Normal - Allen Frances - E-Book

Normal E-Book

Allen Frances

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Beschreibung

1980 hielt man einen Menschen für Normal, wenn er ein Jahr lang um einen nahen Angehörigen trauerte. 1994 empfahl man Psychiatern mindestens zwei Monate Trauerzeit abzuwarten, bevor man Traurigkeit, Schlaflosigkeit, Konzentrationsstörungen und Apathie als behandlungsbedürftige Depression einstufte. Mit dem neuen Katalog psychischer Störungen ›DSM 5‹ wird ab Mai 2013 empfohlen, schon nach wenigen Wochen die Alarmglocken zu läuten. Vor einer Inflation der Diagnosen in der Psychiatrie warnt deshalb der international renommierte Psychiater Allen Frances. Er zeigt auf, welche brisanten Konsequenzen die Veröffentlichung haben wird: Alltäg-liche und zum Leben gehörende Sorgen und Seelenzustände werden als behandlungsbedürftige, geistige Krankheiten kategorisiert. Verständlich und kenntnisreich schildert Allen Frances, was diese Änderungen bedeuten, wie es zu der überhandnehmenden Pathologisierung allgemein-menschlicher Verhaltensweisen kommen konnte, welche Interessen dahinterstecken und welche Gegenmaßnahmen es gibt. Ein fundamentales Buch über Geschichte, Gegenwart und Zukunft psychiatrischer Diagnosen sowie über die Grenzen der Psychiatrie – und ein eindrückliches Plädoyer für das Recht, Normal zu sein.

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Seitenzahl: 533

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Allen Frances

NORMAL

Gegen die Inflationpsychiatrischer Diagnosen

Aus dem Englischen von Barbara Schaden Mit einem Nachwort von Geert Keil

Die amerikanische Originalausgabe erscheint 2013 unter dem Titel Saving Normal. An Insider’s Revolt Against Out-of-Control Psychiatric Diagnosis, DSM-5, Big Pharma, and the Medicalization of Ordinary Life bei William Morrow, an imprint of HarperCollins Publishers, New York © 2013 Allen Frances    

eBook 2013

© 2013 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Barbara Schaden

Nachwort: © Geert Keil

Umschlag: Hafen Werbeagentur, Hamburg

Umschlagabbildung: MedicalRF.com

Satz: Fagott, Ffm

eBook-Konvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck  

ISBN eBook: 978-3-8321-8711-8

www.dumont-buchverlag.de

VORBEMERKUNG

Man kann sich auf einer Cocktailparty einen Haufen Ärger einhandeln, einfach indem man nichts weiter tut, als sich um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Der Zeitpunkt war Mai 2009. Die Partygäste waren lauter Psychiater, die an der Jahreskonferenz der American Psychiatric Association teilnahmen. Schauplatz war ein Kunstmuseum in San Francisco, und der Ärger begann mit einer scharfen Auseinandersetzung darüber, was Normalität ist und welche Rolle die Psychiatrie bei ihrer Definition spielen soll.

Ich war zufällig in der Stadt und an den Vorträgen eigentlich gar nicht interessiert, aber die Party schien mir ein netter Anlass zu sein, um alte Freunde zu treffen. Während der letzten zehn Jahre war ich aus der Psychiatrie weitgehend ausgestiegen – ich hatte mich früh pensionieren lassen, um mich um meine kranke Frau zu kümmern, meine Enkelmeute zu hüten, zu lesen und am Strand herumzulungern. Mein Berufsleben war ziemlich hektisch gewesen, um nicht zu sagen hyperaktiv. Ich war Vorsitzender der Kommission, die das DSM-IV* ausarbeitete, und Chef des Fachbereichs Psychiatrie an der Duke University (in Durham, North Carolina), hatte eine Menge Patienten behandelt, geforscht und nebenbei etliche Bücher und Fachartikel veröffentlicht. Ich war ständig der Zeit hinterhergerannt – ein aussichtsloses Unterfangen. Sogar den flüchtigsten Blick in die Sportseiten der New York Times hatte ich als erschlichenes, verbotenes Vergnügen empfunden, und jetzt war es mir die reinste Wonne, einfach ein paar Gänge herunterzuschalten, Thukydides zu lesen, die Sonne im Gesicht zu spüren und den Wind in meinen noch verbliebenen Haaren. Keine Mailadresse, kaum Anrufe und, abgesehen von der familiären Verantwortung, absolut keine Verpflichtungen.

Ich hänge nur einem einzigen Aberglauben an – dem irrationalen, aber hartnäckigen Glauben an das Gesetz des Durchschnitts: Ich bin überzeugt, dass sich am Ende alles gleichmäßig verteilt. Es stimmt nicht, und ich weiß, dass es nicht stimmt – aber ein Aberglaube ist nun mal zäh. In meiner Vorstellung langweilten sich die Götter der Wahrscheinlichkeit am Abend dieser Party, und als sie nach Zerstreuung suchten, fiel ihre Wahl leider auf mich. Vielleicht hatten sie sich ausgerechnet, dass mein Leben zu leicht und lustig geworden war. Warum also nicht den Punktestand ausgleichen, indem man mir zufällig ein paar Gespräche in den Weg legt, die mich jäh aus meiner Beschaulichkeit reißen? Innerhalb einer Stunde war mein gemütlicher Hochsitz am Spielfeldrand umgekippt und ich gezwungen, in einer Auseinandersetzung, die sich zu einem Bürgerkrieg im Herzen der Psychiatrie ausgewachsen hat, Partei zu ergreifen und mich in den (weitgehend aussichtslosen) Kampf zu stürzen, um das, was »normal« ist, vor der Pathologisierung und die Psychiatrie vor der Überdehnung zu schützen.

Warum ich und warum an diesem Abend? Zufällig berichteten mehrere Freunde von mir begeistert, dass sie auserkoren seien, zumal in leitenden Positionen, an der neuen, fünften Auflage des DSM mitzuarbeiten. Sie fanden praktisch kein anderes Gesprächsthema. DSM steht für Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. In den USA wurde es 1952 erstmals herausgegeben, und bis 1980 waren die jeweiligen Ausgaben des DSM obskure kleine Bücher, die kaum jemand las. Zu Recht. 1980 indes kam, mit Pauken und Trompeten, das DSM-III, ein sehr dickes Buch, das seither auch in der deutschen Ausgabe als Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen erscheint und sehr schnell zum Kultgegenstand wurde, zum Dauerbrenner, der sich als »Bibel« der Psychiatrie unangemessener Verehrung erfreut. Weil es bestimmt, wo die Normalität aufhört und die psychische Erkrankung beginnt, hat das DSM enorme gesellschaftliche Bedeutung erlangt. Es entscheidet über alle möglichen wichtigen Dinge des Alltags, was gewaltige Auswirkungen auf das Leben von Menschen hat – zum Beispiel ist es der Maßstab dafür, wer als gesund und wer als krank gilt, welche Behandlung Erkrankten angeboten wird und wer dafür bezahlt, wer eine Erwerbsunfähigkeitsrente erhält, wer besondere Betreuung für psychisch Kranke benötigt, sei es in schulischer, berufsbildender oder sonstiger Hinsicht; wer für eine Stelle infrage kommt, ein Kind adoptieren, ein Flugzeug steuern kann und wer bei Abschluss einer Lebensversicherung in welche Risikogruppe fällt; es bestimmt aber auch, ob ein Mörder ein Verbrecher oder ein psychisch Kranker ist, welcher Schadensersatz vor Gericht zuerkannt werden soll und noch viel, viel mehr.

Nachdem ich zwanzig Jahre lang an den regelmäßig aktualisierten Ausgaben des DSM (darunter DSM-III, DSM-III-R und DSM-IV) mitgearbeitet hatte, kannte ich die Tücken und Fallstricke und war mir der Gefahren, die jeder Aktualisierung naturgemäß innewohnen, sehr bewusst. Meine Freunde hingegen waren noch keine alten Hasen, sondern einfach nur begeistert, dass sie an der nächsten Ausgabe, dem DSM-5, mitarbeiten sollten. Sie hatten die Absicht, viele neue psychische Störungen aufzunehmen und die Regeln für die Diagnostizierung der bereits bestehenden zu lockern – anders ausgedrückt: Sie überschätzten die erhofften Vorteile und waren blind für die Kehrseite.

Ihren Enthusiasmus und ihren Eifer, Maßstäbe zu setzen, fand ich verständlich. Ich selbst hatte 1987 einen langen Strandspaziergang unternommen, nachdem ich erfahren hatte, dass ich den Vorsitz der Redaktion des DSM-IV übernehmen sollte. Normalerweise neige ich nicht zum Grübeln, aber diesmal gab es einiges zu überlegen. Gut eine Stunde lang dachte ich darüber nach, auf welche Weise die Psychiatrie zu verändern und zu verbessern sei, und währenddessen beherrschte mich das beglückende Gefühl von Macht. Ich ging von der Überlegung aus, dass die psychiatrische Diagnose zu weit ging, zu schnell kam und sich zu rasch veränderte – es gab zu viele Kategorien, und es wurden zu viele Menschen als behandlungsbedürftig diagnostiziert. Meine drei grandiosen Ideen lauteten also: erstens, die Schwelle für zu leicht diagnostizierbare Störungen anzuheben; zweitens, Störungen, die wenig einleuchtend waren, abzuschaffen, und drittens, Persönlichkeit mit flexiblen Zahlen, nicht mit starren Namen zu beschreiben.

Nach der ersten Stunde holte mich die Realität ein und zwang mich, jedes einzelne meiner Lieblingsprojekte abzuschießen. Bei genauerer Überlegung wurde mir klar, welche Probleme in ihrem Gefolge jeweils auftreten konnten, und, noch wichtiger, ich sah ein, dass es keinen Grund gab, weshalb ich – oder irgendjemand – mir oder meinen Lieblingsideen trauen sollte, und ich kam zu dem Schluss, dass private Vorlieben oder Meinungen nicht zu Änderungen im diagnostischen System führen dürfen, sondern wissenschaftlich begründet und evidenzbasiert sein müssen. Zum Schutz vor individuellen Vorlieben, Willkür und diagnostischer Kreativität mussten wir uns bei der Erarbeitung des neuen DSM-IV dem Prinzip der gegenseitigen Kontrolle unterwerfen. Jeder neue Vorschlag musste durch Reifen springen und einen Hindernislauf bestehen. Er musste anhand der Fachliteratur auf Herz und Nieren geprüft werden, damit klar wurde, welche Risiken und Tücken er barg. Die Daten mussten einer äußerst sorgfältigen Reanalyse unterzogen werden, und es brauchte ebenso gewissenhafte Praxistests. Alles, was riskant war und/oder ohne eindeutigen wissenschaftlichen Wert, mussten wir verwerfen. Meine Vermutung, dass praktisch alle Änderungen an diesen hohen Anforderungen scheitern würden, erwies sich als richtig – die zahlreichen Vorschläge, die wir am Ende erhielten, ließen sich nicht mit zwingenden wissenschaftlichen Daten untermauern. Die Basiswissenschaft der Psychiatrie lieferte jeden Tag neue spannende Erkenntnisse über die Funktionsweise des Gehirns, aber nichts davon fand auch nur annähernd Eingang in die Diagnose und Behandlung von Patienten.

Mir war klar, dass wir uns beim DSM-IV keine Fehler leisten durften, auch keine kleinen. Das DSM war mächtiger geworden, als ihm und der Gesellschaft guttat. Selbst scheinbar geringfügige Änderungen konnten eine verheerende Wirkung entfalten. Und bei dieser Party wurde mir nun klar, dass das DSM-5 auf dem besten Weg war, wirklich schwerwiegende Fehler festzuschreiben. Die neuen psychischen Störungen, für die meine Freunde so unbeschwert warben, würden insgesamt Millionen neuer »Patienten« erzeugen. Alle diese weitgehend normalen Menschen würden von diesem unmäßig vergrößerten diagnostischen Netz des DSM-5 eingefangen, und die Folge davon wäre, dass viele von ihnen unnötiger Medikation mit potenziell gefährlichen Nebenwirkungen ausgesetzt würden. Die Pharmakonzerne würden sich alle Finger ablecken und diese vielversprechenden neuen Zielgruppen ihrer bewährten Praxis unterziehen, der Pathologisierung ganz normaler Zustände, der Erfindung von Krankheiten.

Schmerzliche Erfahrungen am eigenen Leib – ich hatte ja gesehen, wie das DSM-IV trotz unseres Bemühens, diagnostischen Überschwang zu bremsen, missbraucht worden war, um die Diagnoseblase weiter aufzublähen – hatten mich misstrauisch und wachsam für die Risiken gemacht. Wir waren geradezu stumpfsinnig bescheiden in unseren Zielen, zwanghaft akribisch in unseren Methoden und streng konservativ im Ergebnis gewesen, und dennoch war es uns nicht gelungen, drei neue falsche Epidemien bei Kindern vorherzusagen oder gar zu verhindern: Autismus, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung und bipolare Störung. Und wir hatten nichts unternommen, um die wuchernde diagnostische Inflation im Zaum zu halten, die schon jetzt die Grenze der Psychiatrie weit über ihren Kompetenzbereich hinaus verschob. Wenn schon ein behutsam und im Prinzip gut gemachtes DSM-IV womöglich mehr Schaden als Nutzen angerichtet hatte, welche wahrscheinlichen Folgen hätte dann ein mit ziemlicher Sorglosigkeit erstelltes DSM-5, das von dem hochfliegenden und abenteuerlichen Ehrgeiz beseelt war, einen »Paradigmenwechsel« herbeizuführen?

Sowohl für die falsch etikettierten neuen »Patienten« als auch für unsere Gesellschaft steht zu viel auf dem Spiel, als dass ich darüber hätte hinwegsehen können. Die diagnostische Inflation hat dafür gesorgt, dass ein absurd hoher Anteil unserer Bevölkerung heutzutage auf Antidepressiva, Neuroleptika, Anxiolytika, auf Schlaf- und Schmerzmittel angewiesen ist. Wir entwickeln uns zu einer Gesellschaft von Pillenschluckern. Jeder fünfte erwachsene US-Bürger nimmt mindestens ein Medikament wegen eines psychiatrischen Leidens ein; im Jahr 2010 nahmen 11Prozent aller Erwachsenen und 21Prozent der Frauen in den USA ein Antidepressivum;1 fast 4Prozent unserer Kinder bekamen ein Stimulans,2 4Prozent der Teenager ein Antidepressivum;3 einem Viertel der Insassen von Pflegeheimen wurden Neuroleptika verabreicht.4 In Kanada stieg zwischen 2005 und 2009 der Konsum von Psychostimulanzien um 36Prozent und der Verbrauch von Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) um 44Prozent.5

Die Ursache der landesweiten Medikamenten-Überdosierung sind unscharfe Diagnosen. 6Prozent der US-Bürger sind medikamentensüchtig, und wir verzeichnen inzwischen mehr Todesfälle und Notarzteinsätze aufgrund von Medikamentenmissbrauch als infolge illegaler Drogen.6 Pharmahersteller können, wenn ihre Erzeugnisse derart unbekümmert eingesetzt werden, so gefährlich sein wie Drogenkartelle. Einschlägiges Beispiel: Seit 2005 ist unter den US-Soldaten im aktiven Dienst die Verschreibung psychiatrischer Medikamente auf das Achtfache gestiegen! Unvorstellbare 110000 Soldaten nehmen inzwischen mindestens ein Psychopharmakon, viele von ihnen nehmen gleich mehrere, und Hunderte sterben jährlich an einer unbeabsichtigten Überdosierung.7

Psychopharmaka bringen den Pharmaunternehmen Spitzeneinnahmen: 2011 wurden in den USA mehr als 18Milliarden Dollar für Neuroleptika ausgegeben (erstaunliche 6Prozent des Gesamtumsatzes an Medikamenten), 11Milliarden für Antidepressiva und knapp 8Milliarden für ADHS-Medikamente.8 Die Ausgaben für Neuroleptika haben sich verdreifacht,9 und der Konsum von Antidepressiva ist zwischen 1988 und 2008 nahezu auf das Vierfache gestiegen.10 Und es sind die falschen Ärzte, die diese Medikamente verschreiben. 80Prozent der Psychopharmaka werden von Allgemeinmedizinern verschrieben. Diese sind weitgehend ungeschult, was Wirkung und vorschriftsmäßige Anwendung dieser Mittel betrifft, aber sie stehen unter starkem Druck vonseiten der Pharmavertreter und falsch informierter Patienten, denen sie nach hastigen Sieben-Minuten-Gesprächen, ohne systematische Überprüfung, derart starke Medikamente verschreiben.11

Darüber hinaus ist die Verteilung der Mittel völlig durcheinandergeraten – normale, aber beunruhigte (oder unruhig gemachte) Gesunde werden viel zu oft therapiert, was ihnen schadet, während für jene, die wirklich krank sind und dringend eine Therapie brauchen, viel zu wenig Geld zur Verfügung steht. Zwei Drittel der schwer depressiven Patienten werden nicht gegen ihre Depression behandelt, und zahlreiche Schizophrene enden im Gefängnis. Es ist allerhöchste Zeit! Wer »normal« ist, muss normal bleiben dürfen; und wer krank ist, braucht Behandlung. Aber das DSM-5 schien genau in die verkehrte Richtung zu steuern: Neue Diagnosen sollten aufgenommen werden, die aus Alltagsängsten, Spleens aller Art, Vergesslichkeit und schlechten Essgewohnheiten psychische Störungen machen. Und während die Psychiatrie sich auf viele Personen erweitert, die besser als ganz normal gelten sollten, werden wirklich Kranke noch stärker ignoriert als bisher.

Der Weg zur Hölle ist mit guten Absichten gepflastert. Der naive Enthusiasmus der Mitarbeiter am DSM-5 schockierte mich. Wo sie goldene Chancen sahen, erkannte ich große Gefahren. Diagnostischer Übermut kann gesundheitsschädlich sein – für Individuen ebenso wie für eine Gesellschaft. Das bei Weitem verstörendste Gespräch aber hatte ich mit einem meiner ältesten Freunde, einem klugen Mann von großer Erfahrung und Integrität, der sich die Linderung des Leidens von an Schizophrenie Erkrankten zur Lebensaufgabe gemacht hat. Er war überzeugt, dass das DSM-5 mit der Einführung einer neuen Diagnose, dem »Psychoserisikosyndrom«, eine wegweisende Veränderung bewirken könne: Damit sei es möglich, schizophreniegefährdete Jugendliche frühzeitig zu identifizieren und vorbeugend zu behandeln: ein Gramm Frühprophylaxe, um ein Pfund spätere Therapie zu ersetzen. Denn, so mein Freund, sei das Gehirn erst einmal erkrankt, rücke eine Heilung in weite Ferne – je eingefahrener die neuronalen Bahnen, die Einbildungen und Wahnvorstellungen erzeugen, desto schwieriger würde es, sie wieder außer Kraft zu setzen. Wie wunderbar wäre es da, wenn sich Schizophrenie von vornherein vermeiden oder, falls das nicht möglich sei, die Belastung insgesamt zumindest weitgehend reduzieren ließe.

Mein Freund verfolgte ein edles Ziel, doch dem standen fünf schwerwiegende Argumente gegenüber. Erstens: Die fürchterlich klingende Diagnose würde den meisten Menschen, bei denen ein »Psychoserisiko« konstatiert würde, nicht gerecht, denn nur ein kleiner Anteil der vermeintlich Gefährdeten werden jemals psychotisch. Zweitens: Es gibt keine nachweislich wirksame Vorbeugung gegen Psychosen. Drittens: Bei vielen Betroffenen wären die Nebenwirkungen erheblich – sie nähmen unnötige Psychopharmaka ein, die zu Fettsucht, Diabetes und Herzerkrankungen führen und die Lebenserwartung senken können. Viertens: Man bedenke, welche Stigmatisierung und welche Belastung die vollkommen irreführende Behauptung, eine Psychose stehe unmittelbar bevor, mit sich bringt. Fünftens: Seit wann ist ein »Risiko« gleichbedeutend mit einer »Krankheit«? Ich habe versucht, einen Sinneswandel bei ihm herbeizuführen, bin aber gescheitert – ich konnte nicht einmal eine Bresche in seine Überzeugung schlagen. Das »Psychoserisiko« war in der Welt. Der Traum meines Freundes wird zweifellos zum Albtraum mit unbeabsichtigten, aber verheerenden Folgen werden.

Während ich mich durch die Party treiben ließ, traf ich viele weitere Freunde, die am DSM-5 mitarbeiteten und ähnlich begeistert von ihren Lieblingsinnovationen schwärmten: Wie wir bald feststellten, kam ich selbst für zahlreiche der neuen Störungen infrage, die sie ins DSM-5 aufnehmen wollten. Dass ich mich mit den köstlichen Rippchen und Garnelen des Buffets vollstopfte, ist laut DSM-5 eine »Heißhungerstörung«. Dass ich Namen und Gesichter vergesse, wertet das DSM-5 als »leichte neurokognitive Störung«. Aus meinen Befürchtungen und Sorgen angesichts der neuen Entwicklungen in der Psychiatrie werden »Angst und depressive Störung, gemischt«. Meine Trauer nach dem Tod meiner Frau war eine »schwere depressive Störung«. Meine wohlbekannte Hyperaktivität und Ablenkbarkeit sind klare Anzeichen einer »Aufmerksamkeitsdefizitstörung im Erwachsenenalter«. Eine Stunde Partygeplauder mit alten Freunden, und schon hatte ich mir fünf neue DSM-Diagnosen eingefangen. Nicht zu vergessen meine vierjährigen Enkel, die eineiige Zwillinge sind: Ihre Wutanfälle sind nicht einfach nur nervig – die beiden leiden unter einer »Affektregulationsstörung«.

Keine Frage, das DSM-5 würde Unheil anrichten. Was tun? Ich war mehrfach aufgefordert worden, mich zu Wort zu melden, hatte aber abgelehnt. Bob Spitzer, der große Erneuerer der Psychiatrie, der bei der Erstellung des DSM-III federführend war, schlug seit Jahren öffentlich Alarm. Er fand es empörend, dass die American Psychiatric Association (APA) die Mitarbeiter am DSM-5 zwang, Geheimhaltungsvereinbarungen zum Schutz des »geistigen Eigentums« der APA zu unterschreiben: Zu erwartende Einnahmen aus Veröffentlichungen dürften nie über der Transparenz stehen, die erforderlich ist, um ein zuverlässiges und qualitativ anspruchsvolles DSM zu erstellen, lautete sein Argument. Natürlich hatte er vollkommen recht. Er bemühte sich schon lange, das DSM-5 wieder auf den richtigen Weg zu bringen, und hatte mich oft um Unterstützung gebeten. Ich aber hatte mich, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, mehrfach geweigert, den Mund aufzumachen. Mein Leben lang habe ich versucht, mich aus Auseinandersetzungen herauszuhalten, und der Streit, der jetzt bevorstand, drohte ganz besonders unangenehm zu werden. Außerdem war ich der Meinung, es sei schlechter Stil, die Arbeit meiner Nachfolger zu kritisieren, und ich vertraute auf Bob, den ich als engagierten, unermüdlichen Kämpfer kannte, der in öffentlichen Debatten kein Blatt vor den Mund nimmt.

Aber die beängstigenden Gespräche auf der Party hatten mich aus meiner selbstgefälligen Beschaulichkeit gerissen; ich konnte nicht mehr tatenlos zuschauen. Es ging ja nicht nur darum, dass die Redaktion des DSM-5 ein abgeschotteter und geheimniskrämerischer Vorgang war, sondern es bestand eindeutig die Gefahr, dass ein sehr gefährliches Ergebnis dabei herauskam. Wenn es das »Psychoserisiko« ins DSM-5 schaffte, konnten aus arglosen Kindern fette Erwachsene werden, die früh sterben, weil sie wegen einer fiktiven Diagnose unnötig mit Psychopharmaka behandelt worden waren. Das DSM-5 war auf dem besten Weg, massive Gesundheitsprobleme zu erzeugen, und dabei hatte die Öffentlichkeit ein Wörtchen mitzureden. Es wäre egoistisch und feige von mir gewesen, wenn ich mich unter dem Vorwand herausgehalten hätte, dass Bob durchaus in der Lage sei, die Arbeit allein zu stemmen. Mir war klar, dass ich Freundschaften riskieren, mich gegen die organisierte Psychiatrie auflehnen und meinen geliebten Strand verlassen müsste. Janet Williams, Bobs Frau und engste Mitarbeiterin am DSM-III, war ebenfalls auf dieser Party, ich ging zu ihr und versicherte ihr, dass Bob fortan auf mich zählen könne. DSM-5 war zu wichtig, als dass man es einer Gruppe wohlmeinender, aber verhängnisvoll fehlgeleiteter »Experten« überlassen konnte.

Vier Jahre sind seither vergangen. Ich habe mit dem Präsidenten der American Psychiatric Association gesprochen, habe dem Kuratorium der APA drei warnende Briefe geschrieben, ungezählte Beiträge in Blogs gepostet, viele Artikel in Publikums- und Fachzeitschriften veröffentlicht, habe Vorträge vor Fachleuten und Laien gehalten, bin im Radio und im Fernsehen aufgetreten – immer, um vor den Gefahren des DSM-5 zu warnen: vor falschen Diagnosen bei ganz normalen Personen, vor der weiteren Aufblähung der ohnehin fortgeschrittenen diagnostischen Inflation, vor der Begünstigung von unangebrachtem Medikamentenkonsum. Ich war bei Weitem nicht der Einzige, der sich bemüht hat, die Normalität vor der Pathologisierung zu retten. Viele Einzelpersonen, viele Gesundheitsorganisationen, Fachzeitschriften und die Presse stießen alle laut ins selbe Horn. Einen gewissen Erfolg hatten wir – viele der gefährlichsten Vorschläge wurden in letzter Minute fallen gelassen. Aber im Großen und Ganzen haben wir versagt. DSM-5 verschiebt die psychiatrische Diagnostik in die falsche Richtung, wird neue fiktive Epidemien erzeugen und fördert weiteren Medikamentenmissbrauch. Die richtige Zielsetzung wären diagnostische Zurückhaltung und Deflation gewesen, keine weitere ungerechtfertigte Ausweitung von Diagnose und Therapie.

Dieses Buch ist meine Reaktion auf die Exzesse – teils Mea culpa, teils J’accuse und teils verzweifelter Aufschrei. Es ist der entsetzte Blick eines Insiders auf das, was schiefgegangen ist; zugleich aber ist es ein praktischer Wegweiser zurück zu einer vernünftigen Psychiatrie, die Gesunden nicht schadet und Kranken hilft. Mein Ziel ist es, die Normalität zu retten, aber ich will auch zur Rettung der Psychiatrie beitragen. Die Psychiatrie ist ein vornehmer Berufsstand, im Kern gesund und, wenn sie richtig ausgeübt wird, außerordentlich effizient. Wir leisten ebenso viel oder mehr als die meisten anderen medizinischen Fachgebiete. Und Arzt für die Psyche zu sein, ist ein besonderes Privileg – wir lernen unsere Patienten sehr genau kennen, hören ihre Sorgen, spenden Trost und unterstützen sie auf verschiedenste Weise bei der Selbsthilfe. Viele können wir heilen, den meisten helfen, und allen begegnen wir mit Mitgefühl und Rat. Aber die Psychiatrie muss innerhalb ihrer Zuständigkeit bleiben und das tun, was sie am besten kann: den Menschen helfen, die unsere Unterstützung wirklich brauchen und am meisten davon profitieren. Wir dürfen aus Menschen, die im Grunde normal und gesund sind, keine Patienten machen und dabei die wirklich Kranken ignorieren.

Zweifellos ist die Psychiatrie nicht die einzige Fachdisziplin, die über ihr Ziel hinausschießt – wir sind nur ein spezielles Beispiel für die Aufblähung und die Verschwendung, die typisch für die Medizin in den westlichen Industrienationen sind. Kommerzielle Interessen haben das Gesundheitswesen fest im Griff. Man hat den Profit über das Wohl der Patienten gestellt und eine nicht nachlassende Diagnose-, Test- und Therapiewut entfesselt. Wir geben für unser Gesundheitswesen doppelt so viel aus wie andere Länder, können aber nur mittelmäßige Ergebnisse vorweisen. Manche unserer Bürger geraten zu Unrecht in die ärztlichen Mühlen und werden darin aufgerieben, andere werden schändlich vernachlässigt. Beide, die Medizin ebenso wie die Psychiatrie, bedürfen dringend einer Zähmung, Beschneidung, Neuformulierung und Neuorientierung.

Echte psychiatrische Störungen erfordern eine umgehende Diagnostizierung und aktive Therapie – denn von allein werden sie nicht besser, und sie sind umso schwerer zu behandeln, je länger man sie bestehen lässt. Die unvermeidlichen Alltagsprobleme des Lebens hingegen überlassen wir am besten unserer angeborenen Widerstandskraft und der heilenden Wirkung der Zeit. Wir sind eine zähe Spezies, Abkömmlinge von zehntausend Generationen erfolgreicher Vorfahren, die in einer von allgegenwärtigen Gefahren beherrschten Umwelt ein prekäres Leben führten, dessen Bedingungen wir uns, verhätschelt, wie wir sind, nicht einmal annähernd vorstellen können. Unser Gehirn und unsere sozialen Strukturen sind imstande, mit den widrigsten Umständen zurechtzukommen; wir sind absolut in der Lage, die meisten Probleme des Lebens zu lösen, ohne dass die Medizin sich einmischt, zumal sie oft nur Chaos stiftet und die Situation schlimmer macht, als sie ist. Je mehr wir uns mit der umfassenden Pathologisierung der Normalität abfinden, desto mehr verlieren wir den Kontakt zu unseren starken Selbstheilungsfähigkeiten und vergessen, dass es das Beste ist, nur ab und zu mal, möglichst selten, eine Pille zu schlucken.

Ich bin mit diesem Buch ein hohes Risiko eingegangen, das ich nicht auf mich genommen hätte, wäre die Alternative, nämlich dieses Buch nicht zu schreiben, nicht noch viel schlimmer gewesen. Meine Schreckensvision ist, dass manche selektiv lesen und dann zu der vollkommen falschen und von mir niemals beabsichtigten Schlussfolgerung gelangen, ich sei gegen psychiatrische Diagnostik und Behandlung. Meine Kritik an falsch und unzulänglich praktizierter Psychiatrie könnte dieser Interpretation Vorschub leisten; dabei würde aber völlig übersehen, dass ich ein leidenschaftlicher Verfechter der Psychiatrie bin, wenn sie nach den Regeln der Kunst ausgeübt wird. Meine Erfahrung mit dem DSM-IV hat mich gelehrt, dass jedes theoretisch mögliche Missverständnis in der Praxis höchstwahrscheinlich eintritt und dass jeder Autor, der an die Öffentlichkeit geht, nicht nur negative Konsequenzen aus dem richtigen Verständnis seiner Texte, sondern auch etwaige Folgen aus vorhersehbaren Verfälschungen zu fürchten hat. Von Scientologen und anderen vehementen Gegnern der Psychiatrie wurde ich bereits ebenso ausführlich wie falsch zitiert. Auf ähnliche Weise könnte dieses Buch missbraucht werden, um dringend hilfebedürftige Personen davon abzuhalten, sich Hilfe zu suchen. Angenommen, es brächen bestimmte Personen, die medizinische Unterstützung brauchen, infolge eines fundamentalen und verhängnisvollen Missverständnisses meines Anliegens ihre Therapie vorzeitig ab, und dies führte zu einem Rückfall in die Erkrankung, dessen Begleiterscheinung suizidales oder gewalttätiges Verhalten wäre: Ich wäre zwar nicht unmittelbar verantwortlich, hätte aber allen Grund zu Gewissensqualen.

Trotz solcher leider realistischen Bedenken habe ich mich entschlossen, dieses Buch zu veröffentlichen, denn der inflationäre Konsum von Psychopharmaka, wie wir ihn gegenwärtig erleben, stellt eine noch größere und noch unmittelbarere Gefahr dar. Im Idealfall bewirke ich zweierlei: Zum einen will ich Personen, die keine psychiatrische Behandlung brauchen, aufrütteln und zum Verzicht auf Psychopharmaka bringen; zum anderen aber will ich jene, die tatsächlich krank sind, ermutigen, mit einer Therapie zu beginnen und dabeizubleiben. Meine Kritik richtet sich nur gegen die Exzesse der Psychiatrie, nicht gegen ihr Herz und ihre Seele. »Rettung der Normalität« und »Rettung der Psychiatrie« sind in Wahrheit zwei Seiten ein und derselben Medaille. Die Psychiatrie muss davor bewahrt werden, dass sie sich überall dort hineindrängt, wo sie sich strikt zurückhalten sollte. Die große Bandbreite menschlichen Empfindens und Verhaltens muss gegen die übermächtigen Kräfte geschützt werden, die uns einreden wollen, wir seien alle krank.

TEIL I

NORMALITÄTIM BELAGERUNGSZUSTAND

1

WAS IST NORMAL UND WAS NICHT?

Der Teich der Normalität schrumpft

zu einer kleinen Pfütze zusammen.

Til Wykes  

Ehe wir uns ihrer Rettung zuwenden, müssen wir uns mit der Frage befassen, was Normalität überhaupt ist. Vielleicht halten Sie »normal« für ein durchaus zugängliches, dank seiner Popularität selbstverständliches, in seiner Überlegenheit gegenüber dem Krankhaften unangefochtenes Wort. Normalität zu definieren sollte leicht sein, normal zu sein ein bescheidener Ehrgeiz. Weit gefehlt. Die Normalität wurde von allen Seiten schwer bedrängt und ist bereits erheblich dezimiert. Lexika liefern keine befriedigende Definition, Philosophen streiten über ihre Bedeutung, Statistiker und Psychologen loten sie unermüdlich aus, bekommen sie aber nicht zu fassen, Soziologen bezweifeln ihre Universalität, Psychoanalytiker ihre Existenz; und Ärzte des Leibes und der Seele benagen sie eifrig von den Rändern her. Die Normalität verliert jegliche Hebelwirkung – wenn wir nur tief genug bohren, wird wahrscheinlich jeder am Ende als mehr oder weniger »unnormal« dastehen. Ich will mit diesem Buch versuchen, den stetigen, unerbittlichen Angriff gegen das, was normal ist, aufzuhalten – um es zu retten.

Wie definiert das Lexikon, was normal ist?

Das Wort »normal« tritt in vielen verschiedenen Arenen auf. Seinen Ursprung hat es im Lateinischen, wo es das Winkelmaß des Zimmermanns bezeichnete, und heute noch ist »das Normal« in der Messlehre ein Vergleichsgegenstand oder -gerät zur Kalibrierung anderer Messgeräte. In seiner weiteren Entwicklung nahm das Wort als Adjektiv beliebig viele vernünftige Nebenbedeutungen zur Bezeichnung alles Regelmäßigen, Üblichen, Maßgebenden, Typischen, Durchschnittlichen, Gewöhnlichen und Gewohnten, Erwarteten, Universalen, Allgemeinen, Übereinstimmenden, Konventionellen, Korrekten und Herkömmlichen an. Von hier aus war es nur noch ein Katzensprung, bis »normal« zur Beschreibung störungsfreien biologischen und psychologischen Funktionierens herangezogen wurde: »Normal« heißt »nicht körperlich krank, nicht seelisch krank«.1

Die lexikalischen Definitionen von »normal« sind alle vollkommen und haarsträubend tautologisch: Um festzustellen, was normal ist, muss man erst wissen, was unnormal ist. Und raten Sie, wie »unnormal« in den Wörterbüchern definiert wird: Es ist alles, was nicht normal oder regelmäßig oder natürlich oder typisch oder gewöhnlich ist oder von einer Norm abweicht. Ein hübscher Zirkelschluss – beide Begriffe werden ausschließlich als das Negativ des jeweils anderen definiert, eine echte Definition gibt es nicht und folglich auch keine klare Definitionsgrenze zwischen beiden.

Das komplementäre Begriffspaar »normal« und »unnormal« ist uns vertraut. Instinktiv ahnen wir, was generell darunter zu verstehen ist, aber wenn es spezifisch wird, fällt uns eine genauere Bestimmung naturgemäß schwer. Es gibt keine universale und übergreifende Definition, mit deren Hilfe wir das Problem der richtigen Einordnung lösen könnten.

Was meint die Philosophie?

Erstaunlich wenig. Die Philosophie hat sich endlos bemüht, die tieferen Bedeutungen existenzieller Begriffe wie Einbildung und Wirklichkeit zu durchleuchten, hat der menschlichen Erkenntnis, der menschlichen Natur nachgespürt, hat Wahrheit, Moral, Gerechtigkeit, Pflicht, Liebe, Schönheit, Größe, Güte, Böses, Sterblichkeit, Unsterblichkeit, Naturgesetz und so weiter analysiert. Im philosophischen Alltagsgeschäft ist »normal« einfach untergegangen – vielleicht war es zu gewöhnlich und zu uninteressant, um tieferes philosophisches Nachdenken zu rechtfertigen.

Die Philosophen der Aufklärung machten dieser Vernachlässigung ein Ende, indem sie sich den alltäglicheren Problemen zuwandten. Der Utilitarismus lieferte die erste und nach wie vor einzige philosophische Anleitung, wie und wo eine Grenze zwischen »Normalität« und »psychischer Störung« zu ziehen sei. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass »normal« keine universelle Bedeutung hat und mit philosophischer Deduktion niemals präzise definiert werden kann, denn was normal ist, hängt von der Interpretation des Individuums ab, und die wiederum verändert sich in Abhängigkeit von der Zeit, dem Ort, der Kultur. Daraus folgt, dass nicht abstrakte Überlegung die Grenze zwischen »normal« und »psychischer Störung« bestimmen darf, sondern ein Abwägen zwischen den positiven und negativen Konsequenzen, die sich aus den jeweiligen Entscheidungen ergeben. Man suche stets »das größte Glück der größten Zahl«, postuliert Jeremy Bentham, Vater des Utilitarismus.2 Man treffe seine Entscheidungen danach, was erwiesenermaßen am besten funktioniert.

Das »größte Glück der größten Zahl« klingt auf dem Papier sehr gut, aber wie misst man diese Zahlen, und wie entscheidet man, was überhaupt »Glück« ist? Es ist kein Wunder, dass der Utilitarismus in Deutschland, wo ihm Hitler einen so schlechten Ruf eingetragen hat, derzeit am wenigsten populär ist. Im NS-Regime war ein barbarisches Verhalten, das vorher und nachher als fraglos abnorm galt, für die deutsche Bevölkerung statistisch normal: Utilitaristische Erwägungen rechtfertigten es als notwendig, um für die Herrenrasse das größtmögliche Glück herbeizuführen. Statistische »Normalität« (gestützt auf die normative Kraft des Faktischen) übertrumpfte zeitweilig in verhängnisvoller Weise die verfügte »Normalität« (die Welt, wie sie sein sollte beziehungsweise traditionell gewesen war).

Trotz des Vorbehalts, dass Utilitarismus in den falschen Händen für positive Werte blind und von schlechten Werten entstellt sein kann, ist er nach wie vor unser bester, womöglich einziger philosophischer Wegweiser, wenn wir uns an die schwierige Aufgabe heranwagen, Grenzen zwischen dem psychisch »Normalen« und dem psychisch »Abnormen« zu ziehen. Von diesem Prinzip ließen wir uns bei der Erstellung des DSM-IV leiten.

Können Statistiken Normalität vorgeben?

Nachdem der Begriff der Normalität die Sprachwissenschaft und die Philosophie verwirrt hatte, zwang er als Nächstes die Statistik in die Knie. Das mag überraschend sein, scheint doch die Statistik bestens gerüstet, um Normalität zu definieren, weil sie, statt Wortspielereien zu betreiben, Zahlen analysiert. Die Antwort könnte die wunderbar symmetrische Form der Glockenkurve geben. Wann immer Sie etwas messen, werden Sie niemals ein einziges, absolut perfektes und reproduzierbar richtiges Ergebnis erhalten. Immer tritt ein größerer oder kleinerer Messfehler auf, der verhindert, dass wir bei jeder Messung zum selben Resultat gelangen – egal, wie gewissenhaft wir uns bemühen und wie exakt unser Messstab ist. Es ist uns grundsätzlich unmöglich, das Wesen von irgendetwas mit absoluter Präzision zu bestimmen. Aber wenn wir uns die Mühe machen, häufig genug zu messen, tritt etwas Bemerkenswertes ein: Auch wenn kein Messwert absolut genau oder vorhersehbar ist, ergibt die Summe sämtlicher Messwerte die absolut vorhersagbarste und schönste Kurve: die Glocke. Das häufigste Messergebnis, der goldene Mittelwert, bildet den Scheitelpunkt der Glockenkurve, während die immer weniger wahrscheinlichen beziehungsweise selteneren zu beiden Seiten der Glocke abwärts laufen.

Die Glockenkurve sagt uns viel über das Leben – die Natur und der Mensch folgen weitestgehend dieser Form und weichen in vorhersehbarer Weise vom Mittelwert ab. Anhand von gewaltigen und mühsam zusammengetragenen Datensätzen wurden die Verteilungen jeder denkbaren Eigenschaft im Universum gemessen. Wundersamerweise ergibt sich aus diesem scheinbaren Zahlenwirrwarr immer dieselbe Kurve, die sogenannte »Normalverteilung«.

Der Mensch unterscheidet sich in jeder körperlichen, seelischen, geistigen Eigenart, in seiner Einstellung und in seinem Verhalten von seinen Mitmenschen, aber unsere Verschiedenheit ist durchaus nicht zufällig. Wir ordnen uns in jedem beliebigen Merkmal, das in der Bevölkerung allgemein vorhanden ist, zu einer Normalverteilung in Form einer Glockenkurve. IQ, Größe, Gewicht, Merkmale der Persönlichkeit gruppieren sich um eine goldene Mitte, und die Ausreißer ordnen sich symmetrisch auf beiden Seiten an.

Die ökonomischste und systematischste Zusammenfassung dieses Phänomens ist die sogenannte »Standardabweichung«, ein Begriff, mit dem in der Statistik die durchschnittliche Entfernung der Messergebnisse vom Mittelwert angegeben wird. Wenn Sie mit Ihrer Körpergröße innerhalb einer einfachen Standardabweichung vom Mittelwert liegen (in den USA bei Männern 1,77Meter, bei einfacher Standardabweichung von 7,6Zentimetern), befinden Sie sich im sehr häufigen Mittelfeld, in das sich 68Prozent der Bevölkerung einordnen – 34Prozent sind etwas größer als der absolute Durchschnittsmann, nämlich bis 1,85Meter, und 34Prozent etwas kleiner: bis zu 1,70Meter. Sind Sie sehr viel größer oder sehr viel kleiner, werden Sie allmählich zum seltenen Vogel – dort draußen in den äußeren Regionen zu beiden Seiten der Glockenkurve wird es einsamer: Nur 5Prozent der Bevölkerung weisen eine mehr als zweifache Standardabweichung auf – in dieser abgelegenen Region haben wir die 2,5Prozent der wirklich großen Männer (über 1,93Meter) und die 2,5Prozent der kleinen Männer (unter 1,62Meter), und diese bilden den äußersten rechten und den äußersten linken Rand der Glocke, weit abseits der beliebten goldenen Mitte. Gehen wir noch einen Schritt weiter zur dreifachen Standardabweichung: Hier befinden wir uns auf dem spärlich besiedelten Gebiet mit den sehr wenigen Männern über 2Meter oder unter 1,55Meter.3

Das bringt uns zu unserer Frage zurück: Können wir die Statistik auf einfache und präzise Weise einsetzen, um psychische Normalität zu definieren? Kann die Glockenkurve ein wissenschaftlicher Wegweiser sein, der uns zu bestimmen hilft, wer psychisch normal ist und wer nicht? Warum nicht?, lautet die theoretische Gegenfrage. In der Praxis heißt es leider: Auf keinen Fall! In der Theorie könnten wir willkürlich entscheiden, dass diejenigen unter uns, die am schlimmsten betroffen sind (5 oder 10 oder 30Prozent, oder wie viel auch immer), als psychisch krank gelten und der Rest als normal. Dann könnten wir uns Erhebungskriterien ausdenken, jeden und jede begutachten und bewerten, Kurven zeichnen, Grenzlinien festsetzen und auf diese Weise die Kranken bestimmen. In der Praxis funktioniert das nicht. Es gibt einfach zu viele statistische, kontextabhängige und wertbezogene Urteile, die uns einen Strich durch die simple statistische Rechnung machen.

Erstens: Die Personen in unmittelbarer Nähe der Grenze, ob auf der einen oder der anderen Seite, ähneln einander sehr – völlig unmöglich, den einen krank zu nennen und den anderen gesund. Ob der eine 1,90Meter misst und der andere 1,93Meter – beide sind groß und müssen an manchen Türrahmen den Kopf einziehen. Und welchen Prozentsatz sollten wir wählen? Wenn es in einem Schwellenland nur wenige psychiatrische Kliniken gibt, erscheinen nur die Schwerstgestörten als psychisch krank – vielleicht müssen wir dort die Grenze so ziehen, dass nur 1Prozent der Bevölkerung nicht »normal« ist. In New York hingegen, wo die Therapeutendichte sehr hoch ist, wird die Schwelle, ab der eine Störung beginnt, radikal gesenkt und die Grenze dann vielleicht bei 30Prozent oder mehr festgelegt … Der Willkür sind also Tür und Tor geöffnet. Die hübsche Kurve kann uns auf keinen Fall sagen, wo wir die Linie ziehen sollen.

Es gibt keine einfache Richtlinie, anhand deren wir bestimmen könnten, wie viele von uns unnormal sind; damit müssen wir uns abfinden. Die Glockenkurve offenbart uns viel über die Verteilung von allem Möglichen, von Quarks bis Koalas, aber sie gibt uns nicht vor, wo das Normale endet und das Abnorme beginnt. Ein tobender Psychotiker ist vom Mittelwert weit genug entfernt, um auch von einem totalen Laien als psychisch krank erkannt zu werden, aber woher sollen wir wissen, ob alltägliche Ängste oder Trauer schlimm genug sind, um als psychische Störung zu gelten? Eines scheint allerdings vollkommen klar: Statistisch betrachtet ist es absurd, den Begriff der Störung so elastisch zu fassen, dass er sich bis nahe an den Durchschnitt dehnt. Sollten nicht die meisten Menschen normal sein?

Was sagt der Arzt über Normalität?

Bis zum Ende des 19.Jahrhunderts galt in der Medizin das Dogma, dass Gesundheit und Krankheit vom Verhältnis der vier Körpersäfte – Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle – zueinander bestimmt seien. Diese Auffassung erscheint uns heute bizarr, und sie ist ja auch längst widerlegt; tatsächlich aber war die Humoralpathologie oder »Viersäftelehre« eine der hartnäckigsten Ideen der Menschheit (sie hielt sich viel länger als die Überzeugung, dass die Sonne sich um die Erde dreht). Hundert Generationen der klügsten Menschen der Welt glaubten an sie, und sie beherrschte die Ausübung der Medizin seit Hippokrates um 400v.Chr. Die Garantie für Normalität waren vollkommenes Gleichgewicht und Harmonie der Körpersäfte; es durfte kein Überschuss und kein Mangel herrschen. Erst im späten 19.Jahrhundert verwiesen bahnbrechende Erkenntnisse in der Physiologie, der Pathologie und der Hirnforschung die Humoralpathologie endlich in die Wunderkammer verstaubter medizinischer Kuriositäten.4

Aber trotz ihrer unbestreitbaren Errungenschaften hat die moderne medizinische Wissenschaft niemals eine brauchbare Definition von »Gesundheit« oder »Krankheit« geliefert, weder im physischen noch im psychischen Bereich. Viele haben es versucht, gelungen ist es niemandem. Nehmen wir zum Beispiel die Definition der Weltgesundheitsorganisation WHO: »Gesundheit ist ein Zustand vollständigen physischen, geistigen und sozialen Wohlbefindens, der sich nicht nur durch die Abwesenheit von Krankheit oder Behinderung auszeichnet.«5 Wer von uns würde es wagen, sich als gesund zu bezeichnen, wenn die Messlatte derart unmöglich hoch hängt? Gesundheit taugt nicht mehr als Begriff, wenn sie so unerreichbar ist, dass jeder Mensch als zumindest teilweise krank gelten muss. Außerdem ist diese Definition gespickt mit kultur- und kontextabhängigen Werturteilen. Wer soll festlegen, was »vollständiges« physisches, geistiges und soziales Wohlbefinden ist? Ist jemand krank, weil ihm von schwerer Arbeit der Rücken wehtut oder weil er eine Enttäuschung erlitten hat und traurig ist oder weil in seiner Familie eine Fehde herrscht? Und sind die Armen naturgemäß kränker, weil sie weniger Möglichkeiten haben, das »vollständige Wohlbefinden« herzustellen, das die Voraussetzung für »Gesundheit« ist?

Realistischere moderne Definitionen von Gesundheit setzen den Schwerpunkt nicht auf die anzustrebende Vollkommenheit des Lebens, sondern auf die Abwesenheit von bestimmbarer Krankheit. Das ist besser, aber eine klare Definition von körperlicher Krankheit fehlt nach wie vor, und auf jeden Fall fehlt die Dimension der Unabhängigkeit von Zeit, Ort und Kultur. Wie entscheiden wir, was in einem Kontinuum wie zum Beispiel dem Blutdruck oder dem Cholesterin- oder Blutzuckerspiegel, der Knochendichte normal ist? Soll ein langsam wachsendes Prostatakarzinom bei einem alten Menschen diagnostiziert und aggressiv als Krankheit behandelt werden, oder lässt man es lieber in Ruhe, weil Nichtbeachtung womöglich viel weniger gefährlich ist als Behandlung? Ist die im Alter erwartbare Vergesslichkeit bereits Demenz oder das unvermeidliche degenerative Schicksal eines betagten Gehirns? Ist ein sehr kleinwüchsiges Kind einfach nur klein oder braucht es Wachstumshormone?6

Warum kein Labor mithilfe von Tests Normalität in der Psychiatrie definiert

Das menschliche Gehirn ist das bei Weitem komplizierteste Gebilde im bekannten Universum. Es enthält rund 100Milliarden Neuronen, von denen jedes mit 1000 anderen Neuronen verknüpft ist, was insgesamt 100Billionen Synapsenverbindungen ergibt. Jede Sekunde durchlaufen rund 1000 Signale jede Synapse; jedes Signal wird von 1500 Proteinen gesteuert und von einem bis mehreren Dutzend Neurotransmittern übertragen.7 Noch unbegreiflicher ist die Gehirnentwicklung – ein Wunder kompliziert choreografierter sequenzieller Nervenzellenwanderungen. Jedes Neuron muss irgendwie seinen Platz finden und die richtigen Verbindungen eingehen. Angesichts der unheimlich vielen Schritte und der möglichen Fehler, die dabei passieren können, würden Sie vielleicht auf Murphys Gesetz und die Chaostheorie setzen und dem Gehirn geringe Chancen einräumen, dass es überhaupt normal funktioniert. Das Sonder- und Wunderbare ist, dass wir eben doch so gut funktionieren – es ist das unwahrscheinliche Ergebnis einer überaus komplexen, bis ins Feinste ausgeklügelten DNA-Umsetzung, die Milliarden und Billionen Schritte durchlaufen muss. Aber manches kann eben doch schiefgehen, in jedem hochkomplexen System kommen gelegentliche chaotische Ausrutscher vor. Es gibt verschiedene Arten von Pannen, deren Ergebnis unsere Krankheiten sind. Die Vielfalt der Fehlerquellen bringt es mit sich, dass die medizinische Forschung selten große Sprünge macht.

Die zwei spannendsten Fortschritte in der gesamten Geschichte der Biologie sind die Aufdeckung der Funktionsweise des menschlichen Gehirns und die Entschlüsselung des genetischen Codes. Niemand hätte vorhersagen können, dass wir es so schnell so weit bringen würden. Aber es ist auch eine große Enttäuschung eingetreten. Zwar haben wir viel über die Funktionsweise des Gehirns gelernt, aber wie sich die Grundlagenforschung auf die klinische Psychiatrie übertragen lässt, wissen wir noch nicht. Die effizienten neuen Methoden der Molekularbiologie, der Genetik und der Bildgebung haben noch keine Labortests für Demenz oder Depression, für Schizophrenie, bipolare Störung oder Zwangsstörungen oder irgendwelche anderen psychischen Störungen hervorgebracht. Die Erwartung, dass sich psychische Störungen durch ein einfaches Gen oder einen Neurotransmitter oder irgendeine Verschaltung erklären ließen, hat sich als naiv und illusorisch erwiesen.

Noch immer haben wir in der Psychiatrie keinen einzigen Labortest. Keine der vielversprechenden biologischen Erkenntnisse führte je zu einem diagnostischen Test, denn leider besteht innerhalb der psychischen Störungen immer mehr Variabilität bei den verschiedenen Ausprägungen als zwischen der jeweiligen Störung und dem Normalzustand beziehungsweise anderen psychischen Störungen. Das Gehirn hat uns keine niedrig hängenden Trauben beschert – Tausende Studien über Hunderte vermeintliche biologische Marker haben bis heute nichts ergeben. Warum diese klaffende Diskrepanz zwischen so viel Wissen und so wenig praktischer Anwendbarkeit? Wie der Neurobiologe Roger Sperry in seiner Rede zur Verleihung des Nobelpreises sagte: »Je mehr wir erfahren, je mehr wir die einzigartige Komplexität jedes einzelnen Intellekts erkennen, desto zwingender wird die Schlussfolgerung, dass die Einzigartigkeit der Verknüpfungen in unserem Gehirn die Individualität von Fingerabdrücken oder Gesichtszügen vergleichsweise grob und schlicht dastehen lässt.«8 Die zugrunde liegenden heterogenen Mechanismen zu entschlüsseln ist eine Aufgabe, die viele Forscherleben füllen wird. Klar ist, dass es nicht nur einen Weg zur Schizophrenie gibt; es könnten Dutzende sein, vielleicht Hunderte oder Tausende.

Das Gehirn offenbart seine Geheimnisse nur langsam und in sehr kleinen Portionen. Jede spannende Entdeckung erweist sich bald als Quälgeist – einfache Antworten gibt sie nicht, selten lässt sie sich bei der nächsten Studie im Ganzen reproduzieren, meist deckt sie nur neue vielschichtige Komplexitäten auf, statt sie zu erklären. Es ist eine sehr langsame Plackerei im Kleinen, niemals gelingt ein großer Sprung nach vorn. Solange wir nicht die vielfältigen Mechanismen des Gehirns verstehen, die hinter den Psychopathologien aller Art stehen, haben wir keine biologischen Marker, anhand deren sich Normalität von psychischer Störung abgrenzen ließe. Dazu kommt, dass es keinen Newton oder Einstein oder Darwin geben wird, der in der Biologie eine große vereinheitlichte Theorie von Normalität und psychischer Störung aufstellt – nur geduldige Wissenschaftler, von denen jeder jahrzehntelang daran arbeitet, ein einzelnes, winziges Teilchen eines unvorstellbar riesigen, aus Billionen Teilen bestehenden Puzzles aufzuklären. Die Ursachen psychischer Störungen werden uns, wenn sie aufgedeckt werden, nur einen kleinen Prozentsatz aller Fälle erklären (wie beim Brustkrebs, wenn zwei bestimmte Gene nachweisbar sind). Der erste echte Schritt in diese Richtung sind Labortests zur Diagnostizierung der Alzheimer-Krankheit, die vielleicht in den nächsten Jahren zu erwarten sind.

Das Fehlen biologischer Tests ist ein gewaltiger Nachteil für die Psychiatrie. Es bedeutet, dass alle unsere Diagnosen auf subjektiven Urteilen beruhen, die naturgemäß fehlbar sind. Es ist, als müssten wir Lungenentzündung diagnostizieren, ohne die Viren beziehungsweise Bakterien, die Erreger der unterschiedlichen Arten von Lungenentzündung, nachweisen zu können.

Kann die Psychologie helfen?

Leider nein. Wir können psychologische Tests durchführen, bis unseren übernächtigten Probanden der Kopf raucht, ohne dass wir darum der Grenze zwischen normal und abnorm auch nur einen Schritt näher kommen. Bei fast allen Tests, mit denen Psychologen arbeiten, liegt dies daran, dass die Verteilung der Ergebnisse nach unserer altbekannten Glockenkurve verläuft. Zwar erfahren wir mit bemerkenswerter Präzision, in welchem Verhältnis eine betreffende Person zu ihrer Vergleichsgruppe steht, was nicht wenig ist, denn es ist immerhin von beträchtlichem Vorhersagewert, wenn wir die Standardabweichung vom Mittelwert kennen. Aber durch Testen allein wissen wir noch lange nicht, wo wir die Trennlinie zur Abgrenzung der Normalität ziehen sollen. Darüber bestimmt nicht das Testergebnis, sondern der Kontext.

Nehmen Sie die Intelligenztests. Bei einer zweifachen Standardabweichung unterhalb des Mittelwerts 100 haben Sie einen IQ von 70, der Ihnen prophezeit, dass Sie wahrscheinlich allerlei Schwierigkeiten in der Schule und im Leben haben werden. Mit zwei Standardabweichungen über dem Mittelwert kommen Sie auf 130 und können sich auf wahrscheinlichen akademischen und beruflichen Erfolg freuen. Aber es gibt keinen Grund für die Annahme, dass sich ein IQ von 70 von einem IQ 71 oder sogar 75 signifikant unterscheidet.9 Beim Test müssen wir ohnehin mit einem Messfehler von fünf Punkten rechnen – zahlreiche Faktoren können ein optimales Abschneiden beim Test verhindert haben, und manche Menschen agieren im Leben viel besser oder auch viel schlechter, als man allein aufgrund ihres IQs erwarten würde.

Einen IQ 70 als maßgebende Trennlinie für eine eindeutig gestörte geistige Leistungsfähigkeit zu wählen, wäre nichts als eine willkürliche Übereinkunft, die keine weitere Bedeutung hat, als dass sie für 2,5Prozent der Bevölkerung zutrifft. Diese Personen könnten dann für staatliche Unterstützung und Zuwendungen infrage kommen, die ihren nächsten, fast identischen Nachbarn verweigert werden. Aber an der Trennlinie der zweifachen Standardabweichung bei IQ 70 ist nichts Unantastbares: In der realen Welt bedeutet sie nichts. Eine etwas höher oder etwas tiefer gezogene Grenze wäre je nach der Situation ebenso plausibel oder vielleicht sogar sinnvoller. Stünden mehr Mittel zur Verfügung, so könnte man ebenso gut besondere Leistungen auch Menschen mit einem IQ von über 70 anbieten. In bestimmten Umgebungen wiederum kommen Individuen mit IQ 70 bestens zurecht. Und wer sagt überhaupt, dass die zweifache Standardabweichung die Trennlinie sein soll? Warum nicht die einfache oder dreifache oder anderthalbfache? Die Entscheidung ist immer beliebig und nicht statistisch, sondern allein vom Kontext her begründet.

Bei der praktischen Umsetzung geht das verloren. Ein ärgerliches Beispiel in jüngerer Zeit folgte dem Spruch des Obersten Bundesgerichts der USA, wonach die Vollstreckung der Todesstrafe an geistig behinderten Personen verfassungswidrig ist: Fortan hängt die Entscheidung über Leben oder Tod von der absurden künstlichen »Unterscheidung« zwischen IQ 70 und IQ 71 ab.10

Was wäre, wenn wir in der Psychiatrie die Trennlinie bei der zweifachen Standardabweichung (2,5Prozent der Bevölkerung) zögen und aus heiterem Himmel entschieden, dass jemand so weit von der goldenen Mitte psychischer Gesundheit abweichen muss, ehe er als psychisch krank diagnostiziert werden kann? Psychiater und Pflegende in der Psychiatrie wären bald arbeitslos und müssten staatliche Unterstützung beantragen. Vor hundert Jahren beschränkte sich die Psychiatrie tatsächlich auf die in Spitälern untergebrachten Schwerstkranken und die sehr wenigen Pfleger, die sich ihrer annahmen. Wir haben uns seither in der Glockenkurve viel weiter zur Mitte vorgearbeitet, sodass in den USA 20 bis 25Prozent der Bevölkerung derzeit als psychisch gestört gelten und von mehr als einer halben Million Menschen betreut werden. Um auf das Beispiel des psychologischen Tests zurückzukommen: Wir können Menschen sehr genau voneinander unterscheiden, auf keinen Fall aber können wir entscheiden, ob wir die Trennlinie zwischen dem Normalen und dem Unnormalen bei 2,5Prozent oder bei 25Prozent der Bevölkerung ziehen sollen.

Haben Soziologen die Antwort? Oder Anthropologen?

Leider auch nicht. Die Gepflogenheiten der Menschen rund um den Globus weichen viel zu weit voneinander ab, als dass sich ohne Weiteres sagen ließe, was eine ihnen allen gemeinsame Normalität sein könnte. Stellen Sie die rund eine Million Menschen, die während der Belagerung von Leningrad eher bereit waren zu verhungern, als gegen die Norm zu verstoßen und das leicht erhältliche Eiweiß zu essen, das Menschenfleisch liefert, dem völlig normalen Ureinwohner von Neuguinea gegenüber, der bis noch vor recht kurzer Zeit nicht lange gefackelt, sondern die Leiche seines jüngst verstorbenen Feindes gekocht oder sein Gehirn verspeist hat. Vor zweihundert Jahren lag das normale Heiratsalter weltweit (und liegt mancherorts auch heute noch) irgendwo in der Pubertät, was in unserer gegenwärtigen Gesellschaft als kriminell gilt. Bei der außerordentlich gestiegenen Lebenserwartung heutzutage ist es normal, in einem Alter zu heiraten, das der Mensch noch vor Kurzem oft gar nicht erlebte.

Kulturelle Universalien sind Ausnahmen: Es gibt nur wenige felsenharte Tabus, wie zum Beispiel Mord innerhalb der Sippe, Inzest, Verstöße gegen bestimmte Familienstrukturen. Kulturen unterscheiden sich nicht zuletzt deshalb so radikal in ihrer Auffassung von Normalität, weil sie sich sehr unterschiedliche Überlebensstrategien zurechtlegen mussten. Die geografisch isoliert lebenden Inuit zum Beispiel vermieden Inzucht, indem Ehefrauen vorbeikommenden Fremden als Bettgefährtinnen angeboten wurden. Im Gegensatz dazu dachten sich die Griechen der Antike und die modernen Araber die härtesten Einschränkungen aus, um weiblichen Kontakt mit fremden Genen bereits im Keim zu ersticken und damit sicherzustellen, dass die Vererbung von Eigentum garantiert der väterlichen Linie folgt. Aborigines decken ihren Eiweißbedarf unter anderem mit Ameisen, die sie als selbstverständliche Nahrungsquelle betrachten – während bei einem Bewohner von Los Angeles, der Ameisen verspeist, wahrscheinlich die im DSM als »Pica-Syndrom« aufgeführte Essstörung diagnostiziert würde. Und der Kontext menschlichen Verhaltens kann alles bedeuten – er macht einen Mord nicht nur normal, sondern heldenhaft, wenn er an bedrohlichen Außenseitern verübt wird; innerhalb des eigenen Stammes aber ist er verabscheuenswert und abnorm.

Auch innerhalb einer bestimmten Zeitphase, eines bestimmten Ortes gibt es widerstreitende Normen. Émile Durkheim11 begründete vor mehr als hundert Jahren die Soziologie mit faszinierenden Statistiken, aus denen die vorhersehbare Divergenz zwischen dem moralischen und dem statistischen Normalen hervorgeht. Alle Gesellschaften verbieten und ahnden Verbrechen, aber aus keiner sind sie wegzudenken – aus statistischer Sicht völlig normal, aus juristischer Sicht völlig abnorm. Gesellschaften verbieten auch gern den Selbstmord, doch ungeachtet des Umstandes, dass der Freitod die privateste Entscheidung des Menschen ist, ist in allen Ländern die Selbstmordrate bemerkenswert konstant. Skrupellosigkeit mag bei Gang-Mitgliedern ebenso geschätzt sein wie bei Unternehmenschefs, aber sie nimmt jeweils unterschiedliche Formen an und wird sehr verschieden belohnt beziehungsweise bestraft.

Darüber hinaus sorgen angeborene Veranlagungen für unterschiedliche Tendenzen bei Geschlechternormen. Männer sind eher geneigt, um Liebe und Ruhm zu kämpfen – was im Einklang mit ihrem existenziellen Kampf um Zugang zu Frauen, ihrer herausragenden Rolle im Krieg mit anderen Stämmen, mit den Erfordernissen der Jagd steht. Frauen wiederum scheinen zu einem höheren Prozentsatz eine angeborene Neigung zur Kinderpflege und zum Sammeln von Nahrung zu haben. Aber was männliches und weibliches Verhalten betrifft, sind die individuellen und kulturübergreifenden Unterschiede immens und weit von jeder festgelegten Norm entfernt.

Das heißt, dass der Begriff »normal« zumindest vorläufig (bis Facebook es schafft, den Planeten zu einem einzigen umfassenden, stumpfsinnigen sozialen Netzwerk einzuebnen) ein soziologisches Trugbild ist. Für Normalität gibt es keine Norm.

Was ist mit Freud?

Freud war ein überaus gescheiter Bursche, der zu Lebzeiten überschätzt war und zur Strafe dafür heute außerordentlich unterschätzt wird. Seine Erkenntnisse über die Funktionsweise des Gehirns waren nicht immer zutreffend, aber mit seinem Verständnis für die Macht angeborener, unbewusster Triebe als Motivation der erhabensten Anwandlungen ebenso wie des banalsten Allerweltsverhaltens traf er mit Sicherheit den Nagel auf den Kopf. Mit Leidenschaft ging er den Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten in Träumen, Kunstwerken, Mythen und neurotischen und psychotischen Symptomen von Psychiatriepatienten auf den Grund. Alles durchdrang sich gegenseitig: Er benutzte Träume, um die Bedeutung von Symptomen zu entschlüsseln, benutzte Symptome, um Mythen zu durchleuchten, und anhand der Fantasien seiner Patienten interpretierte er Hamlet und Ödipus. Literatur und Mythos erklärten ihm seine Patienten, und die Krankheiten seiner Patienten wiederum halfen ihm, Literatur und Mythos zu erklären.

Das psychoanalytische Modell neigte zur Ganzheitlichkeit, es umfasste jeden Lebensbereich – mit einer bemerkenswerten Ausnahme: Für Normalität war eigentlich kein Platz. Freud sah uns gern alle im selben Boot sitzen, er machte keinen großen qualitativen Unterschied zwischen dem Künstler und dem Irren; beiden nähern wir uns im Übrigen allnächtlich im Traum. Wir alle unterdrücken verbotene Impulse, die nur darauf warten, sich in Träumen, Symptomen, Kunstwerken zu befreien – unterschiedlich sind wir nur im Verhältnis der Kräfte zueinander und in ihren Ausdrucksmitteln. Für Freud ist niemand so ganz normal – jeder hat etwas Neurotisches und könnte mehr Einsicht ins eigene Innere gebrauchen. Das Maximum, das jede erfolgreiche Therapie seiner Ansicht nach bewerkstelligen kann, ist die Umwandlung von neurotischem Elend in den Alltagsmissmut des Menschseins. Normalität gibt es für Freud gar nicht; keine Grenzlinie sagt uns, wann eine Behandlung erforderlich ist oder wann sie enden sollte.12 Das große, unausgesprochene Paradox des beschwerlichen Prozesses der Seelenzergliederung lautet, dass die besten Patienten jene sind, die eigentlich gar keine Behandlung bräuchten.

Auch »abnorm« ist schwer zu definieren

Proteus war der griechische Meeresgott, der jede beliebige Gestalt annehmen konnte; er wusste um die Schicksale der Menschen und kannte die Geheimnisse von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Aber es widerstrebte ihm, sein Wissen preiszugeben, und er entzog sich listig allen Fragern – es sei denn, es gelang jemandem, ihn im Schlaf zu erwischen und festzuhalten, während Proteus in rascher Folge verschiedene erschreckende, schwer fassliche Erscheinungen annahm. Nicht leicht, einen brüllenden Löwen festzuhalten, der sich plötzlich in fließendes Wasser verwandelt oder in einen wütenden Stier oder welche Gestalt auch immer! Proteus ist die Personifizierung alles Flüssigen, Schlüpfrigen, Unbestimmten, Veränderlichen – lauter Eigenschaften, die sich einer eindeutigen Bestimmung entziehen.

»Psychische Störung« und »Normalität« sind beide extrem proteische Begriffe – so gestaltlos, verschiedenartig und wandelbar, dass wir niemals in der Lage sein werden, eine klare Grenze zwischen ihnen zu ziehen. Um als psychische Störung definiert zu werden, muss ein Zustand im Allgemeinen von Verzweiflung, Behinderung, Dysfunktion, Kontrollverlust und/oder Benachteiligung begleitet sein. Das hört sich besser an, als es der praktischen Orientierung dienlich ist. In welchem Anteil müssen Verzweiflung, Behinderung, Dysfunktion, Kontrollverlust und Benachteiligung vorliegen, und von welcher Art müssen sie sein? Ich habe Dutzende Definitionen von psychischer Störung geprüft (und für das DSM-IV selbst eine verfasst), aber meiner Ansicht nach bietet keine auch nur die geringste Hilfe bei der Bestimmung, welche Leiden als psychische Störung betrachtet werden sollten und welche nicht, beziehungsweise bei der Feststellung, wer krank ist und wer nicht.13, 14, 15, 16, 17, 18

Da wir keine brauchbare Definition für eine psychische Störung haben, klafft ein Loch im Zentrum der psychiatrischen Klassifikation, woraus sich zwei heikle, nach wie vor unbeantwortete Fragen ergeben: Wie entscheiden wir, welche Störungen ins diagnostische Handbuch aufgenommen werden sollen? Wie entscheiden wir, ob eine bestimmte Person unter einer psychischen Störung leidet? Heißhungerattacken, die wir heute »Binge Eating« nennen, hießen früher Völlerei und waren eine Sünde; soll das jetzt eine psychische Störung sein? Ist die Vergesslichkeit im Alter eine Krankheit oder einfach eine Alterserscheinung? Ist Sex mit Minderjährigen einfach ein Verbrechen oder auch ein Zeichen von Wahnsinn? Wir haben ja nicht einmal eine allgemeine Definition dessen, was eine psychische Störung sein soll – wie sollen wir bei der Begutachtung eines Individuums entscheiden, ob die betreffende Person normal ist oder ein Patient; verrückt oder böse?19, 20

Die psychischen Störungen, die Eingang ins DSM fanden, verdanken ihren offiziellen Status keinem rationalen Ausschlussverfahren. Sie gelangten ins System, und sie sind geblieben – aus praktischer Notwendigkeit, Zufall, allmählicher Verwurzelung, Präzedenz und Trägheit; nicht weil sie einer Reihe von unabhängigen, abstrakten und universellen Definitionskriterien genügten.21 Kein Wunder also, dass die Störungen nach dem DSM ein ziemliches Sammelsurium ohne innere Logik sind und sich teilweise gegenseitig ausschließen. Manche psychischen Störungen beschreiben kurzzeitige Zustände, andere eine lebenslange Persönlichkeit; manche bilden eine innere Not ab, andere schlechtes Verhalten; manche stellen Probleme dar, die bei »normalen« Menschen selten bis nie auftreten, andere sind nur geringfügige Verschärfungen ganz alltäglicher Befindlichkeiten; manche spiegeln mangelhafte Selbstkontrolle, andere zu viel Selbstkontrolle; manche sind von der Person nicht zu trennen, andere sind kulturell bedingt; manche beginnen in frühester Kindheit, andere treten in einer späten Lebensphase auf; manche betreffen das Denken, andere die Gefühle, Verhaltensweisen, zwischenmenschlichen Beziehungen; manche scheinen eher biologisch zu sein, andere eher psychologisch oder sozial; manche werden von Tausenden Forschungsberichten gestützt, andere nur von einer Handvoll; manche scheinen eindeutig ins DSM zu gehören, andere hätten wegfallen können oder sollen; manche sind klar definiert, andere nicht; zudem finden permanente, komplexe Vertauschungen all dieser möglichen Unterschiede statt.

Ich mache gern den Scherz, dass die einzige Definition der psychischen Störung das sei, »was Kliniker behandeln, Forscher erforschen, Lehrer unterrichten und Versicherungen bezahlen« (»Kunst ist, was Künstler tun«). Leider ist diese praktische »Definition« dehnbar, tautologisch und potenziell eigennützig, weil sie, statt sie zu steuern, bestehenden Gewohnheiten in der psychiatrischen Praxis folgt. Je größer die Zahl der Kliniker, deren Gebiet die psychische Gesundheit ist, desto größer die Zahl der Lebensumstände, die nach und nach als Störungen definiert werden. Bei der ursprünglichen Erfassung der seelisch und geistig Erkrankten um die Mitte des 19.Jahrhunderts wurden nur sechs Störungen aufgeführt; heute sind es fast zweihundert. Offenbar hat die Gesellschaft ein bodenloses Fassungsvermögen – um nicht zu sagen: einen unersättlichen Hunger nach Neuprägungen psychischer Störungen, die alle neu auftretenden Sorgen benennen und rechtfertigen.22

Sind psychische Störungen Krankheiten, Mythen oder etwas anderes?

Manche radikalen Kritiker der Psychiatrie greifen eben diese Definitionsschwächen auf, um den Berufsstand insgesamt infrage zu stellen. Dass es so schwierig ist, eine klare Definition von psychischer Störung zu finden, ist für sie ein Beweis dafür, dass der Begriff als solcher keine brauchbare Bedeutung hat – wenn psychische Störungen keine anatomisch definierten Krankheiten sind, können sie nur »Mythen« sein, die zu diagnostizieren man sich gar nicht erst zu bemühen braucht. Dieser Standpunkt spricht besonders die Anhänger der Willensfreiheit an, deren Hauptanliegen es ist, die Wahlfreiheit des Patienten gegen die Fesseln und Fallstricke der Psychiatrie zu verteidigen. Sie treiben die »Rettung der Normalität« zu ihrem logischen Extrem, nämlich der extrem unlogischen Behauptung, dass jeder Mensch normal sei.23

Unterschreiben können dieses Postulat nur Theoretiker im Elfenbeinturm, die im wahren Leben nie mit psychischer Krankheit zu tun hatten, weder bei sich noch bei anderen. Für die Betroffenen, ob Patienten oder Pfleger, ist sie, so schwer sie auch zu definieren sein mag, schmerzliche Realität.24 Ein immer weiter gefasster Begriff von psychischer Störung, der jeglicher Normalität die Existenz abspricht, ist ebenso gefährlich wie das andere Extrem, die Idee einer allumfassenden Normalität, in der psychische Störungen nicht vorkommen.

Um das Wesen von psychischen Störungen zu begreifen und zu veranschaulichen, was sie sind und was nicht, vergleichen wir drei philosophisch unterschiedlich gesinnte Schiedsrichter im Baseball und sehen uns an, wie sie »Balls« und »Strikes« werten – schließlich lässt sich die gesamte Erkenntnistheorie weitgehend auf die auseinandergehenden Meinungen darüber reduzieren, inwieweit wir überhaupt in der Lage sind, die Wirklichkeit wahrzunehmen.

Erster Schiedsrichter: »Es gibt Balls, und es gibt Strikes, und ich sage sie so an, wie sie sind.«

Zweiter Schiedsrichter: »Es gibt Balls, und es gibt Strikes, und ich sage sie so an, wie ich sie sehe.«

Dritter Schiedsrichter: »Es gibt keine Balls und keine Strikes, solange ich sie nicht ansage.«

Schiedsrichter 1 hält psychische Störungen für echte »Krankheiten«, Schiedsrichter 3 für überspannte »Mythen«; für Schiedsrichter 2 sind sie irgendetwas dazwischen – nützliche Konstrukte, die nicht mehr (aber auch nicht weniger) als die beste derzeitige Vermutung sind, wie wir psychiatrische Leiden einordnen sollen.25

Schiedsrichter 1 hat großes Vertrauen in unsere Fähigkeit, das wahre Wesen der Dinge zu erkennen. Er ist überzeugt, dass die wissenschaftliche Forschung den psychischen Störungen bald ihre Geheimnisse entreißen wird. Diesem Optimismus hingen bis vor etwa fünfzehn Jahren die meisten Vertreter der biologischen Psychiatrie an, die jedoch rasch an Boden verloren hat und heute nur noch wenige eingefleischte Anhänger um sich schart. Milliarden Dollar wurden in die Forschung investiert, erbrachten aber keinen überzeugenden Nachweis, dass eine psychische Störung, gleich welcher Art, eine eigenständige, abgrenzbare »Krankheitsentität« mit einer einheitlichen Ursache ist.26, 27, 28 Es wurden Dutzende verschiedener Gene »gefunden«, die als Kandidaten infrage kamen, doch in Anschlussstudien erwiesen sich alle als Katzengold. Psychische Störungen sind im Erscheinungsbild und in ihrer Entstehung viel zu heterogen, als dass sie als einfache Krankheiten bezeichnet werden könnten; stattdessen wird sich jede unserer gegenwärtig definierten Störungen am Ende als viele verschiedene Krankheiten erweisen. Zumindest vorläufig hat Schiedsrichter 1 nicht Balls, sondern Strikes angesagt.29, 30

Schiedsrichter 3 vertritt genau den entgegengesetzten Standpunkt, nämlich den skeptischen und solipsistischen Zweifel, ob der Mensch jemals imstande sei, eine proteische Realität zu erfassen und Dinge so zu erkennen, wie sie wirklich sind. Bezogen auf psychische Störungen würde er argumentieren, dass sie nichts weiter als willkürliche und bisweilen ungesunde »Mythen« sind, die ungerechterweise die Wahlfreiheit von Psychiatriepatienten einschränken. Sorgen macht ihm der Abhang, auf dem auch andere anfällige Gruppen ins Rutschen geraten könnten.31, 32 Seine Sorge ist tatsächlich nicht unbegründet: In den USA wird die psychiatrische Diagnostik derzeit missbraucht, um Vergewaltiger einzusperren, in China hingegen richtet sie sich gegen Bauern, die sich über die Korruption beschweren, und in der Sowjetunion war sie ein Vorwand, um die Dissidenten in den Kliniken verschwinden zu lassen.

Natürlich müssen wir uns gegen den Missbrauch der Psychiatrie im Dienst der Justiz oder eines Regimes mit allen Mitteln zur Wehr setzen – aber Schiedsrichter 3 schießt über das Ziel hinaus. Psychische Störungen sind keine Mythen. Schizophrenie ist zwar keine eigenständige Krankheitseinheit (wie beispielsweise ein Gehirntumor oder ein Schlaganfall), aber sie erzeugt ein tiefgehendes und anhaltendes »dis-ease«, ein Un-Behagen im wahrsten Sinn, nämlich Leiden und Behinderung. Sie hat ein klar erkennbares Symptommuster, kann verlässlich diagnostiziert werden, zeigt eine genetische Disposition, lässt sich mittels bildgebender Verfahren im Gehirn nachweisen, hat einen vorhersagbaren Verlauf und reagiert auf spezifische Behandlung. Schizophrenie ist sehr real und keine psychiatrische Erfindung für die Erkrankten und ihre Angehörigen.

Den besten Zugang zu der schwer fassbaren Wirklichkeit hat Schiedsrichter 2 – paradoxerweise deshalb, weil er versteht und akzeptiert, dass wir sie nur zum Teil erkennen können. Natürlich ist die Realität »proteisch«, verändert ununterbrochen ihre Gestalt und ist kaum dingfest zu machen. Natürlich klafft eine sehr große Lücke zwischen der äußeren und der inneren Wirklichkeit: den Dingen, wie sie sind, und unserer Wahrnehmung von ihnen; und das durchaus nicht nur in der Psychiatrie! Nur 4Prozent unseres bekannten Universums nehmen wir unmittelbar mit unseren Sinnen wahr – der Rest ist Energie und Materie, die uns »dunkel« bleibt. Die Quantenwelt steht in derart bizarrem Widerspruch zu unserer eigenen, dass selbst die Physiker, die jedes einzelne ihrer Charakteristika mathematisch vorhersagen können, keinen intuitiven Zugang zu ihr finden. Und wie bringt es das Licht fertig, Welle zu sein, sich aber plötzlich in ein Teilchen zu verwandeln, wenn wir es auf bestimmte Weise betrachten?

Schiedsrichter 2 lässt sich von schwer fassbaren Realitäten nicht entmutigen. Wir müssen das Wesen unserer Welt nicht vollständig erfassen oder gar verstehen, um gut mit ihr zurechtzukommen. Unsere Sinne und unser Denkvermögen haben sich deshalb zu dem entwickelt, was sie sind, weil sie fürs tägliche, nicht-philosophische Geschäft des Überlebens sehr gut tauglich sind. Psychische Konstrukte der Wirklichkeit sind zwar unvollkommene, gleichwohl aber unverzichtbare Hilfsmittel, um die Phänomene der Welt zu strukturieren, die uns andernfalls ein verwirrendes Chaos wären.