Verschleppt im Jemen - Zana Muhsen - E-Book

Verschleppt im Jemen E-Book

Zana Muhsen

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Beschreibung

Zana Muhsen ist die Flucht aus dem Jemen gelungen. Acht Jahre lang war sie in einer Zwangsehe gefangen, die von ihrem Vater arrangiert worden war. Nun ist sie zurück im heimatlichen England, doch ihr Kampf ist noch lange nicht vorbei. In der bewegenden Fortsetzung von Noch einmal meine Mutter sehen schildert Zana den verzweifelten Kampf um ihren Sohn und ihre Schwester, die sie im Jemen zurücklassen musste und denen sie das Versprechen gab: »Ich werde nicht aufgeben, bis auch ihr eure Freiheit zurückerhalten habt!«

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Seitenzahl: 310

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchTitelImpressumEinleitungNoch einmal meine Mutter sehen»Zana, sag deiner Schwester guten Tag.«»Warum kann ich nicht so leben wie meine Schwestern?«Zwei Schritte dahinterDas AußenministeriumRettung?Der Steuerberater und der Finanzbeamte»Eine großartige Geschichte!«Mo»Sie hat’s gesagt, oder?«»Freunde in hohen Positionen?«»Mach dir keine Sorgen, Mum.«Epilog

Über dieses Buch

Zana Muhsen ist die Flucht aus dem Jemen gelungen. Acht Jahre lang war sie in einer Zwangsehe gefangen, die von ihrem Vater arrangiert worden war. Nun ist sie zurück im heimatlichen England, doch ihr Kampf ist noch lange nicht vorbei. In der bewegenden Fortsetzung von Noch einmal meine Mutter sehen schildert Zana den verzweifelten Kampf um ihren Sohn und ihre Schwester, die sie im Jemen zurücklassen musste und denen sie das Versprechen gab: »Ich werde nicht aufgeben, bis auch ihr eure Freiheit zurückerhalten habt!«

ZANA MUHSEN

VERSCHLEPPT IM JEMEN

Die verzweifelte Suche nach meiner Schwester Nadja

Aus dem Englischen von Ursula Pesch

BASTEI ENTERTAINMENT

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

© Copyright 2002 by Zana Muhsen

Published by Arrangement with Zana Muhsen and Andrew Crofts

Originalausgabe: »A PROMISE TO NADIA. The true story of a British slave in the Yemen«

Für die deutschsprachige Erstausgabe:

Copyright © 2005 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Die Rechte an der Nutzung der deutschen Übersetzung von Ursula Pesch liegen beim Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung eines Motives © shutterstock: Photographee.eu

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-5178-1

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Einleitung

Der Kampf gegen die Unterdrückung von Frauen und die Ausbeutung von Kindern gehört meiner Meinung nach zu den wichtigsten Aufgaben der modernen Zivilisation. In westlichen Ländern hat man in beiden Bereichen große Fortschritte erzielt. Frauen haben nun in praktisch allen Lebensbereichen das Recht auf Chancengleichheit. Kinder werden durch eine Vielzahl von Gesetzen und Kontrollen vor Ausbeutung geschützt.

Was sich hinter verschlossenen Türen in den Familien abspielt, ist jedoch manchmal eine ganz andere Geschichte. Noch immer gibt es Männer, die ihre körperliche Überlegenheit nutzen, um ihre Partnerinnen zu beherrschen und ihre Kinder zu tyrannisieren. Die sexuelle Ausbeutung von Kindern ist ein Verbrechen, das jedermann mit Abscheu erfüllt. Doch immer wieder machen neue Enthüllungen deutlich, wie weitverbreitet dieser Missbrauch ist.

Während der Kampf gegen die Unterdrückung der Frau und die Ausbeutung von Kindern in den Industriestaaten fortgesetzt wird, hält man in vielen Ländern der Dritten Welt an Bräuchen fest, die Millionen von Frauen und Kindern praktisch zu Sklaven machen. Die Ärmsten der Welt werden oft schon mit erbärmlich kleinen Summen dazu gebracht, ihre Kinder, vor allem Mädchen, in die Prostitution oder in die Ehe zu verkaufen. In manchen Ländern ist es noch heute üblich, Kinderbräute im Alter von elf oder zwölf Jahren zu ihren Ehemännern zu schicken. Dagegen können sie sich nicht wehren. Sie werden einfach von ihren Vätern den Vätern ihrer zukünftigen Ehemänner übergeben.

Die meisten dieser Mädchen führen ab diesem Zeitpunkt das Leben einer Sklavin. Sie leisten sexuelle Dienste, die ihre Gesundheit gefährden, und gebären ihren Ehemännern in viel zu jungen Jahren Kinder. Sie arbeiten von morgens bis abends, um ihren Männern und älteren Mitgliedern der Gemeinschaften, in denen sie leben, zu dienen, und sie altern vor ihrer Zeit. Sie sind ohne finanzielle Mittel und haben keine Möglichkeit, ihrem Schicksal zu entfliehen. Im Grunde genommen hätten sie rechtlich gesehen natürlich die Freiheit, ihr Zuhause zu verlassen, wenn sie das wollten. Aber wo sollen sie hingehen? Wie sich ernähren? Und was wird aus ihren Kindern?

Die meisten dieser Frauen bleiben bei ihren Kindern, bis auch diese in die Ehe verkauft werden, und sind inzwischen dann zu alt oder zu müde, gegen die Ausbeutung einer weiteren Generation junger Leute anzukämpfen. (Wenn man zwanzig oder dreißig Jahre lang wie eine Sklavin gearbeitet hat und gesundheitlich stark angeschlagen ist, wird man wahrscheinlich dankbar sein, wenn der Sohn mit einer gesunden, kräftigen jungen Frau verheiratet wird, die einem einen Teil der Arbeit abnehmen kann und es einem ermöglicht, sich auszuruhen.)

Welch grauenvolles Leben diese Menschen führen, erfahren wir im Westen erst, wenn ein Mädchen aus einem Industriestaat sich als Sklavin in der Dritten Welt wiederfindet, schließlich freikommt und ihre Geschichte erzählen kann.

1980 wurden Zana und Nadja Muhsen, zwei Mädchen aus Birmingham in England, von ihrem Vater zu einer »Urlaubsreise« in den Jemen mitgenommen, wo er sie als Kinderbräute an zwei seiner Freunde verkaufte. Zana gelang acht Jahre später die Rückkehr nach England, doch musste sie ihren kleinen Sohn zurücklassen. Vor ihrer Abreise versprach sie ihrer Schwester Nadja, von England aus alles dafür zu tun, sie und die Kinder aus dem Jemen herauszuholen.

Zana bat mich, ihr dabei zu helfen, die Erfahrungen der Schwestern in einem Buch festzuhalten. Noch einmal meine Mutter sehen erregte internationales Aufsehen. Über zwei Millionen Exemplare wurden verkauft, Millionen Menschen in Europa erfuhren über Fernsehen und Zeitungen von dem Schicksal der Mädchen. Die Empörung war groß. Zana hoffte, all das würde dazu führen, dass Nadja und die Kinder sofort nach Hause gebracht würden. Aber das geschah nicht. Nadja kehrte nicht nach England zurück. Sie saß genauso hoffnungslos in der Falle wie alle anderen Kinderbräute in der Dritten Welt.

In diesem Buch, Verschleppt im Jemen, beschreibt Zana, wie sie und ihre Mutter Miriam in den vergangenen zehn Jahren den Kampf um Nadja fortgesetzt haben. Ihre Geschichte erzählt auch davon, wie ein Großteil der ärmsten Frauen und Kinder der Welt leben müssen.

Zana berichtet von ihrer Auseinandersetzung mit der jemenitischen und der britischen Regierung. Sie erzählt von Menschen, die sie mit vorgetäuschten Hilfsangeboten um das Geld brachten, das sie mit ihrem ersten Buch verdiente.

Während die Politiker weiterhin jegliche Verantwortung von sich weisen und die internationale Gemeinschaft sich darüber streitet, wer für Nadja zuständig ist, kämpft diese um ihr Leben. Zana und Miriam suchen noch immer nach einer Möglichkeit, Nadja zu erreichen, bevor sich ihr Gesundheitszustand weiter verschlechtert. Die beiden Frauen hoffen auch, dass Zana ihren Sohn sehen kann, bevor er erwachsen geworden ist.

Verschleppt im Jemen ist eine ergreifende Geschichte über Ineffizienz und Korruption, Betrug und Diebstahl, die jedes Vorstellungsvermögen übersteigt. Sie zeugt von dem Mut und der Hartnäckigkeit, die Zana, ihre Mutter und ihre Familie bei dem Kampf an den Tag legen, Zanas Versprechen einzulösen, und enthüllt, auf welche Weise noch heute Frauen und Kinder täglich versklavt werden.

Es ist eine Geschichte von Hoffnung und Verzweiflung. Hoffnung, dass sich durch den Kampf um Gerechtigkeit von Menschen wie Zana Muhsen die Dinge zum Besseren wenden werden, und Angst davor, dass es nicht rechtzeitig gelingen wird, Nadja aus der Hölle zu befreien.

Im Verlauf dieses Berichtes versucht Zana auch, die Fragen tausender Menschen zu beantworten, die ihr nach Noch einmal meine Mutter sehen geschrieben haben und wissen wollten, wie sie es schafft, sich in England wieder ein Leben aufzubauen.

ANDREW CROFTS

Noch einmal meine Mutter sehen

Noch immer wache ich mitten in der Nacht schweißgebadet und vor Angst zitternd auf, weil ich geträumt habe, ich sei zehn Jahre später wieder in den Jemen gereist, um Nadja zu besuchen, und säße nun erneut in der Falle.

Ich fühle dann noch immer alles so deutlich, als sei es Realität. Ich spüre die Enge des Raumes, in dem wir sitzen, und die neugierigen Blicke der Dorfbewohner, die uns beobachten. Einige von ihnen schauen mich argwöhnisch und feindselig an. Andere beschimpfen mich lautstark, weil ich ihnen so viele Probleme verursacht, sie vor aller Welt bloßgestellt und so viel Schande über sie gebracht habe.

In meinen Träumen wissen sie, wie sehr wir sie hassen und dass wir alles versuchen werden, ihnen zu entkommen. Sie wissen, dass wir sie als unsere Feinde betrachten, und haben trotz all ihrer Überlegenheit Angst vor uns. Sie haben die Macht, über unser Leben zu bestimmen, während wir offensichtlich nichts weiter tun können, als sie in Verlegenheit zu bringen und ihnen von Zeit zu Zeit Unannehmlichkeiten zu bereiten.

Aber ich bin nicht mehr ganz so machtlos wie in den acht Jahren, in denen ich dort lebte, weder in meinen Albträumen noch im wirklichen Leben. Ich weiß jetzt, dass ich kämpfen und die eine oder andere Schlacht gewinnen kann. Und dennoch, die jemenitischen Männer haben noch immer das Sagen. Noch immer können sie uns drohen, uns beschimpfen und uns Angst einjagen, Angst um unser Leben und das Leben unserer Kinder. Noch immer können sie mit Nadja machen, was sie wollen, und wir scheinen nichts dagegen unternehmen zu können. Sie können unsere Kinder verkaufen, sie zur Arbeit zwingen oder sie wegschicken.

Manchmal träume ich, ich hätte mein Auto mitgenommen – dieses kostbare Symbol der Freiheit, das mir so lieb und teuer ist – und es sei mir gelungen, Nadja und die Kinder in den Wagen zu zwängen, in dem auch noch einige Freunde und Verwandte aus England sitzen. Es ist ein kleines Auto, und wir sitzen so dicht gedrängt, dass unser lauter Herzschlag wie ein einziger klingt, während wir versuchen, den Motor zu starten und loszufahren. Die Männer kommen näher, und ich weiß, dass der Wagen uns keinen Schutz bieten wird, es sei denn, ich kriege ihn schnell in Gang. Sie werden uns überwältigen, werden das Auto umkippen und uns wie Münzen aus einem Sparschwein herausschütteln. Wir müssen fort, aber wir sind zu viele für den kleinen Wagen und überfordern ihn.

(In Wirklichkeit würde mein kleiner Renault niemals die Gebirgspfade überstehen, die zu den Dörfern der Mukbana führen. Wir würden in der Wüste festsitzen und wären ihnen erneut ausgeliefert. Aber das sind Träume, und deshalb gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass ich meine Schwester retten kann.)

Wir reden alle arabisch, weil wir wissen, dass Nadjas Kinder kaum Englisch können. Unsere Stimmen klingen schrill und panisch, während wir versuchen, das wütende Geschrei der Männer zu übertönen. Eigentlich ist das Englisch der Kinder gar nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass sie, abgesehen von den gelegentlichen Besuchen in Ta’izz, nie aus dem Dorf herausgekommen sind. Dennoch sprechen wir arabisch.

Alle Männer sind bewaffnet, so wie sie es tatsächlich waren, als 1987 Journalisten des Observer in die Mukbana kamen und versuchen wollten, uns zu retten. Sie haben den Finger am Abzug. Drohend fuchteln sie mit ihren Waffen. Ich zweifle nicht daran, dass sie sie benutzen werden. Es würde keine rechtlichen Konsequenzen für sie haben. Wer würde je wissen, dass ein paar Frauen und Kinder in den Bergen der Mukbana verschwunden sind? Seit jeher verschwinden hier Menschen, und niemand erfährt, was mit ihnen geschieht. Das Einzige, was die Männer davon abhält, uns zu töten, ist, dass sie dann niemanden hätten, der sich um ihre Kinder und ihren Haushalt kümmert. Niemanden, der das Wasser trägt oder die Hände in die heißen Öfen steckt. Der Brennholz heranschleppt und die Felder bestellt.

Wir können den Flughafen sehen (als ob wir in Wirklichkeit jemals so nahe an ihn herankommen würden!), doch irgendwie gelingt es nicht, ihn wirklich zu erreichen. Er ist zum Greifen nahe, eine Verbindung zur Außenwelt und zu Menschen, die uns freundlich gesinnt sind, und doch bleibt er quälend unerreichbar. Wir wissen, dass wir ein Flugzeug besteigen könnten und dass unser Martyrium vorbei wäre, würden wir nur dorthin gelangen.

Aber in dem Traum schaffen wir es nie. Ich fahre aus dem Schlaf hoch und ringe nach Luft. Im kalten Licht der Realität scheint der Traum von einer Befreiung unerfüllbar zu sein, und mir ist schlecht vor lauter Verzweiflung.

Im wirklichen Leben bricht der Kontakt zu Nadja manchmal einfach für mehrere Jahre ab, und wir wissen dann nicht, ob sie tot ist oder noch lebt. Würde man uns sagen, sie sei bei der Geburt eines weiteren Kindes oder an Malaria gestorben, könnten wir nie das Gegenteil beweisen. Aber in meinen Träumen sind wir bereit, alles zu wagen, denn das ist unsere einzige Möglichkeit, diesen Männern zu entkommen. Lieber würden wir sterben, als den Rest unseres Lebens ihre Sklavinnen zu sein.

Manchmal träume ich, dass ich mit Nadja in ihrem Haus im Dorf bin und dass wir Vorbereitungen für ihre Rückkehr nach England treffen. Dann rieche ich alle Gerüche und spüre, wie die Fliegen um unsere Gesichter schwirren, als wollten sie uns wahnsinnig machen. Nadja besitzt nichts, was sie mitnehmen möchte, doch die Kinder brauchen ein paar Dinge. Es scheint ewig zu dauern, bis sie alles zusammengesucht hat. Ich spüre, wie Panik in mir hochsteigt, die Gelegenheit könnte verstreichen und man würde uns sagen, dass wir nicht weg könnten. Ich dränge Nadja zur Eile, aber sie scheint mich nicht zu hören. Sie macht einfach unverwandt in dem ihr eigenen schleppenden Tempo weiter.

Manchmal kommt Mohammed, Nadjas Mann, ins Zimmer und entschuldigt sich für alles, was er ihr angetan hat. Wir ignorieren ihn und schweigen aus Angst, etwas zu sagen, das ihn verärgern und dazu veranlassen könnte, uns Befehle zuzubrüllen und damit von unserem Vorhaben abzuhalten. Wir bringen es nicht fertig, ihm zu sagen, dass wir ihm vergeben. Das wäre einfach zu viel. Die Zeit für Entschuldigungen ist längst vorbei. Der Schmerz dauert schon zu lange und Verzeihen ist nicht mehr möglich. Wir wollen nur die Chance haben, zumindest einen Teil des Albtraums vergessen zu können.

Wenn ich nach diesen nächtlichen Reisen wieder zu mir komme, bin ich erleichtert, in England, in Sicherheit, frei und bei meiner Familie zu sein. Doch dann fällt mir ein, dass ein Teil des Albtraums noch immer Realität ist. Meine kleine Schwester ist noch immer im Jemen und wird in einem Tempo alt und krank, das sich niemand, der es nicht gesehen hat, vorstellen kann, und die Trauer kehrt zurück. Sie schnürt mir die Luft ab, mein Magen krampft sich zusammen und Tränen schießen mir in die Augen. Ich weiß, dass im gleichen Moment, in dem ich hier in Birmingham in meinem Bett liege und Paul, mein Lebensgefährte, friedlich neben mir schlummert, einer der Menschen, die ich auf dieser Welt am meisten liebe, langsam zu Tode gequält wird. Und ich scheine nichts dagegen unternehmen zu können. Ich habe keine Hoffnung mehr, fühle mich hilflos und bin unsäglich traurig.

Aber mein Leben muss dennoch weitergehen.

Ich habe meine Kinder, für die es sich lohnt zu leben, und unseren Alltag, der mich ablenkt. Ich lebe in einem freien Land. Ich kann weitgehend tun, was ich will, nur eines nicht: Ich kann meine Schwester nicht sehen, kann nicht mit ihr reden und weiß, über die quälenden Erinnerungen und Fantasien hinaus, nicht, was in ihrem Leben vor sich geht. Trotz allem, was ich zu tun versucht habe, nie werde ich das Gefühl los, sie im Stich gelassen zu haben. Denn ich habe ihr versprochen, sie nach Hause zu holen. Und sie ist noch immer dort!

Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie ihr Leben aussieht, denn ich habe ja einmal das gleiche Leben geführt. Ich habe die gleichen Entbehrungen kennengelernt, die Schikanen, die Monotonie, die anstrengende Arbeit, die Vergewaltigungen, Schläge und Erniedrigungen, und war gesundheitlich genauso angeschlagen wie Nadja. Jedes Mal, wenn ich aufwache, wird mir bewusst, dass ein weiterer Tag in ihrem Leben vergangen ist, ein weiterer vergeudeter Tag, an dem sie glücklich und frei hätte sein sollen.

Ich weiß, dass ich einen weiteren Tag von meinem Sohn Marcus ferngehalten wurde und dass ich das, was wir beide verloren haben, nie werde nachholen können. Ein weiterer Tag seines Lebens ist vergangen, ohne dass ich weiß, was er getan oder erreicht hat. Ich habe seine Entwicklung nicht verfolgen können, ihn nicht in den Arm nehmen können, wenn er sich verletzt hat oder krank war. Ich habe keine Ahnung, ob jemand meinen Platz in seinem Leben eingenommen hat, nachdem ich unter der Bedingung, Marcus dort zu lassen, nach Hause durfte. Keiner hat mir gesagt, ob und wie er mit dem Schock fertig geworden ist, seine Mummy zu verlieren, die Frau, an die er sich die ersten zwei Jahre seines Lebens so sehr geklammert hat. Ich habe keine Ahnung, wie er sich charakterlich entwickelt hat und wie es ihm gesundheitlich geht. Ich weiß nicht, wie seine Stimme klingt und ob er ein fröhliches oder eher ein trauriges Kind ist.

Wer weckt ihn morgens? Wer passt auf, dass er ordentlich isst und sauber zur Schule geht? Wer sorgt dafür, dass er fleißig ist, damit er eine anständige Arbeit bekommt und der stumpfsinnigen Plackerei im Dorf entkommen kann? Ich werde es nie erfahren, und es bricht mir das Herz. Wenn sein Großvater oder sein Vater ihn dazu zwingen wollen, wie ein Sklave zu arbeiten, zur Armee zu gehen oder für Geld irgendein Mädchen zu heiraten, dann ist keiner da, der ihm sagt, dass er das nicht tun muss. Keiner, der ihm erklärt, dass es außerhalb des Dorfes eine freie Welt gibt und er nur einen Weg finden muss, dorthin zu gelangen. Er ist ein Junge, und es wird ihm schließlich gelingen, aus dem Dorf herauszukommen. Doch wie viel wird er leiden müssen, bevor es so weit ist? Wird er so grausam und egoistisch werden wie sein Vater und Großvater und all die anderen Männer, denen er in der Mukbana begegnet?

In den letzten zehn Jahren ist nicht ein Tag vergangen, an dem ich nicht geweint habe. Ich denke an Nadja und Marcus, und ich muss mich in ein ruhiges Eckchen zurückziehen, damit die Kinder nicht sehen, wie traurig ich bin. Um ihretwillen möchte ich die Normalität wahren. Ich will nicht, dass sie später an ihre Kindheit zurückdenken und das Bild einer ständig weinenden Mutter vor Augen haben. Doch manchmal erwischen sie mich.

Cyan ist erst vier. Ein- oder zweimal hat sie mich weinen sehen. Sie hat genügend Unterhaltungen mitbekommen, genügend Bruchstücke aus Fernsehsendungen aufgeschnappt, um sich vorstellen zu können, dass irgendetwas nicht stimmt.

»Ich weiß, warum du weinst, Mummy«, sagt sie. »Wegen Opa, oder? Weil er Tante Nadja nicht nach Hause kommen lässt.«

Sie hat meinen Vater nie kennengelernt, ihn aber im Fernsehen gesehen, und sie hat panische Angst vor ihm. Sobald sein Gesicht auf dem Bildschirm erscheint, läuft sie weg und versteckt sich. In ihrer Vorstellung ist er zum schwarzen Mann geworden, der kleinen Mädchen ihre Mütter wegnimmt, wie ein Bösewicht aus irgendeinem Märchen. Und es gibt nichts, was ich ihr sagen könnte, um ihre Sichtweise zu ändern. Ich würde ihn niemals an sie ranlassen, denn ich hätte Angst, er könnte ihr das Gleiche antun wie seinen eigenen Kindern. Er wird also keine Möglichkeit haben, sie jemals für sich einzunehmen und ihr die Angst zu nehmen. Ehrlich gesagt ist er genauso schlimm und gefährlich, wie sie ihn sich in ihrer kindlichen Fantasie vorstellt.

Ich habe den Kindern nur erzählt, dass sie im Jemen eine Tante Nadja und viele Cousinen und Cousins haben. Ich habe Liam, dem ersten Kind, das ich nach meiner Rückkehr nach England bekam, kurz erklärt, was mir passiert ist, und ihm gesagt, dass er einen älteren Bruder im Jemen hat, aber er will keine Einzelheiten wissen.

Ich habe ihm erzählt, dass mein Vater mich wie eine Sklavin verkauft hat, weil ich möchte, dass er versteht, was Sklaverei bedeutet. Ich möchte, dass meine Kinder die Grundzüge der Geschichte verstehen, sobald sie dazu in der Lage sind, aber ich will ihnen keine Angst einjagen. Eines Tages werden sie wissen, dass sie einen Großvater haben, der so entsetzliche Dinge über schwarzhäutige Menschen wie meinen Lebensgefährten Paul und Liams Vater Jimmy sagt, dass man ihn einmal sogar vor das Race Relations Board (Kommission für ethnische Gleichstellung) gezerrt hat. Doch dafür ist die Zeit noch nicht reif.

Denjenigen, die zum ersten Mal von meiner Geschichte hören, möchte ich erklären, wie alles begann. Ich war fünfzehn und meine Schwester Nadja vierzehn. Wir standen uns so nahe, wie es zwei Schwestern nur möglich ist. Ich liebte Nadja mehr als jeden anderen Menschen auf der Welt. Wir verstanden uns unglaublich gut und ich fühlte mich immer verantwortlich für sie. Wir lebten mit unseren Eltern, unseren beiden anderen Schwestern Tina und Ashia und unserem kleinen Bruder Mo in Birmingham.

Dad war Jemenit, und als wir ins Teenageralter kamen, versuchte er, uns streng muslimisch zu erziehen. Er verbot uns, mit Jungs auszugehen, er wollte einfach nicht, dass wir so lebten wie unsere Freunde. Ich stand kurz vor meinem Schulabschluss und wollte Kindergärtnerin werden. Ich ärgerte mich über seine Strenge. Doch in diesem Alter ärgern sich die meisten jungen Mädchen über ihre Eltern. Es schien alles ganz normal zu sein.

Als Nadja zu Unrecht beschuldigt wurde, einen Ring von einem Stand auf dem Markt gestohlen zu haben, glaubte Dad sich in seinen Befürchtungen, mit uns würde es mal ein böses Ende nehmen, bestätigt und begann, Pläne zu schmieden, uns vor dem üblen Einfluss des Westens »zu retten«. Er fragte uns, ob wir Lust hätten, im Jemen Urlaub zu machen. Sein Vorschlag klang sehr verlockend. Im Jemen, so sagte er, könnten wir Wettrennen auf Pferden durch die Wüste machen und auf Kamelen reiten. Wir würden Burgen in den Sand bauen und so weiter. Wir waren begeistert.

Ich flog voraus, und zwar mit Abdul Khada, einem Freund meines Vaters. Nadja sollte uns in ein paar Wochen mit Gowad, einem weiteren Freund, folgen. Wir kannten beide Männer seit vielen Jahren, und Mum war sich sicher, dass sie auf uns achtgeben würden.

Es begann als großartiges, wenn auch ziemlich beängstigendes Abenteuer, denn es war mein erster Flug, meine erste Reise ins Ausland. Die fremdartige arabische Kultur und der Lebensstil waren ein Schock – von den Toiletten und dem Essen bis hin zur Hitze und den Insekten. Es war eine völlig neue Erfahrung, die ich voll und ganz auskosten wollte. Erst einige Tage nach meiner Ankunft fand ich heraus, was wirklich passiert war. Mein Vater hatte mich als Braut für Abdul Khadas dreizehnjährigen Sohn Abdullah verkauft.

Und plötzlich war ich, das englische Schulmädchen aus Birmingham, zu einer jemenitischen Bäuerin geworden. Man erwartete von mir, den Männern der Familie zu dienen und zu gehorchen, täglich Wasser, das auf dem Kopf getragen wurde, von meilenweit her anzuschleppen, zu kochen, zu putzen und meinem »Ehemann« sexuell zu Diensten zu sein.

Man brachte mich zu meiner neuen Familie nach Hockail, einem völlig abgeschiedenen Dorf, von wo aus es keinerlei Möglichkeit gab, mit der Außenwelt in Kontakt zu treten. Ein Dorf, in dem alle Männer Waffen trugen und in dem sich für die Frauen seit Jahrhunderten nichts geändert zu haben schien.

Am meisten zu schaffen machte mir anfangs die Vorstellung, dass meine geliebte Schwester Nadja, die noch nicht einmal fünfzehn war, das gleiche Schicksal erwartete. Die Familie ihres »Ehemanns« wohnte in Aschube, einem Nachbardorf etwa eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt. Besagter Ehemann hieß Mohammed und war ebenfalls erst dreizehn Jahre alt.

Zunächst war ich mir sicher, dass Mum Alarm schlagen würde, wenn wir nach dem zweiwöchigen Urlaub nicht zurückkamen, und dass die Regierung dann nach uns suchen lassen würde, aber wir erfuhren natürlich nicht, was draußen in der Welt vor sich ging. Tatsächlich versuchte Mum verzweifelt herauszufinden, wo wir waren, denn Dad weigerte sich, es ihr zu sagen. Und die Regierung erklärte, dass sie nichts für uns tun könne, da wir die doppelte Staatsangehörigkeit hätten und sowieso jetzt verheiratet seien.

Meine Mutter ist nicht sonderlich robust, weder körperlich noch seelisch, aber sie hat eine außergewöhnliche Willenskraft. Sie hatte zwar aufgrund der Art und Weise, wie sie in der Vergangenheit von meinem Vater behandelt worden war, bereits zwei Nervenzusammenbrüche hinter sich, weigerte sich aber dennoch strikt, ihm zu gehorchen. Er verlangte, dass sie schwieg und sich in ihr Schicksal ergab, aber sie lief weiterhin von Pontius zu Pilatus, um herauszufinden, was mit ihren Töchtern passiert war. Sie schrieb Briefe, führte Telefonate und suchte Gott und die Welt auf, wenn auch ohne Erfolg.

Nach sechs Jahren gelang es mir, einen Brief an sie aus dem Jemen herauszuschmuggeln, sodass sie wusste, wo sie nach uns suchen musste. Es war unglaublich mutig von ihr, sich in ein so feindseliges Land aufzumachen, in dem sie leicht von der Bildfläche hätte verschwinden können, ohne dass es irgendjemanden in England groß gekümmert hätte.

Nadja und ich dachten, sie könne uns, sobald sie da wäre, sofort mit zurücknehmen. Aber so einfach war die Sache nicht. Zunächst berichtete sie den britischen Medien von unserem Schicksal, und der Observer schickte einen Journalisten und einen Fotografen in den Jemen, die ihre Geschichte bestätigen sollten. Nadja und ich dachten, die beiden würden uns mit nach Hause nehmen, aber so wie Mum mussten auch sie uns zurücklassen. Doch sie versprachen, uns so schnell wie möglich dort herauszuholen. Wir wussten, dass sie sich bei der Suche nach uns in große Gefahr begeben hatten, fühlten uns aber dennoch von ihnen im Stich gelassen, als sie ohne uns wieder abreisten.

Der Kampf mit den jemenitischen Behörden dauerte zwei Jahre, bevor man mir schließlich gestattete, nach England zurückzukehren, jedoch ohne meinen Sohn Marcus.

Marcus ist inzwischen ein Teenager, und ich habe ihn seit dem Tag, an dem ich nach Hause geflogen bin und Nadja versprochen habe, alles dafür zu tun, sie und die Kinder zu befreien, nicht mehr gesehen. Nadja hatte damals zwei Kinder, eines davon ein Mädchen, Tina. Wir wussten beide um das Schicksal, das junge Mädchen in dieser Gesellschaft erwartet, und Nadja brachte es einfach nicht übers Herz, Tina alleine ihrem Schicksal zu überlassen.

Ich muss einiges von Mums Entschlossenheit geerbt haben. Ich habe mich immer für Nadja verantwortlich gefühlt und war fest entschlossen, sie aus Aschube herauszuholen, und wenn es Jahre dauern sollte. Doch ich ahnte nicht, wie schwierig das sein würde, ahnte nicht, wie viele Leute uns im Weg stehen und wie weit diese Leute gehen würden, um uns zu betrügen und zu belügen. Ich ging davon aus, dass die britische Regierung, sobald ich im Westen war und unsere Geschichte erzählen konnte, darauf bestehen würde, dass man Nadja und die Kinder gehen ließ. Es würde vielleicht ein paar Wochen oder sogar Monate dauern – im Jemen brauchte man ja, wie ich wusste, mit allem etwas länger –, aber irgendwann würde es so weit sein.

Am Anfang konnten wir noch mit Nadja telefonieren, weil sie in der Stadt Ta’izz geblieben war, doch dann verschwand sie, für uns unerreichbar, in den Bergen. Sie schien wie vom Erdboden verschluckt, war uns wie Sand durch die Finger geglitten. Ich wurde von Schuldgefühlen überwältigt, denn während ich frei war, wurde sie noch immer gefangen gehalten, und ich verlor die Hoffnung, sie jemals wieder finden zu können.

Nach einem Jahr – ich hatte mich langsam wieder an das Leben im Westen gewöhnt und mich vergeblich an alle möglichen offiziellen Stellen gewandt, um Nadja und die Kinder nach Hause zu holen –, beschloss ich, ein Buch zu schreiben. Ich nahm Kontakt mit Andrew Crofts auf und wir machten uns an die Arbeit. Die Schrecken jener Jahre noch einmal zu durchleben war beinahe unerträglich, doch das musste ich in den folgenden Jahren noch oft tun. Immer wieder erzählte ich meine Geschichte und immer in der Hoffnung, schließlich auf jemanden zu stoßen, der mir würde helfen können.

Es war schwer, einen britischen Verlag für die Geschichte zu interessieren. Alle erinnerten sich daran, im Observer von uns gelesen zu haben, aber niemand schien der Ansicht zu sein, unsere Geschichte sei ein ganzes Buch wert. Der Journalist des Observer, der dazu beigetragen hatte, dass ich aus dem Jemen herauskam, hatte unsere Geschichte ebenfalls zu Papier gebracht, und die Verleger meinten, die Öffentlichkeit sei an weiteren Storys über uns nicht interessiert.

Schließlich gelang es, einen Verlag zu interessieren. Allerdings sah es nicht danach aus, dass der Verleger, als das Buch schließlich erschien, eine große Werbekampagne würde starten können. Wir konnten nämlich nicht so viele Interviews geben, wie wir es gerne getan hätten, weil Mum und ich einen Prozess gegen Dad, Gowad und Abdul Khada angestrengt hatten. Wir fürchteten, wir könnten den Prozess gefährden, und das Projekt schien im Sande zu verlaufen. Außerdem gehörte der Verlag Robert Maxwell und wurde nach seinem Tod verkauft. Niemand kümmerte sich groß um ein kleines Taschenbuch mit dem Titel Noch einmal meine Mutter sehen.

Schließlich landete das Manuskript bei ausländischen Verlagen und mit einem Mal änderte sich alles. Zuerst flog ein deutscher Verleger nach London, um sich mit uns zu treffen, und machte ein großzügiges Angebot für die deutschen Rechte. Dann warteten die Franzosen mit einem ähnlichen Angebot auf. Sobald der Ball ins Rollen gekommen war, traf ein Angebot nach dem anderen ein. Innerhalb weniger Monate hatten wir Verträge mit Verlegern aus Ländern wie Schweden, Dänemark, Israel und der Türkei abgeschlossen. Die Filmrechte waren verkauft, und wenige Jahre später machte die BBC für Radio Four sogar ein Hörspiel daraus.

Alle ausländischen Verleger baten mich, in ihrem Land mit Presseinterviews und Fernsehauftritten für das Buch zu werben. Sie machten ihre Sache wirklich gut, ja so hervorragend, dass die neuen Besitzer des britischen Verlages – die keinen rechtlichen Einschränkungen unterworfen waren, weil wir die Klage gegen Dad und die anderen zurückgenommen hatten – beschlossen, es als gebundene Ausgabe herauszugeben. Diese bekam einen neuen Einband mit einem ergreifenden Foto von Nadjas Augen, dem Einzigen, was von ihrem verschleierten Gesicht zu sehen war.

Doch es waren die Franzosen, die sich unsere Geschichte wirklich zu Herzen nahmen und sie 1992 in Frankreich zum Bestseller des Jahres machten. Das öffentliche Aufsehen war enorm. Niemand mochte glauben, dass ein solcher Skandal in der heutigen Welt noch möglich sei.

Seitdem haben wir viele Jahre damit verbracht, auf Anrufe zu warten, die nie kamen. Wir wollen die Leute, von denen wir glauben, dass sie ihr Bestes tun, nicht drängen.

Nicht, dass ihnen unser Schicksal gleichgültig wäre. Ein Mann namens Pierre zum Beispiel, der in Kanada lebt, stellte eine Website für Nadja ins Netz. Er bat die Leute, ihm ihren Namen und ihre Adresse zu schicken. Für jede Antwort erschien eine neue Kerze auf dem Bildschirm. Tausende reagierten. Jetzt benutzt Pierre diese Unterschriftenlisten, um sie der britischen und der jemenitischen Regierung vorzulegen.

Aber es läuft immer nach demselben Muster ab: Anfänglich sind alle erpicht darauf, uns zu helfen – oder scheinen es zumindest zu sein –, und dann geht irgendetwas schief. Regierungsbeamte, Zeitungsjournalisten, Mitarbeiter von Wohltätigkeitsorganisationen, Verleger, Filmemacher und Mitglieder von Hilfsorganisationen finden unsere Geschichte unglaublich, wenn sie sie zum ersten Mal hören. Die meisten von ihnen brechen in Tränen aus. Zweifellos können sie sich vorstellen, wie sie sich fühlen würden, wenn ihnen oder ihren Kindern etwas so Schreckliches passierte.

Sie sind erschüttert, dass so etwas heutzutage noch möglich ist, und versichern uns, dass sie eine Lösung finden werden. Sie sind empört und wütend. Manche sagen, sie würden am liebsten sofort in den Jemen fliegen und Nadja und die Kinder dort herausholen – und jeden, der ihnen im Weg steht, mit bloßer Hand umbringen.

Nach jedem dieser Treffen steigt unsere Hoffnung ins Unermessliche, und wir glauben, endlich jemanden getroffen zu haben, der etwas für uns tun kann. Wir gehen nach Hause und warten darauf, von dem Betreffenden zu hören.

Schließlich halten wir es nicht mehr aus und rufen an, um herauszufinden, was los ist. Und dann stellt sich heraus, dass aus all den guten Absichten nichts geworden ist. Die meisten geben angesichts all der Lügen und der ganzen Bürokratie einfach auf. Einige haben falsche Versprechungen gemacht und uns nur unser Geld gestohlen. Andere haben sich mittlerweile einreden lassen, wir seien ein hoffnungsloser Fall und davon besessen, Nadja zu befreien, statt endlich aufzugeben und sie in Ruhe zu lassen.

Es ist uns einfach unbegreiflich. Wir sind gesetzestreue Bürger, können aber niemanden finden, der uns hilft, ein Unrecht wieder gutzumachen – eines, das für uns und die Allgemeinheit, die von uns in Büchern und Zeitungen liest, so offensichtlich ist.

Wir haben gehört, dass Nadja jetzt sechs Kinder hat. Wenn Sie dies lesen, könnten es sogar noch mehr sein. Wir wissen, dass Nadja hinkt, weil wir es bei kurzen Begegnungen und in den Filmbruchstücken gesehen haben, die zu uns durchkamen. Aber wir wissen nicht, warum. Wir wissen nicht, was man ihr angetan hat. Und wir befürchten das Schlimmste.

Zum ersten Mal fiel mir ihr Hinken auf, als wir mit einem französischen Kamerateam zu einem vereinbarten Treffen in den Jemen flogen, aber ich verdrängte es. Später erwähnte Mum es mir gegenüber. Ich wünschte, es wäre ihr nicht aufgefallen, denn sie hat es in all den Jahren nie vergessen können.

Nadja hat weiße Pigmentflecken auf der vertrocknet wirkenden Haut, ihre Arme und Hände sind dürr, ihr Gesicht eingefallen. Sie sieht müde und schwach aus, so anders als das schöne Mädchen mit den strahlenden Augen, das 1980 dorthin kam, anders auch als die junge Frau mit den traurigen Augen, deren Foto Millionen Menschen rührte, als unsere Geschichte 1987 erstmals im Observer erschien. Aber ich weiß, dass sie, auch wenn sie sich äußerlich stark verändert hat, in ihrem Inneren noch immer meine kleine Schwester ist, der temperamentvolle Wildfang, der für alles zu haben war und immer lachte. Hinter ihrem ausdruckslosen Blick verbergen sich ihre Wesenszüge, die sie unter ihrer Verzweiflung begraben und in den Jahren der Plackerei, der Schmerzen und des Elends vergessen hat.

Ich brauche mir nur Fotos ihrer gebrechlichen Gestalt und ihres gequälten Blicks anzusehen, und ich weiß, was sie denkt. Ich weiß, dass ich es selbst gedacht habe: dass ich dort draußen sterben, in ein Stück weißes Tuch eingewickelt und einfach in der Erde begraben werden würde, ohne dass jemand, der mir wirklich nahe steht, darum wüsste. Die Männer des Dorfes würden sich um das Loch im Boden versammeln, die Frauen aus der Ferne zuschauen und resigniert und traurig den Kopf schütteln. Die Männer würden die kleinen Kinder unter den weiblichen Verwandten aufteilen und dann wieder zur Tagesordnung übergehen. Mum würde es vielleicht nie herausfinden, obwohl es gut möglich wäre, dass mein Vater oder einer seiner Freunde der Versuchung, ihr den Tod eines ihrer Kinder unter die Nase zu reiben, nicht widerstehen könnte. Nadja muss genauso große Angst davor haben wie ich damals. Obwohl der Tod vielleicht auch eine Erlösung wäre.

Wenn Mum und ich über Nadja reden, sind wir irgendwann unweigerlich bei Mums Sorgen um Nadjas Gesundheit. Jeder, der Kinder hat, wird wissen, dass man sich immer Sorgen um sie macht, egal wie alt sie sind. Wenn man sie um sich hat, kann man so lange auf sie einreden, bis sie zum Arzt gehen und man endlich wieder beruhigt ist. Wenn sie in eine schlechte Ehe hineingeraten sind, kann man ihnen zumindest Ratschläge geben, ihnen das Leben leichter machen und sie im Fall einer Scheidung unterstützen. Wenn man weiß, dass die eigene Tochter von ihrem Partner geschlagen wird, kann man sie bei sich aufnehmen. Aber Mum hat diese Möglichkeit nicht. Manchmal kann sie jahrelang nicht mit Nadja sprechen. Dann malt sie sich das Schlimmste aus.

Wir wissen, dass Nadja keine Möglichkeit hat, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Wir haben keine Ahnung, ob sie Schmerzen hat. Wer weiß, vielleicht ist sie dagegen immun geworden, denn das passiert, wenn man, ohne Hoffnung auf Linderung, tagein, tagaus mit ihnen leben muss. Man verdrängt sie, damit man weiterleben kann.

Ich erinnere mich an die Schmerzen, die ich damals hatte, und daran, wie ich sie ignorierte und weitermachte. Ich wollte mich auf keinen Fall von ihnen unterkriegen lassen. Ich glaubte schließlich, sie gehörten einfach zu meinem Leben dazu – und für die Frauen in den Dörfern tun sie das ja auch. Solange Nadja nichts von ihren Problemen erzählt, solange sie stillschweigend den anderen Mitgliedern der Familie dient, wird niemand auf die Idee kommen, sie zu einem Arzt zu bringen oder jemanden zu finden, der ihr helfen kann.

Ich erinnere mich, wie schockiert ich war über die primitive Lebensweise der Frauen in den Dörfern des Jemen. Ich weiß, dass es den Millionen Menschen, die mein Buch Noch einmal meine Mutter sehen gelesen haben, ähnlich erging. Ich weiß es, weil sie mir schreiben. Ich erhalte Briefe in jeder erdenklichen Sprache, Briefe von Leuten, die wissen wollen, was weiterhin mit Nadja und mir geschehen ist. Einige der Briefe sind lang und voller Zorn und Empörung. Jeder von ihnen bringt mich zum Weinen.

Einer der ersten Briefe kam aus Sizilien, und zwar von einem Mann, der behauptete, zur Mafia zu gehören. Er schrieb mir, wie empört er sei und dass er vorhabe, einen Privathubschrauber zu mieten und in den Jemen zu fliegen, um Nadja und die Kinder zu retten. Die meisten Briefe sind realistischer. Sie stammen von gewöhnlichen Menschen, die ihr Mitgefühl bekunden, wissen möchten, wie es uns seit Erscheinen des Buches ergangen ist, fragen, ob sie uns auf irgendeine Weise helfen können, und mir von ihrem Leben berichten.

Ein alter Mann schrieb mir aus Südafrika. Er sagte, er sei bettlägerig, und erzählte mir dann seine ganze Lebensgeschichte. Er redete mit mir, als seien wir alte Freunde. Er hatte das Buch gelesen und das Gefühl, mich gut genug zu kennen, um mir all seine Geheimnisse anzuvertrauen. Es war ein wunderbarer Brief, der mich zutiefst berührt hat.

Mehr als die Hälfte der Briefe stammen von Frauen. Ich denke, sie können besser verstehen, wie es ist, unfrei zu sein. Sie können nachvollziehen, wie es möglich ist, sich nach außen hin nichts anmerken zu lassen, obwohl man innerlich nach Hilfe schreit.