Nolde und ich. Ein Südseetraum - Hans Christoph Buch - E-Book

Nolde und ich. Ein Südseetraum E-Book

Hans Christoph Buch

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Beschreibung

Wir begleiten Emil Nolde auf seine inspirierende Reise in die Südsee, wir bestaunen das unternehmerische Geschick von Queen Emma und folgen den Spuren Hans Christian Buchs durch Städte und Landschaften. Neu-Guinea gesehen aus drei unterschiedlichen Perspektiven, die sich im Raume, aber nicht in der Zeit treffen. Drei Lebensgeschichten, die sich kreuzen und doch nicht zueinander finden. Queen Emma, die neben fabelhaftem Reichtum durch Plantagen und Ländereibesitz in der Südsee trotz ihrer Herkunft – halb Samoanerin, halb Amerikanerin – zum Mittelpunkt der Upper-Class-Südsee-Gesellschaft aufsteigt und ein aufregendes Leben mit vielen, unterschiedlichen Männern führt. Emil Nolde, der Maler, der neben seinem künstlerischen Stil auf Neu-Guinea seine große Liebe fand – und das war nicht seine Frau Ada – und seinen Antisemitismus überwand. Sein Blick auf das Land, die Menschen, die Farben: mit Interesse, aber nicht mit Teilnahme. Hans Christoph Buch, der Papua-Neuguinea, die Stadt Rabaul, das fremde Land entdeckt und dabei mit sezierendem Blick und einer großen Portion Sarkasmus die auf der Suche nach sich selbst-Reisenden beschreibt. »Ja, so etwa könnte es gewesen sein, aber nein, so war es nicht.« Hans Christoph Buch verbindet, das ist sein literarisches Stilprinzip, Fiktion und Wirklichkeit: Emil Nolde unternahm in den Jahren 1913-1914 eine Reise in die Südsee; Queen Emma (1850–1913), die Königin der Südsee, war in der Tat reich durch ihr unternehmerisches und weibliches Geschick. In klarer Sprache entsteht ein magischer Sog, der uns tief in die Geschichte eines sehr fremden Landes eintauchen lässt.

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Hans Christoph Buch

Nolde und ich ein Südseetraum

Roman

Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt

Die Andere Bibliothek und ihre Kometen werden herausgegeben von Christian Döring

ISBN 978-3-8477-6003-0

© für die deutschsprachige Ausgabe:

AB – Die Andere Bibliothek GmbH & Co. KG, Berlin www.die-andere-bibliothek.de

Nolde und ich. Ein Südseetraum von Hans Christoph Buch ist im Oktober 2013 als Band 4 der „Kometen der Anderen Bibliothek“ erschienen.

In gedruckter Form erhältlich unter:

http://www.die-andere-bibliothek.de/Kometen/Nolde-und-ich::638.html

Covergestaltung: Cornelia Feyll und Friedrich Forssman

Herausgabe: Christian Döring

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

E-Book Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, www.le-tex.de

Umsetzung und Vertrieb des E-Book erfolgt über:

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Inhaltsübersicht

Impressum

Vorspann

Maler Nolde (1)

Zurück in die Steinzeit (1)

Maler Nolde (2)

Zurück in die Steinzeit (2)

Queen Emma

Maler Nolde (3)

Vorspann

Wenn ich die Augen zusammenkneife, sehe ich eine von Palmen gesäumte Lagune, überragt von schwarzen Wolkengebirgen, hinter denen sich ein Tropengewitter zusammenbraut, einen lila Strand, der aus angeschwemmtem Tang oder Ablagerungen von Korallen besteht, daneben gelber Sand und mit ein, zwei Pinselstrichen angedeutetes, blaues Meer; ich sehe dunkelbraune Kinder in einem Auslegerboot vorbeipaddeln und einen Jungen in roter Badehose durch flaches Wasser kraulen, dessen die Sonne reflektierende Oberfläche seine Arme und Beine je nach Blickwinkel verlängert oder verkürzt; ich sehe eine junge Mutter mit einem Säugling auf dem Arm und eine ältere Frau, die eine Bilum genannte Basttasche trägt, den Hang eines Hügels hinuntersteigen, während über dem zwischen Bergen blinkenden Meer die Sonne auf- oder untergeht; ich sehe einen Greis mit Knotenfrisur, die Ellbogen auf die Knie gestützt, vor dem Pfeiler eines Geister- oder Ahnenhauses hocken, genannt Haus Tambaran, während zwei mit Lendenschurz bekleidete Jungen mit untergeschlagenen Beinen auf dem Dorfplatz kauern und in einer flachen Pfanne Feuer machen; ich sehe eine blonde Frau in Schwesterntracht, das im Nacken zusammengebundene Haar mit Mittelscheitel geteilt, vor einer Bretterwand auf einem Schemel sitzen, Hände im Schoß, nach vorne geneigt zu einer dunkelhäutigen Frau, die in blauer Bluse und rotem Rock, eine wie eine Kirgisenmütze geformte Haube auf dem Kopf, mit angewinkelten Beinen am Boden liegt, wobei dem Betrachter nicht klar wird, welche der beiden Frauen die Krankenpflegerin und welche die Patientin ist.

Ich lege meine Handrücken auf die Wimpern und massiere die Augäpfel so lange, bis ich ein flimmerndes Farbspektrum sehe, von dem sich ein Gesicht abhebt: das Porträt eines jungen Mannes mit bogenförmig gewölbter Oberlippe, flaumigem Schnurrbart und aufgerissenen Augen, in denen sich Angst und Wut spiegeln oder eine Mischung aus beidem, vielleicht ist es auch Misstrauen gegenüber dem Maler, dem er Modell sitzen muss, zwei Hibiskusblüten im wolligen Haar, die den Ansatz der aus der Stirn sprießenden Hörner verdecken, denn es ist Luzifer persönlich, ein gefallener Engel namens Jupuallo, der sich unerlaubt vom Dienstort entfernt hat und nach kurzem Besuch bei seinem Volk, den Baining, in den Schoß seiner Familie zurückkehrt, falls man Ada und Emil Nolde so nennen will.

Auf dem Gegenbild dazu ist Jesus Christus zu sehen mit eingefallenen Wangen und Leninbart, die Augen geschlossen, eingenickt auf einer Bank der Compagnie Internationale des Wagons-lits im Transsibirien-Express: Professor Alfred Leber, Göttinger Augenarzt und Fachmann für tropische Ophthalmologie, der die Schlafkrankheit erforscht und den Impfstoff dagegen entwickelt hat, jetzt aber vor Erschöpfung eingeschlafen ist, und die Ähnlichkeit mit Jesus Christus ist kein Zufall, sondern vom Künstler gewollt, wie der Vergleich mit Emil Noldes 1912 entstandenem Holzschnitt eines bärtigen Propheten nahelegt.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Buches das nur im Umriss skizzierte, sparsam kolorierte Porträt einer jungen Frau, die dem Betrachter ihr Profil zukehrt, bekümmert, wie es scheint, trotz der geschminkten Lippen und des dunkelroten Turbans, den sie um ihr blauschwarzes Haar geschlungen hat, den Kopf gesenkt zu ihren über der Brust gefalteten Händen, die zu beten oder zu stricken scheinen, als werfe das Schicksal seinen Schatten voraus in Form einer düsteren Wolke als Vorahnung der tödlichen Krankheit, die Gertrud Arnthal dahinraffen wird.

Die beiden letzten Bilder stammen aus der Endzeit von Emil Noldes Neuguinea-Aufenthalt und wirken wie Einstellungen aus ein und demselben Film: Südseekrieger heißt der Titel des 1914 in Kawieng oder auf der Insel Manus entstandenen Gemäldes, das halbnackte Männer mit Halsketten und Armreifen zeigt, mit Stirnbändern und grünen Blättern geschmückt, die Speere in Händen halten und böse, man kann es nicht anders nennen, den oder die Betrachter anblicken. Der Krieger am rechten Bildrand hat drei Speere geschultert, die diagonal das Gemälde durchschneiden, und um den Ernst der Lage zu unterstreichen, reckt ein anderer, links neben dem Anführer der Gruppe, dessen Körper rot bemalt ist, drohend den Zeigefinger; noch aggressiver als ihre Gesten aber sind die vor Zorn sprühenden Augen der Männer, die dem oder den Eindringlingen nichts Gutes verheißen. Dieses Motiv tritt noch deutlicher hervor auf dem nach Noldes Rückkehr in Deutschland entstandenen Gemälde Neu-Guinea-Wilde, das, losgelöst von den Zufallseindrücken der Reise, rückschauend das Wesentliche herausarbeitet: Das sind, abgesehen von leuchtenden Lippen, glänzendem Halsschmuck und schimmernden Ohrringen, die dunklen, schreckhaft geweiteten Augen der Menschen, aus denen Unverständnis und blankes Entsetzen über den Untergang ihres Volkes spricht.

Maler Nolde (1)

»Find out what you cannot do, then go and do it – there lies the golden rule …«

(John Donne)

1 Im Herbst 1913 reiste Emil Nolde nach Neuguinea. Nolde, der mit bürgerlichem Namen Hans Emil Hansen hieß, war 46 Jahre alt und hatte sich vom armen Bauernbub aus Nordschleswig zum expressionistischen Maler emporgearbeitet, ein von Rückschlägen und Enttäuschungen markierter Weg, den er nur im festen Glauben an seine künstlerische Berufung hatte zurücklegen können. Schlimmer noch als die materielle Not, die Fronarbeit in der Fabrik, der ständige Geldmangel und die durch Hunger und Kälte verursachte Tuberkulose, die er durch einen Aufenthalt in der Schweiz kurieren musste, war die Zurückweisung seiner Bilder durch die offizielle Kunstkritik, gegen deren Engstirnigkeit er in einem offenen Brief Einspruch erhob.

Der ruppige Ton dieses Briefs, mit dem er den Nachäffern der französischen Impressionisten den Kampf ansagte, ebenso wie dessen Adressat, der Präsident der Berliner Sezession Max Liebermann, hatten Nolde den Ruf eingebracht, ein fanatischer Antisemit zu sein, obwohl nichts ihm ferner lag. Auf seinen religiösen Gemälden hatte er die Jünger Jesu und die Gottesmutter Maria als orientalische Juden kenntlich gemacht, wie dies vor ihm schon Rembrandt getan hatte – nicht in blasphemischer Absicht, sondern aus tiefer Religiosität, die der Bibellektüre seiner Kindheit entsprang. Der glühenden Kraft und Farbigkeit dieser Bilder hatten auch jüdische Kritiker Respekt gezollt, während die christlichen Kirchen ihn zum Gottesleugner erklärten. Verkehrte Welt! Zwar hatte die Ausstellung des Kölner Sonderbunds Arbeiten Noldes in einer Reihe mit Meistern der Moderne wie Munch, van Gogh und Cézanne gezeigt, und vom Verkaufserlös seiner Bilder hatte er für sich und seine Frau Ada eine Fischerkate in Nordschleswig gekauft, aber es war unklar, ob es sich um einen dauerhaften Durchbruch oder nur um eine kurzfristige Wetterbesserung handelte, der Sturm und Hagel folgen würden. Wie viele Künstler wurde Nolde von Zweifeln geplagt, was die äußere Anerkennung seines Werkes, nicht aber was dessen inneren Wert betraf. In dieser verfahrenen Situation erschien ihm die Einladung zur Teilnahme an einer vom Reichskolonialamt veranstalteten Südsee- und Neuguinea-Expedition wie zwischen Wolken hervorbrechendes Sonnenlicht, eine höhere Fügung, die den gordischen Knoten seiner selbstverschuldeten Isolation zerschlug. Sein Entschluss stand von vornherein fest, aber während er in Erwartung des Telegramms, das seine Berufung zum Ethnographen der Expedition bestätigen sollte, den hinter dem Deich gelegenen Auwald durchstreifte, auf dessen einsamen Pfaden er sich die Inspiration zum Malen holte, kamen ihm ernste Zweifel, ob die Entscheidung richtig war: Elender Scharlatan, blutiger Dilettant, künstlerischer Bankrott und ästhetischer Offenbarungseid – diese und andere Formulierungen gingen ihm durch den Kopf, mit denen der Kunsthändler Paul Cassirer seine Bilder abqualifiziert hatte, und beim Gedanken an Adas geschwächte Gesundheit und seine prekäre Finanzlage, die den Aufenthalt in der Südsee zum doppelten Risiko machten, entschloss er sich, die dem Kolonialamt gegebene Zusage unter Hinweis auf mangelnde Tropentauglichkeit zu widerrufen. Nolde beschleunigte die Schritte, um seiner Frau, die der Reise mit Bangen entgegensah, die gute Nachricht zu überbringen, als er Ada mit einem roten Tuch aus dem Dachfenster ihres über den Deich ragenden Hauses, genannt Utenwarf, winken sah. Was mochte das bedeuten?

2Ja, so etwa könnte es gewesen sein, aber nein, so war es nicht. Emil Nolde war alles andere als ein Bürgerschreck, kompromisslos nur in der Malerei, deren ungestümer Pinselstrich und wüster Farbenrausch in grellem Kontrast standen zu seiner Wortkargheit und Menschenscheu. Er hasste Baskenmützen und Samtjacken, mit denen Pseudokünstler ihre Originalität zur Schau stellten, kleidete sich betont konventionell und mied Studentenkneipen und Literatencafés, in denen die Bohemiens biederen Bürgern das Geld aus der Tasche zogen – oder umgekehrt. Wie viele Provinzler, die es in die Reichshauptstadt verschlagen hatte, kompensierte er sein holpriges Deutsch durch übertriebenen Nationalismus und soziale Anpassung – nicht unähnlich dem Mann aus Braunau, der damals noch im Wiener Obdachlosenasyl residierte und in den Sophiensälen dem Schriftsteller Karl May zu Füßen lag. EMPORINSREICHDEREDELMENSCHEN – unter diesem von Nietzsche entlehnten Motto hatte der Autor des Winnetou die Zuhörer eingeladen, mit Zeppelinen der Seele ins Jenseits zu fliegen, dessen Commodore ihn bald darauf von seiner irdischen Existenz entband. Mit Blindheit geschlagen nach einem Gasangriff, beschloss der Postkartenmaler aus Braunau, Politiker zu werden, während Nolde alias Hansen sich vom Sozialdemokraten und Pazifisten zum Nationalsozialisten wandelte oder umgekehrt. Aber es hilft alles nichts – wir kommen nicht darum herum, seine Kampfansage an Liebermann im Wortlaut zu zitieren:

»Dem so klugen alten Liebermann geht es wie so manchem klugen Mann vor ihm – er kennt seine Grenze nicht … Er veranlasst, dass so viel wie möglich über ihn geschrieben und publiziert wird, er macht, malt und stellt aus, soviel er nur kann. Die Folge davon ist, dass die junge Generation erkennt, wie absichtlich dies alles ist, wie schwach und kitschig nicht nur seine gegenwärtigen Arbeiten, sondern auch so manche seiner früheren sind … Man begreift es nicht recht, dass er nicht schon vor Jahren sich von allem entledigte, was seine Spannkraft verbraucht, um ausschließlich seiner Kunst zu leben …«

Alfred Kerr konnte dazu nicht schweigen, der Kritiker griff zur Feder und dichtete:

Emil Nolde hockte brütend

Saß und sann und wurde wütend

Da er unbezweifelbar

Jung, doch nicht talentvoll war

Seht ihn mit dem Briefe hasten

Zu dem nahen Posteskasten.

»Schwach und kitschig, – Firlefanz

Ist das Schaffen Liebermanns!«

Sieh die Richter, racheröchelnd,– –

Doch der Meister wehrt es lächelnd,

Bittet (mit dem großen Friedrich):

»Soll er hängen, hängt ihn niedrig!«

Nolde hängt. Der Unglückswurm

Baumelt im Dezembersturm.

Jung; gehängt; o schnödes End’.

(Doch auch jetzt noch kein Talent.)

3 In Wahrheit wurde Emil Nolde nicht als Ethnograph, sondern als Zeichner nach Neuguinea in Marsch gesetzt – ein kulturelles Relikt des 19.Jahrhunderts, denn inzwischen hatte die Photographie die Malerei verdrängt, und anders als die regulären Teilnehmer der vom Reichskolonialamt finanzierten Expedition musste er die Reisekosten für sich und seine Frau Ada aus eigener Tasche bezahlen. Diese Aussicht bereitete ihm Kopfzerbrechen, denn er war arm wie eine Kirchenmaus, und das spärliche Einkommen, das ihm der Verkauf seiner Blumenstillleben einbrachte, wurde durch den Erwerb von Ölfarben und Leinwänden aufgezehrt. In dieser ausweglosen Situation kam ihm der Zufall zu Hilfe, hinter dem sich wie stets ein Fingerzeig der Vorsehung verbarg – davon war er felsenfest überzeugt.

Er wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte, denn die Depesche, die seine Frau Ada ihm übergab, enthielt nur scheinbar die Lösung des Problems und verstärkte seine Verwirrung, statt sie zu beseitigen: »Wie viel können Sie bequem/STOP/wie viel höchstens für Reise von Ihnen beiden ausgeben«, stand auf dem handschriftlich ausgefüllten Formblatt der Telegraphie des Deutschen Reichs, aufgegeben am 19.August 1913 um 16 Uhr 33 in Göttingen und unterschrieben von Alfred Leber, dem Leiter der Neuguinea-Expedition. Der kunstsinnige Augenarzt war ein Verwandter des mit Nolde befreundeten Landgerichtsrats Schiefler, der sein graphisches Werk in einem Gesamtverzeichnis dokumentieren wollte. Dass Schiefler zu den Bewunderern von Max Liebermann gehörte, wog weniger schwer als die in der Depesche aufgeworfene Geldfrage. Noldes Eltern waren blutarme Bauern und hatten sich jeden Pfennig vom Munde abgespart, um ihrem Sohn den Aufstieg vom Möbeltischler zum Künstler zu ermöglichen. Schon in früher Jugend hatten sie ihm eingeschärft, nicht über seine Verhältnisse zu leben und lieber am Hungertuch zu nagen, als Schulden zu machen – eine Devise, die Emil Hansen, der sich nach seinem Geburtsort Nolde nannte, stets beherzigt hatte. In seiner Not wandte er sich, Rat und Hilfe suchend, an Harry Graf Kessler, den berühmten Kunstsammler, der öffentlich für ihn Partei ergriffen hatte, als wegen seiner Polemik gegen Max Liebermann eine Woge selbstgerechter Empörung über ihm zusammenschlug.

4 »Gehen wir ins Adlon, dort sind wir ungestört«, sagte Harry Graf Kessler, der ihn vor seinem Stadtpalais am Festungsgraben erwartete, nur einen Steinwurf entfernt von Rauchs Reiterstatue Friedrichs des Großen, die all das verkörperte, was Nolde in der Kunst missfiel: Schwülstige Historienmalerei, verlogenen Klassizismus und falsche Monumentalität. Der Graf trug einen grauen Gehrock, Glacéhandschuhe und eine Reitgerte, die er, jeden Schritt skandierend, gegen seine Stiefelschäfte schlug.

»J’ai fait une bêtise!« – »Wie bitte?«

Auf Anregung Graf Kesslers hatte Nolde ein Dreivierteljahr in Paris zugebracht, ausgestattet mit Empfehlungsbriefen an Kunsthändler und Mäzene, aber sein Französisch war rudimentär – er verstand nur die Hälfte und konnte keinen Satz fehlerfrei aussprechen, obwohl das viel vertracktere Dänisch ihm leicht von den Lippen ging.

»Mein Vermittlungsversuch zwischen Ihnen und Max Liebermann hat mir nichts als Ärger eingebracht – wie bei einer Kneipenschlägerei prügeln die Streithähne von zwei Seiten auf mich ein.«

»Ich werde von Juden verfolgt. Paul Cassirer schmäht meine Malerei als roh und primitiv, und die christlichen Kirchen werfen mir vor, dass ich Jesus und seine Jünger als orientalische Juden darstelle, wie dies Rembrandt tat. Außer Herwarth Walden und Ihnen kauft niemand Bilder von mir!«

»Wissen Sie nicht, dass Walden mit richtigem Namen Levi heißt? Ihre Kampfansage gegen Liebermann war eine kapitale Dummheit. Jede neue Künstlergeneration stößt ihre Vorgänger vom Sockel – geschenkt! Doch wozu die antisemitischen Ausfälle und antifranzösischen Klischees?«

»Hier stehe ich und kann nicht anders!«

»Kommen Sie mir nicht auf die Tour – Sie sind nicht Martin Luther und auch nicht Paul Gauguin!«

Harry Graf Kessler übergab dem Empfangschef des Adlon seine Handschuhe und seinen Hut, und sie nahmen auf einem Ledersofa im mit Mahagoni getäfelten Rauchsalon Platz. Der Empfangschef wisperte dem Kellner etwas zu, und der entkorkte eine eisgekühlte Flasche Champagner und schenkte zwei Gläser voll.

»Mein Arzt hat mir die Zigarren verboten«, sagte Harry Graf Kessler, nachdem er sich mit einem Schluck Champagner erfrischt hatte. »Aber ich sehe gern anderen beim Rauchen zu, und es bekommt mir gut.«

»Das Rauchen oder das Nichtrauchen?«

»Gauguin war ein Romantiker«, fuhr er, die Zwischenfrage überhörend, fort. »Er dachte, er sei im Garten Eden, und holte sich die Syphilis. Den Jubel über die Paradiese der Südsee mache ich nicht mit. Angeblich gibt es dort weder Giftschlangen noch reißende Flüsse, dafür aber Kopfjäger und Menschenfresser. Niemand wandelt ungestraft unter Palmen – hat Goethe oder Schiller das gesagt?«

5 Während der Unterredung hatte Emil Nolde geschwiegen, weil er Harry Graf Kessler nichts entgegenzusetzen hatte – die Beredsamkeit seines Gegenübers machte ihn sprachlos. Zwei, nein drei Seelen rangen in seiner Brust. Die eine warnte: »Bleib im Lande und nähre dich redlich«, die andere lockte: »Komm ins Offene, Freund!«, während die dritte Stimme raunte: »Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um!« Ohne zu wissen, warum, lief Nolde durchs Brandenburger Tor zum Potsdamer Platz, vorbei an Motor- und Pferdedroschken, die unter den Bäumen des Tiergartens auf Fahrgäste warteten, und betrat den Lichthof des Museums für Völkerkunde in der Königgrätzer Straße, um beim Betrachten der ethnologischen Sammlung seiner widerstreitenden Gefühle Herr zu werden. Im Jahr zuvor, als er sich noch mit dem Gedanken trug, ein Buch über die Kunst der Naturvölker zu schreiben, hatte er viele Stunden hier zugebracht, in stummer Zwiesprache mit federgeschmückten Masken, mit Fellfetzen behängten Fetischen und mit Kaurimuscheln verzierten Skulpturen. Diesmal aber lenkte er seine Schritte von der Afrika-Abteilung zur Südsee und versank in stille Meditation vor den schwach erleuchteten Vitrinen mit Werken polynesischer, mikronesischer und melanesischer Kunst. Genau genommen waren es keine Kunstwerke, sondern Gebrauchsgegenstände wie zum Betelkauen dienende Holzlöffel oder mit Bast umwickelte Harpunen, die mit dornengespickten Krallen und Klauen nach dem Besucher griffen, um ihn mit ihren Reißzähnen zu zerfleischen. Alles quoll durcheinander, Mann und Weib, Pflanze und Tier wurden eins: Fischmäuler klafften zwischen den Beinen der Frauen, Brüste sprossen wie Kürbisse aus ihren Leibern, den Männern wuchsen Schnäbel an den Lenden, aus denen Eidechsen und Skorpione sprangen, und die Grenze zwischen Natur und Unnatur verschwamm im Schattenreich der Magie, die sofort ins Blut ging, ohne Vermittlung durch den Intellekt. Und nach reiflicher Überlegung wurde ihm klar, dass die Urvölker, die diese Kunst geschaffen hatten, nicht am Anfang, sondern am Ende der Menschheitsentwicklung standen, auf dem Höhepunkt einer Kultur, die zu sang- und klanglosem Verschwinden im Orkus der Geschichte verurteilt war.

Am meisten aber beeindruckte Nolde, der als Junge mit einem schwarz geteerten Kahn in küstennahen Gewässern herumgeschippert war, ein Kriegskanu, dessen Wände mit Schnitzereien von Mantarochen, Walen und Haien, Schildkröten und Krokodilen geschmückt waren, eine Traumwelt, deren dämonisches Chaos den Verkehrslärm am Potsdamer Platz wie fernes Bienengesumm erscheinen ließ. Aus dem Begleittext zu dem auf Balken aufgebockten Boot ging hervor, dass der Einbaum der letzte Überrest einer stolzen Kriegsflotte war, die in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Bismarck-See zwischen Madang und Rabaul beherrscht und christliche Seefahrer das Fürchten gelehrt hatte.

»Unsere Taten sind zweischneidig«, notierte Nolde, den Bleistift mit der Zunge befeuchtend, in sein Skizzenbuch. »Den Naturvölkern gegenüber haust Europa mit barbarischer Mordgier, Völker und Rassen vernichtend – unter dem Deckmantel der Zivilisation. Raubtiere kennen kein Mitleid – wir Kulturmenschen noch weniger.« Er nahm sich vor, diesen Satz seinem Reisetagebuch als Motto voranzustellen, falls er wider Erwarten doch in die Südsee aufbrechen sollte.

Nach Hause zurückgekehrt, fand er auf der Schwelle seines Ateliers in der Tauentzienstraße 8 einen unter die Tür geschobenen Umschlag, den er aus Angst, es sei das Mahnschreiben für die seit Monaten überfällige Miete, mit zitternden Fingern öffnete. Statt des Zahlungsbefehls enthielt er einen Scheck von Harry Graf Kessler für den Kauf von Leinwand und Farben, rückzahlbar mit Bildern aus Neuguinea. Der Scheck gab den Ausschlag, und Noldes Entschluss stand damit endgültig fest.

6 Die Abreise nach Neuguinea war auf den 2.Oktober 1913 festgesetzt, und Noldes Frau Ada blieben nur drei Tage Zeit, Kisten und Koffer zu packen und die alte Fischerkate auf Alsen mit der als Atelier dienenden Bretterbude am Strand winterfest zu machen. Ihren Hund Rex, eine Dänische Dogge, gab sie zu Noldes Bruder in Pflege, der als Amtmann in Tondern residierte; und nachdem Ada einen Container mit Malutensilien und Büchern im Hamburger Hafen aufgegeben hatte, bestieg sie den Expresszug nach Berlin.