Noch 172 Tage bis zum Sommer - Lidija Klasic - E-Book

Noch 172 Tage bis zum Sommer E-Book

Lidija Klasic

3,8

Beschreibung

Der Duft des Südens: Geschichten von reifen Früchten, frischer Meeresbrise und einem historisch getränkten Landstrich. Wo beginnt der Süden, wo Istrien? Beginnt der Süden nach Rijeka, bei der einzigartigen Brücke über den Fluss Rijecina, oder dort, wo man das erste Mal den Duft von Tomaten und Meer riecht? Klima, Landschaft, Geschichte haben die Menschen, die Kultur, die Küche Istriens geprägt. Lidija Klasic ist dem Zauber dieses Landstrichs erlegen und sie ist tief den Menschen hier verbunden: sei es der Schweizer Köchin in einem entlegenen Hotel oder der Freundin, die, dort wo die Eulen wohnen, zu anregenden Grillabenden lädt. Klasic erzählt von einem Brief, den Nora Joyce ihrem Mann von einem Kuraufenthalt in Karojba schickt, sie spürt den Wurzeln eines bedeutenden jüdischen Erfinders nach und berichtet von einer Berliner Straßenbahn in Rovinj.

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Foto © privat

Lidija Klasic, geboren in Krapina (heute Kroatien), lebt in Berlin und Rovinj. Studium der Politikwissenschaft in Zagreb, Journalistin beim damaligen Radio Zagreb. Ab 1988 Auslandskorrespondentin in Bonn. Als Tudjman-Kritikerin gekündigt, wurde sie Redakteurin, später Parlamentskorrespondentin bei der Deutschen Welle. Sie berichtete über Ex-Jugoslawien beim WDR-Köln, im Deutschlandfunk und in der NZZ.Bei Folio erschienen: Auf nach Istrien (2011).

LIDIJA KLASIC

NOCH 172

TAGE

BIS ZUM

SOMMER

EINE ISTRISCHEREISE

TransferBibliothek CXXXII

Dem vorliegenden Band liegen Teile des von Lidija Klasic verfassten und 2011 bei Folio erschienenen Bandes Auf nach Istrien zugrunde.

Lektorat: Joe Rabl

© der deutschsprachigen Ausgabe

FOLIO Verlag Wien • Bozen 2017

Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung und Umschlag: Dall’O & Freunde

Druckvorbereitung: Typoplus, Frangart

Printed in Europe

ISBN 978-3-85256-717-4

www.folioverlag.com

E-Book ISBN 978-3-99037-067-4

Inhalt

Noch 172 Tage bis zum Sommer

Wo fängt Istrien an?

Das romantische Quartett

Auf der Bergspitze und darunter

Das schwarze Salz

Nora could cook

Ein Schatz im Wald

Im Schatten des Ladonja

Brot und Kuchen

Vom Wasser her sieht alles anders aus

Das römisch-österreichische Sibirien

Von Pula träumen

Ein Paradies für Auserwählte

Ein Vorort von Venedig

Verwendete Literatur

„Früher hätte ich gedacht: ein Topf. Jetzt wachsen dem Topf Ohren und unter dem Deckel tost scharfer Dampf, Geschlecht und Absichten unbekannt.“

Danijel Dragojević

Noch 172 Tage bis zum Sommer

Unsere Freundin Ljuba rief uns ungewöhnlich früh an: „In der Zeitung steht, zwei Leute haben hundert Kilogramm Steinpilze gesammelt, ich muss schnellstens los, will meine geheimen Plätze abklappern, bevor alle anderen in den Wald drängen …“ Ihre Stimme überschlug sich vor Aufregung, die Pilzsaison ist ein wichtiges Ereignis im hiesigen Leben. Wenn die Steinpilze sprießen, bedeutet es für gewöhnlich, dass der Herbst naht, aber jetzt war kaum Mitte August. Nachdem es lange heiß und trocken gewesen war, goss es tagelang in Strömen, dann wurde es plötzlich wieder warm: perfektes Wetter für Pilze, ohne Rücksicht auf den Kalender. Wenn für die Menschen alles durcheinander ist, warum nicht auch für die Pilze? Am Ende fand Ljuba zwar nur drei Exemplare, aber als sie aufblickte, sah sie, dass sie von dunkelroten Kornelkirschen umgeben war. So pflückte sie einen Korb voll und kochte noch am selben Tag ihre köstliche Wildobstmarmelade.

Das Leben in Istrien ist eine Improvisation im Takt der Natur und der Jahreszeiten. Auch wer nicht gerade mit Einbruch der Dunkelheit zu Bett geht und bei Sonnenaufgang aufsteht, respektiert noch die Regeln: dass die Kartoffelernte im Herbst anfällt, die ersten weißen Trüffeln nicht vor September zu erwarten – und zu bestellen – sind, spät im Herbst die Weinlese und die Olivenernte an die Reihe kommen und nur im Winter in der großen offenen Feuerstelle, die früher der Mittelpunkt jeder istrischen Küche war, ein Feuer entzündet wird.

Die Istrianer haben den Luxus der Langsamkeit noch nicht verlernt. Unweigerlich schleicht sich diese Gelassenheit auch bei den Besuchern ein, bis die Routine des täglichen Lebens irgendwo im Norden die Erinnerungen verblassen lässt. Nach Monaten öffnet man eine Tüte Oregano, der würzige Duft überströmt die trübe Winterkälte und man verspürt eine fast schmerzliche Sehnsucht nach dem Süden. Dann ist es wieder so weit, es beginnt die süße Zeit der Vorfreude auf den Sommer.

Wo fängt Istrien an?

Viele unserer Freunde behaupten, die geografischen Anfänge Istriens sollte man schon in der Hafenstadt Rijeka suchen, nämlich an der architektonisch einzigartigen Brücke über den Fluss Riječina, die auch ein Platz ist. Dort steht, lässig an die Brüstung gelehnt, ein Passant aus Bronze, Janko Polić Kamov, ein außerhalb Kroatiens viel zu wenig bekannter avantgardistischer Schriftsteller. Rebellisch wie er war, reiste er quer durch Westeuropa, gestaltete neue künstlerische Strömungen wie den Futurismus mit und schrieb einen Roman, der als Vorläufer von James Joyce’ Werken verstanden werden kann. Kamov starb kaum 24-jährig 1910 in Barcelona, in einer Zeit, als vor dem Ersten Weltkrieg in Europa eine trügerisch harmonische Stimmung, geprägt durch den Geist des Fin de Siècle, herrschte. Entlang der Nordadria tourten fast gleichzeitig Anton Tschechow, James Joyce und Thomas Manns Figur Gustav von Aschenbach, die kaum weniger von der kleinlich konservativen Gesellschaft angewidert waren als Kamov. Vorausschauende Menschen, die nie das Glück hatten, zusammenzutreffen, geschweige denn, einander zu befruchten. Heute schaut der bronzene Kamov ein bisschen amüsiert auf die Passantenströme und weiter in Richtung Westen – nach Istrien – auf einen Küstenstrich, der sich grün und schmal zwischen dem Meer und den steilen Abhängen des Učka-Gebirges dahinschlängelt. Das ist die Riviera von Opatija – sechs, sieben Orte, früher einfache Fischerdörfer, heute im Juli und August von einer Überzahl an Menschen und Autos, von Lärm und Verschmutzung heimgesucht, doch außerhalb der Saison durchaus bezaubernd.

Auch vor mehr als einem Jahrhundert galt diese andere, östliche Seite der Adria als begehrenswertes Ziel für erlesene Reisende. „Ich habe so oft und jedes Mal mit solcher Bezauberung von diesem irdischen Paradies gelesen“, schrieb Tschechow, als er 34-jährig etwas ermüdet und lungenkrank in Opatija weilte. „Waren Sie schon einmal in Abbazia“, fragte er in seiner Erzählung „Ariadna“ – und beschrieb Opatija als „ein schmutziges slawisches Städtchen mit nur einer Straße, die ewig stinkt und die man nach einem Regen nicht ohne Gummischuhe überschreiten kann“. Als der Icherzähler vorsichtig „mit hochgekrempelten Beinkleidern über die enge Straße stieg und vor lauter Langeweile harte Birnen bei einer alten Frau kaufte, die, als sie in mir den Russen erkannte, die Preise alsbald in fehlerhaftem Russisch nannte, ich mich jedes Mal staunend fragen musste, wohin ich eigentlich ginge und was ich hier zu schaffen hätte, zumal ich immer wieder Russen begegnete, die ebenso betrogen worden waren wie ich“, überfiel Anton Pawlowitsch eine altmodische, heutigen Touristen wie deren Gastgebern wohl unbekannte Empfindlichkeit: „Oh, wie ich mich dann ärgern konnte, wie ich mich dann schämte.“

Heute, auch bei sintflutartigem Regen, wie er manchmal am Mittelmeer herabströmt, versinkt Opatija nicht mehr im Schlamm. Eine andere Beobachtung Tschechows hat aber bemerkenswerte Aktualität, nämlich dass von hier aus sowohl Fiume als auch die fernen, von lila Nebeln gefärbten Inseln sichtbar sind. Das Ganze könnte ein schönes Bild ergeben, wenn nicht der Ausblick auf die Bucht durch „die vielen Hotels nebst ihren Dependancen völlig versperrt wäre, diesen Gebäuden hässlicher bürgerlicher Architektur, mit denen die gierigen Krämer das grüne Ufer besät haben, so dass man in dem Paradiese fast nichts als Fenster und Terrassen erblicken kann …“ Der arme Tschechow, was würde er heute erst meinen?

Den unschönen Auswüchsen entzieht man sich am besten durch einen Wechsel der Perspektive – entweder beobachtet man die Kvarner Bucht von ganz oben von der Straße, die zum Učka-Tunnel führt, oder ganz aus der Nähe. Zum Beispiel an einem Tisch in einer Gasse von Volosko, dem ehemaligen Fischerhafen, den Tschechow während seines Zwei-Tage-Abbazia-Abenteuers bestimmt nicht wahrgenommen hat.

Das kleine „Konoba Tramerka“ haben wir per Zufall entdeckt, als ich in dem mondänen, durch „urbane Villen“, einen Jachthafen und schicke Restaurants völlig veränderten Ort Erinnerungen meiner Kindheit auffrischte. Vergebens suchte ich die kleine Villa mit dem altmodischen Balkon und dem zum Meer gewandten Garten, wo meine Tante und ihre Schwestern, ganz in Weiß gekleidet, auf der Terrasse aus einem Buch, womöglich Tschechow, lasen … Aber damals war sie noch nicht meine Tante. Zu unserer Familie in Crikvenica, vierzig Kilometer südlicher, stieß dieses patriotisch gesinnte Mädchen erst, als sie meinen Uronkel heiratete, dessen deutlich ältere Schwester, meine Urgroßmutter, von allem Italienischen schwärmte, in Triest zur Schule gegangen war und später einen Ungarn ehelichte. Eine Überfülle an Nationalitäten war stets ein Merkmal dieser Gegend, die mit einem Zuviel an Geschichte und einem Zuwenig an historischer Gunst gesegnet ist. Das „Konoba Tramerka“, dessen Name von einer unbewohnten Insel bei Zadar rührt, hat nur wenige Tische – drei auf der Straße, entlang der alten Mauer, und weitere acht in zwei Gasträumen. „Siebzehn Stufen von der Küche vors Haus“, sagt Kristijan Ivančić, der sein Lokal gemeinsam mit dem Philosophen und Koch Andrej Barbieri vor einigen Jahren eröffnet hat. Seine Idee war eine „ehrliche Küche“, die von der Qualität ihrer Zutaten lebt. Tagesfrische lokale Produkte nach traditionellen regionalen Rezepten und ohne viel Schnickschnack schonend zuzubereiten klingt einfach. Wenn diese Kochart auch relativ unkompliziert ist, zeitraubend ist sie trotzdem. „Jeden Morgen gehe ich hinunter zum Hafen und schaue mir an, was die Fischer in ihren Netzen haben“, erzählt Kristijan Ivančić.

Es war an einem späten Nachmittag Ende Mai. Obwohl die Sonne schon wärmte, war auf dem Lungomare, der Spaziermeile zwischen Opatija und Volosko, noch nicht viel los. Ende Mai ist die Makrelenzeit in der Kvarner Bucht, wenn auch große Schwärme, wie früher, nur noch ganz selten vorkommen. Ein Freund, der auf der anderen Seite, auf einer der „von lila Nebeln gefärbten Inseln“, der Insel Krk, geboren wurde, erzählte, dass in seiner Kindheit das Meer im Frühling vor lauter Makrelen wimmelte. Wenn seine Mutter zum Abendessen welche braten wollte, ruderten sein Vater und er mit ihrem Holzboot nur einige Züge vom Ufer hinaus, und in wenigen Minuten konnten sie so viele Fische an Land ziehen, wie für ein üppiges Essen für die ganze Familie nötig waren.

Jetzt ist die Kvarner Bucht fast leergefischt, aber an diesem Tag verirrten sich einige größere Exemplare dieser glänzenden, blausilbernen Fische mit weißem Bauch in die Netze der Fischer von Volosko. Es ist nicht einfach zu unterscheiden, um welche Art es sich handelt. Fische aus der Makrelen-Familie ähneln einander sehr, im Volksmund werden sie die „drei Schwestern“ genannt: škombra, Skuša bokulja (Scomber scomber, Scomber scombrus), palamida, Skuša polanda (Sarda sarda, Polanda sarda) und lokarda, Skuša plavica, lancarda (Scomber japonicus, Scomber capensis). Am besten schmecken die „Schkombren“, mit etwas Übung kann man sie an dem blitzweißen Bauch und den im Vergleich zu den beiden anderen Arten kleineren Augen gut erkennen. Kristijan macht da keinen Fehler, genau diese, also „škombre“, habe er heute Morgen gekauft; als er sie sah, wusste er sofort, wie sie am besten schmecken würden. Er suchte vier schöne Exemplare aus, jedes schwerer als ein halbes Kilo. Fische in dieser Größe kann man gut filetieren, also sollte es „pochierte Makrelenfilets mit Kaperncreme auf einem Rucola-Bett“ geben. Dazu nahm Kristijan noch einen Eimer Wasser mit in die Küche, denn einer seiner Tricks ist, die Makrelen in Meerwasser zu kochen.

Viel glücklicher als Tschechow fühlte sich an dieser Riviera zehn Jahre später sein Landsmann Vladimir Nabokov. Die reiche Familie Nabokov weilte zur Zeit des russisch-japanischen Kriegs und der Unruhen in Petersburg und Moskau, am Anfang des 20. Jahrhunderts, im Ausland, und so mieteten die Eltern mit zwei Söhnen, einem Hauslehrer, einem Zimmermädchen, einem Butler, einem russischen Kindermädchen und einer englischen Gouvernante 1904 für ein paar Monate eine geräumige Villa an der damals modernen Riviera von Opatija. „Ihr Name war Neptun oder Apollo – ich kann immer noch ihr gelbliches, spitzes Türmchen auf alten Bildern von Abbazia erkennen“, schrieb Nabokov in seiner Autobiografie „Erinnerung, sprich!“. Außer dem Gang nach Rijeka und „grauenhaften Besuchen beim gehassten Friseur im nahen Fiume“, was regelmäßig mit Tränen endete, gefiel dem Fünfjährigen in Opatija alles, obwohl er hier seinen ersten Abschiedsschmerz kennenlernte, als seine englische Gouvernante entlassen wurde. „Der entzückenden Miss Norcott wurde eines Abends in Abbazia befohlen, auf der Stelle zu gehen. Sie umarmte mich im morgendlichen Zwielicht des Kinderzimmers, in einem hellen Regenmantel und weinend wie eine babylonische Weide, und an diesem Tag bin ich untröstlich geblieben trotz der heißen Schokolade, welche das alte Kindermädchen der Petersons bereitet hat und dem speziellen Butterbrot, auf dessen Oberfläche meine Tante Nata, geschickt meine Aufmerksamkeit umlenkend, ein Gänseblümchen gezeichnet hat, dann eine Katze und schließlich die kleine Meerjungfrau, von der ich gerade mit Miss Norcott gelesen hatte, und wegen der ich auch geweint hatte …“

Die Villa, in der die Familie Nabokov wohnte, ist heute Teil des Hotels Miramar, in dem betuchte Gäste ein Wellness-Angebot genießen, wahrscheinlich nicht einmal ahnend, dass einige Meter weiter eines sonnigen Morgens Anfang Mai 1908 in der Wohnung über der Apotheke im eben fertig gebauten eingeschossigen Gebäude in der Hauptstraße von Opatija der spätere Erfinder einer Pille geboren wurde, deren Name zum Inbegriff des Entspannens geworden ist. Nach US-amerikanischen Statistiken war dieses Medikament zwischen 1968 und 1987 das meistverkaufte der Welt: Valium.

Leo Henryk Sternbach war der erste Sohn einer hübschen schwarzhaarigen Frau ungarischer Herkunft, Piroška, geborene Cohn, und des deutlich älteren polnischen Apothekers Abraham Sternbach. Die Lebensgeschichte Leo Sternbachs folgt auf schier unglaubliche Weise der Geschichte des 20. Jahrhunderts.

In Opatija gab es vor dem Ersten Weltkrieg zwölf Kliniken, die auf die Heilung von Bronchitis, Asthma und Herzkrankheiten spezialisiert waren. Die Apotheke auf der Hauptstraße lief sehr gut, Abraham Sternbach drehte von morgens bis abends Pillen, und der kleine Leo verbrachte seine Freizeit bei seinem Vater. Das Laboratorium interessierte ihn mehr als die Schule, wo er, laut seinem Biografen, schon damals erleben musste, wie ihn die anderen Kinder als „dreckig“ beschimpften. Als nach dem Ersten Weltkrieg die österreichisch-ungarische Verwaltung von der italienischen abgelöst wurde, wurde in Abbazia auch die deutsche Schule geschlossen. Der dreizehnjährige Leo wurde zuerst nach Villach, dann nach Graz in die Schule geschickt, und nachdem der Vater seine Ersparnisse im Zuge der Wirtschaftskrise verloren hatte, zog die Familie zurück nach Krakau, aber auch dort unterlagen die Juden vielen Schikanen. Da sein Vater Apotheker war, wurde Leo zum Studium der Pharmakologie zugelassen und promovierte zusätzlich in Chemie. Durch einen glücklichen Zufall lernte er 1937 in Wien den späteren Nobelpreisträger Leopold Ružička kennen, der ihn in sein Forschungsteam in der Schweiz aufnahm, wo er dank seiner Stipendien auch nach dem deutschen Angriff auf Polen bleiben konnte. Drei Tage vor Hitlers Angriff im Westen wurde Sternberg von dem Schweizer Pharmakonzern Hoffmann-La Roche angestellt. Diese Firma beschäftigte immer noch jüdische Wissenschaftler, weil einige der Direktoren familiäre Verbindungen zu Juden hatten. Zwei Wochen später emigrierte der Präsident der Firma Roche aus Angst, dass die Wehrmacht auch in die Schweiz einmarschieren könnte, fluchtartig in die USA – ein Glück für Sternbach, denn der Präsident holte bald auch die vielversprechendsten Wissenschaftler aus den Schweizer Laboratorien nach. So kam auch Sternbach mit seiner Ehefrau nach New York – genau am Tag des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion.

Es folgten 57 Jahre der Forschung im Dienste Roches, in deren Laboratorien Leo Sternbach selbst nach seiner Pensionierung im Jahre 1973 noch weitere zwanzig Jahre arbeitete. Seine wichtigste pharmazeutische Entwicklung, das Diazepam, ein Arzneistoff aus der Gruppe der Benzodiazepine, erhielt seinen Produktnamen nach dem lateinischen Verb „valere“, stark sein. In einem der besten „Valiumjahre“, 1978, wurden allein in den USA 2,3 Milliarden Tabletten verkauft. Es zeigte sich zwar, dass die Schattenseite die Abhängigkeit war, aber das wurde nicht ernst genommen. „Die Definition des Valiumabhängigen ist ein Patient, der mehr von den Pillen nimmt als sein Arzt“, scherzten die Psychiater, und die Wundermedizin wurde gesellschaftsfähig: Berühmtheiten beichteten ihre Abhängigkeiten, Elizabeth Taylor gab zu, von einer Mischung aus Valium und Jack Daniels zu leben, die Rolling Stones sangen von ihm als einem Mittel, das hilft, den schweren Alltag von Mutterschaft, Ehe und Hausarbeit zu erleichtern: „She goes running for the shelter / Of a mother’s little helper / And it helps her on her way / Gets her through her busy day.“

Die Tatsache, dass Valium auch in höheren Dosen nicht tödlich war, steigerte seine Popularität zusätzlich. Als der Sicherheitsberater des US-Präsidenten Ronald Reagan während eines politischen Skandals einen Selbstmordversuch mit einer Überdosis Valium unternahm, wachte er einige Tage später ganz lebendig auf. Gegen Ende der Siebzigerjahre wurde die Kritik dann doch immer lauter. Sternbach hat, wie er seinem Biografen erzählte, nie ganz verstanden, warum so viel Aufregung um seine Erfindung entstanden ist. Kritikern antwortete er, sie sollten doch mal darüber nachdenken, wie viele Selbstmorde Valium verhindert und wie viele Ehen es gerettet hat.

Die Firma, die während der 1970er-Jahre 600 Millionen Dollar pro Jahr allein am Valium verdiente, zahlte ihm als speziellen Bonus für das Patent jährlich 10 000 Dollar. Sternbach selbst nahm „seine“ Tabletten nicht: Ihn mache Valium etwas depressiv, pflegte er zu sagen. Ein Jahr nachdem Sternbach in Nordkalifornien im 97. Lebensjahr verstorben war, brachten Vertreter von Roche an seinem Geburtshaus in Opatija eine Gedenktafel an.

In der geschäftigen lauten Hauptstraße von Opatija gehen die meisten Passanten an der Tafel vorbei, ohne sie zu bemerken. Nur einige ältere Menschen bleiben manchmal stehen, besonders aus jenen Grüppchen, die in der letzten Augustwoche in Opatija anzutreffen sind. Diese Besucher sind keine Touristen; sie versammeln sich alle aus demselben Grund – der Erinnerung an das Leben der ehemaligen örtlichen jüdischen Gemeinde. Das Bewahren dieser Erinnerung, nicht aus bloßer Nostalgie, sondern als „Bekräftigung der jüdischen kulturellen Identität“, ist der Sinn des Festivals Bejahad. Dank geschickter Organisatoren beschert dieses eigentümliche jüdische Festival Opatija jeden Sommer einige Glanzmomente – einmal ist es eine wichtige Ausstellung, ein anderes Mal etwa ein Auftritt des Cellisten Mischa Maisky. Wir hatten in einem Sommer sogar das Glück, Maisky nach dem Konzert beim Abendessen im „Plavi podrum“ zu treffen. Dieses Lokal war eines der ersten, in dem nicht nur die Küche einen Versuch startete, die lokale Tradition mit italienisch-französisch-japanischen Einflüssen zu verbinden, sondern in dem auch großer Wert darauf gelegt wurde, den passenden Wein zum Essen zu servieren. Dass dies die Stärke des „Blauen Kellers“ geblieben ist, stellte sich unter Beweis, als wir dort in einer fröhlichen Runde die Hochzeit einer Freundin feierten. Nach einem Millennium-Sekt des Weinkellers Tomac folgte ein Gerstencappuccino mit Tintenfischtinte, die traditionelle Vorspeise dieses Restaurants, die manchmal als Gruß aus der Küche auf den Tisch kommt, in einer Espressotasse mit einem Löffelchen: zwei, drei Happen komprimierter Geschmack und Geruch des Meeres. Dazu getoastetes Brot, blauschwarz und löchrig wie ein Stück Unterwasserfelsen, auch mit Sepiatinte gebacken. Das zeigt, wie der Tintensack des Kopffüßlers einen Koch mit Fantasie zu viel mehr inspirieren kann als nur zu schwarzem Risotto.

Danach aßen wir ein hervorragendes Thunfischcarpaccio, auf Schwarzbrot mit Trüffelcreme, dann panierte Scampi aus der Kvarner Bucht – ein relativ einfaches Essen, das von der Qualität der Krebse lebt; Spaghetti mit Karotten und kleinen Zucchini, mit Trüffeln und gegrillten Scampi; Filets von weißem Fisch mit Sauce auf Maisbrei mit mediterranen Kräutern und ein Dessert mit drei verschiedenen Schokoladensorten, in perfekter Harmonie mit der Zitronentarte, von der meine schlanke Freundin M. ohne zu zögern zwei Portionen aß. Es war ein unvergessliches Essen und ein unvergesslicher Abend unter dem Einfluss der guten Chemie einer späten Beziehung. Die Atmosphäre störten auch nicht die billigen bunten Lämpchen im alten Hafen von Volosko.

Ich stelle mir vor, wie sich während ebensolcher warmer Sommerabende in den frühen 1940er-Jahren eine kleine Gruppe vielleicht genauso wohlgefühlt hat, versammelt in der nahen Kirche der heiligen Anna, um Improvisationen zu hören, die ihr Freund Marcel Tyberg auf der Orgel spielte. Danach drückten sie Tyberg tief berührt, fast sprachlos, die Hand, als ahnten sie, dass sie einander nie mehr Wiedersehen würden. Den großen, hageren Musiker kannte ganz Opatija, denn es war unmöglich, diesen freundlichen Mann zu übersehen, „mit den Händen auf dem Rücken, in einem zu großen, abgenutzten Lodenmantel, mit einer Baskenmütze und guten Schuhen – Reste eines wohlhabenden Lebens – mit besonders dicken Sohlen, um die Pedale zu treten“, erinnert sich seine Freundin Marion Schiffler. „Den Kopf hatte er immer leicht zur Seite geneigt, als würde er versuchen, etwas zu erlauschen. Er war ernst, aber wenn er lächelte, wurde sein Gesicht von einem besonderen Licht erleuchtet.“ Die junge Marion, Tochter eines deutschen Chemikers, die in Opatija lebte und bald fliehen musste, da der Vater nicht für die Nazis arbeiten wollte, lernte den Musiker 1943 kennen. Es war Krieg und die Adriaküste von den Italienern besetzt.

Tyberg, der in „unaussprechlicher Armut“, aber in der Familienvilla in Lovran mit einem bezaubernden Blick aufs Meer lebte, erhielt sich und seine Mutter, eine einst bekannte österreichische Pianistin, indem er als Musiklehrer arbeitete. Unter seinen Schülern war auch ein Freund Marion Schifflers, Enrico Mihić, der Sohn eines Arztes, der selbst mit den Tybergs befreundet war. Mitte der Zwanzigerjahre war Tybergs Vater, ein bekannter Wiener Geiger, vom Symphonieorchester Opatija angestellt worden. Als er unerwartet in Rijeka starb, beschlossen Mutter und Sohn, dauerhaft in die Sommerresidenz umzuziehen. Anfangs komponierte Marcel Tyberg unermüdlich – die tschechische Philharmonie führte unter der Leitung von Rafael Kubelik mit Erfolg seine zweite Symphonie in Prag auf. Unter dem Pseudonym Till Bergmar schrieb Tyberg für lokale Musiker Walzer, Polkas und kurze Unterhaltungsstücke, die auf Promenadenkonzerten gespielt wurden. Alle Angebote, in eines der europäischen Zentren der Musik zu übersiedeln, lehnte Tyberg ab. Er war sehr mit seiner Mutter verbunden, „einer milden und großzügigen Frau, die mit unglaublichem Eifer seine Notenblätter kopierte“, wie sich Marion Schiffler erinnert. Dann kam der Krieg, das Leben wurde mühsam, man lebte irgendwie weiter – dieser Teil der Küste war ohnehin schon seit den Zwanzigerjahren italienisch. Nach dem Zusammenbruch Italiens aber wurden Opatija und Rijeka zur Besatzungszone des Dritten Reichs. Eine der ersten deutschen Maßnahmen war ein Befehl an die Bevölkerung, jüdische Vorfahren zu melden. Gehorsam und naiv wie sie war, meldete Tybergs Mutter ohne viel Nachdenken, dass ihr Urgroßvater Jude war. Einige Monate später starb sie eines natürlichen Todes, aber die schreckliche Maschinerie war schon in Gang gekommen. Obwohl nur zu einem Sechzehntel jüdisch, dürfte Marcel Tyberg eine Vorahnung gehabt haben, denn er vertraute im Herbst 1944 seine Kompositionen der Familie Mihić an. Tage später klopfte die Gestapo an seine Tür, keiner seiner Freunde hat Marcel wiedergesehen. Es verbreitete sich das Gerücht, dass er Selbstmord verübt hatte, um nicht ins Konzentrationslager zu kommen.