Noch einmal meine Mutter sehen - Zana Muhsen - E-Book
SONDERANGEBOT

Noch einmal meine Mutter sehen E-Book

Zana Muhsen

0,0
7,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mit fünfzehn Jahren reist Zana in den Jemen. Sie verlässt zum ersten Mal ihr Geburtsland England, um die Heimat ihres Vaters kennenzulernen. Voller Vorfreude erwartet das junge Mädchen den Urlaub bei ihren Verwandten. Doch die geplanten sechs Wochen werden zu einem achtjährigen Albtraum: Kurz nach ihrer Ankunft werden Zana und ihre Schwester Nadja mit der grausamen Tatsache konfrontiert, dass ihr eigener Vater sie für ein paar hundert Pfund verkauft und gegen ihren Willen verheiratet hat ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 367

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

CoverÜber dieses BuchTitelImpressumEinleitungKindheit und Jugend in BirminghamDer geheime Plan eines VatersAbreiseVerschleppung in die BergeGefangenIn Nadjas NäheWieder alleinVergebliche HoffnungenEin Leben voller SchmerzNeue PerspektivenBesuch von zu HauseIrgendjemand denkt an unsAuf des Messers SchneideWichtige GesprächeGefangene in einem PalastAufenthalt in Ta’izzBürokratie und offizielle VerhandlungenPlötzliche TrennungDas Ende eines AlbtraumsNachwort

Über dieses Buch

Mit fünfzehn Jahren reist Zana in den Jemen. Sie verlässt zum ersten Mal ihr Geburtsland England, um die Heimat ihres Vaters kennenzulernen. Voller Vorfreude erwartet das junge Mädchen den Urlaub bei ihren Verwandten. Doch die geplanten sechs Wochen werden zu einem achtjährigen Albtraum: Kurz nach ihrer Ankunft werden Zana und ihre Schwester Nadja mit der grausamen Tatsache konfrontiert, dass ihr eigener Vater sie für ein paar hundert Pfund verkauft und gegen ihren Willen verheiratet hat …

Zana MuhsenAndrew Crofts

Noch einmalmeine Mutter sehen

Vom eigenen Vater in die Skalverei verkauft

Aus dem Englischen vonSilvia Morawetz

BASTEI ENTERTAINMENT

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Digitale Neuausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 1991 by Zana Muhsen und Andrew Crofts

Titel der englischen Originalausgabe: »SOLD. A Story of Modern Slavery«

Für die deutschsprachige Erstausgabe:

Copyright © 2003 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische AgenturThomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung einesMotives © shutterstock: Amir Bajrich

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-5177-4

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Einleitung

Die Geschichte dieses Buches hätte ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht sein können, wenn sie sich nicht in den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts ereignet hätte. Sie ist bittere Realität in einem der ärmsten Länder der Welt und für die meisten Menschen hier nahezu unvorstellbar.

Für die Mehrheit der Bevölkerung im Jemen hat sich das Leben in den letzten eintausend Jahren kaum verändert. Die Männer suchen sich größtenteils im Ausland Arbeit, um Geld für Lebensmittel nach Hause schicken zu können, ihre Frauen bleiben in den Dörfern, hinter Schleiern verborgen, versorgen die Familien unter primitivsten Bedingungen und arbeiten bis zur Erschöpfung.

Zana und Nadja Muhsen, zwei Teenager aus Birmingham, wurden von ihrem Vater unter dem Vorwand in den Jemen geschickt, dort Urlaub machen und die Heimat ihres Vaters kennenlernen zu dürfen. Man erzählte ihnen, dass märchenhafte Strände auf sie warteten, dass sie lernen würden, wie man Pferde ohne Sattel und auf Kamelen durch die Wüste reitet. Stattdessen aber sind sie – fünfzehn und vierzehn Jahre alt – schon vor der Abreise von ihrem eigenen Vater an jemenitische Ehemänner in den von Familienclans beherrschten Dörfern der Bergregion Mukbana verkauft worden. In dieser mittelalterlichen Welt haben Frauen praktisch keine Rechte und sind den Männern und deren Familien vollkommen ausgeliefert.

Zana und Nadja sind nicht die ersten Mädchen aus westlichen Ländern, die mit üblen Tricks in Ehen und in eine lebenslange Sklaverei verkauft wurden und werden, aber Zana ist die Erste, der mithilfe ihrer Mutter und einer großangelegten Pressekampagne die Flucht aus dem Jemen gelang.

Sechs lange Jahre hat es gedauert, bis Zanas Mutter ihre in den Bergen der Mukbana versteckten Töchter ausfindig machen konnte, und weitere zwei Jahre vergingen, bis ein Weg gefunden war, Zana nach England zurückzuholen. Obwohl sie gezwungen wurde, zumindest äußerlich zu dem zu werden, was sie nach dem Willen der Männer zu sein hatte – eine jemenitische Ehefrau –, hat Zana nie die Hoffnung aufgegeben, eines Tages zu ihrer Familie nach England zurückkehren zu können. Ihr Wille sollte gebrochen werden: Durch nicht enden wollende Arbeit, durch Schläge, Vergewaltigung, seelische Grausamkeiten und die Ängste, die eine Frau durchsteht, die – ganz auf sich gestellt – ein Kind zur Welt bringen muss. Doch Zanas Wille war stärker.

Ihre Schwester Nadja dagegen wird noch immer in der Mukbana gefangen gehalten, und Zana kämpft verzweifelt darum, Nadja, ihren Sohn Marcus und die Kinder ihrer Schwester aus der Sklaverei zu befreien. Mit diesem Buch hofft sie, die Öffentlichkeit aufzurütteln und den Männern, die ihre Schwester gefangen halten, bewusst zu machen, welches unermessliche Leid sie ihr durch eine ihr völlig fremde, erzwungene Lebensweise zufügen.

Kindheit und Jugend in Birmingham

Ich muss ungefähr sieben gewesen sein. Ich hatte mit meiner Schwester Nadja Streit und weiß noch, dass ich sie geschlagen habe und dass sie geweint hat. Meine Mutter lief mir nach, und ich rannte durch die Haustür auf die Lincoln Street, in der wir wohnten. Halb fürchtete ich mich vor dem, was mir blühen würde, wenn Mum mich zu fassen bekäme, halb musste ich aber auch lachen.

Neben dem Gehweg war ein Lieferwagen geparkt, und um den herum sprang ich auf die Straße. Von dem, was danach geschah, weiß ich nur noch, dass ich von einem vorbeifahrenden Auto in die Luft geschleudert wurde, dass ich eine Ewigkeit flog und dann mit den Knien und dem Kopf auf dem Pflaster aufschlug. Danach ging alles durcheinander, und Leute schrien und trugen mich zur Seite.

Ich weiß noch, dass ein Krankenwagen gekommen ist und mich ins Krankenhaus gebracht hat. Die Wunde am Kopf musste vernäht werden, und die Narben auf den Knien sieht man heute noch. Das ist meine erste deutliche Erinnerung.

Von meinem Leben vor diesem Tag weiß ich nichts mehr, ganz genau aber weiß ich, dass ich niemals unglücklich gewesen bin. Das Leben in meiner Familie war schön.

In der Lincoln Street wohnten viele von unserer Familie. Es war das Haus meiner Großmutter, und wir waren alle aus Sparkbrook, wo ich geboren wurde, zu ihr gezogen. Außer meinem Dad und meiner Mum wohnten noch vier ihrer Brüder mit uns zusammen, meine Onkel. Diese Onkel waren nicht viel älter als ich, sie waren wie Brüder. Mum kümmerte sich zu der Zeit um sie. Da sie das älteste von Großmutters dreizehn Kindern war, führte sie, als Großmutter älter wurde, den Haushalt, kümmerte sich um die Brüder, die nicht ausgezogen waren, und gleichzeitig um ihre eigenen Kinder.

Mum und Dad hatten vor mir schon zwei Kinder, Leilah und Ahmed, doch die hatte mein Dad, als ich erst zwei Jahre alt war, zu seiner Familie nach Aden mitgenommen. Zu Mum hat er damals gesagt, dass sie nur zu Besuch mitfahren würden, sie waren drei und vier Jahre alt, aber dann kamen sie nicht wieder. Später fand ich heraus, wie verzweifelt meine Mum darüber war, dass sie sie verloren hatte, doch zu der Zeit wusste ich davon nichts. Mum sprach nie viel über das, was sie beschäftigte, und wir kamen nicht auf die Idee, zu fragen, warum sie fortgegangen waren und nun woanders wohnten.

Als Dad sie zu seiner Familie nach Aden mitnahm, war er anscheinend neun Monate fortgeblieben und hatte Mum kein einziges Mal geschrieben. Als er ohne Leilah und Ahmed zurückkehrte, konnte Mum gar nicht fassen, was geschehen war. Er sagte ihr, dass es das Beste für die Kinder sei, in Aden zu bleiben, sie würden bei ihren Großeltern ein besseres Leben haben als das, das er und Mum ihnen in England bieten konnten.

»Mein Vater hat in dem Dorf Marais ein großes, schönes Haus«, machte er ihr weis. »Die Kinder wollten dort bleiben.«

»Aber das konnten sie doch gar nicht beurteilen«, widersprach Mum. »Sie sind doch noch so klein.«

Sie schrieb ans Außenministerium und ans Innenministerium, doch von dort bekam sie nur zur Antwort, dass Leilah und Ahmed eine doppelte Staatsbürgerschaft hätten, die britische durch ihre Mutter und die jemenitische durch ihren Vater, und dass man sie nun als jemenitische Staatsbürger betrachtete. Zwei Jahre lang schrieb sie an verschiedene Leute, aber niemand wollte ihr helfen, und dann wurde sie wieder schwanger und musste ihr Leben in England weiterführen. Sie redete sich ein, dass Leilah und Ahmed es da unten bei ihrem Großvater wirklich besser hätten, und es wurde, als wir heranwuchsen, nur selten über sie gesprochen.

Nadja und ich hatten noch zwei jüngere Schwestern, Ashia und Tina, und einen kleinen Bruder, der Mo hieß. Und alle wohnten wir in der Lincoln Street.

An dem Tag des Unfalls war ich zur Haustür hinausgelaufen, dabei hatten wir an der Rückseite des Hauses sogar einen ziemlich großen Garten, in dem wir Tauben hielten. Es waren immer viele Leute da, meist Verwandte von Mum. Von Dads Verwandten lebte niemand in England, deshalb erfuhren wir nicht viel über seine Familie oder seine Vergangenheit, abgesehen von dem, was er uns selbst erzählte. Er arbeitete damals bei British Steel und hatte andere kleine Jobs nebenbei, um etwas mehr zu verdienen. Mum musste das Haushaltsgeld wohl sehr genau einteilen, um so viele Kinder zu ernähren, aber ich kann mich trotzdem nicht daran erinnern, dass es mir je an etwas gefehlt hätte. Als Großmutter gestorben war, zogen alle nacheinander aus der Lincoln Street aus. Meine Onkel gingen zuerst fort, und danach zogen Mum, Dad und wir Kinder für eine Zeit lang nach Washwood Heath. Irgendwann später muss Dad beschlossen haben, dass er sein Leben ändern wollte.

Als wir nach Sparkbrook zogen, war ich glücklich. Ich war ungefähr zehn, und mir gefiel die Gegend gleich, als ich sie zum ersten Mal sah. Mein Dad hatte unser Haus mit einem seiner türkischen Freunde gegen einen Fish and Chip Shop in der Stratford Road getauscht, und wir sollten alle über dem Café wohnen. Es war eine ganz gewöhnliche Wohn- und Geschäftsstraße, aber sie wirkte freundlich, und ich fühlte mich dort sofort sehr wohl. Ich wollte immer da bleiben.

Wir kamen schon vor dem großen Möbelwagen hin, und Mum sagte mir, dass das das Stadtviertel sei, in dem Nadja und ich geboren worden waren. Nachdem wir unsere Sachen hineingebracht hatten, fingen wir an, im Café sauber zu machen und die Böden zu wischen, damit wir öffnen konnten. Nadja und ich halfen Mum immer gern bei der Arbeit. Dad machte noch ein paar Umbauten im Laden und eröffnete ihn dann eine Woche später.

Als wir Mädchen klein waren, schenkte Dad uns wenig Beachtung. Er war den ganzen Tag über bei der Arbeit, und wenn er abends nach Hause kam, war er gewöhnlich mit Freunden zusammen und sprach arabisch. Erst als wir in die Secondary School kamen, fing er an, sich anders als alle anderen Väter zu benehmen. Seiner Meinung nach wurden wir allmählich erwachsene Frauen, und er war überzeugt davon, dass wir gefährlichen Versuchungen ausgesetzt waren. Von da an war er sehr streng zu uns.

Als Nadja und ich zwölf oder dreizehn Jahre alt waren, ließ er uns nicht mehr aus den Augen. Jedes Mal, wenn ich aus dem Haus gehen wollte, musste ich mir seinetwegen Geschichten ausdenken. Ich erzählte ihm, dass ich bei meinem Onkel auf das Baby aufpassen würde, wenn ich eine Freundin zu Hause besuchen oder zu einer Party oder in die Disco gehen wollte. Bei unserem Café gleich um die Ecke gab es ein Family Association Centre, eine Art Klubhaus, in dem jede Woche Discos stattfanden. Dort ging ich sehr gern mit meinen Freundinnen hin. Wenn mein Onkel Dad sah, hielt er immer zu mir und sagte, dass ich bei ihm zu Hause sei. Mum wusste auch, wo wir waren, aber sie verriet uns nicht.

Er war dagegen, dass wir Röcke trugen und die Beine zeigten, selbst wenn die Röcke knielang waren. Er hatte etwas gegen die Leute, mit denen ich zusammen war. Und wegen der Männer, die sich nach seiner Meinung nach Einbruch der Dunkelheit auf den Straßen herumtrieben, mochte er auch Sparkbrook nicht. Schwarze hasste er am meisten. Seine arabischen Freunde hatten alle die gleichen Ansichten. In den Klub kamen viele schwarze Jungen, und er wusste, dass ich mit ihnen befreundet war. Er hasste sogar die Musik, die ich hörte, Reggae und Soul, weil sie hauptsächlich von Schwarzen gemacht wurde. Ich fragte Mum immer wieder: »Was hat er denn gegen Schwarze?« Sie antwortete jedes Mal: »Ich weiß es nicht, frag ihn doch«, aber ich hatte nie den Mut, solche Fragen zu stellen. Er sagte immer, dass die Schwarzen dort, wo er herkam, Sklaven seien und dass das auch so sein müsste.

Ich war damals zu jung, um etwas von der Geschichte der Schwarzen zu wissen. Erst später lernte ich, wie viel die Äthiopier beim Aufbau Ägyptens und der anderen arabischen Länder geleistet hatten und dass die Araber ursprünglich aus Afrika kamen. Ich konnte nie begreifen, warum er solche Ansichten hatte, weil ich zwischen Angehörigen der verschiedensten Rassen aufwuchs und sie niemals als Fremde betrachtete. Ich hatte alle Kinder gern, die wie ich in die St. Albans Schule der Church of England gingen – ich hatte immer viel Spaß mit allen meinen Freunden, ganz gleich, welche Hautfarbe sie hatten. Wenn ich mit den Jungs und Männern redete, die als Kunden ins Café kamen, hatte Dad nichts dagegen, wenn ich aber draußen mit einem Mann sprach, egal ob er schwarz oder weiß war, fragte er mich aus, wer das sei, auch wenn er ihn kannte, und drohte mir, mich nicht noch einmal von ihm erwischen zu lassen. Nadja hatte genau die gleichen Probleme mit ihm.

Manchmal war er schlecht gelaunt, und es gab Zeiten, zum Beispiel wenn er mich nicht einmal um die Ecke zu meinem Onkel gehen lassen wollte, in denen ich ihn wirklich hasste. Meine Freundinnen durften anscheinend jeden Abend weggehen. Ihre Väter verlangten zwar, dass sie zu einer festgesetzten Zeit wieder zu Hause sein mussten, aber sie durften wenigstens raus. Wenn ich aus der Schule gekommen war, durfte ich das Haus nicht wieder verlassen, es sei denn, ich erfand irgendeine Geschichte, die ihn überzeugte. Ich ließ mir aber mein Leben nicht von ihm zerstören. Als ich fünfzehn war, schlich ich mich einfach fort, ganz egal, was er sagte, und überließ es meiner Mum zu erklären, wo ich war. Ich wusste, dass ich, wenn ich wieder nach Hause kam, eine Ohrfeige kriegen oder abgekanzelt werden würde, aber das war mir die Freiheit wert. Er schlug nie fest zu, meistens schimpfte er mich nur aus. Wenn ich nach Hause kam, ging ich immer möglichst gleich in mein Zimmer, ohne mit ihm zu sprechen. Weil er uns nicht traute, spionierte er uns manchmal nach und überprüfte, ob unsere Angaben stimmten. Wenn er uns aus den Augen verlor, stellte er uns bei unserer Rückkehr zur Rede und wollte wissen, wo wir gewesen seien, was wir gemacht und mit wem wir uns getroffen hätten.

Ich gewöhnte mir allmählich an, ihn nicht zu beachten, und das machte ihn noch wütender. Von den schrecklichen Dingen, die uns angeblich passieren konnten, wenn wir abends allein ausgingen, glaubte ich ihm kein Wort. Ich hatte nie Angst auf der Straße, ich fühlte mich immer sicher. Es war ja mein Viertel, ich kannte jeden, der vorüberging, und ich wusste, was ich tat. Auch wenn wir schon um sechs Uhr abends nach Hause kamen, wollte er wissen, wo wir gewesen waren. Ich sagte dann immer, in der Schule, obwohl wir meistens mit unseren Freunden ins Familienzentrum oder in den Park gegangen waren. In dem Alter hatten wir nie Lust, zu Hause zu bleiben. Mum war immer sehr schweigsam, aber ich wusste, dass sie uns verteidigte, wenn wir nicht da waren.

Nicht dass wir ständig ausgegangen wären, an den meisten Abenden blieben Nadja und ich zu Hause und halfen Mum im Café. Sie hatte früher auch gearbeitet, aber nie ein Café geführt. Es war schwere Arbeit, aber wir taten sie alle gern. Wir hatten immer viele Leute um uns. Oben, über dem Laden, hatten wir zwei Wohnzimmer und drei Schlafzimmer. Meine Schwestern und ich schliefen alle zusammen im Dachgeschoss des Hauses. Wie alle Schwestern stritten wir uns oft, aber wir kamen im Grunde gut miteinander aus. Ashia war jünger als Nadja, und von einem bestimmten Alter an hing sie wie eine Klette an uns. Ich hielt sie für zu jung und versuchte immer sie abzuschütteln. Um in meiner Nähe bleiben zu können, erpresste sie mich mit der Drohung, Dad zu verraten, was wir vorhatten, wenn wir sie nicht dabeihaben wollten. Nadja und ich hatten die engste Beziehung, mit ihr wollte ich immer zusammen sein. Ich hatte das Gefühl, mich um sie kümmern zu müssen, und sie war der wichtigste Mensch für mich.

Obwohl Nadja und ich die meiste Zeit zusammen waren, hatten wir unterschiedliche Freundeskreise. Nadja war eine Klasse unter mir, und sie war im Gegensatz zu mir ein richtiger Wildfang. Wenn wir zusammen in den Park gingen, war sie mit ihren Freunden auf dem Fußballfeld oder kletterte in den Bäumen herum. Ich dagegen war lieber im Klub und spielte Tischtennis oder Billard oder las ein Buch. Wir hatten unterschiedliche Interessen, aber wir wussten immer, wo die andere gerade war. Nadjas Freunde gerieten öfter in Schwierigkeiten als meine, aber es ging nur um harmlose Raufereien auf der Straße, nie um etwas Ernstes.

Im Familienzentrum gab es immer etwas zu tun. Die meiste Zeit verbrachten wir damit, Bilder und Basteleien für die Kindergruppen zu machen. Das Zentrum stand allen Altersgruppen offen, und wir halfen den Angestellten gern bei der Arbeit mit den jüngeren Kindern. Sie veranstalteten die verschiedensten Wettbewerbe, so zum Beispiel für die originellste Kostümierung. Ich weiß noch, dass wir einmal eine riesige Weihnachtskarte gemacht haben, die jemand bei einem Wettbewerb als Kostüm angehabt hat, sie gewann den Preis von zwei Pfund! Ich hätte das Kostüm am liebsten selbst angezogen, aber ich traute mich nicht, weil ich dachte, für so etwas sei ich nun wirklich schon zu alt.

Mit dem Café lief es anscheinend gut. Wir boten Fish and Chips zum Mitnehmen an, hatten aber auch ein paar Tische, an denen Leute sitzen und essen konnten. Ein Billardtisch war da, den die Jungen aus der Nachbarschaft ständig umlagerten, und Glücksspielautomaten. Es schien nie an Kunden zu mangeln. Dadurch dass wir Mum servieren halfen, lernten Nadja und ich alle Leute aus dem Viertel kennen. Es ging überall sehr freundschaftlich zu, und wir hatten nie irgendwelche Probleme.

In der Schule waren Nadja und ich guter Durchschnitt. Nadja wurde manchmal gerügt, weil sie sich mit ihren Freunden im Klassenzimmer herumstritt, und bei mir schrieben die Lehrer am Ende eines Trimesters immer ins Zeugnis, ich sei zu »schwatzhaft«. Ich war gut in Englisch; Lesen, Schreiben und Orthographie machten mir Spaß. Der Lehrer forderte immer mich auf, aufzustehen und der Klasse laut vorzulesen, und das gefiel mir.

Ich hatte immer auch Bücher, die ich allein las. Ständig trug ich irgendeinen Roman, in dem es um Herz und Schmerz ging, in der Tasche, egal wohin ich ging. Ich nahm die Bücher auch mit in den Park. Hatte ich eins angefangen, dann konnte ich es nicht wieder weglegen. Manches Wochenende saß ich den ganzen Tag auf einer Schaukel im Park und verlor mich in den Geschichten. Am Ende eines traurigen Romans weinte ich. Ich bin immer sehr gefühlvoll gewesen. Über traurige Geschichten im Fernsehen oder in Zeitungen weine ich heute immer noch.

Der Roman »Wurzeln« über die Sklaven, die aus ihrer Heimat in Afrika auf die Plantagen des amerikanischen Südens verschleppt worden waren, hat mich so beschäftigt, dass ich ihn wohl insgesamt sechsmal gelesen habe. Ich konnte damals nicht ahnen, wie viel dieses Thema später mit meinem eigenen Leben zu tun haben würde.

An einem Samstagmorgen im Jahre 1979 gingen Mum, Nadja und ich in die Stadt, um ein paar Einkäufe zu machen. Wir waren auf einem gut besuchten Markt, schlenderten zwischen den Ständen umher und schauten die Kleiderständer und die Verkaufstische durch, auf denen von Handtaschen bis Schallplatten alles ausgelegt war. Nadja stand vor einer Auslage mit Schmuckstücken und sah sich an, was es dort gab. Sie entdeckte einen Ring, der ihr gefiel, nahm ihn und drehte sich zu Mum um.

»Mum«, rief sie, »kaufst du mir den?«

Der Ring kostete neunzig Pence. Als Mum zu ihr hinüberging, kam der Besitzer des Stands hinter seinem Tisch hervorgerannt, hielt Nadja fest und warf ihr vor, dass sie mit dem Ring fortlaufen wollte, ohne ihn zu bezahlen. Alle Leute um uns herum fingen an wild durcheinanderzuschreien, und der Standbesitzer rief die Polizei und beschuldigte Nadja des Diebstahls. Wir mussten alle zum Gericht, und Mum und ich sagten als Zeugen aus. Weitere Zeugen gab es nicht. Wir erklärten, wie es wirklich gewesen war, aber der Standbesitzer beteuerte weiter, dass Nadja habe stehlen wollen, und das Gericht glaubte ihm. Meine Mum musste eine Geldstrafe zahlen, und Nadja bekam Bewährung und wurde einer Sozialarbeiterin zugeteilt. Noch nie hatte jemand von uns Schwierigkeiten mit der Polizei gehabt, und wir waren alle sehr aufgeregt, weil wir wussten, dass Nadja den Ring auf keinen Fall hatte nehmen wollen.

Was wir nicht geahnt hatten war, dass Dad es so schwernehmen würde. Er begleitete uns weder zum Gericht noch bot er uns in irgendeiner Weise seine Hilfe an. Im Gegenteil, seinen arabischen Freunden klagte er über die Schande, dass der Name seiner Familie vor Gericht gezerrt und seine Tochter als Diebin gebrandmarkt worden sei. Das schien seine Befürchtung zu bestätigen, dass wir moralischen Gefahren ausgesetzt wären und auf den »Pfad der Tugend« zurückgebracht werden müssten. Wir sollten lernen, uns wie gute Araberinnen zu benehmen.

Obwohl Dad einen solchen Skandal daraus machte, dass Nadja nun als Diebin überführt war, fand ich später heraus, dass er in seiner eigenen Familie selbst als Dieb und Betrüger angesehen wurde. Als ich sie später im Jemen kennenlernte, erzählten sie mir, dass er das Gold seiner Stiefmutter gestohlen hätte, um es für die Reise nach England zu Geld zu machen.

In den späten sechziger Jahren bekam Mum von Dad einmal ein Telegramm aus dem Winson-Green-Gefängnis, darin bat er sie, zu einem seiner Freunde zu gehen und das Geld zu leihen, das er dem Gericht schuldete. Mum hatte gewusst, dass er am Vormittag zum Gericht gegangen war, um dort über das Geld zu sprechen, aber sie hatte bis zu diesem Telegramm am Abend keine Ahnung, dass sie ihn eingesperrt hatten.

Sie tat, worum er sie gebeten hatte, und sein Freund bezahlte die Summe, die für seine Freilassung nötig war. Danach musste Mum jede Woche zum Gericht gehen und Strafen für Verkehrsdelikte oder für versäumte Ratenzahlungen bezahlen. Sie musste sogar für ihn die Gerichtsvollzieher bezahlen, weil er sich zu sehr schämte und ihnen nicht selber begegnen wollte.

Der geheime Plan eines Vaters

Solange ich zurückdenken kann, waren bei uns zu Hause immer arabische Freunde von Dad zu Besuch. Es waren nur Männer, die zu jeder Tageszeit und abends vorbeikamen, und sie sprachen stets arabisch miteinander. Als ich noch klein war, war das für mich ganz alltäglich, und ich schenkte ihnen nie Beachtung. Frauen und Mädchen bezogen sie in ihre Gespräche niemals ein; es war, als ob wir für sie gar nicht existierten.

Schon seit der Zeit, als wir noch ganz klein waren, war insbesondere ein Mann sehr häufig da. Sein Name war Gowad. Er und Dad waren enge Freunde, sie unterhielten sich und spielten Karten. Ich schnappte arabische Höflichkeitsfloskeln wie »Danke« oder »Möchten Sie eine Tasse Tee?« auf, aber ich hatte nie die geringste Vorstellung, worüber sie miteinander sprachen. Ich interessierte mich auch nicht dafür; das waren die Gespräche erwachsener Männer, nach allem was ich wusste, nichts, was mich betraf.

Abends gingen die Männer oft zusammen in den Pub, und Mum blieb dann mit uns im Café. Wir wussten nie, was sie vorhatten. Mum machte es wohl nichts aus, wie er sie behandelte, ich nehme an, sie hatte sich daran gewöhnt. Ich glaube, verglichen mit einigen der Männer, mit denen ihre Freundinnen zusammenlebten, war mein Dad für sie schon ganz in Ordnung. Sie hat sich uns gegenüber nie über ihn beklagt, obwohl ich später von anderen Leuten hörte, dass es sie traurig machte, wenn sie mit uns Kindern allein in den Park ging und andere Väter sah, die mit ihren Familien etwas unternahmen. Obwohl Mum und Dad fast zwanzig Jahre zusammenlebten und sieben Kinder hatten, hat Dad sie nie geheiratet.

Kennengelernt haben sie sich, als Mum siebzehn war. Dad stammt aus dem Dorf Marais, das in der Nähe der Hafenstadt Aden im Südjemen liegt. Er hatte ihr erzählt, dass er als Fünfzehnjähriger nach England fortgelaufen war, weil seine Familie ihn in eine vermittelte Ehe gezwungen hatte, aus der er fliehen wollte.

Er verreiste oft und blieb dann lange weg, so wie das eine Mal, als er Leilah und Ahmed nach Marais brachte. Da war er neun Monate fort und ließ Mum ganz allein in einem Zimmer in Birmingham zurück. Die meisten seiner Freunde waren so; sie fuhren für ein paar Monate nach Hause in den Jemen und kamen dann für eine Weile zum Arbeiten nach England zurück. Viele gingen zum Geldverdienen auch in Länder mit reichen Ölvorkommen wie Saudi-Arabien oder Kuwait. Im Jemen gibt es für Männer nicht viel Arbeit, deshalb müssen die meisten ins Ausland gehen und ihren Eltern und Frauen Geld nach Hause schicken. Die mit dem Herumreisen in der Welt verbundene Lebensweise gefällt anscheinend vielen von ihnen, sie gibt ihnen ein Gefühl von Freiheit und erlaubt ihnen, sich zu benehmen, wie sie wollen. Sie wissen ja, dass die Frauen zu Hause bleiben, ihre Kinder erziehen und die Häuser und die kleinen Äcker versorgen.

Kurz bevor ich die Schule abschloss, bekam ich einen Teilzeitjob als Reinigungskraft in Büros. Mit Lynette, meiner besten Schulfreundin, meldete ich mich nachmittags in den Büros, und man wies uns unsere Arbeit zu. Ich verdiente mir so ein wenig Taschengeld für Zigaretten und Schallplatten. Ich hab immer gern Reggae und Soul gehört, noch heute kaufe ich mir ständig Platten.

Anfangs rauchte ich nur ein oder zwei Zigaretten am Tag, musste es aber vor Dad geheim halten. Man konnte zu der Zeit Zigaretten noch einzeln in den Läden kaufen, und als ich noch nicht genug Geld hatte, um mir meine eigenen zu kaufen, hab ich immer welche von Mum stibitzt. Im Hof an der Rückseite des Cafés hatten wir eine Toilette, und dorthin ging ich zum Rauchen. Einmal kam Mum gerade nach mir auf die Toilette und bemerkte den Rauch, sie warnte mich, dass Dad mich umbringen würde, wenn er mich erwischte.

Ich weiß nicht mehr, warum ich anfing zu rauchen, aber ich weiß noch, dass die Leute mir vorher immer Komplimente wegen meiner blendend weißen Zähne gemacht hatten. Die Zigaretten sorgten dafür, dass damit bald Schluss war. Bevor ich England verließ, habe ich aber nicht wirklich stark geraucht.

In der Regel hatte Dad nichts dagegen, wenn ich mich mit Lynette traf. Ihre Eltern besaßen in der Stratford Road einen Laden, und so oft ich konnte, ging ich dorthin und half ihnen.

Ich hatte nie vorgehabt, den Bürojob lange zu machen. Ich hatte ihn seit zwei oder drei Monaten, als ich von dem geplanten Urlaub im Jemen erfuhr. In Wirklichkeit wollte ich eine Ausbildung als Kindergärtnerin machen. Die Arbeit mit den Kindern im Familienzentrum machte mir viel Spaß, und ich hatte auch in der Schule Kurse über Kindererziehung belegt. Jeden Mittwoch durften wir uns ein Hobby aussuchen, mit dem wir uns ernsthaft beschäftigen wollten. Einige Kinder wollten Bibliothekare werden und gingen mittwochs in Bibliotheken. Ich ging in Kindergärten und beaufsichtigte Kinder und beobachtete die Kindergärtnerinnen bei der Arbeit. Es war wie ein Kurs. Ich wollte aufs College gehen und eine richtige Fachausbildung machen. Ich habe mich immer gern um kleine Kinder gekümmert, ich glaube, ich war für mein Alter sehr vernünftig.

Eines Abends waren Nadja, Ashia und ich im Zentrum um die Ecke. Als wir zum Café zurückkamen, war es ungefähr neun Uhr. Wir rannten nach oben ins Wohnzimmer und sahen eine ganze Runde von Arabern bei Mum und Dad sitzen. Dads alter Freund Gowad war auch dabei.

Anscheinend war Dad einmal nicht böse, dass wir uns verspätet hatten. Er stellte uns den Fremden vor, was ungewöhnlich war, und sie redeten alle englisch und bezogen uns in die Unterhaltung mit ein. Die Atmosphäre war sehr freundschaftlich. Ein Mann war mit seinem erwachsenen Sohn da. Der Mann hieß Abdul Khada, und sein Sohn Mohammed. Ich fragte Mohammed, wie lange er schon in England sei, und er erzählte mir, dass er seit vier Jahren in einer Fabrik arbeite. Davor hatte er einen guten Job in Saudi-Arabien gehabt und viel Geld verdient. Ich glaube, dass er sich so lange in England aufhielt, weil er eingebürgert werden wollte, damit er nach Belieben kommen und gehen konnte. Die meisten Jemeniten machten es so. Sie lernen gern Englisch, weil sie mit einer zweiten Sprache etwas Besseres sind, wenn sie in den Jemen zurückkehren. Mohammed sprach gut Englisch und schien sehr nett zu sein. Abdul Khada war klein und dick. Er hatte einen großen Schnurrbart, lockiges Haar und große Augen. Er war anscheinend ein übellauniger Mensch, zu mir war er aber damals sehr nett.

Gowad hatte Fotos von seiner Familie und besonders viele von seinem Sohn mit, die er uns zeigte. Wir schauten sie mit höflichem Interesse an, aus Respekt, dachten uns aber nichts weiter. Zu Nadja war Gowad besonders nett. Wir unterhielten uns eine Zeit lang, und dann verabschiedeten sich die fremden Männer.

Nachdem sie gegangen waren, erzählte Dad Nadja, dass Gowad angeboten habe, sie für einen einmonatigen Urlaub mit in den Jemen zu nehmen, wo sie dann auch unseren Bruder Ahmed und unsere Schwester Leilah besuchen sollte. Er hatte oft davon gesprochen, wie wunderschön sein Heimatland sei, und nun malte er uns ein Bild, als wäre der Jemen einer der Orte, an denen die Filmwerbung für die Bounty-Schokoladenriegel gedreht wird. Er sprach von wunderschönen, palmengesäumten Stränden, ewigem Sonnenschein und Kamelritten durch die Wüste. Er beschrieb, dass die Häuser, in denen sie dort alle lebten, auf Klippen stünden, und dass man von ihnen auf blaues Meer und weißen Sand blickte, und er sprach von Schlössern auf Sanddünen. Er sagte, sie würde auf einer Farm wohnen und lernen, wie man ohne Sattel Pferde reitet.

Es klang so wunderbar, dass Ashia und ich auch dorthin fahren wollten. Ich war auch nicht so glücklich darüber, dass Nadja allein fahren sollte, mit vierzehn hielt ich sie für zu jung, um in Begleitung Fremder so weit zu reisen, und außerdem ging sie ohne mich nie irgendwohin. Ich sagte Dad, dass ich sie begleiten wolle. Zum einen war ich eifersüchtig, dass sie so wunderbare Ferien bekommen sollte, und zum anderen wollte ich nicht sechs Wochen ohne sie verbringen, aber ich war auch beunruhigt, dass sie ganz allein fahren sollte.

Dad hörte mir zu, und ich hatte den Eindruck, dass er in diesem Augenblick zum ersten Mal darüber nachdachte, mich ebenfalls fahren zu lassen. Er nickte schlau und sagte: »Wir werden sehen.« Er wollte sich diese Ideen offensichtlich sehr genau durch den Kopf gehen lassen.

Er muss anschließend zu seinen Freunden gegangen sein, um mit ihnen darüber zu sprechen, und ein paar Tage später sagte er mir, dass Abdul Khada und sein Sohn Mohammed ein paar Wochen früher als Gowad in den Jemen zurückfahren würden und freundlicherweise angeboten hatten, mich mitzunehmen, so dass ich ihre Familie besuchen und danach mit Nadja weiterfahren und die Ferien bei Leilah und Ahmed verbringen konnte. Ich war sehr aufgeregt. Ich würde zum ersten Mal in die Ferien fahren, und gleich mit einem Flugzeug. Ich freute mich auf die Abwechslung und das Faulenzen in der Sonne. Und dann würde ich zurückkommen und meine Ausbildung als Kindergärtnerin anfangen.

Obwohl ich lieber am gleichen Tag wie Nadja abreisen wollte, hatte ich doch Angst, zu Hause bleiben zu müssen, wenn ich nicht an dem Tag fahren würde, für den mir das Flugticket angeboten wurde. Darum war ich einverstanden, zwei Wochen vor Nadja mit Abdul Khada und Mohammed zu reisen.

Mum war sehr schweigsam, schien sich aber zu freuen, dass wir einen schönen Urlaub haben sollten. Ich erinnere mich noch, dass ich sie fragte, wie ich mich mit Leilah und Ahmed verständigen könnte, da ich kein Arabisch konnte und sie wiederum kein Englisch. Ich wusste das, weil sie Dad regelmäßig Tonbandkassetten schickten und ihm auf Arabisch erzählten, wie es ihnen ging. Er spielte sie seinen Freunden vor, um ihnen zu beweisen, wie glücklich seine Kinder waren. Mum hat nie darüber gesprochen, was sie von den Kassetten hielt. Ich glaube, sie litt sehr, aber da sie das Gefühl hatte, sowieso nichts unternehmen zu können, hielt sie sich heraus. Und ich bin einfach davon ausgegangen, dass es ihnen gut gehen musste, wenn Dad das sagte.

Damit Nadja in den Jemen fahren konnte, musste Mum eine Genehmigung von ihrer Sozialarbeiterin einholen, dass sie das Land verlassen durfte. Mum meinte, dass eine Abwechslung Nadja nach der Belastung, die sie mit der Gerichtssache gehabt hatte, guttun würde, und sie rief an und bat um die Genehmigung. Man wollte die Entscheidung nicht sofort fällen, sie mussten sich gedulden. Nadjas Sozialarbeiterin machte dann einen Hausbesuch und sagte, dass sie Gowad überprüft habe und sie mit ihm in die Ferien fahren dürfe. Wir waren beide schrecklich aufgeregt bei der Aussicht auf ein solches Abenteuer, und wir hatten auch ein bisschen Angst.

Abreise

Wir reisten Ende Juni 1980, eine Woche vor meinem sechzehnten Geburtstag und vier Monate vor Nadjas fünfzehntem.

Am Abend vor meinem Abflug luden ein paar meiner Freunde uns beide ins Zentrum ein. Dad wusste, dass wir hingingen, und es störte ihn anscheinend nicht. Es schien ihm auch egal zu sein, wann wir an diesem Abend nach Hause kamen. Das hätte uns eigentlich auffallen müssen, aber wir waren einfach glücklich darüber, dass wir uns an dem Abend amüsieren durften.

Meine Freunde holten mich zu Hause ab, alle kicherten und tuschelten und freuten sich über irgendetwas. Unsere ganze Clique ging zum Klub, Ashia war auch dabei. Als ich das Zentrum betrat, sah ich, dass der Raum mit Luftballons geschmückt und voller Menschen war.

»Was ist denn los?«, fragte ich beim Umschauen.

»Das wird eine Abschiedsparty«, sagten sie, »für dich und Nadja.«

Ich traute meinen Augen nicht, als ich sah, was sie alles organisiert hatten. Es gab eine Disco mit einem Discjockey und Essen und Getränke. Es war ein toller Abend, alle Leute, die ich kannte, drängten sich in den Raum, und alle wünschten uns viel Spaß und sagten, wie sie uns beneideten, weil wir das Glück hatten, etwas von der Welt zu sehen und das exotische Leben in der Wüste kennenzulernen. Sie alle kannten Dad und wussten, dass er von irgendwo kommt, wo es sehr geheimnisvoll und schön ist.

Einer der Klubverantwortlichen trat auf ein Podest, nahm das Mikrofon und hielt eine Rede für uns, und er wünschte uns beiden viel Spaß. Bei dem Gedanken, von ihnen wegzufahren, fing ich an zu weinen. Ich wusste zwar, dass es nur für sechs Wochen sein würde, aber ich war bis dahin noch nie von ihnen getrennt gewesen, und es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Wir blieben bis Mitternacht dort und tanzten und redeten.

Während wir uns auf der Party amüsierten, bereiteten sich die Männer in der Stille und Dunkelheit der Nacht von Birmingham auf die Reise vor. Sie hatten alles Notwendige erledigt und warteten nun bei uns zu Hause auf uns. Während wir tanzten und lachten und klönten, saßen sie über dem Café und unterhielten sich.

Schließlich verließen wir die Party und gingen durch die kühlen, leeren, nächtlichen Straßen nach Hause. Wir waren immer noch glücklich, in Erwartung der vor uns liegenden Abenteuer aber zunehmend auch nervös.

Um drei Uhr morgens sollte uns ein Bus abholen und zum Flughafen Heathrow in der Nähe von London bringen. Als Nadja, Ashia und ich nach Mitternacht in der Wohnung eintrafen, sahen wir, dass Mum und Dad noch auf waren und sich mit Abdul Khada und seinem Sohn Mohammed im Wohnzimmer unterhielten. Mum sagte, dass wir nach oben gehen und noch etwas schlafen sollten, und versprach, uns zu wecken, wenn der Bus da sei. Ich antwortete, ich wäre nicht müde. Ich war zu aufgeregt, um schlafen zu können. Die Männer nahmen kaum Notiz von uns.

Alle meine Freunde hatten mir versprochen, dass sie zwischen ein und zwei Uhr nochmals vorbeikommen und sich endgültig verabschieden würden. Ich hatte sie gebeten, zur Rückseite des Hauses zu gehen und draußen auf mich zu warten, weil ich wusste, dass Dad verrückt werden würde, wenn er sie sah.

Die drei Männer blieben im vorderen Zimmer. Ich hörte, dass sie arabisch sprachen, und wusste deshalb, dass sie nicht herauskommen würden. Nadja und ich schlichen uns hinunter, als wir sicher waren, dass sich unsere Freunde hinten eingefunden hatten, und wir standen am Hoftor und flüsterten. Eine meiner besten Freundinnen, Susan, fing an zu weinen und sagte: »Fahr nicht, ich will nicht, dass du fährst.« Ich bat sie, sich keine Sorgen zu machen: »Ich bin doch in Nullkommanichts wieder da, ich bleibe nicht lange.« Ich war selber den Tränen nahe, weil ich sie alle zurücklassen musste, und nervös, weil ich so weit weg fahren sollte von allem, was mir vertraut war.

»Na gut«, sagte Susan, »aber vergiss nicht, mir zu schreiben.«

In den frühen Morgenstunden verschwanden sie dann nacheinander, und Nadja und ich gingen hinein. Nadja küsste mich zum Abschied und ging nach oben schlafen. Ich war ganz nervös vor Aufregung und setzte mich zu den drei Männern, die im vorderen Zimmer Karten spielten, bis der Bus kurz vor drei eintraf. Das Motorgeräusch war der einzige Laut, der in der Nacht zu hören war, die Männer sprangen auf und ließen Karten und Geld liegen. Sie hatten es anscheinend sehr eilig, loszufahren. Als ich Nadja das nächste Mal sah, berichtete sie mir, dass sie und unsere Geschwister, als sie am folgenden Morgen aufgestanden waren, die Karten und das Geld auf dem Tisch gefunden hätten. Sie hätten einfach alles für Süßigkeiten ausgegeben.

Als wir aus dem Haus traten, war es kühl geworden. Im Bus saßen schon ein paar andere Leute. Das Licht im Businnern erhellte ihre Gesichter; mit großen Augen, in denen eine Mischung aus Müdigkeit und Erregung lag, starrten sie zu uns heraus. Mum und Dad fuhren bis zum Flughafen mit und wollten die Männer und mich dort verabschieden. Während der ganzen Fahrt schlief ich nicht, sondern starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit und versuchte mir vorzustellen, was mich im Jemen erwarten würde.

Als wir in Heathrow ankamen, wurde es gerade hell, das Flugzeug sollte aber erst um zehn Uhr starten. Der Flughafen begann sich schon mit Leben zu füllen, denn die ersten Frühmaschinen flogen ab, und Geschäftsleute, die sie noch erreichen wollten, hasteten vorüber.

Wir hatten Hunger, und von irgendwo drangen köstliche Essensgerüche. Wir gingen alle ins Flughafenrestaurant und frühstückten. Abdul Khada war sehr freundlich und großzügig, er bestellte mir alles, was ich wollte, und war nur darauf bedacht, dass ich mich wohlfühlte und glücklich war. Ich hatte uneingeschränktes Vertrauen zu ihm. Zu der Zeit vertraute ich allen arabischen Männern blind, weil ich glaubte, dass sie tiefreligiös wären und deshalb keinem Menschen etwas Böses antun könnten. Er hatte alle Flugkarten, ich bekam sie nie zu sehen, und darum setzte ich einfach voraus, dass ich ein Rückflugticket hatte und dass er schon aufpassen würde, dass ich nach meinen Ferien ins richtige Flugzeug einstieg. Ich hatte keine Lust, mir über diese Einzelheiten Gedanken zu machen, ich war froh, dass die Männer sich um alles kümmerten.

Mum und Dad blieben bis zum Start des Flugzeuges bei uns. Ich wurde immer nervöser. »Wenn es mir dort nicht gefällt«, fragte ich Mum einmal, als die Männer nicht zuhörten, »darf ich dann zurückkommen?«

»Aber natürlich«, beruhigte sie mich. »Du darfst zurückkommen, wann immer du willst.«

Als wir zu dem Jumbo-Jet auf dem Rollfeld hinausgingen, hatte ich große Angst vor meinem ersten Flug. Das Flugzeug wirkte, als wir näher kamen, so groß, und da war so viel Lärm und Wind. Ich drehte mich zum Flughafengebäude um und hoffte, dass ich Mum sehen und ihr ein letztes Mal zuwinken könnte, doch die Leute, die dort standen, waren zu weit entfernt, um die Gesichter zu erkennen. Einen Augenblick lang spürte ich Panik, so plötzlich von allem abgeschnitten zu sein, was mir vertraut war, unterwegs mit zwei Männern, die ich kaum kannte, zu etwas ganz Neuem und Unbekanntem.

Wir hatten drei Plätze in der Mittelreihe des Flugzeugs. Ich saß neben einer Frau aus England, die nach Abu Dhabi unterwegs war. Weil ich so aufgeregt war, redete ich die ganze Zeit, während das Flugzeug zum Starten vorbereitet wurde, auf sie ein. Sie erzählte mir, dass sie Hebamme sei, und antwortete sehr freundlich auf meine neugierigen Fragen und half mir dadurch, mich zu entspannen. Abdul Khada saß auf der anderen Seite neben mir und schlief, eingelullt durch das Motorengebrumm, fast den ganzen zehnstündigen Flug hindurch. Ich rutschte auf meinem Sitz hin und her und redete und versuchte mich abzulenken.

Wir flogen nicht nonstop in den Jemen, sondern mussten einmal in ein kleineres Flugzeug umsteigen. Als wir am späten Nachmittag dort landeten und auf die Gangway des Jumbos hinaustraten, schlug mir die heiße Luft wie ein Tuch entgegen, das mich ersticken wollte, und nahm mir den Atem. Nie zuvor hatte ich eine derartige Hitze erlebt. Zunächst glaubte ich, dass sie von den Flugzeugmotoren kommen musste. Als wir über die Landebahn gingen, rief ich Abdul Khada durch den Motorenlärm zu: »Wo ist denn der Heizlüfter, der diese Hitze verbreitet?«

Er lachte. »Das ist das Wetter«, erklärte er mir. »Das ist hier die normale Temperatur. Du bist nicht mehr in deinem kalten alten England.«

Man hatte zwar über die Lautsprecher durchgesagt, wo wir landeten, aber ich hatte die Durchsage nicht richtig verstanden.

»Wo sind wir?«, fragte ich.

»In Syrien«, antwortete Abdul Khada, und ich spürte auf einmal, wie sich mein Magen vor Angst zusammenkrampfte – ich war so weit weg von zu Hause und in einem so fremd klingenden Teil der Welt. Panik überfiel mich, und einen Augenblick lang wollte ich einfach nur ins Flugzeug zurückrennen und nach Hause nach Sparkbrook zu Mum und Nadja fliegen. Ich sah mich nach einer Fluchtmöglichkeit um, doch die Leute gingen alle ganz ruhig auf das Flughafengebäude zu und spürten nicht, dass etwas nicht stimmte. »Es ist alles in Ordnung«, redete ich mir ein. »Du machst nur Ferien.« Der Gedanke daran, dass Nadja bald in meiner Nähe sein würde, hielt mich davon ab, irgendetwas zu unternehmen, und ich ging wie die übrigen weiter.

Unser Anschlussflug hatte Verspätung, und wir mussten in der Flughafenhalle warten. Ich dachte, es würde sich nur um ein paar Minuten handeln, doch aus den Minuten wurden Stunden. Die Hitze war überwältigend, und aus verschiedenen Flugzeugen strömten weitere Menschentrauben herein und verstopften die Halle. Was mir so fremd vorkam, war ihnen anscheinend ganz vertraut. Ich trank die ganze Zeit Coke und schaute mir das Defilee von Kleidern und Gesichtern an.

Zum Sitzen gab es nur Holzbänke, ich war so müde und verschwitzt, und mir war so heiß, dass ich mir wünschte, ich hätte diese Reise nie angetreten. Ich sehnte mich nach Abkühlung, nach einer Dusche oder einem Bad. Ich beschloss, zur Damentoilette zu gehen und mich frisch zu machen. Beim Eintreten schlug mir ein entsetzlicher Gestank entgegen. Der Raum war voller Menschen, und als Toiletten dienten Löcher im Boden. Überall war Schmutz, es war unglaublich. Ich hatte so etwas noch nie zu Gesicht bekommen. Ich rannte wieder hinaus und fühlte mich so unwohl wie zuvor und erzählte Abdul Khada, wie es dort aussah, in der Hoffnung, er würde mir etwas Sauberes zeigen, wohin die Touristen aus Ländern wie England gehen konnten. Er aber lachte wieder bloß und sagte, ich sollte mich nicht so anstellen. Ich setzte mich wieder auf die Holzbank und starrte unglücklich vor mich hin.

Mit einem klaren, sternenübersäten Himmel senkte sich die Nacht über den Flughafen, und das Gedränge in der Halle ließ langsam nach, je mehr Leute nach draußen auf die Rollbahn zu den beleuchteten Flugzeugen gingen, die im Dunkeln regelrecht zu glühen schienen. Am Ende waren in dem riesigen, hallenden Flughafengebäude nur noch ungefähr zwanzig Leute übrig geblieben, die alle auf den gleichen Flug warteten wie wir. Wir sprachen nicht mehr viel, und je schwärzer die Nacht wurde, desto niedergeschlagener wurde ich. Wir saßen nun schon sieben Stunden dort.

Es war tiefe Nacht, als unser Flugzeug kam und wir zum Abflug aufgerufen wurden. Ich war zwar froh, den Flughafen endlich zu verlassen, aber mich ängstigte die Vorstellung, in ein so kleines Flugzeug einsteigen zu müssen. Verglichen mit dem Jumbo fühlte man sich in seinem Inneren so beengt und ungeschützt.