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Was tun, wenn man sich seit jeher wie ein ungewollter Gast auf dieser Welt fühlt? Für Amanda ist die Antwort klar: Wie zuvor schon ihre Großmutter und Mutter wird auch sie sich aus dem Leben verabschieden. Alles ist vorbereitet, selbst der Abschiedsbrief geschrieben. Doch die Realität macht ihr einen Strich durch die Rechnung, denn sie gibt ihrem pflegebedürftigen Großvater ein paar Tage Asyl in ihrem Haus. Und er bringt einen Koffer voller düsterer Familiengeheimnisse mit, die jahrzehntelang totgeschwiegen wurden und nun das Fundament von Amandas Existenz erschüttern. Eine dunkel schillernde Familiensaga über die zerstörerische Macht des Schweigens und Verschweigens. Voller Menschlichkeit in all ihren Abgründen. »Ein Psychokrimi, der sich zunächst als melancholischer Familienroman einer lebensmüden Buchhändlerin tarnt. Doch nach und nach entfaltet sich eine kranke Hölle und macht die Lektüre zu einem fiebrigen Rausch. Wie gerne hätte ich die Vorstellungskraft dieser Autorin!« Simone Meier
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Seitenzahl: 291
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Andrea Fischer Schulthess
Für C. und M.P.A.L.S.
»Ich muss gestehen, ich bin froh, dass es vorbei ist: Gegen Ende empfand ich nur noch Mitleid Für diesen Drang nach noch mehr Leben.«
Delia Owens, »Der Gesang der Flusskrebse«
PROLOG
ERSTER TEIL
November 2000 – Zürich
Donnerstag, 3. Oktober 2019 – Fribourg
Donnerstag, 3. Oktober 2019 – Fribourg Edouard
ZWEITER TEIL
Januar 1944 – Andermatt
November 2000 – Zürich
Freitag, 4. Oktober 2019 – Fribourg
Freitag, 4. Oktober 2019 – Zürich
Freitag, 4. Oktober 2019 – Wien
Freitag, 4. Oktober 2019 – Fribourg
Freitag, 4. Oktober 2019 – Fribourg Edouard
DRITTER TEIL
1959 – Fribourg
November 2000 – Zürich
Samstag, 5. Oktober 2019 – Fribourg
Samstag, 5. Oktober 2019 – Wien
Samstag, 5. Oktober – Fribourg Edouard
Samstag, 5. Oktober – Fribourg
VIERTER TEIL
April 1969 – Fribourg
Sonntag, 6. Oktober 2019 – Fribourg
Sonntag, 6. Oktober 2019 – Wien
Sonntag, 6. Oktober 2019 – Fribourg
Sonntag, 6. Oktober, Abend Edouard
FÜNFTER TEIL
Montag, 7. Oktober – Fribourg
Fribourg, Oktober 2019
EPILOG
Montag 7. Oktober Edouard
VERDANKUNG
»Seit ich denken kann, plane ich meine eigene Beerdigung, wie andere Mädchen ihre Hochzeit.« Amanda
Am Anfang war nichts. Zumindest nichts, woran ich mich erinnern könnte. Dann kamen die Spinnen. Nacht für Nacht zwängten sie sich hinter meinen geschlossenen Augenlidern hindurch, schrammten mit ihren Beinen über meine Augäpfel. Verletzten deren feuchte Haut. Wenn ich es dann endlich schaffte, meine Lider hochzuziehen, mich ins Jetzt zurückzudenken, waren die Tiere noch immer da. Erstarrt sah ich ihnen dabei zu, wie sie sich vermehrten, aus jedem Winkel hervorquollen und schwarz auf grau die Zimmerwände hochkrabbelten, um sich im deckenlosen Dunkel des Zimmers zu verlieren, sich irgendwo weit über mir zusammenzurotten. Eine wachsende Traube aus Beinen und Leibern.
In jenen Kindernächten war die Stille in mir und um mich herum dicht wie Pudding.
Damals und auch später geschah es nie, dass ich bei Mutter im Bett schlafen durfte. Selbst dann nicht, wenn ich mich nach einer Reihe durchschwitzter Nächte kaum mehr in die hektische Heiterkeit des Kindergartens schleppen mochte und der fehlende Schlaf mich empfindlich gemacht hatte wie eine Muschel ohne Schale.
Erst wenn der Morgen erwachte und das Licht die Dämonen verblassen ließ, durfte ich ins andere Zimmer hinüber, wo Mutter im schmutzig orangen Licht der Gardinen in ihrem Bett schnaufte. Sie sah immer wütend aus, wenn sie schlief.
»Mama?«
»Hm?«
»Sie waren wieder da.«
»Hör auf mit diesem Unsinn. Dafür bist du wirklich langsam zu alt.«
Aus ihrem Mund roch es brackig, wie beim Bootshaus am nahe gelegenen Fluss nach einem zu langen Sommer.
An guten Tagen schob sie den Aschenbecher voller Gauloises Bleu Stummel zur Seite und hob ihre Decke an. Dann schmiegte ich mich in die Wärme. Ganz vorsichtig, damit ich Mutters Körper nicht berührte. Meistens setzte ich mich einfach auf den Boden neben das Bett und legte meinen Kopf dicht neben ihre Hand, die bereits wieder im Schlaf zuckte, eine Spinne aus Fleisch, erträglich in der versöhnlichen Sanftheit des ersten Morgenlichts.
Eines Nachts, ich weiß weder wie noch wann, hörten diese düsteren Wach-Träume auf. Andere lösten sie ab. Seit ich mich erinnern kann, weiß ich, dass erst der Tod mich von ihnen befreien wird. Nachdem das Universum mich vor fast fünfzig Jahren ungefragt auf diesem Planeten ausgespuckt hat, sehne ich ihn herbei, hoffe, dass er mich nicht vergessen hat. Als Mutter, für mich schon längst nicht mehr Mama, sondern nur noch Joséphine, ihm freiwillig ihre Hand reichte und mich alleine zurückließ, wurde mein Heimweh nach dem großen Nichts zu meinem treuesten Schatten.
Bald habe ich es geschafft. Auch ich werde heimkehren. Nur noch fünf Tage.
Kurz vor sieben Uhr drang ein beharrliches Klingeln in Amandas Träume. Verwirrt und vergeblich suchte sie nach seiner Quelle, bis sie ins Vakuum des unverbrauchten Morgens gesogen wurde und begriff. Der Lärm kam aus der wirklichen Welt, vom Telefon im Flur.
Die Novembernacht klebte noch an den Fenstern. Amanda war speiübel. Obwohl sie am vergangenen Abend nur Wasser und Apfelsaft getrunken hatte, fühlte sich ihr Inneres wattig und wund an. Sie zog sich das Kissen über den Kopf, als könnte es sie vom Brechreiz und dem fordernden Schellen beschützen.
Es half nichts. Das Telefon läutete unerbittlich weiter, bis Jan fluchend über Amanda aus dem Bett stolperte und ihr wenig später das Kissen vom Gesicht zog. Seine Worte vermengten sich mit halb verdautem Knoblauch und Bier, als er schimpfte: »Dalina! Dein Großvater ist am Telefon! Verdammt, der spinnt doch, der Alte!« Dann kippte er umgehend auf die Matratze und in sein Kater-Koma zurück. Amanda setzte sich auf und wühlte im Kleiderhaufen neben dem Bett nach ihrem Flanellhemd.
Das Neonlicht in der Küche flackerte, als sie sich am Ende des gespannten Telefonkabels an den klebrigen Tisch setzte, auf dem noch die Flaschen des gestrigen Abends standen wie Kegel in einem vorzeitig abgebrochenen Spiel. Sie seufzte in den Hörer. »Ja?«
»Da bist du ja endlich. Guten Morgen, meine Kleine. Wie geht es dir?« Großvater klang seltsam monoton. Jetzt ist er übergeschnappt, dachte Amanda.
»Weißt du, wie spät es ist? Ist alles gut bei dir?« Ihre Stimme klemmte im Hals wie ein schlechtgekautes Stück Fleisch.
»Nein. Joséphine ist letzte Nacht gestorben.«
Aus Amandas Brust schoss das Blut wie Eiswasser in Arme und Beine, füllte jede Ader und Vene mit flüssiger Kälte. Sie schob den vollen Aschenbecher zur Seite und versuchte, tief Luft zu holen.
»Das kann nicht sein. Du irrst dich. Ich habe sie erst gestern Morgen gesehen. Hast du wieder getrunken?« Es kam lahm und sie wusste auch ohne Großvaters Antwort, dass es egal war, ob er nüchtern war oder nicht. Joséphine war tot.
Sie müsste jetzt schreien oder weinen, dachte Amanda, noch ganz traumtaub und drückte das Telefon an ihre Brust. Trotz ihrer Übelkeit setzte sie mit der freien Hand eine der halb vollen Flaschen an und nahm einen großen Schluck. Er war lau und ohne Kohlensäure. Sie sollte nicht. Das Kind im Bauch. Aber das war jetzt auch egal.
»Amanda? Amanda?«, quäkte es gedämpft aus dem schwarzen Plastikding in ihrer Hand. Sie hob es wieder ans Ohr und fragte: »Was ist passiert?«
»Deine Mutter hat sich in der Garage in mein Auto gesetzt und den Motor laufen lassen. Ich habe sie gerade erst gefunden.«
Amanda schüttelte den Kopf, als könnte Alois das am anderen Ende der Leitung sehen. Joséphine besuchte ihren Vater schon seit Jahren nicht mehr. Das alles musste ein Missverständnis sein.
Sie hörte noch, wie Großvater etwas von Arzt und Polizei sagte und dass er sich melden würde, sobald er mehr wisse. Dann beendete er das Gespräch, wie immer ohne Gruß. Amanda nahm einen weiteren Schluck Bier und ging in den Flur, wo sie den Hörer auflegte, und Joséphines Nummer wählte. Nichts. Das Tuten noch im dumpfen Schädel, rannte sie zur Spüle und erbrach sich über den Stapel ungewaschener Fondueteller. Dann legte sie sich im Wohnzimmer auf das Sofa und versank in einen bleiernen Schlaf. Sie wachte erst auf, als Großvater sich neben ihr räusperte. Irgendjemand musste ihn in die Wohnung gelassen haben.
Noch fünf Tage. Amanda steigt mit nackten Füßen die freischwebenden Holzstufen ins Erdgeschoss hinab, direkt auf die Glasfront hinter dem Esstisch zu. Dahinter verdunsten die Bäume ihr Grün in den Morgen. Zwischen den Stämmen gärt der Herbst, verheißt die Ruhe, auf die sie den ganzen Frühling und Sommer über gewartet hat. Aus der Schlucht steigen erste Nebelfetzen auf.
In der Küche mahlt sie sich Kaffee und lässt ihn in den Kolben rieseln. Mit schrillem Fräsen pulverisiert die alte Mühle die Bohnen. Es ist dieselbe wie damals, als Großvater noch hier gewohnt hat, und sie bloß Gast war, auch wenn sie beide wussten, dass ihr wahres Zuhause hier bei ihm war, in diesem Haus mit dem viel zu vielen Licht, hoch über Fribourg. Nicht bei Mutter in der Wohnung in Zürich, wo es keinen Garten gab und zwischen ihr und der Freude so viele Mauern, Treppenstufen und kotiger Asphalt lagen. Natürlich hätte sie das Joséphine nie gesagt. »Es ist unser Geheimnis«, hatte Großvater ihr immer zugeflüstert und dabei gezwinkert. Das war in den ersten Jahren gewesen, bevor Joséphine ihr verboten hatte, Großvater lieb zu haben.
Damals war sie nach dem Aufstehen immer leise aus ihrem Bett mit der Rosendecke gekrochen und ins Bad geschlüpft. Dort hatte sie ihr Ohr an das winzige Loch im Boden der Dusche gelegt, das direkt über der Küche lag. Sobald sie den Großvater unten hörte, verließ sie ihren geheimen Lauschposten und lief im Flur die Flucht aus Einbauschränken entlang, mehr als sie zählen konnte, alle gleich und doch voll der unterschiedlichsten Schätze: in Fächern, Schubladen und an Bügeln, gehortet und vergessen. Dann, bedächtiger, denn rennen im Haus hatte Mutter ihr strikt untersagt, tapste sie die Treppe zum Erdgeschoss hinab, wo sie wartete, bis Großvaters Kaffee fertig auf dem Tisch stand und seine erste Zigarette brannte. Sobald er sich hinsetzte, kroch sie auf seinen warmen Schoß und er legte seine Hand auf ihren Rücken, genau zwischen ihre Flügelchen, wie er die beiden kleinen Knochenspitzen unter ihren Schultern nannte, so, als wäre es das Normalste der Welt, dass ein Mädchen wie sie bald fliegen könnte. Dann sagte er sanft: »Guten Morgen, Kleine.« In diesen Momenten war die Welt gut. Wie konnte er bloß so anders sein als Mutter? Die war doch seine Tochter. Vermutlich war ja die unbekannte Großmutter schuld daran, die sich noch vor Amandas Geburt in die Schlucht gestürzt und ihn im Stich gelassen hatte.
Amanda renkt den vollen Kolben in die Maschine, drückt den Ausgabeknopf und holt die Milch aus dem Kühlschrank. Caligula, der greise Kater, hockt neben ihren Füßen auf dem Boden und maunzt. Dies ist Amandas liebste Zeit. Ihr Mann Jan und ihr Sohn Benjamin sind noch oben und alles ist ruhig, ohne dass die Einsamkeit ihrer langen Tage sich schon auf sie gelegt hat.
Sie beachtet die Katze nicht, lauscht nochmals ins Haus hinauf und holt rasch die Steingutflasche aus dem Schrank unter der Spüle hervor, zwischen den Kristallvasen vom Flohmarkt und den bunten Gläsern, die sie damals gesammelt hat, als sie noch versucht hat, das Leben zu mögen. Was das heißt, hat sie bis heute nicht richtig verstanden oder erfühlt, denkt sie. Vermutlich ist sie deshalb von Vorbild zu Vorbild gehüpft, wie ein Kind, das auf Steinen über einen Bach balanciert. Das konnten Freundinnen, flüchtige Bekannte, aber auch Figuren aus einem Buch oder Film sein, wie Romy Schneider, Madame Bovary oder Marilyn Monroe. Seit sie denken kann, füllt Amanda ihre eigene Leere mit dem Leben der Anderen. So, wie sie als kleines Mädchen hinter Fremden den Gehsteig entlang gegangen war, den Blick fest auf die Fersen vor sich geheftet, bis sie deren Gang ganz in sich aufgenommen und gespürt hatte, wie ihr die Füße anderer geboten, die ihren zu heben und zu senken. Für ein Scheibchen Zeit breitete sich dann eine tröstliche Rundheit in ihr aus und löschte alles Denken.
Manchmal nistete sie sich ganze Wochen oder Monate in anderen Menschen ein. Nicht vorsätzlich, es geschah einfach. Sie verliebte sich in andere Leben und konnte ihr geliehenes Ich mit einer Unbedingtheit lieben, wie sie sich selbst noch nie geliebt hatte.
So muss es sich anfühlen, wenn man einen Glauben hat, denkt Amanda, während sie darauf wartet, dass die Kaffeemaschine aufheizt. Wie tröstlich wäre es, tiefreligiös zu sein und stets zu wissen, was richtig und falsch ist. Den Beipackzettel für das Leben zu haben, den Joséphine ihr nicht gegeben hat, bevor sie sich vor fast neunzehn Jahren kommentarlos aus der Welt davongestohlen hat. Danach war alles schlimmer geworden. Wenn fortan wieder ein Mensch aus ihrem Leben verschwand, wegzog oder sich von ihr abwandte, legte Amanda sich tagelang ins Bett, ins Niemandsland. Jede Handbewegung, Essen, Duschen, Denken verloren jegliche Bedeutung, bis ein neuer Wirt sie ahnungslos aufnahm und ihr lose gebündeltes Sein umfasste wie ein Kokon.
Als Christa, ihre Chefin, sie im vergangenen Januar bei der Arbeit in der Buchhandlung vor der Vertreterin eines kleinen Verlags gerügt hat, sie solle nicht ständig irgendwelche Leute nachäffen, hat sie damit aufgehört, sich in andere Menschen hineinzufantasieren, sich deren Habitus, Wortschatz und kleine Tics zu borgen. Dabei war der Anlass nicht der Rede wert gewesen. Sie hatte nur unbewusst die Wangen leicht eingesogen, ihre Nasenflügel überbläht und das Kinn angehoben, wie besagte Frau es tat, während sie Christas ausschweifende Ausführungen zu einem Buch über sich ergehen ließ und sich ihre Ungeduld nicht anmerken lassen wollte.
Nach diesem Rüffel hatte Amanda sich bloßgestellt gefühlt wie seit Kindertagen nicht mehr. So sehr, dass sie nahe dran gewesen war, ihren Job zu kündigen. Der Vorfall hatte sie an den längst vergessenen, viel zu klein gewachsenen Jungen in ihrer Schule erinnert, der ständig die letzten zwei Worte jedes Satzes, den er hörte, nachplapperte, mechanisch und leise. Sie und ihre Freundinnen hatten ihn nur Papagallo genannt. Papagei. Erst viel später hatte sie irgendwo gelesen, dass man diesen Tic Echopraxie nennt und den Kleinen nachträglich bedauert. Weniger für seine Veranlagung als wegen der Gnadenlosigkeit, mit der sie das magere Kind mit den vanillecrèmehellen Haaren geplagt hatten. Und doch hatte sie ihn von da an im Stillen darum beneidet, dass seine Störung eine neurologische Sache war und einen wissenschaftlichen Namen hatte. Nicht wie ihre lebenslange Schwermut, die sich als persönliches Versagen ohne medizinische Rechtfertigung anfühlte. Sie fragt sich noch immer, was wohl aus ihr geworden wäre, wäre sie bei Joséphines Tod nicht mit Benjamin schwanger gewesen. Vielleicht wäre sie ihr gefolgt. Selbst Mutter zu werden hat das schiere Sein zwar nicht wirklich erträglich gemacht, aber sinnvoller. Es hat sie zumindest für einige Jahre davon abgehalten, sich Schritt für Schritt rückwärts aus ihrem Leben davonzuschleichen, wie aus einer anstrengenden Party. Bis der Tod ihrer Kindheitsfreundin Mirella vor knapp 42 Wochen und Benjamins achtzehnter Geburtstag im letzten Frühling sie aus dem Funktionieren hob. Seither fühlt sie sich entgleist.
Den Job in Christas Laden hat Amanda dann doch behalten. Die drei Nachmittage pro Woche sind einer ihrer letzten Anker, die sie in der Welt der anderen festhalten und ihr Verlangen nach dem Sterben tarnen, bis der Tag gekommen ist, alles loszulassen.
Amanda drückt den Bügelverschluss der Flasche auf und trinkt zwei große Schlucke Wodka, ohne dazwischen abzusetzen, weil es so nur als ein einzelner zählt. Die Öffnung aus kühlem Stein an den Lippen lässt sie die Geborgenheit mit geschlossenen Augen in sich hineinrieseln. Dann klaubt sie sich eine Kaffeebohne aus dem Trichter der Mühle und holt eine Tablette aus der kleinen Dose im Gewürzkästchen, die sie vor Jahren in einem der Schränke im Flur oben entdeckt hat. Etwas verbeult, auf dem Deckel eine Schäferin mit Bändern auf dem Strohhut und ein Lämmchen zu ihren Füßen.
Sie zerkaut Bohne und Tablette gleichzeitig, damit der Mix aus Alkohol und Benzodiazepin schneller ins Blut kickt und ihr Atem sie nicht verrät. Es knirscht tief in den Ohren.
Wie so oft wundert sich Amanda auch heute, wie sie das Existieren bis zu ihrem vierzehnten Lebensjahr nüchtern ertragen hat. Sie weiß es nicht. Es war einfach, wie es war. Bis der erste Suff kam. Ein Fläschchen mit der Aufschrift »Trink mich« und ein Türchen in einen Kaninchenbau tief unter der Realität.
Caligula springt auf den Herd, tänzelt über die kalten Kochplatten, schmiegt sich an den Zwiebeltopf aus Ton und streckt seine Pfote mit den langen Krallen nach Amandas Rücken aus. Sie haken im Morgenmantel fest. Er ist aus vergissmeinnichtblauer Seide mit einem Drachen und Lotusblüten bestickt. Groß genug für die grobschlächtigen Gattinnen der Geschäftsmänner aus dem Westen, wie Jan mit einem amüsierten Lachen bemerkt hat, als er ihn vor ein paar Wochen von einem Trip nach Peking oder Hongkong mitbrachte.
Amanda hat sich trotzdem aufrichtig darüber gefreut, nicht nur mit dem Gesicht. Der schwarze Krake in ihrem Kopf war ausnahmsweise still geblieben, jenes Wesen, das mit ihr geboren wurde und sich nun seit Monaten immer weiter in ihr ausdehnt, sie wie Fugenschaum unaufhaltsam gegen das Fühlen abdichtet. Sie kämpft nicht mehr dagegen an, lässt zu, dass er sie auslöscht, Empfindung um Empfindung, bis sie selbst nur noch eine Hülle ist, eine Amanda-Attrappe. Noch vier Tage. Bis dahin lebt sie einfach noch fertig und hofft, dass ihr niemand etwas anmerkt.
Aber diese Gefahr ist überschaubar. Nur in der Buchhandlung oder beim Einkaufen trifft sie noch auf andere Menschen. Ab und an fragt jemand, wie es ihr geht. Aus Höflichkeit, die sie mit wohldosierter eigener Höflichkeit erwidert. Klar definierte Satzhülsen, die man austauscht wie Glasperlen und danach erleichtert aufatmet, wenn das Gegenüber die Fälschung nicht bemerkt. Und doch fühlen sich solche Begegnungen mittlerweile an, als ob jemand ohne zu klingeln oder zu klopfen in ihr Schlafzimmer vordringt, und sich dort aufdringlich umschaut.
In den vergangenen Wochen sind ihr jedoch selbst diese Momente immer gleichgültiger geworden. Sie hat begriffen, dass das schwarze Loch in ihr und um sie herum für die anderen unsichtbar ist und ohne Geruch. Keiner bemerkt etwas. Alles wie immer. Guten Tag, schönen Abend, Ihnen auch, danke.
Sogar miteinander geschlafen haben Jan und sie an jenem Abend nach seiner Rückkehr aus irgendeiner Stadt im Fernen Osten. Und sie ist bei ihm geblieben, bei seinem Körper, seinen Augen und seinem Atem. Getrocknete Steinpilze, Aceton und Minze. Es war verstörend vertraut gewesen. Fast schön. Noch einmal hat sie sich in jenen geheimen Raum verirrt, dessen Tür sie nicht mehr finden will.
Geduldig fädelt Amanda Caligulas Krallen aus der Seide. Er schüttelt die Pfote und niest kleine Rotzbatzen auf ihre Hand. Sie wischt sie an der Seide ab und träufelt Milch auf einen Esslöffel. Der Kater schleudert mit der Zunge Tropfen in seinen Schlund und auf den Herd. Dann lässt er sich auf den gefliesten Boden hinabplumpsen, mehr Sack als Katze, wie Jan sagt, und trottet mit pendelndem Bauch aus der Küche. Amanda seufzt. Vielleicht könnte sie ihn mögen, wenn er nicht ständig hinter den Vögeln im Garten her wäre.
Die Kaffeemaschine ist mittlerweile heiß. Amanda zieht zwei Kaffees und schäumt mit dem Dampfröhrchen Milch auf. Was für ein unnötiger Aufwand. Wenn es nach ihr ginge, würde sie löslichen Kaffee trinken wie Mutter. Die hatte ihn immer schwarz und dick angerührt, wie Teerpaste, und ihn zu der ersten Gauloises Bleu des Tages getrunken. Dabei hatte sie an dem runden Tisch mit der Decke aus gehäkelten Blumen gesessen, die sich mit jeder Wäsche mehr voneinander lösten, und sich in jenes gallertdicke Schweigen gehüllt, das keine Worte durchließ. Dabei hatte sie aus dem Fenster über den Dachfirst auf der anderen Straßenseite geschaut und durch den Himmel hindurch.
Amanda gießt die flauschig-heiße Milch aus der Kanne in die beiden Tassen. Wie immer füllt sie ihre etwas großzügiger als die von Jan. Sie hat der unbekannten Großmutter gehört und ist schon so viele Male geflickt worden, dass die handgemalten Rosenblüten wie auf einem Picasso-Gemälde leicht gegeneinander verschoben sind. Der einst vergoldete Rand ist eine Wellenlinie rundgetrunkener Scharten und liegt beim Trinken tröstlich weich auf den Lippen.
Amanda zieht an ihrer E-Zigarette, einem hässlichen schwarzen Plättchen, mit dem sie auch im Haus rauchen kann, weil es nicht stinkt. Sie schlürft einen großen Schluck aus ihrer Tasse. Nun ist der Kaffee wieder gerecht verteilt. Weshalb sie das jeden Morgen tut, sich einen Extraschluck stibitzen, weiß sie selbst nicht.
Kleine Heimlichkeiten haben schon immer zu ihr gehört. Es sind Amanda-Inselchen, die auf keiner Karte im Leben der anderen verzeichnet sind. Sichere Orte.
Was einem nicht alles auffällt, wenn man sein Leben in der perspektivischen Verkürzung des Rückblicks anschaut, denkt sie. Fünfzig Jahre zusammengeschoben wie ein Akkordeon. Was bleibt, sind ein paar wenige Bilder, die mit den Jahren an Tiefe gewonnen haben – da ein Wort, dort eine Blüte, ein Geruch, eine Wunde oder eine Geste. Während Abertausende von Momenten dazwischen für immer in den Falten der Zeit verschwunden bleiben.
In der wohl ältesten Erinnerung daran, wie sie bewusst auf eines ihrer Eilande geflohen ist, um die sich mit stechender Gewissheit anbahnende Einsamkeit vorwegzunehmen, sitzt sie in einem Flur ohne Fenster. Sie ist knapp vier Jahre alt und kauert an der Wand gegenüber einer Eingangstür. Die Wohnung gehörte Frau Abegg, der Tagesmutter. Joséphine brachte Amanda seit neustem täglich zu ihr, damit sie in ihrem Kiosk bei der Nordbrücke Geld fürs Essen verdienen könne, wie sie erklärte. Dabei wusste Amanda ganz genau, was Mutter in Wirklichkeit tat. Sie saß den ganzen Tag in der fetten Luft zwischen Süßigkeiten, frisch bedrucktem Papier und Tabak und plauderte nett mit den Leuten vom Quartier, während sie, Amanda, in einer fremden Wohnung auf sie warten musste. Es hatte bislang ja auch Essen gegeben, ohne dass Joséphine sie dafür hätte wegschicken müssen, das wusste sie genau. Lieber wolle sie in dem Fall nichts mehr essen, als zu Frau Abegg zu gehen, hatte sie Joséphine daher am ersten Morgen mitgeteilt. Zugeschrien traf es wohl eher. Sie hatten im Treppenhaus der Abeggs gestanden, in dem der Boden aus Steinplatten war, in denen wiederum kleinere Steine steckten wie gefangene Kiesel-Kinder, und in dem es nach Arzt roch und jedes Wort hart von den Wänden widerhallte. Joséphine hatte mit verhaltener Stimme und sehr langsam gesprochen, wie immer, wenn sie wütend war. Erstens sei Amanda zu klein, um das zu verstehen. Und zweitens solle sie sich nicht ständig so anstellen. Dann hatte sie energisch mit der einen Hand Amandas Arm und mit der anderen den Klingelknopf gedrückt. Eine freundliche Frau ohne Gesicht und mit unzähligen Gänseblümchen auf dem Überkleid, das ihren fülligen Körper zusammenhielt, hatte die Tür geöffnet.
Zum Abschied hatte Joséphine Amanda über den Kopf gestreichelt. Sie fühlt noch heute die hageren Finger im Haar und riecht den Geruch nach altem Rauch ganz weit oben in der Nase.
Warum sie es so schlimm gefunden hatte bei Frau Abegg, könnte Amanda heute nicht mehr sagen. Dafür erinnert sie sich an das trübe Licht der halbkugeligen Lampe über ihr. Und daran, dass sie sich vor dem Mittagsschlaf absichtlich in die Hose gemacht hatte. Und zwar groß, wie Frau Abegg den anderen Kindern entrüstet verkündete. Zur Strafe verbannte sie Amanda in den Flur, während die anderen sich für den Mittagsschlaf ins Wohnzimmer mit den senfgelben Vorhängen aus grobgewobenem Tuch legen mussten, auf Sofas und Teppiche verteilt, und keinen Mucks machen durften.
Amanda solle sich erst mal beruhigen, hatte Frau Abegg beschieden. So etwas Wüstes tue ein braves Mädchen doch nicht, also wirklich. Sie könne zu ihr kommen, sobald sie sich entschuldigen wolle. Das hatte Amanda sehr wohl gewollt, auch wenn sie froh war, nicht mit den anderen in die Stube gesperrt zu sein. Bloß schaffte sie es nicht. Weil sie selbst nicht wusste, warum sie das getan hatte, und weil sie sich fürchtete vor der Häme der anderen, die sich alle kannten. Zwischen ihrer Haut und dem Stoff der Hose klebte ihr Kot wie zäher Brei, plattgesessen vor lauter Bockigkeit. Hinter der geschlossenen Wohnzimmertür hörte sie es wispern und kichern. »Hosenscheißerchen.« »Wäh.« »Dumme Kuh, selberschuld.«
Noch heute ist es Amanda, als habe sie sich damals selbst von oben zugeschaut und vergebens versucht, das Kind da unten auf dem Boden im fensterlosen Gang zu bewegen. Es ist ihre erste Erinnerung daran, wie sie sich von sich selbst abgelöst hat, um nicht zu fühlen. Sie weiß nicht mehr, wie lange alles gedauert und wie es geendet hat, nur dass sie irgendwann gelernt hat, die Tage bei Frau Abegg hinzunehmen, sich die Hände vor und nach dem Essen zu waschen und nur zu sprechen, wenn ihr das Wort erteilt wurde. Wer sich an alle Regeln hielt, bekam am Ende des Tages ein Bonbon. Irisch Moos.
Jahre später hat Joséphine ihr erzählt, Herr Abegg sei Polizist gewesen, eigene Kinder hätte das Paar keine gehabt. Darum habe Frau Abegg eben auf die anderer Leute aufgepasst. Das sei auch besser gewesen, denn ihr Mann habe sie für einen anderen verlassen. Damals seien solche Sachen noch sehr verpönt gewesen und die gedemütigte Frau Abegg sei aus dem Quartier weggezogen, als wäre es ihre Schuld. Wohin habe keiner je erfahren. Was Amanda von jener Periode ihrer Kindheit geblieben ist, ist die Abneigung gegen jegliche Erwähnung von Fäkalien und Verdauungsvorgängen.
Doch trotz der Schmach, an die sie sich auch fast ein halbes Jahrhundert später noch erinnert wie an einen frischen Schnitt, hat der Drang, absichtlich Dinge zu tun, die sie in Schwierigkeiten bringen, sie seit damals nie mehr ganz verlassen. Sie mag die Vorstellung, dass ein Geschöpf in ihrem Kopf sie dazu zwingt, sich unpassend zu benehmen. Dass das Unsinn ist, weiß sie natürlich. Joséphine hat ihr zu oft gepredigt, dass man Verantwortung übernehmen müsse, für alles, was man tue. Dafür sei man nie zu jung. Dennoch hilft ihr das Bild eines sie regierenden Wesens auch heute noch gegen die Scham, die in regelmäßigen Wellen vom Magen in den Hals hochsteigt, wenn sich wieder eine peinliche Erinnerung ungebeten aus dem Unterbewusstsein löst. Die Fragmente ihrer Erlebnisse jagen immer zügiger durch ihren Kopf, wie Fische im Zeitraffer. Stundenlang verlässt sie ihre trostlose Realität und versinkt im Früher, durchlebt alles nochmals, Unbedeutendes ebenso wie Wichtiges, und findet immer schwerer zurück. Dass das Leben an einem vorbeiziehe, wenn man bald stirbt, hat sie schon oft gelesen. Dass es das auch tut, wenn man beschließt, freiwillig von dieser Welt zu gehen, hat sie nicht gewusst.
Amanda schiebt Jans Kaffee über die Durchreiche ins Esszimmer hinüber, nimmt die eigene Tasse und stellt sich damit vor die Spüle beim Panoramafenster zum Garten. Für sie ist alles hier auch nach all den Jahren noch immer Großvaters Reich. Obwohl er inzwischen ein gebrechlicher, meist grantiger Greis ist, lebt er weiter in ihr, der Mann, den sie früher stellvertretend für den unbekannten Vater vergöttert hat. Beide Aloise, der zärtliche und der stachelige, existieren parallel nebeneinander, einer in der Erinnerung und einer in der Realität. Amanda nippt an ihrem Kaffee, zieht an der Zigarette und schaut dem Dampf zu, wie er die Scheibe hochzieht und sich auflöst. In was eigentlich? Wo verbleiben seine Partikelchen und wohin werden jene ihres Körpers bald verrauchen?
Als sie den Blick senkt, steht Edouard, der pensionierte Nachbar, nur wenige Meter vor dem Fenster. Hinter ihm fällt der Rasen mit den Mäuerchen und Rabatten steil ab zur Schlucht, die unsichtbar zwischen hier und den Felsen auf der anderen Seite klafft, verborgen nur von einer einzelnen Reihe Bäume. Irgendwie sieht der kauzige Mann mit dem zu großen Kopf vor der Kulisse aus wie eine der Folien-Figuren, die sie als Kind auf Vorlagen gerubbelt hat, denkt sie. Nachträglich und unsorgfältig reingeklebt. Sie kennt ihn, seit sie denken kann. Damals war er noch ein Junge gewesen und bei jeder Gelegenheit zu Großvater rüber gekommen, auch als es ihm seine Mutter wegen des Freitodes der Großmutter verboten hatte, wegen der Schande, über die in den Villen um sie herum getuschelt wurde. Das hatte zumindest Großvater behauptet.
Damals hatte sie das Wort »Freitod« zum ersten Mal gehört. Irgendwie passten sein Vorne und sein Hinten für sie nicht zusammen, frei und Tod. Sie stellte sich darunter ein nachtaktives Tierchen vor, eine Art Fledermaus, die in einen Himmel ohne Anfang und Ende davontrudelte. Verloren und verlockend.
Trotz oder gerade wegen der Familienschande von Großmutters Suizid nahm Großvater Edouard weiterhin in seinen geheimnisvollen Keller voller Tüfteleien mit. Amanda musste jeweils alleine oben im Haus bleiben, weil ihr Joséphine strikt verboten hatte, je dort hinunterzugehen. Wie immer war es ein Befehl ohne weitere Erklärung gewesen. Amanda hatte derweil im Wohnzimmer versucht, sich mit einer Sendung in Großvaters Farbfernseher abzulenken, um die Eifersucht in sich zu übertönen. Aber das Gerät entbehrte an solchen Nachmittagen seiner sonstigen Magie. Sie vermochte nur noch an den knochigen Jungen im Keller zu denken, an seinen Kürbiskopf mit dem flaumigen Haar, durch das die Kopfhaut schimmerte. Sie hatte ihn schon damals kaum ertragen, als wäre er umgeben von einem Magnetfeld, das sie abstieß, sobald er in ihre Nähe kam. Dabei war er immer sehr aufmerksam und freundlich zu ihr und verknotete in ihrer Gegenwart die komisch runzlig-feuchten Kinderfinger vor Verlegenheit regelrecht ineinander, als könnte er ihre Freundschaft herbeikneten.
Allem Abscheu zum Trotz hat Amanda Edouard nach Großvaters Auszug weiterhin erlaubt, sich um den Garten zu kümmern, in den es ihn seit seiner Kindheit zu ziehen schien, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Sie hat einfach nie die richtigen Worte suchen mögen, um ihm zu sagen, dass sie das nicht wollte. Dass sie es irgendwie unheimlich fand. Ihr Mitleid mit ihm hatte ihr dabei immer im Weg gestanden. Und jetzt war es ihr ohnehin gleichgültig.
Edouard nickt ihr durch die Scheibe zu und winkt im Weggehen mit der Rosenschere. Sie hebt die Hand zu einem halben Gruß. Unten im Flur, der auf der Straßenseite ein Stockwerk unter dem ebenerdigen Wohnzimmer liegt, hört sie die Haustür ins Schloss fallen. Ein winziges Weh lodert in ihr auf. Benjamin ist schon wieder ohne Frühstück und Gruß aus dem Haus geschlüpft, wie so oft in letzter Zeit. Sie denkt daran, wie gern sie ihn früher morgens angezogen hat, ihm seinen Schulbeutel mit einem letzten, unnötigen Ruck zugezurrt und ihm Dinge zugegurrt hat, die Joséphine für verweichlichtes Zeug gehalten hätte – »Hab dich lieb, pass auf dich auf, schönen Tag, ich freue mich auf dich.«
Amanda klaubt eine weitere Tablette aus dem Döschen, schluckt sie mit einem Nipp Kaffee. Wartet, bis der wachsende Fleck auf der Landkarte ihrer Tage das Fühlen verwischt wie Wasser ein Aquarell. Die unendliche Geschichte wird bald endlich, tröstet sie sich.
Ein Schwall Wodka-Brühe schießt ihr die Speiseröhre hoch. Sie spült ihn mit einem weiteren Schluck Kaffee in den Magen zurück, als Jan die Treppe runterkommt und seine Tasse von der Durchreiche nimmt. In ein paar Minuten wird auch er aus dem Haus gehen und sie allein lassen in ihrem zeitlosen Labyrinth.
Am liebsten würde sie sich für heute Nachmittag in der Buchhandlung krankmelden. Aber für die nächsten vier Tage muss sie alles möglichst normal erledigen. Unauffällig sein. Bis Benjamin auf seine Abiturreise fährt und sie die Erde ungestört verlassen darf, wie ein Alien nach Abschluss seiner Mission.
Das Festnetztelefon zerschellt die Morgenstille. Amanda zwingt sich, vom Sofa aufzustehen. Auf dem Display des schnurlosen Geräts leuchtet eine unbekannte Nummer auf. Ihre Handinnenflächen werden sofort schwitzig und ihr Hals zieht sich zusammen. Vielleicht ist etwas mit Großvater. Sie hofft selbst jetzt noch, dass er vor ihr stirbt und nebst Großmutter und seiner Tochter keine weitere Frau verlieren muss. Trotzdem fürchtet sie sich davor, dass ihm etwas zustoßen könnte. Oder, viel schlimmer noch, kaum denkbar, dass Benjamin einen Unfall gehabt haben könnte. Plötzlich krank geworden ist.
Amandas Körper hat nie aufgehört, bei jedem Klingeln in den Alarmmodus zu kippen. Obwohl Benjamin schon 18 Jahre alt ist und sie nun nicht mehr braucht. Sie schließt kurz die Augen und drückt dann auf das grüne Symbol mit dem Telefonhörer.
»Ja?«
»Hallo? Spreche ich mit Amanda Mejier?«
»Ja.«
»Hier ist Elvira Herrmann. Die Mutter von Hannah.«
Amanda sagt nichts.
Die Stimme, die sich ungefragt in ihr Haus drängt, wird ungeduldig.
»Hannah. Sie wissen schon. Aus Benjamins Klasse.«
Ja, Amanda weiß. Sie konzentriert sich auf das feine Knäuel in der Ecke über dem Wohnzimmerfenster. Vermutlich ein vertrockneter Weberknecht. Was für ein seltsamer Name für eine Kreatur mit acht fadendünnen Beinen. Sie hat mal gelesen, dass das keine Spinnen sind. Seitdem kann sie einigermaßen mit ihnen zusammenleben. Amanda überlegt, ob sie das verendete Tier später mit dem Staubsauger wegmachen soll. Aber es widerstrebt ihr. Soll Jan sich doch darum kümmern.
Die Frau, irgendwo in einer anderen Wohnung, die sie nichts angeht, schnauft in die Leitung, die keine ist. Amanda überlegt, ob der bedeutungslose Laut über einen Satelliten zu ihr geschickt wird, sodass nur sie allein ihn vernehmen kann. Wie es sich wohl anhören würde, wenn man die Atmer, Seufzer und Worte aller Telefonate gleichzeitig im Orbit hören könnte. Was für eine Kakofonie das ergäbe.
Die Fremde klingt nun abgehakt, wie ein aufgebrachtes Huhn. »Hallo? Hallo? Sind sie noch da?« Amanda kann noch immer nicht sprechen. »Hat Benjamin denn nichts gesagt?«
Sie könnte den Eindringling einfach wegdrücken, aber sie zwingt sich dazu, sich unauffällig zu verhalten, wie sie es sich vorgenommen hat.
»Frau Meijer?«
»Ja. Bitte entschuldigen Sie, Frau Herrmann. Ich …«
»Sie haben ganz offenbar keine Ahnung, wovon ich spreche. Oder es kümmert Sie schlicht nicht.«
»Nein … Also doch. Worum geht es denn?«
»Um Ihren Sohn, natürlich. Und um unsere Tochter. Vor allem um unsere Tochter. Sie ist schwanger! Von Benjamin.« Noch ein Schnauben.
Amanda zieht an ihrer E-Zigarette. Zimmermann. Herrmann. Alles Unangenehme heißt hier »Mann«, denkt sie.
»Frau Meijer? Hören Sie mir überhaupt zu?«
»Ja, natürlich. Verzeihung. Und Sie sind sicher, dass Benjamin der Vater ist?«
Zu spät begreift sie, wie die Frage ankommen muss und entschuldigt sich erneut. Weshalb tut sie das eigentlich ständig? Als wäre die ganze Menschheit ihr Fehler.
»Wollen Sie etwa behaupten, meine Tochter schlafe herum? Und von Vater kann hier nicht die Rede sein. Dazu müsste das Kind erst geboren werden. Dass das nicht infrage kommt, dürfte vermutlich sogar Ihnen klar sein.«
Hören Sie, all das geht mich nichts an, möchte Amanda entgegnen. Nicht mehr. Stattdessen sagt sie: »So war das natürlich nicht gemeint. Es tut mir leid.« Schon wieder eine Entschuldigung. »Das ist ja eine schreckliche Angelegenheit. Warum treffen wir uns nicht und besprechen alles persönlich? So ist es doch viel angenehmer als per Telefon. Möchten Sie zu uns kommen?« Amanda könnte sich die Zunge abbeißen. Wie kommt sie dazu, so etwas vorzuschlagen? Nichts will sie weniger, als diese zornige Frau in ihr Zuhause zu lassen, der Stimme ein Gesicht und einen Körper geben.
Zu spät. Frau Herrmann lenkt ein und verspricht, in einer dreiviertel Stunde da zu sein.
Amanda versucht, tief einzuatmen. Aber ihre Lungen sind bereits voll und pochen überbläht. Wie immer, wenn Menschen ihr zu nahekommen. Und inzwischen ist ihr jeder ständig zu nah. Ihr Kreis wird enger und enger, denkt sie, bis nur noch sie reinpasst und zu einem Punkt schrumpft, zu einem Objekt ohne jegliche Ausdehnung. Sie schließt die Lider. Ein Flattern dicht unter der Haut zieht auf beiden Seiten in Wellen bis zu den Schläfen hoch und kriecht ihr über die Kopfhaut. Besänftigend flüstert sie sich zu, wie sie es mit den Vögeln tut, die sie vom Gartensitzplatz aus manchmal beobachtet. Pscht. Alles gut, alles gut.
Erst jetzt dämmert ihr, dass es nicht nur Frau Herrmann ist, die sie so aufwühlt. Es ist noch etwas Anderes, Bedrohlicheres, für das sie keinen Namen findet.
Sie holt eine dritte Tablette aus der kleinen Dose, die sie sich inzwischen wie jeden Tag in den BH gesteckt hat, und ignoriert den Druck in ihrer Brust. Angst ist ein natürlicher Reflex in der Natur, wissen Sie, hat ihr eine lange Reihe von Fachleuten vorgebetet, wohlmeinend, voller Seminarwissen und in der aufrichtigen Überzeugung, dass ihre Seele nur neurologisch und chemisch fehlgeschaltet sei, ergo reparierbar. Also hatte ihr Schaden doch noch einen medizinischen Segen bekommen, wie bei Papagallo. Doch Trost brachte ihr das nicht.