarent, Fresison, Bocardo und so weiter.

Seinen Verstand zu gebrauchen kam mehr oder weniger dem Einbruch des Wolfs in den Schafstall gleich. Wo die Ratio nicht Werkzeug des Glaubens war – wie es tausend Jahre der Fall gewesen ist – , wurde sie zu dessen Feind – der sie für einige Jahrhunderte sein wird – , ehe sie dann selbst in die Leere stürzt, die sie bis dahin vor sich aufgerissen haben wird. Bei Thomas von Aquin kam der Verstand zu anderen Ergebnissen als bei Montaigne, der das Mittelalter abschaffte. Das Zeitalter der Vitalität war das der Geburt, des Wachstums und der Macht der jüdisch-christlichen Kultur. Das Zeitalter ihrer sich abzeichnenden Erschöpfung wird von Entartung, Vergreisung und Verfall gekennzeichnet sein. Davon handelt der zweite Teil dieses Buchs.

Der gut geleitete Verstand, also der selbstständige und von Gott befreite, leistet mehr und Besseres als Kaiser, Legionär, Theologe, Künstler, Architekt, Jurist und Professor, weil er deren Welt abschafft. Die auf der Christusfiktion errichtete politische Wirklichkeit bekommt Risse. Wie die Archäologie förderte auch die Bibelexegese Zeugnisse zutage, die belegen, dass alles gar nicht so war, wie es das offizielle Narrativ darstellt. Widersprüche, Ungereimtheiten, Abnormitäten, Drolliges, Merkwürdiges und Bizarres liegen ausgebreitet auf dem Tisch des Philosophen, der, anstatt niederzuknien, die Texte in aufrechter Haltung durchdenkt, ohne sie einfach nur nachzubeten oder Kommentare zu kommentieren. Die kritische Auseinandersetzung mit ihnen platziert Sprengstoff in jeder Ecke des jüdisch-christlichen Bauwerks. Es ist nicht ohne Komik, dass Jean Meslier, der erste Sprengmeister, der das Christentum im frühen 18. Jahrhundert ins Visier nahm, ein Pfarrer war.

Hatten die Philosophen die Sprengladungen gelegt, so zündeten die Revolutionäre von 1793 die Lunte an. Die Schockwelle erschütterte die Kultur in Europa und in der gesamten jüdisch-christlichen Einflusssphäre erheblich. Über tausend Jahre hinweg hatte eine Kaste, gestützt auf Gott und seine Priester, die Völker am Boden gehalten. Niemals demütigt man eine Person oder ein Volk ungestraft. Ressentiments sind eine Kraft, die eine Herrschaftsmacht niederzuringen vermag. Das Kräftespiel, dynamische Effekte, kausale Folgen, thermodynamische Grundsätze – was im Zaum gehalten wird, sucht sich anderswo einen Ausweg. Die feudale Mechanik gebar eine revolutionäre Gegenmechanik. Da Gott an der ersten mitgewirkt hatte, strukturierte der Tod Gottes die andere.

Mit der Guillotine, einem von seinem freimaurerischen Erfinder als egalitär und human präsentierten Instrument, tauschte der Mensch der Ressentiments Beil und Richtblock der Feudalherrschaft gegen sein Gesetz ein. Blut, wie es aus dem Hals Ludwigs XVI. spritzte, floss für noch mindestens zwei weitere Jahrhunderte weiter. So wie das Blut Christi die jüdisch-christliche Zivilisation weihen musste, brauchte es das Blut eines Königs, um eine Welt zu durchtränken, die das Christentum durch dessen Verkehrung ins Gegenteil zu überwinden trachtete. Doch wer den Spieß umdreht, schafft ihn nicht ab.

Die theokratische Herrschaft ohne Gott bewahren, am Millenarismus ohne Messias festhalten und die endzeitliche Wiederkunft ohne Propheten aufrechterhalten, Hölle und Paradies ohne Jenseits retten und das Ende der Geschichte ohne theologischen Kompass anstreben – all das führt zwangsläufig in den Abgrund.