Nord Neukölln - Ursula Rogg - E-Book

Nord Neukölln E-Book

Ursula Rogg

0,0
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Vier Jahre unterrichtete Ursula Rogg Kunst an einem Gymnasium in Berlin-Neukölln. Sie begann mit viel Ambition und neuen Ideen für einen lebendigen Unterricht. Doch am Ende dieser Zeit steht die ernüchternde Einsicht, dass Lehrer in Problembezirken wie Neukölln auf verlorenem Posten wirken: Beleidigung, Demütigungen und sogar Gewalt stehen auf der Tagesordnung. Der Weg in die Resignation scheint unausweichlich. Schuld daran ist auch eine Schulpolitik, die lange Zeit die Augen vor den realen Alltagsverhältnissen verschlossen hat und qualifizierte Pädagogen tagtäglich verheizt. Roggs Bericht ist packend wie eine Reportage und aufwühlend, wie es nur Geschichten aus dem realen Leben sein können.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 300

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis
 
Vorwort
 
Eins
Leben hier: Alarm
Berliner Sozialatlas
Das erste Jahr
(Ausgerechnet) Anwälte
Von der Einsamkeit des Lehrers
Madame de Pompadours Ratschläge an die Welt
Improvisation
 
Zwei
Wie einem die tote Ratte den neuen Lehrer erklärt
Kräfte der Natur
Two years after
Ein Neuköllner Phänomen Oder: Affen trommeln an die Tür
Wo die Tage bleiben
Playboy 44
Verstärker
Erster Fluchtversuch
 
Drei
Last Exit – Gymnasium
Schafft Schule für Familien
König ohne Krone, Vogel ohne Flügel
Schnitt
Klassenfahrt in winterliche Landschaft
Achtung: Schwelle!
Schlaglichter
Das Ende des dritten Jahres
 
Vier
Schwartz und die Ästhetik des Erfolges
Die Chancenlosen
Lucia
Freibeuter
Strafen
Du sollst mein Lehrer sein
Can, das heißt Leben
Zum Ende hin
Was sich nicht fügt, wird fügsam gemacht
 
EPILOG
Copyright
Vorwort
Sehr geehrte Frau Rogg, Sie waren bisher in der Region Neukölln an der Oberschule beschäftigt. (…) Aus zwingenden dienstlichen Gründen werden Sie der D.-Oberschule im Bezirk Mitte/Wedding zur Dienstleistung zugewiesen.
Als ich dieses Schreiben Anfang Juli 2007 zugestellt bekam, bedeutete es das Ende einer langen Sprachlosigkeit. Irgendwann während der vier Jahre als Lehrerin an einem Gymnasium im Berliner Stadtteil Neukölln hatte ich aufgehört, meiner Familie und meinen Freunden zu erzählen, was ich im beruflichen Alltag erlebte. Ich hatte das Gefühl, man verstehe mich nicht mehr. Zunehmend koppelte sich das Leben und Arbeiten dort ab, wie ein Trabant, dessen Bewegung, Sprache und Regelwerk nur dem Einheimischen zugänglich sind. Alle anderen schienen die dortigen Vorfälle und Entwicklungen entweder gar nicht, oder als bizarre Episoden einer fernen Realität wahrzunehmen. Zwischen dem Ort jener Parallelgesellschaft, über die viel spekuliert und wenig gewusst wird, und dem prosperierenden Prenzlauer Berg, der in diesem Zeitraum einen Ausverkauf und beispiellosen Kindersegen erlebte, liegen nicht mehr als sechs Kilometer Luftlinie. Hier wie dort erreichen die Geburtenraten Spitzenwerte im europäischen Vergleich, Hier und Dort könnten unterschiedlicher nicht sein. Während »Rütli« und »Unterschicht« zu selbstverständlichen Begriffen unseres Wortschatzes wurden, pendelte ich zwischen diesen Welten hin und her, zu denen beiden ich immer weniger gehörte, je stärker der Kontrast zwischen ihnen wurde. Obiges Schreiben, das auf so spröde Weise meinem Versetzungsantrag entsprach, beendete dieses Pendeln und mein Unvermögen, darüber zu berichten nach vier Jahren. Es war der Moment aus dem dieses Buch entstand. Bald schon, nach anfänglichen Zweifeln, begann es sich selbst zu schreiben; Geschichte für Geschichte und Jahr für Jahr erzählte es sich mit der Distanz der Erinnerung, die ihrem Wesen gemäß Vorkommnisse vergrößert und verkleinert. Alle, die darin vorkommen, tragen geänderte Namen und ich bitte um Verzeihung, sollte der ein oder andere sich verzerrt dargestellt sehen. In diesem Bericht geht es an keiner Stelle um das Vorführen von einzelnen Persönlichkeiten, sondern um mein subjektives Erleben und Reflektieren einer Institution, deren Charakter die über 500 Menschen prägen, die sich darin bewegen.
Während die Bildungspolitik keinen Ausweg aus einer strukturellen Krise findet und Bildungsforscher in finnischen Klassenzimmern, nicht aber denen Berlins sitzen, während Schulen von Reformen und Prüfungsverordnungen überzogen werden, kämpfen wir mit einer Entwicklung im Klassenzimmer, die sich vor allem als ein zunehmender Verlust von Sprache und Aufmerksamkeit zeigt. Das Sprechen selbst nimmt an Lautstärke, Unreflektiertheit und Aggressivität zu, die Sprache selbst aber verarmt dabei. Viele Schüler beherrschen weder ihre Muttersprache noch das Deutsche; ihr Vokabular ist minimal und Grammatik sowie Satzbau werden durch Floskeln und Laute ersetzt. Der Zusammenhang zwischen Sprechen und Denken stimmt umso bedenklicher, als es sich hier nicht selten um Oberstufenschüler eines Gymnasiums handelt. Viele von diesen Schülern kommen aus Familien, in denen kaum ein Bewusstsein für Kulturtechniken besteht; ich spreche von Dingen wie Ernährung, Bewegung und grundlegende Höflichkeitsformen. Das Konsumverhalten im materiellen wie vor allem im medialen Bereich ist jenseits aller Kontrolliertheit, was einen grundlegenden Verlust an Aufmerksamkeit zur Folge hat. Den Bewohnern Nord Neuköllns ist die Aufmerksamkeit im Umgang mit sich, dem Nächsten und der umgebenden Welt abhandengekommen. In dieser Welt ohne Aufmerksamkeit und Fürsorge wachsen unsere Schüler, wächst unsere junge Generation heran. Schule machen in Neukölln bedeutete für mich, Aufmerksamkeit zu schulen. In jeder Stunde und mit jedem Thema habe ich mich darauf bezogen, und ob und auf welche Weise das im Kleinen gelungen ist und wie und woran ich gescheitert bin, davon handelt im Wesentlichen dieses Buch.
Was sich hinter den geschlossenen Türen von Klassenzimmern heute abspielt, könnte viele Bücher füllen, würden die Kolleginnen und Kollegen ihr kollektives Schweigen nicht so sorgsam wahren. Zwei Gründe könnten erklären, warum sie das tun. Erstens, sie haben keine Kraft mehr, zu sprechen, und zu wem auch, fragen sie sich. Zweitens hindert sie so etwas wie eine Scham. Eine Scham für ein System, das einen ernährt und sich in der Würdelosigkeit eines zunehmenden Kontrollverlusts so ignorant und intransparent zeigt. Die meisten von ihnen haben Ringe unter den Augen und kämpfen; jeder und jede auf ihre Weise hinter der verschlossenen Tür des Klassenzimmers. Manche werden dabei krank, manche seltsam und manche verzweifeln. Ein paar von ihnen aber sehen, dass Schule sich bei aller Härte des Berufs lohnt. Weil sie ein Brennglas ist, ein Zeitfenster, durch das man in die Zukunft sehen kann. Darin sehen wir die neue Gesellschaft, Resultat einer rasanten demografischen Entwicklung und die ebenso rasante Veränderung von Wertvorstellungen und Lebensformen; je nachdem, wo wir unser Vergrößerungsglas ansetzen, sehen wir andere nachwachsende Gesellschaften. In Freiburg sind sie anders als in Frankfurt und in Steglitz anders als in Neukölln. Aber überall ist ihnen etwas eigen, was sie zum bevorzugten Objekt unseres Interesses machen sollte: Sie sind unsere Zukunft, sie werden sein. Sie sind die, mit denen wir unseren nächsten Gesellschaftsvertrag eingehen. Und den werden wir nicht nur mit Felix, Zoe und Marie schließen, sondern auch mit Cömert, Jazar und Soufeina. Weder Angst noch Überheblichkeit ist ihnen gegenüber angebracht, sondern freundliche, zugewandte Neugierde, denn auf sie reagieren Kinder und junge Menschen noch. Vom Bürgermeister über Soziologen und Bildungsforscher, von den Eltern eines deutschen Schulkindes bis zum Leser dieses Buches möchte ich jeden einladen, das zu tun, was Künstler und Journalisten bereits tun: Gehen Sie an die Schulen, sehen Sie hin und mischen Sie sich ein. Lassen sie die Jugendlichen, die Kinder und ihre Lehrer nicht mehr allein mit Aufgaben, die für die Einzelnen zu groß geworden sind. Schauen Sie sich Schule an als einen der wenigen Orte, an dem Gesellschaft und Parallelgesellschaft sich überschneiden, und Sie finden einen Spiegel unserer zersplitterten urbanen Wirklichkeiten.
Dieses Buch ist geschrieben für die, denen Zuschreibungen und Statistiken allgemeiner Art nicht weiterhelfen. Für die, die eine Unruhe spüren angesichts der sich verändernden Lebensumstände in den Städten; für die, die aus dieser Unruhe nach Alternativen für sich und ihre Kinder suchen, auch nach Schulalternativen. Es ist nicht geschrieben für die, die sich für Privatschulen entscheiden und hierfür nach Argumenten suchen. Hingegen ist es besonders für die, die wissen, dass Bildung, ein stabiler Mittelstand und Demokratie etwas miteinander zu tun haben und letztere ohne Sorge und Aufmerksamkeit nicht zu haben ist.
Den vielen, die sich um das Thema Bildung für alle in diesem Land Gedanken machen, ist dieses Buch gewidmet. Es soll bei aller Misere vor allem anregen und Mut zum Handeln machen, denn die Krise, heißt es, kann ein produktiver Zustand sein. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.
Eins

Leben hier: Alarm

An guten Tagen besticht auch der Hermannplatz durch dieses besondere Berliner Licht, das einer Stadt Größe verleiht. Es ist die etwas unmenschliche Größe der Städte im Osten, das Licht eine Spur zu grell; es führt zu heftigen Schlagschatten auf den Gesichtern und kurzen, schwarzen Schattenpfützen auf dem Beton. Trotzdem, es kann schön sein, schön wie Berlin – weit, hell und herb.
Das Tageslicht kann man aber auch umgehen, indem man das zentrale Haus am Platz direkt von unten betritt, aus der U-Bahn kommend, die übrigens die höchste und eine der schöneren Stationen Berlins ist, beginnende Moderne in Hellgrau und Gelb. Karstadt, das war und ist reine Kaufhausgotik. An die 50 Aufzüge für Personen sind gebaut worden, für Waren und sogar für »Automobile«; im Verborgenen sorgen sie für reibungslose Abläufe, während sich dem Kunden eine glänzend geordnete Warenwelt darbietet. Dieses Angebot und die Freundlichkeit der geschulten Verkäuferinnen bilden einen nicht zu erahnenden Kontrast zu dem, was außerhalb dieser Trutzburg bürgerlichen Konsums liegt.
An schlechteren Tagen ist das Licht von einer fast anämischen Blässe. Es taucht die Banalität schlechten Geschmacks in sachliches Hellgrau. Also raus aus der U-Bahn, rein in das, was hier Leben heißt. Hier leben heißt: Alarm. Eine einzige Rot-Grün-Phase an der Fußgängerampel könnte ausreichen, um aus gerade noch städtischer Normalität eine Ausnahmesituation zu machen. Spürbar ist, dass Fäuste, Füße und Gegenstände jederzeit in unkontrolliertem Gebaren aufeinander zurasen, pulverisieren und sofort wieder zurückschnellen könnten. Blitze und Bleche Körper durchbohren und Blicke zu gefährlich sein könnten.
Schräg gegenüber von Karstadt ist ein riesiges Bräunungscenter, das größte Berlins, wie man der Eigenwerbung entnehmen kann, und viele Handyläden. Es gibt eine türkische Bank und ein türkisches Reisebüro, türkische Arztpraxen und Anwälte, türkische Kulturzentren mit dem Charme und der Möblierung von Sportlerheimen, in denen man Frauen nur zum Saubermachen sieht und die »Mitgliedern vorbehalten« sind. In den Häusern kann man oberhalb der Geschäfte und Cafés riesige Wohnungen erahnen; auf ihren Balkonen Satellitenschüsseln, manchmal ein Kinderrad. Am Dienstag und am Freitag ist Markt. Dann reihen sich auf dem Platz mit dem teutonischen Namen Stände, die Rostbratwürste, Chinapfanne und Falafel anbieten, einträchtig nebeneinander. Es gibt fast alles was stark riecht und bunt und schlecht verarbeitet ist. Für drei Euro bekommt man wahlweise ein Paar Ballerinas, eine Kiste voll Nylons, eine Sonnenbrille, zwei Honigmelonen oder einen »halben Meter Bratwurst«. Jede Saison hat ihre Besonderheiten – diesen Sommer war es die Jodlerin. Eine Frau, die mehrere Röcke übereinander trug, zwischen den Buden stand und jodelte. Und gar nicht schlecht – wie exotisch muss dieser Gesang für die Bewohner des Hermannplatzes sein. Sie schien in losem Kontakt mit einer Gruppe von Sinti- oder Roma-Frauen zu stehen, die sich wie bunte Krähen während der Rotphasen der Ampeln über die Autos hermachten und sie in Sekundenschnelle mit weißem Schaum überzogen. Nicht nur die Heckscheiben schäumten sie ein, sondern Scheinwerfer und Motorhauben, Seitenfenster und -spiegel, sogar das Dach. Sie sprachen während der Arbeit ohne Unterlass und lachten ganz laut, offenbar hatten sie einen Riesenspaß. Fuhr eines der Autos an, ohne zu bezahlen, hauten sie mit der flachen Hand auf die Karosserie und pfiffen dem Wagen hinterher. Zahlten die frisch Gebadeten, gab es ebenfalls Pfiffe und einen Extrajodler hinterher.
An allen Tagen, an denen ich über den Hermannplatz gehe, den hellen, den dunklen und denen dazwischen, fällt mir auf, dass das normale Abstandhalten zwischen den Passanten nicht klappt. Der urbane Mensch bewegt sich mit zügigem Schritt und in die mittlere Ferne gerichtetem Blick an anderen Menschen vorbei, ohne dass es zu gegenseitigen Berührungen käme. Das Spielfeld dafür heißt Gehweg. In Neukölln ist der Gehweg eine Bühne, eine Arena oder auch ein Parcours. Ohne wirklich zwingende Gründe sieht man sich ständig gezwungen, stehen zu bleiben, auszuweichen, oder Entgegenkommende zu taxieren, um herauszufinden, was als Nächstes kommt. Andernfalls wird man zumindest gestreift, vielleicht auch angerempelt, was aber kaum jemanden zu stören scheint, niemand entschuldigt sich je. Allerdings gibt es Schlägereien wegen Blicken. Einer sieht den anderen zu lange an, oder hat »komisch geguckt«, das reicht für harte Anmache. Man lernt also, so zu schauen, dass einem das eine und das andere erspart bleibt – innerlich aufmerksam möglichst abwesend wirken. Kopfhörer und Sonnenbrille helfen.
Auch die Schüler neigen dazu, in einer breiten Phalanx, so breit wie das ohnehin ausladende Trottoir, dieses entlangzuschlendern, breitbeinig, in Bomberjacke und Käppi, Mütze oder Kapuze, die Hosen in die weißen Socken gesteckt. Sie tragen Camouflage oder Weiß. Weiß ist groß, es signalisiert makellose Sauberkeit und Unnahbarkeit. Befleckt einer das Weiß des anderen, gibt das ein Riesentheater. Weiße Sneakers oder Slipper, weiße Socken, gebleichte Jeans, so gebleicht, dass sie fast weiß sind. T-Shirts, Sweater, Mützen in Weiß. Je schmuddeliger die Umgebung, desto mehr strahlen die Jungen in Weiß. Das reine Weiß ist nur für Jungs. Es steht ihnen fantastisch zu Haaren und Hautfarbe, aber es hat etwas fanatisches, Weiß ist nicht haltbar, immer will jemand, will etwas einen Fleck hinterlassen. Gegen alle Wahrscheinlichkeit, dass Weiß weiß bleibt, formuliert sich daraus eine Botschaft: noli me tangere.
Sie tragen Uniform, im Winter zu kalt, im Sommer zu warm, und wäre die Welt außen herum in Ordnung, hätte sie Formen und Regeln, die die Unversehrtheit des Körpers und auch der Würde garantierten, dann wären es Auftritte einer Jugend, die glänzen will.
Da wo Regeln und Gesetze sein sollten, erfahren sie nichts, da wo Austausch sein sollte, ist Unverständnis oder Desinteresse, und da wo ermahnt werden sollte, fühlt sich keiner zuständig. In Konsequenz dessen traut sich keiner mehr – man riskiert an bestimmten Ecken Neuköllns sein vollständiges Gebiss -, auf ungebührliches Verhalten hinzuweisen. Die meisten haben sowieso vergessen, wie so etwas aussieht. Das Verhalten der Menschenmassen auf dem Hermannplatz und um ihn herum verschwimmt zu einem diffusem Brei von explosiver Konsistenz. Deshalb Weiß: Um Weiß tragen zu können, braucht man Ordnung und Disziplin, es ist die Farbe der Champions. Penner gibt es schließlich genug.
Die vielen Alkohol- und Drogenopfer, deren Kaputtheit ihnen auf unheimliche Weise in Körper und Gesichter geschrieben ist, bewegen sich langsam und wenig zielstrebig die Straße entlang. Sie sind neben Lehrern und Alten die einzigen Deutschen, die viele unserer Schüler »nicht deutscher Herkunft« kennenlernen. Deutschlands Bürger und Deutschlands Wetter erfahren sie auf den Straßen Neuköllns, Deutschland und seine Kultur über ihre Lieblingssendungen auf privaten Kanälen im Fernsehen: hier wie da wird gezetert, gejammert, gefordert und geschrien, die Würde des Einzelnen nicht gerade hochgehalten und Rücksichtslosigkeit und Häme prosperieren.
Überquert man vom Hermannplatz kommend die Ampel zur Karl-Marx-Straße, passiert man an der Ecke eine leicht heruntergekommene Filiale der Deutschen Bank, einen Plus-Markt, vor dem wechselweise verschiedene Mann-Frau-Bier-Hund-Gruppen ihre Schichten schieben und schließlich den Eingang zum Friedhof, auf dem auch Reinhold Kiehl, ehemaliger Stadtbaurat und Erbauer unserer Schule begraben liegt. Die Karl-Marx-Straße war – und das bei diesem Namen! – eine der größten und bedeutendsten Einkaufsstraßen und Flaniermeilen Westberlins. Ein paar Verbliebene aus dieser Zeit gibt es noch, Foto Braune zum Beispiel, daneben das Uhrengeschäft oder ein Berufsbekleidungsgeschäft mit einer Leuchtreklame aus den späten 50er-Jahren.
Herr Reinhold Kiehl meinte es gut mit Neukölln. Er baute 1907 eine der ersten Mädchenschulen Berlins und dazu noch eine höhere. Würde er zum Hundertjährigen aus seinem Sarg steigen – ich denke an schlichte vormoderne Sachlichkeit aus Eiche, leichthin allerdings verziert mit Jugendstil-Ranken, die sich über die großen Flächen verästeln und verzweigen wie Kiehls Werk in Neukölln -, würde er also aus der Kiste steigen und sich in seiner Höheren Mädchenschule umsehen, so sähe er sicher einiges, das ihm nicht gefiele.
Jetzt geht es zum wohlinszenierten Eingang der Schule. Man muss nur an ein paar Obdachlosen vorbei, die zu jeder Tageszeit vorne die Bänke besetzen, kurz durch die Schlagbäume, auf denen wie Tauben die Schüler hocken, vorbei am Sperrmüll und den ewigen Baucontainern, dann steht man auch schon direkt an der Friedenssäule. Diese Schulbotschaft, ein vier Meter hohes Fanal steht im Zentrum der Aufmerksamkeit, der dreitorigen, nach hinten gesetzten Eingangsfassade vorgelagert. Einzelne Buchstabentafeln, aufeinandergetürmt, bilden an vier Seiten in vier Sprachen das Wort »Frieden«. Manche Buchstaben haben im Lauf der Zeit ihren Halt verloren, hängen schief oder fehlen ganz, sodass auf der englischen Seite nur noch ein »pe.ce« zu lesen ist. Oben auf der Friedenssäule liegt ein Turnschuh, er liegt da schon immer. Der Schuh, der Turm, die Bank, das ist eins. Es handelt sich dabei um etwas Verlässliches um die Art von Beständigkeit, auf die man in Neukölln zählen kann.
Einige Fakten aus dem Sozialstrukturatlas 2003, herausgegeben vom Senat für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz im März 2004:
- Im April 2002 waren 15,6 Prozent (rund 533.000) der in Privathaushalten lebenden Berlinerinnen und Berliner von Armut betroffen. D.h. sie verfügten über 50 Prozent und weniger des Berliner Äquivalenzeinkommens von derzeit 1213 EUR. (...) Über die Hälfte der Haushalte mit drei und mehr Kindern unter 18 Jahren (51,6 Prozent) verfügt über ein Einkommen unterhalb der Armutsgrenze. In ausländischen Haushalten beträgt die Armutsquote 36,0 Prozent (in deutschen Haushalten 11,0 Prozent). (...)
- Die Ergebnisse der Einschulungsuntersuchungen 2003 zeigen einen deutlichen Zusammenhang zwischen Sozialstruktur und Zahnstatus, Übergewicht sowie Konsum elektronischer Medien der Kinder. (...)
- Jeder vierte (rund 8000 Personen) der insgesamt jährlich in Berlin Gestorbenen erreicht nicht das 65. Lebensjahr. Die vorzeitige Sterblichkeit und die soziale Lage der Berliner/innen stehen in engem Kontext. (...) Nahezu die Hälfte dieser Sterbefälle gelten als präventiv und/oder medizinisch vermeidbar.

Berliner Sozialatlas

Im Berliner Sozialatlas ist wörtlich von Verslumung bestimmter Bezirke (Kreuzberg, Wedding, Neukölln) die Rede. Dem Mediengetöse zu misstrauen, ist klug und angebracht, im Umkehrschluss statt Dramatisierung zu verharmlosen, wäre falsch.
Im Februar 2006 sah ich Knallhart, den Film. Eine Frau, die nie gelernt hat auf eigenen Beinen zu stehen, fliegt bei ihrem Zehlendorfer Liebhaber raus. Von einem Tag auf den anderen ist Schluss mit Marmorbad und Cocktaillounge, sie muss sehen, wie sie mit ihrem 13-jährigen Sohn weiterkommt. Die beiden landen im Kiez von Nord Neukölln, in einer Zweizimmerwohnung. Aufwachsend in totaler Regellosigkeit findet der Junge Zugang zu einer hierarchisch organisierten Bande mit fast schon klassisch mafiöser Struktur: ein junger türkischer Mann mit S-Klasse, geschliffenen Manieren und scheinbar unantastbarer Souveränität übernimmt die Patenrolle für den Jungen und erarbeitet mit ihm eine Position, die ihm Leben und Überleben im Kiez zu sichern scheint. Das Ganze endet tragisch.
Meine Schüler fanden den Film übertrieben, sogar »übelst übertrieben«, aber auch nicht falsch. Wie jetzt, nah am Leben, oder nicht? »Ne, ja, doch. Aber der ist ja Hauptschule.« Da spricht also der Gymnasiast und plötzlich soll der Schulzweig ausschlaggebend für Leben und Überleben sein? Sollte da so was wie ein Nest-Gedanke sein, ein Bewusstsein in diesen Achtklässlerköpfen dafür, dass sie ein Stück weit aufgehoben sind? Dass ihnen das, wogegen sie sich so wehren, die Anstrengung des Lernens, die Arbeit des Übens, die Pflicht der Wiederholung und der Konzentration auf etwas, das außerhalb ihrer Befindlichkeit existiert, dass all das auch zu etwas nützlich sein kann? Einem auch etwas ersparen könnte? Das ist etwas. Wenn auch die Fragen wozu und wohin noch nicht beantwortet werden können, so können sie jetzt immerhin eine Antwort formulieren auf die Frage: Was will ich nicht? Lektion eins: Knallhart – will ich nicht. Alles Weitere folgt, denke ich zufrieden, wir bewegen uns also per Ausschlussverfahren vorwärts. Anders mache ich das auch nicht, ich bin nur ein paar Entscheidungen weiter.
Am Tag nach dem Kinoabend – es war ein sehr kalter Wintertag, Berlin war weiß – fahre ich mit meinem Freund nach Neukölln. Er selbst hatte ein paar Kindheitsjahre dort verbracht. Ein Siebenjähriger, der Möbel aus Abrisshäusern schmiss, Scheiben klirren ließ, einen Bagger kurzschließen konnte. Abenteuerliche Jahre, wild. Zeig mir wo, sagte ich und wir fuhren. Es war Sonntag. Auf der Autobahn viel Polizeiaufgebot, auf der Hermannstraße, Höhe Leinestraße, dann der Einsatz, Alarm überall, Sirenen, die ganze Gegend dröhnt, Streifenwagen, Krankenwagen, wir fahren vorbei, halten oberhalb des Rollberg-Viertels. Wir steigen aus. Hier ist es gewesen, 1973, Abrisshäuser, wo jetzt Soziales Wohnen steht. Die Kinderspielplätze haben wie andernorts Fußballplätze Maschendrahtzäune von vielleicht sechs oder acht Metern Höhe. Es ist wenig los drau ßen, der Schnee dämpft alles und wir sind zu zweit. Ich bin froh, als wir aus der Wohnanlage raus sind, T. sagt, hier wurde die und die Szene gedreht, erinnerst du dich, ja, ich erinnere mich, ich geniere mich für unseren Elendstourismus. Wir haben hier nichts verloren, komm. Wir gehen durch die Lessinghöhe, einen Park direkt dahinter; er ist weitläufig und schön, wirkt plötzlich friedlich. All der Schnee tut Berlin gut.
Wir biegen ab, vier Camouflagejungs fragen, was wir hier machen. Sie sehen, dass ich eine Kamera trage, wollen, dass ich sie fotografiere. Gerne. Sie bauen sich auf, die Arme einander über die Schultern gelegt, ziehen die Kapuzen noch mehr in die Stirn und schwarze Tücher über Münder und Nasen, nur die Augen schauen noch raus. Einer macht das Victory-Zeichen, einer zeigt den Stinkefinger. Und, Foto! Ich mag das Bild, es hängt in meinem Zimmer. Vor wenigen Tagen kommt T. in mein Zimmer, ich arbeitete gerade. Als sähe er es das erste Mal, zeigt er auf das Foto und sagt: Das ist ungefähr drei Fußminuten von dem Ort, an dem das tote Mädchen gefunden wurde. Du weißt schon, die, die sie in einen Koffer gesteckt und angezündet haben, letztes Frühjahr.

Das erste Jahr

Ich kam von einem Hellersdorfer Gymnasium an die Albert-Schweitzer-Oberschule. Zunächst empfand ich es als große Erleichterung, dass ich aus dem entlegenen Ostteil Berlins wegdurfte. Das städtische Umfeld war mir in diesen zwei Jahren genauso fremd geblieben wie die Menschen, die sich dort zu Hause fühlten. Der Senat hatte verfügt, im Ostteil der Stadt junge Lehrer aus dem Westen einzusetzen und umgekehrt. Das alte Kollegium wehrte sich gegen die Maßnahme, sie waren mehr als genug konfrontiert worden und sie wollten sich nicht noch dabei zusehen lassen. Zuschauer blieben wir, Zaungäste. Ein paar verweigerten konsequent Gruß und Anrede. Die Schule bestand aus einer zweistöckigen Platte als Haupthaus und einem Nebenhaus – aufeinandergestapelte Container, wie sie als temporäre Wohneinheiten für Bauarbeiter verwendet werden. Kurz vor dem Ende bekam die Schule, die vorher nur »Dreizehnte Schule« geheißen hatte noch einen Namen: Mies-van-der-Rohe-Oberschule. Ich fotografierte den Festakt der Namensgebung. Mies dreht sich wohl jetzt noch im Grabe um, seine Enkelin aber kam aus unerfindlichen Gründen zur Feier und verfolgte den verregneten Festakt ungerührt.
Die Mies-van-der-Rohe-Oberschule lag in einer steppenartigen Region am Rand einer Vorstadt, deren Zentrum »Helle Mitte« heißt. Auf dem Weg von der U-Bahn-Station zur Schule kam man an einem Discounter-Markt vorbei; neben dem Flachbau lange Schlangen unbenutzter Einkaufswagen, ähnlich ineinandergedrückt wie die älteren Schüler, die sich hier zum Rauchen und zum Küssen trafen. Hinter der Schule breiten sich großflächig ehemalige Sportanlagen aus. In den ehemaligen Umkleidekabinen sind kalte Feuerstellen und die Wände haben eine Patina von Ruß, Tags und Schmierereien, viele davon nationalsozialistische Parolen. Aus den Spalten der aufgeworfenen Tartanbahn wächst wieder das bräunliche Gras, das mir in Verbindung mit dem ewig hellgrauen Himmel oft das Gefühl gibt, mich an der Grenze zu Russland – vielmehr einem Ort, den ich mir unter Russland vorstellte – zu befinden. Ein Platz- oder Dichteproblem schien es hier jedenfalls nicht zu geben, die großen verwucherten Brachen, von Trampelpfaden gesäumt, warten auf weitere Tonnen von Hundekot und noch mehr pastellfarbene Wohnblocks. Es ist eine duldsame Gegend mit duldsamen Bewohnern.
Ungefähr zwei Kilometer von diesem Szenario entfernt wurde ich im 13. Stock eines lindgrünen Verwaltungsgebäudes verbeamtet. Als ich mit Blick auf diese wahrhaft mongolisch wirkende Steppe meinen Eid auf die deutsche Verfassung schwor, fragte ich mich: Was mache ich hier eigentlich? Der zuständige Schulrat ist sehr freundlich. Es entgeht ihm nicht, dass ich die Prozedur, die seiner Meinung nach einen Grund zum Feiern darstellt, wie durch einen Schleier wahrnehme. Ich denke, das kommt davon, wenn man keinen genauen Plan für die Zukunft hat: eine Verbeamtung auf Probe.
Kurz nach diesem Akt teilt die Rektorin dem versammelten Kollegium mit tränenerstickter Stimme mit, dass die Schule »abgewickelt« werde. Es sei einfach nicht genug Nachwuchs da, der Geburtenknick nach der Wende hat uns jetzt endgültig, wie viele andere Schulen in den Neuen Bundesländern auch, erreicht. Ein langsames Absterben würde beginnen. Es hat bereits den Supermarkt erfasst. Er wurde vor zwei Wochen geschlossen. Die meisten Scheiben sind schon eingeschlagen. Es fühlt sich ein bisschen an wie in einem Katastrophenfilm, unmerklich erst, dann einer kalten Konsequenz folgend. Erst wird es in den Pausen ruhiger, was wir angenehm finden. Dann werden die Räume des Nebengebäudes stillgelegt. Die Flure werden immer leerer, dadurch wirken die Wege länger. Ein Kopierer wird abgeholt, wir haben nur noch einen jetzt. Seit Neuestem fehlt oft Papier, Klopapier und Kopierpapier, und kurz darauf fehlt auch eine von den beiden Sekretärinnen. Wurde sie auch abgeholt? Kurz vor den Ferien ist nur noch unser Fachbereich im ersten Stock übrig. Sie wissen nicht, ob wegen uns im nächsten Winter der erste Stock noch beheizt werden könne. Nach den Ferien werden es noch einmal sechs Klassen weniger sein, dann bleiben nur noch die dreizehnten und die zehnten. »Die bringen wir zu Ende«, sagt die Rektorin.
Der Anruf kommt am vorletzten Schultag vor den Sommerferien 2003. Bei »Neukölln« zucke ich zusammen, und als hätte er es gehört, sagt Herr O. vom Senat für Bildung, er kenne die Schule persönlich seit Langem und sie sei eine gute Adresse. Auf Ihr Wort, Herr O.!, sage ich und verspreche, sofort anzurufen dort, am Albert-Schweitzer-Gymnasium. Herr Mueck, damals Schulleiter, ist persönlich am Apparat. Er ist offenbar in Plauderlaune, fragt mich dies und fragt mich das, lauter persönliche Sachen. Lobt den Klang meiner Stimme, sagt, er freue sich, mich kennenzulernen, und er sei außerordentlich stolz, eine »wirkliche Künstlerin« an seine Schule zu bekommen. Er sei ja schon halb in Amerika, ja, die USA das sei sein halbes Leben, nein, ein Künstler sei er nicht, habe aber ein Herz für die Sache, bei ihm seien es eben die Sprachen und deshalb Amerika. Diese Weite. Diese Größe. Freiheit, sagt er, das sei ein abgedroschenes Wort, aber dort spüre er sie, ein Kraftquell, den brauche man ja in unserem Beruf. Nein, nein, er reise allein und mit kleinem Gepäck, es sei ihm sehr recht, ich solle nur kommen. Zur Schulrätin müsse ich ja auch noch. Wie sie das gemacht habe, wo doch Kunstlehrer so rar und so fort. Nach einer guten halben Stunde lege ich auf und muss plötzlich grinsen – ich weiß zwar nichts über die Schule, bin aber über die Reisegewohnheiten des Direktors in den letzten 26 Jahren im Bilde.
Als ich etwa eine Stunde später dort ankomme, um mich vorzustellen, ist nur der Hausmeister zu sprechen. T. begleitet mich. Herr Schoof führte uns als Erstes in die neue Turnhalle, wir machen Ah und Oh! Dann führt uns der Herr in die Aula; es sieht ein bisschen staubig aus, auf der Bühne ein Berg von Sperrmüll. Aber wir wollen nicht kleinkariert sein und sagen wieder »wie schön«. Ich freute mich ehrlich, nach dem Containerstapel nun in ein richtiges Schulhaus zu kommen. Es hatte schon bessere Zeiten gesehen, trotzdem blieb das Haus ein lichter und klar gegliederter Bau, irgendwo zwischen Jugendstil und neuer Sachlichkeit; nur die komischen Farben der Innenraumgestaltung erinnerten mich an die Pastelligkeit der zurückgelassenen Platte. Egal – der Baustil zurückhaltend, ein Juwel zwischen den überladenen Gründerzeithäusern der Nachbarschaft. Als Herr Schoof uns allerdings in die Kunsträume führt, halte ich die Luft an. Die Werkräume kann man kaum betreten; darin überfallen einen klaustrophobische Gefühle, und die berechtigte Angst, die immensen Papier- und Materialstapel könnten über einem zusammenbrechen. Wir folgen Herrn Schoof, der mittlerweile seine dritte Zigarette ansteckt, in den dritten Stock.
Der Kunstsaal sieht aus, als wäre er irgendwann auf einer langen, langen Reise durch die Zeit im Dreck stecken geblieben – mein neuer Arbeitsplatz! Alles staubig, ein so großer wie wackeliger Glasschrank beherbergt einen riesigen Komposthaufen. Ich sehe genauer hin, früher werden es Objekte für Naturstudien gewesen sein. Ein weiterer Schrank steht mit offenen Türen; schlampig geschichtete Papierstapel ragen aus ihm hervor. Mit den toten Fliegen auf dem Fensterbrett könnte man eine Halbliterflasche füllen. Der Putz ist grau geworden und bröckelt, aber es ist ein Raum und kein Container. Und was für einer! Theoretisch könnte man hier 60 bis 70 Schüler unterrichten. Er ist riesig und, noch besser, er ist hell! Vier Fenster von mehreren Metern Höhe lassen alles Licht, das über den Dächern von Neukölln ist, hier herein. Ich würde das hier schaffen, ich würde aufräumen, putzen und diesen Raum – dieses Atelier! – zu meinem machen. Die Trümmerfrau in mir, die sich schon des Öfteren überschätzt hatte, rieb sich bereits die rauen Hände. Ich freue mich. Ich stehe in diesem Verhau und freue mich ehrlich auf das Abenteuer, das mich hier erwarten würde. Als wir Herrn Schoof verabschieden, per Handschlag und bestens gelaunt, wirkt er ein bisschen verdutzt.
Nein, ich habe damals nicht bei Herrn T. angerufen und ein klares »Nein« in den Hörer gesprochen. Ich war weit davon entfernt. Ich weiß es noch genau, wie motiviert und zufrieden ich von dieser Besichtigung zurückkam, die mich doch hätte stutzig machen können. Hat sie aber nicht. Ich hatte auch keinerlei Vorstellung von einem Standard, hier in Berlin. Ich wusste nur, dass alles sehr anders war als im saturierten München. Vielleicht ahnte ich ja bereits, dass ich dabei war, dort anzukommen. Nein, bei Herrn T. anzurufen wäre mir gar nicht in den Sinn gekommen. Das war doch hier kein Wunschkonzert! Das Schicksal, die Politik oder das Los hatten für mich entschieden, dass es diese Schule sei. Basta! Schule oder Schule, was machte das schon groß für einen Unterschied?! Spannend sollte es sein und unsere Miete zahlen! Der wesentliche Unterschied bestand für mich in der Frage Dreitage- oder Viertagewoche? Es wurde eine Fünftagewoche. Zu meinen 18 Unterrichtsstunden kamen acht Zwischenstunden. Trotzdem und allen Ernstes: Mein Einstieg in das erste Schuljahr an der ASO wird wunderbar. Als allererstes treffe ich Nadja Z., Referendarin; sie zeigt mir alles. Sie hat Po-lange blonde Zöpfe und alles was sie trägt ist irgendwie eine Wickelkonstruktion. Grüne Augen, ein feines Gesicht, liebt das Skurrile und kennt die besten Tierwitze. Da sie Referendarin ist und niemand sich für sie zuständig fühlt, übernehme ich diese Aufgabe. Wir nutzen die Möglichkeit, um im 12er-Grundkurs als Team zu unterrichten. Bereits nach den ersten sechs Wochen können wir ein Gemeinschaftswerk nach David Hockney präsentieren. Groß, schön und bunt wie es ist, hängen wir es im Treppenhaus auf. Es hat ein Maß von etwa sechs mal zweieinhalb Metern. Die Schüler streichen vor der Hängung die Wand neu, sie arbeiten mit Wasserwaage und Lot – es sieht richtig gut aus. Die Eröffnung machen wir im Haupthaus der Schule bekannt. Wir verteilen Handzettel: »Der Highway 66 führt durchs Treppenhaus«; ich kaufe Saft und Sprudel, während Nadja mit den Schülern noch das Bild verhängt. Ist das so bei einer richtigen Eröffnung, fragen die Schüler, klar sage ich, genau so, alle Bilder werden verhängt und dann kommen schicke Frauen in tollen Kostümen und enthüllen alles.
Dann warten wir auf unsere Vernissage-Gäste. Die Enthüllung ist für die zweite große Pause zwischen 11.30 Uhr und 11.55 angesetzt. Die Schüler sind total aufgekratzt; Arthur und ich haben uns eine kurze Rede in Dialogform überlegt. Um die Zeit zu überbrücken, gehen wir sie noch mal durch; Nadja und die anderen rufen irgend was dazwischen, um uns auf den »Ernstfall« vorzubereiten. Um 11.40 hat sich eine kleine Gruppe von Schülern anderer Klassen eingefunden. Um 11.45 kommen drei Kolleginnen, und zwar Susi, Frau Gänseken-Gäth und Frau Jonas, die Religionspädagogin. Ich ahne, mehr werden es nicht. Die Gesichter der Schüler sehen aus, als hätte man sie bei unter null draußen stehen lassen. Nadja versucht, Stimmung zu machen, ich laufe die Stockwerke hinunter, um zu sehen, ob nicht doch jemand von der Schulleitung kommt, nein niemand; dann halte ich unsere kurze Ansprache vor den etwa zehn Gästen alleine, weil Arthur verschwunden bleibt. Die meisten Schüler sind mit Safttüten und Salzbrezeln schon wieder weg. Frau Jonas klatscht, als wir das Bild enthüllen und ruft ganz laut »Bravo«. Die noch Anwesenden lächeln tapfer. Sie hätten es am liebsten gleich wieder runtergerissen von der Wand, werden sie mir später sagen, sie würden es überhaupt nicht mehr mögen.
Nach diesem Erlebnis hätte ich wissen können, wie es um die Kollegialität am Haus bestellt war. Aber ich verschloss mich dieser Gewissheit. Noch war es ja leicht, wir waren zu zweit und ein gutes Team. Wir beantragen Gelder und kurven durch die Stadt, um Material einzukaufen. Wir kaufen Bilderrahmen und hängen neue Schülerarbeiten aus, veranstalten Exkursionen und legen für uns und die Schule einen neuen Musikvorrat an.
Dann kam Nadjas Lehrprobe. Es wurde ein schwarzer Tag. Bestens vorbereitet, hatte sie eine Art Totalausfall; später wird sie fatalistisch grinsend und ein bisschen schwäbischer als sonst sagen: »Bläck-aud halt.« Sie stand vor der Klasse und wusste nicht, was tun. Sie hatte ihr Thema vergessen, ihre Fragen, den Verlauf und das Ziel ihrer Stunde, sie kannte die Namen der Schüler nicht mehr, mit denen wir ein halbes Jahr gearbeitet hatten. Blass und verschlossen stand sie vor ihrem Auditorium und starrte auf einen Punkt, der nur für sie sichtbar war – vielleicht war es der Punkt, an dem sie beschloss aufzugeben und umzukehren. Ich saß in der letzten Reihe zwischen Herrn Mueck und der Frauenbeauftragten, weitere hohe Damen und Herren der hiesigen Schulaufsichtsbehörde saßen daneben. Ich konnte nichts tun, konnte der schleppend verrinnenden Zeit und Nadjas Nichtstun nur zusehen. Die Schüler taten ihr Bestes, um dieses Loch, diese gnadenlose Leere zu vertuschen, aber nach einigen Minuten verstummten auch sie. Sie hatten ja nur eine vage Ahnung, worum es gehen sollte. Es war eines völlig klar: Wenn Nadja nicht durch sehr gute Beurteilungen auf der Warteliste nach oben rücken würde, dann gar nicht – sie hatte keine Kinder und war nicht verheiratet. Sie konnte keine soziale Dringlichkeit nachweisen und damit war der Traum vom gemeinsamen Arbeiten ausgeträumt. Irgendwie kam ihre Stunde dann doch schleppend in Fahrt, blieb aber bis zuletzt unlogisch und willkürlich und zu allem Überfluss wirkte sie seltsam bockig. Bei der anschließenden Beratung konnte ich ihr nicht viel helfen. Ich war sehr traurig, nie vorher und nie danach habe ich wieder mit jemandem so gerne zusammengearbeitet.
Nadja hat die Schüler genauso gemocht, wie sie ihre Prüfer und Ausbilder, ihre Vorgesetzten gehasst hat. Sie, die Polizistentochter aus der schwäbischen Provinz, wehrte sich gegen diese »Staatsvertreter«, wie sie sie nannte. Als sie nach Berlin ging, hatte sie ihr Leben anders entworfen, und dass sie davon abgerückt war, konnte sie diesen Leuten nicht verzeihen. Nadja plagte sich noch durch das zweite Staatsexamen und litt weiterhin unter einer ätzenden Prüfungsangst, die ihre Fähigkeiten in ein völlig falsches Licht rückte. Sie hielt sich danach mit ein paar Stunden an einer privaten Schule über Wasser, gab aber nach wenigen Monaten auch dort auf. Konsequenterweise kehrte sie ganz zur Malerei zurück; ihr Geld verdient sie jetzt in einem Callcenter.
Aber ich hatte gesagt, es sei schön gewesen – und es war schön. Ich öffnete in diesem ersten Jahr keine Tür selbst und in den Unterricht ging ich nie ungegrüßt. Das Schulhaus betrat ich direkt über den Nebeneingang und sobald ich im Treppenhaus war, rief es »Guten Morgen, Frau Rogg« und »Wie geht es Ihnen heute, Frau Rogg« und »Kann ich Ihnen was abnehmen, Frau Rogg?«. – Jetzt, nur dreieinhalb Jahre später, ist dieses Szenario undenkbar. Es passt eher in meine Schulzeit, die Zeit von Unserer kleinen Farm und dem schielenden Löwen bei Daktari, als in die Wirklichkeit einer Berliner Problemschule. Es gab auch eine Handvoll Schülerinnen und Schüler, die wussten, wann ich Unterrichtsende hatte, und kamen, um mit mir aufzuräumen und eine Tasse Tee zu trinken. Ibrahim zum Beispiel, der immer mit seinem Basketball unterwegs war, und Patricia, eine witzige Bolivianerin, die alleine klarkommen musste, seit sie 16 war. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie neben der Schule als Kassiererin in einem Supermarkt und heute studiert sie Theologie. Oder Wenke, die Zuspruch brauchte, um mutig zu sein; denn Mut braucht es, um gegen die eigenen Eltern zu klagen, die ihr den Unterhalt und jedes Gespräch darüber verweigerten. Ich lernte meine Schüler immer besser kennen und das Chaos begann sich zu lüften.
Nach der Kälte von Hellersdorf fühlte ich mich jetzt in der Temperatur von Neukölln wohl. Ich unterrichtete neben dem Grundkurs eine elfte, eine achte und zwei siebte Klassen. Die Siebten waren geteilt; an acht Stunden pro Woche hatte ich es also mit einer nicht ganz einfachen Altersstufe zu tun, aber da es nur zwölf bis 14 Kinder pro Gruppe waren, ging das gut. Auf Wunsch der Schüler teilte ich die Klassen in je eine Mädchen- und eine Jungsgruppe. So entstanden komplett andere Werke zu ähnlichen Themen. Das Arbeiten mit verschiedenen Werkstoffen bedeutet den Schülern in diesem Alter viel, wir hatten kaum Material, aber es fand sich immer etwas. Es entstanden Höhlenmalereien aus Dreck, Baumhausmodelle aus Holzresten, die wir auf dem benachbarten Friedhof aufklaubten und Radierungen auf Plexiglasresten, die uns eine Glaserei schenkte. Radiernadeln bauten wir selbst und die Presse restaurierte ich eines Nachmittags, während Ibrahim mir erzählte, dass seine Mutter zurück nach Beirut ginge.