»No Sports« hat Churchill nie gesagt - Martin Rasper - E-Book

»No Sports« hat Churchill nie gesagt E-Book

Martin Rasper

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Beschreibung

Wer kennt sie nicht, Churchills berühmte Ablehnung der körperlichen Ertüchtigung? Oder Einsteins düstere Prophezeiung: »Wenn die Bienen verschwinden, hat der Mensch nur noch vier Jahre zu leben.« Oder Galileis letzten Satz: »Und sie bewegt sich doch!« Was all diese Sätze gemeinsam haben: Sie sind komplett erfunden. Martin Rasper folgt den Spuren der berühmtesten falschen Zitate. Er deckt auf, was wirklich gesagt wurde – oder eben nicht –, folgt der Entstehungsgeschichte dieser berühmten Aussagen und erklärt, wie sie zustande gekommen sind. Ein Buch voller Aha- und Ach-so-Effekte, zum Nachschlagen, Querlesen, Mitdenken und Wundern. Mit einem Vorwort von Goethe

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Martin Rasper

»No Sports«hat Churchillnie gesagt

Das Buch der falschen Zitate

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältigerBearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw.Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage© 2017 Ecowin Verlag bei Benevento Publishing,eine Marke der Red Bull Media House GmbH,Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, derÜbertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, aucheinzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durchFotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigungdes Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Gesetzt aus der Minion Pro

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:Red Bull Media House GmbHOberst-Lepperdinger-Straße 11–155071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: grafic’design. pürstinger, Alex StiegIllustrationen: Hans-Christian Kogler, PunktFormStrichPrinted in SlovakiaISBN 978-3-7110-0140-5eISBN 978-3-7110-5205-6

Inhalt

Vorwort

Einleitung

1. »Alles, was im Weltall existiert, ist die Frucht von Zufall und Notwendigkeit.«Demokrit

2. »Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man etwas Schönes bauen.«Johann Wolfgang von Goethe

3. »Auch wenn ich wüsste, dass morgen die Welt untergeht, würde ich noch heute ein Apfelbäumchen pflanzen.«Martin Luther

4. »Das zweitgrößte Übel ist die Sklaverei, das größte aber die Behauptung, der Mensch stamme vom Affen ab.«Alexander v. Humboldt

5. »Der Flügelschlag eines Schmetterlings in China kann einen Wirbelsturm in der Karibik auslösen.«Edward N. Lorenz

6. »Die Garde stirbt, aber sie ergibt sich nicht.«Pierre Cambronne

7. »Fußball ist wie Schach, nur ohne Würfel.«Lukas Podolski

8. »Hier stehe ich, ich kann nicht anders.«Martin Luther

9. »Ich habe nichts zu bieten als Blut, Schweiß und Tränen.«Winston Churchill

10. »Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.«Willy Brandt

11. »Mehr Licht!«Johann Wolfgang von Goethe

12. »Meine Damen und Herren, liebe Neger!«Heinrich Lübke

13. »No sports!«Winston Churchill

14. »Sammler sind glückliche Menschen.«Johann Wolfgang von Goethe

15. »Stell Dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.«Bertolt Brecht

16. »Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.«Winston Churchill

17. »Und sie bewegt sich doch!«Galileo Galilei

18. »Warum rülpset und furzet ihr nicht, hat es euch nicht geschmacket?«Martin Luther

19. »Wenn der Faschismus nach Amerika kommt, wird er ein Kreuz und eine Flagge tragen.«Sinclair Lewis

20. »Wenn die Bienen verschwinden, hat der Mensch nur noch vier Jahre zu leben.«Albert Einstein

21. »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.«Michail Gorbatschow

22. »Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit. Aber beim Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher.«Albert Einstein

Zur Methode

Zum Autor

Vorwort

Der Charme des Besserwissens

von Henning Goethe

Martin Rasper ist der charmanteste Besserwisser, den ich kenne. Und ich kenne einige. Was der Mann weiß, geht auf keine Kuhhaut. Und immer will er es genau wissen. Dinge, die ihm unlogisch vorkommen, kann er nicht einfach hinnehmen; was von anderen als gesetzt akzeptiert wird, muss er hinterfragen. Manchen nervt das, er versteht seine Neugier als Kritik. Aber er hat wie wenige Menschen, die ich kenne, die Gabe, in Zusammenhängen zu denken. Gleichzeitig vertieft er sich ins Detail und stellt Fragen, deren Antworten wiederum den Blick auf das große Ganze verändern. Wenn er beispielsweise in der Zeitung liest, dass in Indien ein Zug den Berg runtergestürzt ist oder dass die Chinesen ein österreichisches Dorf nachbauen oder dass ein Einsiedler im Harz monatelang im Wald gelebt hat oder dass eine Raumsonde auf einem Jupitermond gelandet ist – dann schaut er nach. Wo das liegt, was da genau passiert ist, wie das überhaupt sein kann, oder was weiß ich. Warum? Weil es ihn interessiert. Und weil er immer irgendwas, was damit zusammenhängt, schon weiß und nun die Dinge zueinander in Beziehung setzt.

Und wenn er etwas wirklich wissen will, so wie für dieses Buch, dann schaut er nicht nur im Internet nach oder in einem der Bücher, mit denen sein Arbeitszimmer vollgestopft ist (»wichtige Sachen stehen oft nicht im Internet«), sondern er schreibt irgendwelche Koryphäen an, die irgendwo in der Welt sitzen. Und bekommt erstaunlich oft Antwort.

Gelegentlich aber ist sogar dieser Mensch in der Lage, Dinge einfach mal sein zu lassen. Da hält er sich zurück und verzichtet darauf, alles bis ins Kleinste ausklamüsern zu müssen. Und so ist er mir eigentlich am liebsten.

Als Träger eines prominenten Namens habe ich einen speziellen Bezug zu Geschichte und Gegenwart, zu Dichtung und Wahrheit. Oft kommt am Rand beruflicher Gespräche, beim Small Talk, zögernd und tastend die Frage: »Sagen Sie mal, Ihr Name …?« Ich antworte dann manchmal mit ein paar Sätzen aus dem Reich der Dichtung, manchmal aus dem der Wahrheit.

Und jetzt: Ein Buch über Zitate, die nicht stimmen – meine Güte, wie blöd ist das denn? Dachte ich. Aber dann ließ ich mich eines Besseren belehren. Wenn man diese Geschichten liest, über Einstein und Luther, Churchill und Goethe, Galilei und Podolski, von denen man meist einen Teil schon mal ungefähr gehört hat, die sich aber dann doch ganz anders darstellen, dann ist man überrascht und amüsiert. Und schlauer als vorher.

»Eigentlich geht es immer um Geschichten.« Auch so ein Satz von ihm. »Aber die Fakten müssen stimmen.« Eh klar.

Henning Goethe ist Soziologe, gelernter Tischler, Kaffeeröster, Unternehmensberater, ehemaliger Nachbar und langjähriger Freund von Martin Rasper.

»Es wird wohl falsch zitiert sein;die meisten Zitate sind falsch.«

Theodor Fontane, Die Poggenpuhls

Einleitung

Richtige Gedankenund falsche Zitate

In einem früheren Leben, bevor ich Journalist wurde, studierte ich Geologie. Und da gab es in einer schriftlichen Prüfung mal eine fiese Frage zu Conodonten. Conodonten, soviel zur Erläuterung, sind bizarre Fossilien, die die Evolution vor allem erfunden hat, um Geologiestudenten zu quälen: Sie sehen aus wie Zahnreihen, sind winzig klein, verdammt schwer auseinanderzuhalten und existierten das gesamte Erdaltertum hindurch, 300 Millionen Jahre lang. Man nimmt an, dass es tatsächlich Zähne von aalförmigen Lebewesen sind, die im Meer lebten – nur ist der Rest des Körpers fast nie erhalten. Jedenfalls wusste ich zu wenig über Conodonten und schrieb stattdessen ein Faust-Zitat hin: »Geheimnisvoll am lichten Tag, lässt sich Natur den Schleier nicht entreißen.« Goethe war ja auch Naturforscher, dachte ich, das passt doch. Der Professor reagierte extrem souverän: Er gab mir einen Punkt für Originalität, zog aber einen halben Punkt gleich wieder ab, weil ich, wie er mir bei der Rückgabe der Arbeit erklärte, »ein Schlamper« sei. Korrekt laute der Vers nämlich folgendermaßen, dozierte er dann, während er den erhobenen Zeigefinger tanzen ließ und sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte: »Geheimnisvoll am lichten Tag / lässt sich Natur des Schleiers nicht berauben / und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag / das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben«. 1 : 0 für die Erfahrung des Alters gegen den Leichtsinn der Jugend.

Zitate können also durchaus hilfreich sein, lernte ich daraus – wenn man sie beherrscht. Auch das wusste schon Goethe: »Eine Sammlung von Anekdoten und Maximen ist für den Weltmann der größte Schatz, wenn er die ersten an schicklichen Orten ins Gespräch einzustreuen, der letzten im treffenden Falle sich zu erinnern weiß.«

Und so geht es uns ja allen. Wir lieben zugespitzte Bemerkungen, geflügelte Worte, geschliffene Dialoge. Wir lassen sie im Gespräch fallen, verwenden sie in Reden, Grußworten, Widmungen oder Traueranzeigen. Und natürlich nutzen wir am liebsten Zitate von Menschen, die jeder kennt. Wir gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass berühmte Leute besonders kluge Gedanken äußern, dass sie zu allen Themen, die uns beschäftigen, das Letztgültige bereits gesagt haben, und dass sie schlagfertig sind wie aus dem Drehbuch. Wir wollen Geschichten glauben wie die, dass dem whiskysaufenden, zigarrequalmenden, sprücheklopfenden Winston Churchill eine alte Lady einmal wütend zuzischte: »Wenn ich mit Ihnen verheiratet wäre, würde ich Ihnen Gift in den Tee tun!« – und Churchill ungerührt antwortete: »Wenn ich mit Ihnen verheiratet wäre, würde ich ihn trinken!«

Solche Geschichten sind unausrottbar, auch wenn sie nicht stimmen – sie sind einfach zu gut. Viele der in diesem Buch versammelten Sätze haben diese Art von Qualität. Sie sind prägnant und erhellend; viele sind so griffig, dass Werbeprofis sie nicht besser hinkriegen würden; und manche sind richtig genial. Deshalb sind sie so bekannt. Und deshalb haben sie so ein zähes Leben.

Heutzutage kursieren mehr falsche Zitate als je zuvor. Die Zitatensammlungen im Internet kopieren eine von der andern ab, und selbst ernsthafte Autoren tun sich oft schwer, bis zu den Quellen vorzudringen. Besonders krasse Blüten treibt der Handel mit falschen Zitaten in Todesanzeigen, in der Coaching- und Beraterszene und der Ratgeberliteratur. Und wer sich in jenen Bereichen des Berufslebens tummelt, wo man ständig Meetings und Powerpoint-Präsentationen über sich ergehen lassen muss, der hat mit Sicherheit schon mal ein Impulsreferat gehört, das mit einem Zitat von Henry Ford begann. Von Henry Ford kursieren derart viele Zitate, dass der Mann eigentlich im Hauptberuf hätte Schriftsteller sein müssen.

Die meisten Zitate sind also falsch – hat ja Fontane schon gesagt. Kommt gut, wenn man das so lässig dahinsagt. Aber stimmt es auch? Es ist ja eigentlich nicht Fontane, der hier spricht, sondern eine seiner Figuren: Leo Poggenpuhl, der in Westpommern beim Militär stationiert ist, schreibt den Satz an seine Schwester Manon in Berlin, er fällt also im Kontext einer erfundenen Familiengeschichte. Und er sagt zunächst mal nichts darüber aus, ob der Mensch Fontane dieser Aussage, für sich genommen, überhaupt zustimmen würde. Allerdings – aber so was muss man dann wissen – liebte gerade Fontane es, mit Zitaten zu spielen, etwas bewusst verkehrt zu zitieren oder seinen Figuren schiefe Zitate in den Mund zu legen, um sie dadurch bloßzustellen. Und insofern darf man durchaus sagen: Die meisten Zitate sind falsch, sagt Fontane.

Tatsächlich lässt sich mit Zitaten allerlei Schindluder treiben. Wie oft werden Zitate ungeprüft weitergetragen, fahrlässig verändert oder gar mutwillig erfunden! Ist das überraschend? Nein. Ist es neu? Auch das nicht, nicht einmal im Zeitalter der Fake News. »Um Gedanken und Anschauungen ist es den Leuten auch gar nicht zu tun«, wusste abermals Goethe; »sie sind zufrieden, wenn sie nur Worte haben, womit sie verkehren.«

Die mit Abstand häufigste Verfälschung besteht darin, dass ein Satz mit einem berühmten Urheber zusammengespannt wird. Aus Sicht der Zitate ist das nur einleuchtend: Mit berühmten Eltern lebt es sich natürlich besser. »Matthäus-Effekt« nennt man das Phänomen, dass geflügelte Worte gern zu Leuten wandern, die eh schon berühmt sind. Der Name verweist übrigens nicht auf den Fußballer, was auch passend wäre, sondern auf den Evangelisten. »Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, von dem wird auch genommen, was er hat«, heißt es im 13. Kapitel des Matthäusevangeliums. Oder, wie der Volksmund sagt: »Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen.«

Es gibt in puncto Matthäus-Effekt ein paar absolute Schwergewichte – Autoritäten, die Zitate regelrecht anzusaugen scheinen, so wie ein schwarzes Loch Materie anzieht und nicht mehr hergibt. Aristoteles gehört dazu, Churchill, Einstein; Mark Twain, wenn’s lustig, und Gandhi, wenn’s erhaben sein soll. Das ist sozusagen die internationale Liga. Und dann gibt es die nationalen Champs: in Deutschland Goethe und Luther, in England und Amerika Oscar Wilde und Harry Truman, in Frankreich Victor Hugo, in Spanien Cervantes, in Italien Dante und Leonardo da Vinci. Wenn man nicht weiß, wer’s war – die gehen immer.

Die Zuschreibung eines Zitats an einen berühmten Urheber ist deshalb so unwiderstehlich, weil sie dreierlei bewirkt: Erstens verleiht die Autorität des berühmten Mannes (fast immer sind es Männer) dem Zitat Kraft und Wucht; es wirkt viel stärker, als wenn ein Unbekannter es gesagt hätte. Zweitens fällt ein Teil dieses Glanzes auf den Sprecher zurück, der dadurch gebildeter erscheint. Und drittens hat es etwas Tröstliches, wenn ein großer Geist sich mit einem Thema, das uns umtreibt, auch schon beschäftigt und etwas Gültiges dazu gesagt hat. Letzteres gilt gerade für wichtige Anlässe, etwa für Reden oder Trauerfälle. Beim Oetinger Verlag läuteten vor einigen Jahren die Alarmglocken, als ein bis dahin unbekanntes Zitat von Astrid Lindgren immer häufiger in Todesanzeigen auftauchte: »Wie schön muss es erst im Himmel sein, wenn er von unten schon so schön aussieht?« Die Experten des Verlags waren sich sicher: Der Satz steht nirgendwo bei Lindgren, das ist ein Fake. Man begann zu recherchieren und bereitete sich schon darauf vor, die Anwälte heißzumachen, als eine Erklärung auftauchte: Der Satz stammte aus einer Theateradaption. Astrid Lindgren hatte ihn also tatsächlich nicht geschrieben, aber die Zuschauer des Stücks hatten ihn richtig vernommen. Und nun ist er also in der Welt, der falsche Lindgren-Satz, und von den Trauerkarten nicht mehr wegzukriegen. Er ist einfach zu gut. Und eine hübsche Pointe liegt natürlich noch in der Tatsache, dass es quasi ein unehelicher Satz ist, auch das passt ja zu Astrid Lindgren.

Manche Zitate tun noch etwas anderes, als sich nur an berühmte Leute anzuhängen: Sie verändern sich innerhalb kurzer Zeit, nehmen eine neue Form an, die besser klingt oder das Gesagte besser auf den Punkt bringt – und die sie dann hartnäckig beibehalten. Dabei ist es nicht nur verblüffend zu sehen, wie schnell das teilweise geschieht; die neue Form ist in der Regel auch deutlich prägnanter als das Original. Manchmal wird ein solcher Satz von seinem Erfinder rückwirkend adoptiert und bekommt sozusagen im zweiten Anlauf die Weihe des Originals. So geschehen mit Gorbatschows »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben«; so auch mit Willy Brandts Satz »Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört«, den er in seiner Rede am Abend des 10. November 1989 vor dem Rathaus Schöneberg nicht gesagt, aber nachträglich in sein offizielles Redemanuskript eingefügt und damit eben doch »gesagt« hat.

Bei vielen dieser Entwicklungen wirkt ein Phänomen, das die Linguisten die »unsichtbare Hand« nennen. Den Begriff hat der schottische Volkswirtschaftler und Moralphilosoph Adam Smith im 18. Jahrhundert geprägt, und in jüngerer Zeit hat ihn die Sprachwissenschaft übernommen. Das Wirken der unsichtbaren Hand (wie die Sprache selbst), meint der Düsseldorfer Linguist Rudi Keller, ist weder etwas Künstliches noch etwas rein Natürliches; es ist ein »Phänomen der dritten Art«. Es folgt zwar einer Systematik, aber keinem Plan. Ein Musterbeispiel für das Wirken der unsichtbaren Hand ist die Entstehung von Trampelpfaden. Keiner der Leute, die den Weg »anlegen«, hat das Gemeinwohl im Sinn, allen geht es nur um die eigene Abkürzung – und trotzdem schaffen sie gemeinsam ein intelligentes Wegenetz. »Wenn Leute kreuz und quer über den Rasen laufen«, schreibt Keller, »entsteht kein Trampelpfad; er kann nur dann entstehen, wenn sie auf systematische Weise über den Rasen laufen.« Die Süddeutsche Zeitung fasste das einmal sehr schön zusammen: »Jeder plappert vor sich hin, und ehe die Leute Muh sagen können, reden sie nicht mittel-, sondern neuhochdeutsch. Direkt gewollt hat das aber kein einziger.«

Wenn also die unsichtbare Hand (oder der Volksmund, um es so zu nennen) der Meinung ist, ein Sachverhalt verlange nach einem Satz, der ihn exakt auf den Punkt bringt – dann wird sie diesen Satz finden, hervorbringen, notfalls umformulieren. Und ihn dann, wenn er passt, beibehalten. Und wenn die unsichtbare Hand der Meinung ist, ein Satz, der bereits existiert, passe einfach perfekt zu diesem Ereignis oder jener Person, dann wird sie diesen Zusammenhang herstellen.

Es ist auch die unsichtbare Hand, die entscheidet, ob ein Satz überhaupt berühmt wird – manchmal sogar zum Missfallen des Urhebers. Helmut Schmidt beklagte sich einmal in einem Interview, dass sein Satz »Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen« ständig zitiert werde. Er habe ihn nur ein einziges Mal gesagt, erklärte er, und zwar in einem Interview, in dem der Fragesteller ihn zu sehr bedrängt habe. Es sei »eine pampige Antwort auf eine dusselige Frage« gewesen, und er sehe nicht ein, warum ausgerechnet dieser Satz immer wieder zitiert werde (Subtext: wo er doch so unendlich viel andere und klügere Sachen gesagt habe). Aber es half alles nichts, der Satz ist einfach zu gut. Und Schmidt war machtlos, denn er hatte ihn ja wirklich gesagt. Die unsichtbare Hand ist manchmal auch gnadenlos.

Andererseits gibt es immer wieder auch Fälle, in denen eben doch ein Einzelner dafür verantwortlich ist, dass ein Satz jemandem angehängt wird, der ihn nicht gesagt hat. Und manchmal lässt sich das auch nachweisen. Meist sind es Missverständnisse, hat jemand was falsch verstanden oder erinnert sich falsch; oder jemand hat einen Gedanken irgendwo gehört oder sogar selbst gehabt (es ist ja »alles schon gedacht worden«, Goethe) und schickt ihn dann in den Zitate-Sauger. So etwa Stefan Zweig, der nur in einer Novelle beiläufig hinzuschreiben braucht »Ich glaube, Goethe, hat es gesagt«, und schon ist ein Goethe-Zitat in der Welt, das nicht von Goethe ist.

Diese Phänomene haben übrigens auch schon Georg Büchmann angetrieben, der mit seinen »Geflügelten Worten« die älteste deutsche Zitatensammlung begründet hat und dadurch selbst zu einem Begriff geworden ist. Büchmann, so schreibt es der Herausgeber Alfred Grunow, reizte es zunächst, den Zitaten »hinsichtlich ihrer Herkunft etwas ›auf den Zahn zu fühlen‹ und dabei festzustellen, welche Zitate oft irrtümlich einem falschen Autor zugeschrieben werden, vor allem, welche der Volksmund verändert, das heißt sich einfach ›mundgerechter‹ gemacht hat.«

Es geht dabei ja nicht um Besserwisserei, sondern um die Geschichten, die dahinterstehen. Als damals, nach meiner Erdgeschichte-Klausur, der Professor mir einen halben Punkt für das falsche Goethe-Zitat gab, habe ich mir geschworen: Er wird mich nie mehr dabei erwischen, unsauber zu arbeiten. Das ist jetzt über 30 Jahre her. Der Professor hat inzwischen das Zeitliche gesegnet und seine sterbliche Hülle in den Sedimentationsprozess eingespeist. Aber die Anekdote lebt. Und das Versprechen gilt.

Anmerkungen:

Es wird wohl falsch zitiert sein: Theodor Fontane: Die Poggenpuhls. Verlag der Nation 1980, S. 111 (Auf: http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-poggenpuhls-4436/14).

Geheimnisvoll am lichten Tag: Faust I, Nacht (Faust allein im Studierzimmer), Vers 672 ff.

Eine Sammlung von Anekdoten und Maximen: J. W. v. Goethe, Weimarer Ausgabe I, Bd. 42.2, S. 130.

Um Gedanken und Anschauungen ist es den Leuten auch gar nicht zu tun: aus einem Gespräch mit Eckermann am 16.12.1828; zitiert nach Richard Dobel: Lexikon der Goethe-Zitate. Deutscher Taschenbuch Verlag 1995, Zeile 1078/17.

Der Begriff Matthäus-Effekt stammt ursprünglich aus anderem Zusammenhang und wird z. B. in der Soziologie für soziale Ungleichheit verwendet

Denn wer da hat, dem wird gegeben: Die Stelle findet sich nicht nur bei Matthäus, sondern auch bei Markus und bei Lukas. Auf: http://bibeltext.com/matthew/13-12.htm. Was hier übrigens gern übersehen wird, ist der Kontext: Jesus spricht zum Volk absichtlich in Gleichnissen – aber nicht, um besser verstanden zu werden, sondern damit ihn im Gegenteil nur diejenigen verstehen, die eh schon ahnen, worum es geht: »Euch [den Jüngern, Anm.] ist es gegeben, daß ihr das Geheimnis des Himmelreichs verstehet; diesen aber ist es nicht gegeben. Denn wer da hat, dem wird gegeben, daß er die Fülle habe; wer aber nicht hat, von dem wird auch das genommen was er hat. Darum rede ich zu ihnen durch Gleichnisse. Denn mit sehenden Augen sehen sie nicht, und mit hörenden Ohren hören sie nicht; denn sie verstehen es nicht.« Ganz schön zynisch, dieser Jesus.

Die Astrid-Lindgren-Geschichte: Gerlinde Mühle, Presseabteilung des Oetinger-Verlags, persönliche Mitteilung vom 6.3.2017.

Zum Phänomen der unsichtbaren Hand: Rudi Keller: Sprachwandel. Von der unsichtbaren Hand in der Sprache. UTB-Francke Verlag, 1990.

Die Süddeutsche Zeitung über die unsichtbare Hand: »Das Streiflicht«. Süddeutsche Zeitung, 4.7.1997.

Die Genervtheit von Helmut Schmidt über sein Visionen-Zitat: Giovanni di Lorenzo: »Verstehen Sie das, Herr Schmidt?« Die Zeit, 4.3.2010 (Auf: www.zeit.de/2010/10/Fragen-an-Helmut-Schmidt/seite-4).

Grunow über Büchmann: Alfred Grunow: Zur Geschichte des Büchmann. In: Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes. Gesammelt und erläutert von Georg Büchmann. Fortgesetzt von W. Robert-Tornow u.a., Band I. Deutscher Taschenbuch Verlag 1967, S. 7 f.

»Alles, was im Weltall existiert,ist die Frucht von Zufallund Notwendigkeit.«

Demokrit

Wahrheitsgehalt: 0 ProzentArt der Verfälschung: Erfindung, ZuschreibungKreativitätsgrad: * * * *Urheber: Jacques Monod, 1970

Ein wahrer Satz von Demokrit:

»Nur scheinbar hat ein Ding eine Farbe,nur scheinbar ist es süß oder bitter;in Wirklichkeit gibt es nur Atomeim leeren Raum.«

Das muss man sich mal vorstellen: Ein Nobelpreisträger schreibt ein Buch über sein Lebensthema; dem Buch stellt er ein schönes, elegantes, perfekt zum Thema passendes Motto voran, ein Zitat eines griechischen Philosophen. Das er sich allerdings – ups! – mal eben komplett ausgedacht hat. Und kommt damit durch! Der Mann ist der Franzose Jacques Monod, 1910 bis 1976, ein Molekularbiologe; den Nobelpreis für Medizin bekam er 1965 für seine Forschung zur Genregulation. Sein Buch Zufall und Notwendigkeit erschien 1970 und wurde in Frankreich sofort zum Beststeller; in anderen Ländern war die Reaktion verhaltener.

Das Zitat, soviel muss man zunächst festhalten, ist sehr gelungen; es klingt eigentlich zu gut, um erfunden zu sein. Und es kam auch niemand (bzw. fast niemand, dazu später) auf die Idee, das daran etwas nicht stimmte. Kurz nach Erscheinen der deutschen Ausgabe parlierten der Schriftsteller Jean Améry und der Chemiker Ilya Prigogine in der Zeitschrift Merkur sehr gelehrt über das Zitat, ohne zu merken, dass es erfunden ist. Améry äußert zumindest sein Unbehagen daran, dass Monod nicht einmal seine zentralen Begriffe sauber definiert: »Lassen Sie mich zunächst einmal sagen, was mir als ein großer Mangel seines Werks erscheint. Monod spricht von Zufall und Notwendigkeit und zitiert Demokrit: ›Alles, was im Weltall existiert, ist die Frucht von Zufall und Notwendigkeit.‹ Doch ist seine logische Definition der beiden Begriffe nicht sehr präzise.« Darauf antwortet Prigogine, indem er den Kollegen Wissenschaftler reflexhaft verteidigt: »Ich glaube, man kann sagen, dass es keine sauberen Definitionen von Zufall und Notwendigkeit gibt. […] Der Titel wurde, wie Sie selbst schon sagten, inspiriert durch Demokrit: ›Alles, was im Weltall geschieht (sic!