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Für Dr. Norden ist kein Mensch nur ein 'Fall', er sieht immer den ganzen Menschen in seinem Patienten. Er gibt nicht auf, wenn er auf schwierige Fälle stößt, bei denen kein sichtbarer Erfolg der Heilung zu erkennen ist. Immer an seiner Seite ist seine Frau Fee, selbst eine großartige Ärztin, die ihn mit feinem, häufig detektivischem Spürsinn unterstützt. Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Die Serie von Patricia Vandenberg befindet sich inzwischen in der zweiten Autoren- und auch Arztgeneration. Keine Leseprobe vorhanden. E-Book 1: Dr. Daniel Norden E-Book 2: Hat das Leben seinen Sinn verloren? E-Book 3: Eine gefährliche Verwechslung E-Book 4: Fast wäre es zu spät gewesen E-Book 5: Der schwierige Patient
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Seitenzahl: 769
Veröffentlichungsjahr: 2017
Dr. Daniel Norden
Hat das Leben seinen Sinn verloren?
Eine gefährliche Verwechslung
Fast wäre es zu spät gewesen
Der schwierige Patient
»Insel der Hoffnung«, sagte Dr. Johannes Cornelius zu seiner Begleiterin, »nun geht Friedrich Nordens Traum seiner Erfüllung entgegen.«
»Ein recht kostspieliger Traum«, sagte Anne Fischer gedankenvoll. Mit ihrer schmalen Hand strich sie sich eine aschblonde Haarsträhne aus der hohen Stirn. Sie war Mitte vierzig und noch immer eine anmutige Frau. Ihre Stimme war weich und melodisch.
»Friedrich Norden dachte nur an die Genesungsuchenden«, sagte Dr. Cornelius.
Anne Fischer errötete leicht. »Ich wollte keine Kritik üben«, sagte sie entschuldigend, »ganz im Gegenteil. Ich finde diese Anlage wundervoll. Man denkt dabei nicht an Krankenhaus oder Sanatorium. Eine Oase des Friedens ist diese Insel der Hoffnung.«
»Den Namen hat ihr auch mein Freund Friedrich gegeben«, erklärte Dr. Cornelius. »Wollen wir hoffen, daß er zu einem Symbol wird, und daß hier viele Leidende gesunden, wie es sein Wunsch war. Es ist ein Jammer, daß er selbst es nicht mehr erleben konnte.«
»Und sein Sohn hat keine Neigung, hier mitzuarbeiten?« fragte Anne Fischer. »Das ist mir nicht ganz begreiflich.«
»Daniel will seine Praxis in München noch behalten«, erklärte Dr. Cornelius. »Wir werden dennoch Hand in Hand arbeiten.«
»Und Ihre Tochter, Johannes?«
»Felicitas wird mich unterstützen. Einen Arzt habe ich auch schon gefunden, der viel Idealismus mitbringt, den wir hier brauchen werden.«
Anne Fischer warf ihm einen gedankenvollen Blick zu. »Könnten Sie vielleicht auch mich brauchen, Johannes? In Büroarbeiten bin ich perfekt. Und Idealismus würde ich auch mitbringen. Ich brauche jetzt so nötig eine Lebensaufgabe und –«, sie unterbrach sich und errötete leicht.
»Und Katja könnten wir auch hierherholen«, vollendete Dr. Cornelius verständnisvoll ihren angefangenen Satz. »Daran dachten Sie doch, Anne.«
»Betrachten Sie mich bitte nicht als aufdringlich«, flüsterte sie.
»Aber ganz im Gegenteil. Ich habe auch schon daran gedacht. Ich wollte Sie nicht so direkt fragen, Anne. Wenn alle Spezialisten für Katja nichts tun können, könnten wir hier gemeinsam versuchen, in ihr wieder neuen Lebenswillen zu wecken.«
»Danke, Johannes.« Ihre Augen waren tränenfeucht. »Es war alles zu schrecklich.«
Jetzt wollte Dr. Cornelius nicht über die harten Schicksalsschläge sprechen, die Anne Fischer hatte hinnehmen müssen. Man sollte mit Worten nicht Wunden aufreißen die noch nicht vernarbt waren.
»Dann überlasse ich Ihnen die Verwaltungsarbeiten«, sagte er aufmunternd, »und damit können Sie schon bald beginnen. Am Wochenende werden wir die Insel der Hoffnung offiziell ihrer Bestimmung übergeben. Dann werden Sie Daniel Norden kennenlernen.«
»Und wann kommen die ersten Patienten?«
»Später, so nach und nach«, erwiderte Dr. Cornelius. »Wir wollen alles ganz langsam anlaufen lassen. Daniel will nicht, daß die Reklametrommel gerührt wird. Neugierige wollen wir nicht heranlocken, auch nicht nur solche mit dicken Bankkonten. Die Insel der Hoffnung soll vor allem jenen offenstehen, die sich in der lauten Welt nicht mehr zurechtfinden und ihren inneren Frieden verloren haben.«
»Wenn sie diesen hier nicht finden, wo sonst?« bemerkte Anne Fischer gedankenverloren. »Sie haben sich ein großes Ziel gesetzt, Johannes.«
»Das ist mir von Friedrich und Daniel Norden gesetzt worden«, sagte der Arzt.
*
Dr. Daniel Norden hatte wieder einmal einen turbulenten Vormittag in seiner Praxis fast hinter sich gebracht.
»Wen haben wir jetzt noch, Molly?« fragte er seine tüchtige Sprechstundenhilfe.
Helga Moll ließ sich von ihm gern Molly nennen, obgleich sie eher mager war. Sie hatte sehr viel übrig für ihren jungen Doktor, ohne daß man ihr mißverständliche Absichten nachsagen konnte.
»Frau Seidel wartet noch«, erwiderte sie. »So was liebes und bescheidenes wie dieses alte Mütterchen gibt es nicht noch einmal.«
Doch Molly wußte, daß Dr. Norden auch mit der alten, bescheidenen Frau Seidel richtig umzugehen verstand.
»Ja, wen haben wir denn da?« begrüßte er die alte Frau herzlich. Sie war vor drei Jahren seine allererste Patientin gewesen und immer noch von einer rührenden Anhänglichkeit.
Er umfaßte die schmalen Schultern der alten Frau. »Wie fesch sie wieder ausschaut, unsere gute Frau Seidel«, sagte er lächelnd.
Ein Leuchten ging über das verhutzelte Gesicht. Auf schneeweißem Haar thronte ein Kapotthütchen, das gut und gerne ein halbes Jahrhundert miterlebt haben mochte, aber kein einziges Stäubchen aufwies.
Mit liebevollem, mütterlichem Blick hingen die immer noch lebhaften Augen hinter der Nickelbrille an dem markanten Gesicht des jungen Arztes. Er wurde immer ein bißchen verlegen, wenn sie ihn so anschaute.
»Na, wo fehlt es denn heute?« fragte er. »Wo tut es weh?«
Er wußte, daß sie sich manchmal mit schrecklichen Schmerzen plagte, für die er ihr nur vorübergehend Linderung verschaffen konnte, aber sie war unglaublich tapfer, und er bewunderte die Zähigkeit dieser fast achtzigjährigen Frau.
»Gar nichts tut mir weh, wenn ich Sie anschaue, Herr Doktor«, sagte sie verschmitzt. »Das Herz hüpft mir vor Freude. Ich darf es wohl sagen. Mir wird man doch nicht mehr nachreden können, daß ich es auf den Dr. Norden abgesehen habe.«
»Weiß man es?« ging er auf ihren Ton mit einem Schmunzeln ein. »Aber Sie kommen doch nicht nur her, um mich anzuschauen und festzustellen, wie ich mich so herausmoppele?«
»Na ja, das Wetter macht mir schon zu schaffen, und mit dem Laufen wird es auch immer schlechter. Aber wer weiß, wie lange ich überhaupt noch gehen kann, und Sie haben doch mehr zu tun, als zu mir zu kommen, um mir die Spritzen zu verpassen. Und ich schaue mir auch gern mal die Leute an, die in Ihrem Wartezimmer sitzen.«
»Sind Sie zufrieden mit meinen Patienten, Frau Seidel?« fragte Dr. Norden.
»Staunen muß ich immer wieder, daß Sie so gar keine Ausnahmen machen wie die anderen Ärzte. Und nie sind Sie grantig. Sie sind sogar nett zu einem alten Mutterl, von dem niemand mehr was wissen will, das niemand mehr anschaut. Daß mir die Medikamente nicht mehr helfen können, weiß ich doch selbst, wenn Sie sich auch noch so viel Mühe geben. Wenn man so alt geworden ist, ist jeder Tag ein Geschenk, und wenn Sie so nett zu mir sind, geht es gleich wieder viel besser.«
In diesem Augenblick kam Dr. Norden blitzartig ein Gedanke.
»Wissen Sie was, Frau Seidel, es gibt auch andere nette Menschen. Sie sollen solche kennenlernen, wenn Sie sich zutrauen, eine kleine Reise zu machen.«
»Eine Reise?« fragte sie staunend. »Dazu habe ich doch gar kein Geld.«
»Es kostet Sie auch nichts. Ich werde Sie mitnehmen zur Insel der Hoffnung, wenn ich am Samstag zur Eröffnung fahre.«
»Zur Insel der Hoffnung?« fragte sie staunend.
»So soll unser Sanatorium heißen. Es sind nur zwei Stunden Fahrt. Willigen Sie ein?«
»Mich wollen Sie dorthin mitnehmen, Herr Doktor?« fragte sie mit Tränen in den Augen. »Ausgerechnet mich?«
»Sie sind mein Talisman«, sagte Daniel lächelnd. »Sie waren hier meine erste Patientin und sollen es dort auch sein. Es wird uns Glück bringen. Und so wäre es ganz im Sinne meines Vaters.«
Ja, dachte er für sich weiter. So hätte Vater es gewollt. Einem armen Menschen, der immer auf der Schattenseite des Lebens gestanden hatte, eine Freude zu bereiten.
»Das kann ich gar nicht glauben«, murmelte Frau Seidel mit erstickter Stimme.
»Ich hole Sie ab«, sagte er. »Sie werden ganz bequem sitzen. Molly kommt auch mit. Soll sie Ihnen beim Kofferpacken helfen?«
»Das kann ich schon allein«, stammelte Frau Seidel. »Ich darf wirklich mitfahren?« Immer noch schaute sie ungläubig drein.
»Abgemacht«, sagte Dr. Norden aufmunternd. Molly wischte sich ganz geschwind und unauffällig ein paar Tränen aus den Augen. Er hat genau solch ein gutes Herz wie sein Vater, dachte sie.
Molly mußte es wissen. Als junges Mädchen war sie Sprechstundenhilfe bei Dr. Friedrich Norden gewesen. Sie hatte diesen wunderbaren Arzt und Menschenfreund in all seiner Seelengröße kennengelernt.
Sie hatte auch Daniel schon als Jungen gekannt, der nur ein Lebensziel hatte: Arzt zu werden, wie sein Vater.
Molly hieß damals noch Helga Schneider. Sie hatte geheiratet und war Mutter von drei Kindern geworden, aber ihre Ehe mit Heinz Moll war nicht von Bestand gewesen. Wieder mußte sie Geld verdienen, weil ihr Mann seine Familie nicht ernähren konnte. Wieder kam sie zu Dr. Friedrich Norden und mußte es nun miterleben, daß auch diesem gütigen Mann Schicksalsschläge nicht erspart blieben. Seine von ihm so sehr geliebte Frau litt an einer unheilbaren Krankheit. Für ihn, den Arzt, der immer nur helfen und heilen wollte, war es entsetzlich, dem liebsten Menschen, den er besaß, nicht helfen zu können.
Nach dem Tode seiner Frau zog er sich auf die kleine Roseninsel zurück, in das alte Bauernhaus, das schon seine Großeltern bewohnt hatten. Auf der Insel im Rosensee kam Dr. Friedrich Norden die Idee, hier ein Sanatorium zu erbauen, in dem Kranke und am Leben Verzweifelte Genesung finden könnten, jene, die die Hoffnung verloren hatten und solche, die unglücklich waren.
Insel der Hoffnung, dieser Begriff hatte Dr. Friedrich Norden fasziniert.
Alles durchdachte er in seiner Einsamkeit, und er plante und plante, wobei sein Herz jedoch müder und müder wurde.
Der junge Daniel Norden, der nun seine eigene Praxis eröffnet hatte, stand den Plänen seines Vaters anfangs skeptisch gegenüber. Auch das wußte Helga Moll, denn jetzt war sie seine Sprechstundenhilfe, geschieden von ihrem Mann, mußte sie allein für ihre Kinder sorgen.
Indessen hatte Friedrich Norden in seinem langjährigen Freund, Dr. Johannes Cornelius, einen Partner gefunden, der mit der gleichen Intensität und Leidenschaft an die Verwirklichung dieser Idee ging. Und als Friedrich Norden starb, war auch Daniel bereit, das Vermächtnis seines Vaters zu erfüllen.
Nun kam der Tag heran. Die Pforten zur Insel der Hoffnung sollten sich öffnen. Für sich aber hatte Daniel Norden eine eigene Entscheidung getroffen.
Er wollte seine Praxis behalten und die Leitung des Sanatoriums Dr. Cornelius überlassen. Daniel hatte seine Gründe dafür, denn er dachte realistischer als sein Vater. Der Unterhalt eines Sanatoriums verschlang viel Geld. Wollte man die Idee seines Vaters verwirklichen, auch mittellosen Patienten eine Kur zu ermöglichen, brauchte man andere, denen es nicht schwerfiel, ihre Rechnungen zu bezahlen. Er hatte solche Patienten. Er hatte gute Verbindungen. Er galt sogar als Modearzt. Dr. Daniel Norden wollte vor allem nicht, daß Dr. Cornelius seine Freundschaft und Loyalität mit einem Defizit büßen mußte.
Darüber verlor er kein Wort. Er schluckte es sogar, daß Felicitas Cornelius, die bildhübsche Tochter des väterlichen Freundes, ihn verächtlich einen Playboy schalt, der nicht auf das Großstadtleben verzichten wolle.
»Wir wissen, daß es Vaters Vermächtnis ist«, hatte er zu Dr. Cornelius gesagt, als sie ihre Vereinbarungen trafen. »Ich will mein Bestes tun, daß alles so wird, wie er es sich vorstellte, aber es soll nie ein Wort darüber fallen, was ich dazu beitrage.«
Mit einem Handschlag hatten sie dieses Übereinkommen besiegelt.
Wird alles so werden, wie Vater es sich vorgestellt hat? Ich will mein Bestes tun, Vater, sagte er leise vor sich hin. Den Anfang habe ich gemacht, indem ich dieser armen alten Frau noch ein wenig Freude in den Lebensabend bringe.
Es tat ihm weh, daß sein Vater die Verwirklichung seines Wunschtraumes nicht mehr erleben konnte. Er dachte auch an seine Mutter, der alle ärztliche Kunst keine Hilfe bringen konnte. Er dachte aber auch an die vielen anderen, denen noch zu helfen war.
Jetzt gönnte er sich ein paar Minuten der Besinnung und ließ seinen Blick auf der Fotografie seines Vaters ruhen, die auf seinem Schreibtisch stand. Dann kam Molly.
»Sie haben Frau Seidel eine große Freude bereitet«, sagte sie. »Sie haben ein gutes Herz. Sie sollten es nicht immer verleugnen.«
»Nun stimmen Sie nur nicht in Mutter Seidels Lobgesänge ein, Molly. Sie hat einen Narren an mir gefressen und ich mag sie auch. Es war doch eine gute Idee? Sind Ihre Kinder gut untergebracht über das Wochenende?«
»Meine Mutter kommt«, erwiderte Helga Moll. »Jedenfalls ist sie energischer als ich.«
»Und Ihnen tut es gut, wenn Sie mal Tapetenwechsel haben«, sagte Dr. Norden.
Helga Moll wollte ihm jetzt nicht mit ihren Sorgen kommen, denn frei von solchen würde sie an diesem Wochenende gewiß nicht sein, obgleich sie ihre drei Kinder in der Obhut ihrer resoluten Mutter zurücklassen konnte.
Sabine, die Älteste, war achtzehn und hatte seit einem Jahr einen festen Freund. Er war ein netter Junge, aber er ging noch zur Schule, und für Helga Moll, die geschiedene Frau, die allein für ihre Kinder sorgen mußte, gab es da schwere Bedenken. Dazu gesellten sich andere, doch Dr. Norden entriß sie diesen Gedankengängen.
»Na, Molly, dann wollen wir mal die Bude zumachen«, sagte er. »Ich gehe heute abend ins Konzert. Vorher muß ich noch ein paar Krankenbesuche machen. Kann ich Sie ein Stück mitnehmen?«
»Iwo, mit der S-Bahn ist es viel bequemer«, erwiderte sie. »Lassen Sie sich von Frau Brehmer nicht zu lange aufhalten, sonst verpassen Sie die Hälfte vom Konzert.«
Sie sagte es mit einem hintergründigen Lächeln, und er erwiderte es mit einem spöttischen.
»Was uns nicht umbringt, macht uns stärker«, sagte er heiter. Dann winkte er ihr zu und verschwand.
Ein Wunder ist es ja nicht, daß die Frauen hinter ihm her sind, dachte Helga Moll.
Marion Brehmer hegte allerdings ähnliche Gedanken. Sie litt nicht umsonst in letzter Zeit so häufig an Magenbeschwerden. Sie hatte eine fast erwachsene Tochter. Allerdings war Kirsten selbst für einen so attraktiven Mann wie Dr. Norden nicht zu begeistern und ganz so selbstlos war Marion Brehmer als Mutter auch nicht.
Sie hatte es zwar ganz geschickt zu verbergen vermocht, aber sie hätte durchaus nichts dagegen gehabt, mit Dr. Norden einen heftigen Flirt anzufangen, wenn sie die geringste Resonanz gespürt hätte. Die jedoch blieb aus.
Marion Brehmer war mit ihren achtunddreißig Jahren noch immer eine recht verführerische Frau. Eine gute Kosmetikerin und ein sehr gekonntes Make-up machten sie sogar noch um einige Jahre jünger, wenn man ihr Geburtsdatum nicht kannte. Kirsten dagegen war alles andere als reizvoll. Sie war ein supermodernes Mädchen, und sie fand es »in«, so lässig wie nur möglich zu wirken.
In verwaschenen Jeans und viel zu weitem Pullover lehnte sie an der Tür zum Schlafzimmer ihrer schönen Mutter.
»Ich würde an deiner Stelle ein Bein herausstrecken, Mama«, sagte sie anzüglich, »und dann die Bettdecke noch etwas weiter herabziehen, damit dein Dr. Norden auch gleich deinen Busen sieht. Und dann –«
»Sei nicht so unverschämt«, fiel ihr Marion heftig ins Wort. »Wenn du nur ein wenig mehr Wert auf dein Äußeres legen würdest, müßte ich nicht –«
»Müßtest du nicht in ständiger Sorge leben, daß ich eine alte Jungfer werde«, wurde sie jetzt von ihrer Tochter unterbrochen. »Aber sei unbesorgt, das kann ich gar nicht mehr werden. Wenn du jedoch nicht willst, daß du bald Großmutter wirst, könntest du mir mal von deinem Leib- und Magenarzt Antibabypillen für mich verschreiben lassen.«
»Kirsten«, schrie Marion Brehmer auf, »das ist unerhört. Wenn das dein Vater wüßte.«
»Sag es ihm doch«, sagte Kirsten frech. »Ich sehe ihn ja kaum.«
Die Debatte wurde unterbrochen. Es hatte geläutet. Kirsten ging zur Tür, da das Hausmädchen Ausgang hatte.
»Na, da ist ja der Heißersehnte«, begrüßte sie Dr. Norden in frivolem Ton und so laut, daß auch ihre Mutter sie hören konnte. »Mama leidet schon Höllenqualen.«
Dr. Daniel Norden kannte Kirsten Brehmer. Er nahm ihren Ton nicht tragisch. Er war noch nicht so weit von dieser Generation entfernt, daß er sie in Grund und Boden verdammt hätte. Er wußte nur zu gut, daß die Teenager ihre Aggressionen auf verschiedene Weise abreagierten.
Durch einen Tränenschleier hindurch blickte Marion Brehmer ihn an. Die Tränen waren sogar echt. Kirsten brachte sie zur Verzweiflung. Sie hätte so
gern eine Tochter gehabt, mit der sie in der Gesellschaft Furore machen könnte.
»Ich komme mit diesem Kind einfach nicht mehr zurecht«, stöhnte sie. »Da muß man ja magenkrank werden.«
»Kirsten ist kein Kind mehr, aber auch noch nicht erwachsen, Frau Brehmer«, sagte Daniel Norden. »Sie ist einfach unreif, weil noch nie Anforderungen an sie gestellt wurden. Nehmen Sie es nicht gar so tragisch. Sprechen Sie lieber mal im gleichen Ton mit ihr.«
»Im gleichen Ton?« fragte Marion empört und ganz vergessend, daß sie ihre dekorative Haltung aufgab. »Jetzt verlangt sie schon, daß ich mir Antibabypillen verschreiben lasse. Für sie natürlich, nicht für mich«, fügte sie pikiert hinzu.
»Dann verschreiben wir ihr eben welche«, erklärte er. »Allerdings müßte sie sich dazu lieber von einem Gynäkologen untersuchen lassen, damit es nicht die falschen sind.«
»So einfach sagen Sie das?« stöhnte Marion Brehmer.
»Kirsten ist doch achtzehn, soviel ich weiß. Anbinden können Sie sie nicht mehr und vorschreiben läßt sie sich sowieso nichts. Antibabypillen sind noch das kleinere Übel. Sind damit Ihre Magenschmerzen wenigstens teilweise behoben?«
Er hatte seine eigene Art, mit seinen Patientinnen umzugehen. Frau Brehmer kannte er jetzt schon ziemlich genau. Er mokierte sich nicht darüber, daß sie so jugendlich wie nur möglich wirken wollte. Er mochte das sogar, denn ihm waren gepflegte Frauen lieber als solche, die sich gehenließen.
»Wenn ich mit meinem Mann doch sprechen könnte, wie mit Ihnen«, sagte Marion Brehmer seufzend.
»Versuchen Sie es mal. Vielleicht ist es ihm lieber, als wenn Sie ihm etwas vorjammern. Nehmen Sie sich nicht alles so zu Herzen«, fuhr er dann besänftigend fort, denn er wußte genau, wann der Zeitpunkt kam, daß er den verständnisvollen Arzt herauskehren mußte. »Sonst bekommen Sie wirklich noch Magengeschwüre, und damit kann man sich verflixt herumplagen. Das gibt auch Falten, und das wollen wir doch nicht.«
Sein Charme war faszinierend. Man konnte ihm nicht widerstehen. Allerdings wußte er auch in solchen Augenblicken Distanz zu wahren.
»Sie meinen also, daß man Kirsten wirklich Antibabypillen geben soll?« fragte Marion Brehmer.
»Vorbeugen ist besser, als ein Fiasko«, erklärte er. »Ich werde nachher selbst mal mit ihr sprechen.«
Nebenbei hatte er ihren Puls gefühlt und den Blutdruck gemessen. »Temperatur haben wir auch nicht«, meinte er lächelnd. »Ich bin drei Tage abwesend. Falls etwas sein sollte, müßten Sie mit Dr. Feldmann vorliebnehmen.«
»Fahren Sie weg? Ach ja, ich habe gelesen, daß das Sanatorium eröffnet wird. Insel der Hoffnung, das klingt vielversprechend. Vielleicht kann ich meinen Mann auch mal zu einer Kur bewegen.«
»Das wäre gar nicht schlecht«, sagte Dr. Norden freundlich.
Dieser Besuch war harmloser verlaufen, als er erwartet hatte, und er hatte nicht lange gedauert. Heute schien Marion Brehmer tatsächlich mehr mit ihrer Tochter beschäftigt zu sein, als Eindruck auf ihn machen zu wollen.
Draußen flegelte sich Kirsten in einem Sessel, die Füße auf den kostbaren Marmortisch gelegt.
»Eigentlich sind Sie in Ordnung«, sagte sie lässig. »Verraten Sie mir mal, wie Sie mit allen Versuchungen fertig werden?«
»Mit welchen Versuchungen?« fragte er gleichmütig. »Ich bin Arzt. Die Anatomie des weiblichen Körpers birgt keine Rätsel für mich.«
»Haha«, machte sie.
»Und auf die Verpackung kommt es auch nicht an«, fuhr er gleichmütig fort. »Ihre Mutter sagte mir, daß Sie Antibabypillen haben wollen. Gehen Sie doch in den nächsten Tagen mal zu Dr. Kent. Wenn Sie wollen, melde ich Sie an.«
Kirsten wurde knallrot. Mit einem Ruck nahm sie die Beine vom Tisch.
»Können Sie mir denn keine verschreiben?« fragte sie mit sehr gekünstelter Forschheit.
»Das überlasse ich lieber dem Facharzt. Er kann besser entscheiden, welches Medikament angebracht ist. Da gibt es nämlich auch verschiedene Sorten, und jeder Körper reagiert verschieden.«
»Ich mag mich aber nicht ausziehen«, stieß Kirsten hervor.
Dr. Norden lächelte. »Dann brauchen Sie ja auch keine Antibabypillen«, sagte er gelassen. »Wiederschauen, Fräulein Brehmer.«
*
Dr. Norden kam eben noch rechtzeitig zum Konzert. Die Türen wurden gerade geschlossen. Aber er hatte ohnehin seinen Platz ganz am Rande, weil er meist zu spät kam und manchmal auch mitten aus einem Konzert herausgeholt wurde. Aber wenn es nur irgendwie möglich zu machen war, ließ er sich keines mit einem guten Solisten entgehen.
Der Saal verdunkelte sich schon. Eine schmale gepflegte Hand legte sich auf Daniels Arm, als er sich niederließ.
»Hast es ja gerade wieder mal geschafft, Dan«, raunte ihm eine weibliche Stimme zu.
Er nahm die Hand und drückte sie flüchtig. Er hatte gewußt, daß Isabel Guntram neben ihm sitzen würde. Das war schon seit mehr als sieben Monaten so.
Er sah nur ganz rasch zu ihr hinüber.
Sie sah apart aus wie immer. Er kannte dieses herbe, eigenwillige Gesicht ganz genau. Isabel war Journalistin, ganz eine Frau dieser Zeit, ohne Sentimentalität mitten im Leben stehend, emanzipiert und nicht darauf bedacht, die Bewunderung der Männer zu erregen. Sie hatten sich im Tennisklub kennengelernt und auf Anhieb gemocht. Intime Beziehungen gab es zwischen ihnen nicht.
Jetzt ließ Daniel sich von den Tönen einfangen und die Umwelt mitsamt Isabel war für ihn versunken. Die Liebe zur Musik hatte er von seinem Vater mitbekommen. Wenn ihm Zeit blieb, setzte er sich auch gern selbst an den Flügel, der in seiner modernen Penthousewohnung einen besonderen Platz einnahm.
Der Solist dieses Abends, der junge Pianist David Delorme, übertraf alle seine Erwartungen. Hingerissen lauschte ihm Daniel, nicht ahnend, wie bald er ihm in einer ganz anderen Situation begegnen sollte.
Die Pause kam, und eigentlich wollte Daniel jetzt gar nichts anderes mehr hören. Er war noch immer völlig in der Faszination dieses jungen Genies gefangen.
»Er ist wirklich phantastisch«, sagte Isabel. »Hoffentlich wird man ihn nicht bald zu Tode managen.«
»Ich möchte gehen«, sagte Daniel rauh.
»Habe ich deine empfindsame Seele verletzt, Dan?« fragte Isabel.
»Den Rest kann ich mir schenken. Das Orchester habe ich schon besser gehört. Gehen wir noch ein Glas Wein trinken?«
»Unter Menschen?« fragte sie mit leichtem Spott.
»Wir können auch zu mir fahren, wenn du willst.«
Sie war überrascht. Diesen Vorschlag hatte er noch nie gemacht, und sie war schon lange neugierig, wie er lebte.
»Wenn nicht eine andere bereits sehnsüchtig wartet«, sagte sie burschikos.
»Sei doch nicht albern. Wer sollte denn warten? Ich habe keinen Harem.«
Nicht um die Welt hätte Isabel es zugegeben, aber sie hatte sich oftmals Gedanken gemacht, mit wem er seine freien Abende verbringen mochte. Gleichgültig war Daniel ihr nämlich nicht, aber sie war nicht die Frau, die sich einem Mann anbot. Sie war viel zu selbstbewußt und zu klug, um sich eine Freundschaft zu verscherzen wegen einer augenblicklichen Stimmung.
Sie fuhren in seinem Wagen. Sie fuhr bei Nacht grundsätzlich nicht, weil sie nachtblind war.
Niemand begegnete ihnen, als sie das moderne Hochhaus betraten.
»Ein Riesenhaus und keine Menschenseele«, bemerkte Isabel, als sie mit dem Lift aufwärts fuhren.
»Ärzte und Büros«, erklärte Daniel in seiner knappen Art. So leger er sich mit seinen Patienten unterhielt, so lakonisch war er im persönlichen Gespräch.
Doch seine Wohnung war hinreißend gemütlich, wie Isabel schnell feststellen konnte.
»Du hast Geschmack«, stellte sie fest.
Daniel lächelte. »Hast du daran gezweifelt?« fragte er.
»Nein, aber ich habe dich in eine kühlere Umgebung hineingedacht.«
»Die habe ich in der Praxis«, lachte er.
Sein Lachen war bezwingend, mitreißend. Isabel hätte auf der Stelle schwach werden können. Sie mußte sich arg zusammennehmen, um ihm nicht um den Hals zu fallen und diesen lachenden Mund mit den schneeweißen gleichmäßigen Zähnen zu küssen.
»Machen wir uns ein bißchen was zu essen«, sagte Daniel. »Ich hatte vorhin keine Zeit mehr.«
Die Küche war supermodern und blitzblank.
»Du scheinst eine Perle zu haben«, stellte Isabel fest. »So ordentlich sieht es bei mir nicht aus.«
»Ich habe mehrere Perlen«, sagte Daniel. »Lenchen, die Papa schon versorgt hat, für die Wohnung, und Molly für die Praxis. Lenchen wohnt auf der anderen Seite.«
Er deutete über den Gang.
»Kann sie uns hören?«
»Nein, sie ist schwerhörig. Du hast doch nicht etwa Komplexe?«
»Vielleicht ist sie eifersüchtig«, scherzte Isabel.
»Da magst du nicht so unrecht haben. Sie wacht wie ein Zerberus über meine Unschuld«, spottete er. »Mosel- oder Rheinwein?«
»Das überlasse ich dir. Kann ich was herrichten?«
»Mach ein paar Toasts«, sagte er. »Schinken, Käse, Ananas. Wenn du was anderes möchtest, bediene dich.«
»Ich bin eine ganz schlechte Köchin«, sagte Isabel kleinlaut.
»Dann mache ich es selbst. Ich bin ein guter Koch.«
Sie sah sich in der Wohnung um. Schöne, wertvolle Teppiche, wenig Bilder an den Wänden, dafür aber um so kostbarere. Die Möbel waren modern, aber ebenso individuell, der Eßraum war jedoch mit herrlichen alten Bauernmöbeln ausgestattet.
»Mach es dir bequem, Isabel«, sagte Daniel, einen Servierwagen vor sich herschiebend.
»Bist du ein Zauberer?« fragte sie, die appetitlichen Toasts betrachtend.
»Der perfekte Junggeselle«, sagte er.
»Mit Lenchen als Perle.«
»Sie braucht nur aufzuräumen. Sie läßt sich auch gern mal von mir verwöhnen.«
»Das würde wohl manche andere auch gern haben«, sagte Isabel. »An Heiraten denkst du wohl nicht, Dan?«
»Wenn ich mal daran denke, möchte ich mich verwöhnen lassen«, erwiderte er.
Es traf Isabel wie ein Stich. In diesem Augenblick wünschte sie, eine ganz andere Frau zu sein, eine, die seinen Vorstellungen entsprach. Daß dies nicht
der Fall war, wußte sie jetzt ganz genau.
Sie war achtundzwanzig Jahre, erfolgreich im Beruf und nicht unvermögend. Sie konnte sich alles leisten, und sie hätte jeden Mann haben können, der ihr gefiel.
Nur Daniel Norden nicht. Das wurde ihr jäh bewußt.
»Wie stellst du dir deine Frau vor?« fragte sie.
»Gar nicht«, erwiderte er. »Es müßte wie ein Blitz aus heiterem Himmel kommen. Die oder keine! Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe.«
»Und nebenher sammelt man Erfahrungen«, bemerkte Isabel beiläufig.
»Man gibt ab und zu Stimmungen nach«, erwiderte Daniel mit umwerfender Offenheit. »Du bist ein guter Kamerad, wenn ich es so nennen darf. Weißt du, daß du die einzige Frau bist, vor der ich Respekt habe?«
Wenn es ein anderer gesagt hätte, sie hätte sich geehrt gefühlt. Ihr wäre es jedoch lieber gewesen, wenn Daniel keinen Respekt vor ihr hätte.
Er hob sein Glas. »Auf unsere Freundschaft, Isabel. Wenn der Blitz mich nicht trifft, werde ich am Ende meines Lebens wenigstens sagen können, daß ich eine phantastische Freundin hatte. Wird es so bleiben?«
»Okay, Dan«, erwiderte sie, obgleich sie gern etwas anderes gesagt hätte.
»Und wenn du den Mann fürs Leben findest, wird unsere Freundschaft dann auch halten?« fragte er.
»Ich würde ihn nicht heiraten, wenn er etwas dagegen hätte«, sagte Isabel.
Er sah sie nachdenklich an. »Einen anderen Mann würde ich dir auch nicht wünschen. Du brauchst einen, der alles akzeptiert. Einen, der Format hat und dem du doch um einen Hauch überlegen bist. Sonst wärest du nicht glücklich,
Isabel.«
»Meinst du? Du kennst mich anscheinend besser, als ich mich selbst kenne«, sagte sie ironisch. »Vielleicht möchte ich auch nur eine Frau sein.«
»Du bist viel zu gescheit, um nicht alles abzuwägen.«
Ob er jede Frau so nüchtern beurteilt? ging es Isabel durch den Sinn. Gibt es denn wirklich keine, die ihn aus seinem Gleichgewicht bringen kann? Sieben Monate kannte sie ihn nun schon. Sie hatte ihn auf dem Tennisplatz erlebt und manchmal auch auf Parties, umgeben von reizvollen Mädchen und verführerischen Frauen. Er hatte eine ganz besondere Art zu flirten, aber seltsamerweise konnte sie sich ihn nicht als glühenden Liebhaber vorstellen.
Er schien es gar nicht zur Kenntnis zu nehmen, daß sie nun schon geraume Zeit schwiegen.
»Ich werde mir morgen gleich einige Schallplatten von David Delorme kaufen«, sagte er plötzlich unmotiviert, und sie konnte daraus nur entnehmen, daß er mit seinen Gedanken wieder bei dem Konzert war.
»Wenn es schon welche gibt«, sagte sie. »Hoffentlich ist er nicht schon fertig, bevor es überhaupt zu Aufnahmen kommt.«
»Du hast schon vorhin so eine Andeutung gemacht. Worauf spielst du an? Was weißt du von ihm?«
»Ausnahmsweise wohl etwas mehr als du. Sein Aufstieg begann raketenschnell. Das fasziniert natürlich die Zeitungsschreiber. Ich habe in England einige Artikel über ihn gelesen. Er stammt aus kleinsten Verhältnissen. Er hat sich sein Studium mit schwerster Arbeit verdient. Für einen Pianisten nicht so gut, möchte man meinen, aber die Empfindsamkeit seiner Finger scheint darunter nicht gelitten zu haben. Jedenfalls fand er dann eine Mäzenin. Die Frau ist doppelt so alt wie er, und da er nicht nur ein guter Pianist ist, sondern auch ein ganz interessanter Junge, wird sie ihn wohl nicht aus reinster Nächstenliebe an sich fesseln.«
»Sei nicht so frivol, Isabel«, warf Daniel ein.
»Ich nenne die Dinge beim Namen. Meiner Ansicht nach ist der Aufstieg für ihn ein bißchen zu rasch gekommen. Man wird ihn umschwärmen, und Ruhm ist schon manchem in den Kopf gestiegen.«
»Es wäre schade um dieses Talent«, sagte Daniel nachdenklich, »aber du magst recht haben.«
»Und dann ist da noch die Frau, die ihn so ziemlich als ihr Produkt betrachtet. Sie heißt übrigens Lorna Wilding.«
»Der Name sagt mir nichts.«
»Witwe des englischen Stahlmagnaten«, erklärte Isabel, »schwerreich. Es wird ihr aber nicht gefallen, daß sich jetzt auch noch junge, hübsche und reiche Mädchen um David Delorme scharen.«
»Gesellschaftsklatsch«, bemerkte Daniel anzüglich.
»Das bleibt nicht aus, aber zufällig weiß ich ziemlich genau Bescheid. Ich habe es kürzlich in Paris erlebt, wie sie ihm eine Szene gemacht hat. Dieser begabte junge Mann ist ihr in bezug auf Selbstbewußtsein nicht gewachsen. Ich könnte mir auch vorstellen, daß es gewaltig auf die Nerven geht, von einem Konzert zum andern gejagt zu werden. Der englische Konsul gibt übermorgen einen Empfang für ihn. Du könntest kommen und dir David Delorme aus der Nähe begucken. Wie wär’s?«
»Ich fahre zur Einweihung des Sanatoriums«, erklärte Daniel.
»Übermorgen schon?«
»Du bist doch sonst immer bestens informiert«, sagte er lächelnd.
»Ich bin gestern erst aus Paris zurückgekommen, und alles weiß ich eben auch nicht. Die Presse ist wohl unerwünscht?« fragte sie hintergründig.
»Einen Wirbel wollen wir nicht gleich veranstalten. Die Insel der Hoffnung soll kein Treffpunkt der Snobs werden, sondern eine Oase des Friedens.«
Diesmal machte sie keine spöttische Bemerkung.
»Du willst, daß der Lebenstraum deines Vaters verwirklicht wird«, sagte sie, »aber hättest du das nicht besser gekonnt, wenn du die Leitung selbst übernommen hättest?«
»Cornelius hat mehr Erfahrung«, sagte Daniel kurz.
»Wäre es dir unangenehm, wenn ich kommen würde, Dan?« fragte Isabel.
»Durchaus nicht, aber willst du denn auf den Empfang verzichten? Berühmte Leute wirst du bei uns auch nicht antreffen.«
»Immerhin könnte eine diskrete Werbung doch recht nützlich sein. Für wieviel Patienten ist dort Platz?«
»Achtzig, aber es ist kein Sanatorium im üblichen Sinn. Es steht dir frei, es dir anzusehen.«
»Bedarf es denn keiner offiziellen Einladung?« fragte Isabel.
»Doch nicht für die engsten Freunde. Ich nehme Molly und eine Patientin mit.«
Das nahm sie als Hinweis, daß er sie nicht auch mitnehmen könne. Ein diskreter Hinweis. Was für eine Patientin mochte das sein?
Ob er auch Gedanken lesen konnte? »Die Patientin ist übrigens ein altes Mütterchen, achtzig Jahre, und sie war meine erste Patientin«, erklärte er beiläufig.
Unwillkürlich errötete Isabel. »Vormittags könnte ich sowieso noch nicht weg. Vielleicht wird mir die besondere Ehre zuteil, David Delorme interviewen zu dürfen, falls Mrs. Wilding einen weiblichen Journalisten akzeptiert. Mich interessiert unser Genie auch.«
»Der Pianist oder der Mann?« fragte Daniel.
»Der Pianist natürlich. Aber ich denke, daß es jetzt schon reichlich spät ist. Bestellst du mir ein Taxi, Dan?«
»Ich bringe dich selbstverständlich heim.«
»Zum andern Ende der Stadt? Das ist doch Unsinn. Nein, ich fahre mit dem Taxi.«
»Wie du willst«, sagte er.
Wenn er doch nur zu durchschauen wäre, dachte Isabel, als sie auf der Heimfahrt im Taxi über diesen Abend nachdachte.
Dr. Daniel Norden dachte über David Delorme nach, dessen Spiel ihn so ungeheuer beeindruckt hatte. Verinnerlicht hatte dieser junge Mann gewirkt, scheu und ungelenk, jeden Effektes abhold, hatte er sich verbeugt.
Daniel konnte sich nicht vorstellen, daß ein solcher Künstler sich von einer Frau abhängig machte. Mit den berauschenden Tönen in den Ohren schlief er ein. An Isabel dachte er nicht mehr.
*
»Beeilung, Kinder«, rief Helga Moll, »es ist halb acht Uhr. Ihr müßt zur Schule.«
Katrin, die Zwölfjährige, kam kauend in die Diele. Sie aß für ihr Leben gern, was sich auch äußerlich bemerkbar machte, denn sie war ein richtiger kleiner Pummel.
Der fünfzehnjährige Peter dagegen war mager und hoch aufgeschossen. Er maulte vor sich hin.
»Sei doch nicht immer so mürrisch, Peter«, sagte Helga.
»Diese dämliche Schule«, knurrte er. »Wenn ich mir vorstelle, was Oma wieder rummeckern wird, wenn sie erfährt, daß ich in Latein nicht mitkomme. Muß das denn sein, Mutti?«
»Später würdest du mir mal Vorwürfe machen, wenn ich dich nicht auf die Oberschule geschickt hätte«, sagte Helga. »Jetzt jammere nicht herum, sondern geh.«
»Und nimm dir ein Beispiel an mir«, sagte Sabine, »ich habe mein Abi mit achtzehn gemacht. Du bist sowieso schon ein Jahr hinterher.«
»Das gnädige Fräulein«, brummte er, »wenn sie sich bloß nicht so aufspielen würde. Tschüs«, und er war draußen.
»Mach dir nichts draus, Mutti«, sagte Katrin. »Morgens ist er immer ungenießbar.«
Sie war eher phlegmatisch. Sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
»Kommst du heute nicht, kommst
du morgen«, rief Sabine hinter ihr
her, aber Katrin nahm keine Notiz davon.
»Du mußt auch nicht ständig an den beiden herumnörgeln«, ermahnte Helga ihre Älteste, die ein bildhübsches Mädchen war und seit zwei Wochen als Volontärin in einer Zeitungsredaktion beschäftigt war.
»Du bist schon geplagt mit den Kleinen«, sagte Sabine.
»Und du machst mir wohl gar keine Sorgen«, bemerkte Helga leicht gereizt.
»Wenn du wieder auf Lutz anspielst, verziehe ich mich auch schleunigst«, sagte Sabine trotzig.
»Ich fahre heute sowieso nicht in die Praxis«, meinte Helga.
Sonst verließen sie immer gemeinsam das Haus. »Warum nicht?« fragte Sabine überrascht.
»Weil Dr. Norden mir freigegeben hat. Morgen fahren wir doch zur Insel, falls dir das entfallen sein sollte.«
»Es ist mir nicht entfallen«, sagte Sabine spöttisch. »Du freust dich wohl mächtig, daß du uns ein paar Tage nicht zu genießen brauchst.«
Manchmal hatte sie einen Ton an sich, den Helga nicht mochte, aber es war besser, sich mit Sabine nicht anzulegen. Bei ihr wechselten die Stimmungen rasch.
»Du mußt nicht alles gleich so tragisch nehmen, Mutti«, sagte sie jetzt auch versöhnlich. »Es ist jetzt nun mal anders, als in eurer Jugendzeit.«
Sabine verschwand nochmals im Bad. Als sie wieder erschien, hatte sie Lidschatten und Make-up aufgelegt, die Wimpern schwarz getuscht und eine Parfümwolke umwehte sie.
Sie trug helle Jeans und einen hautengen Pulli, was sie sich allerdings auch leisten konnte, denn sie hatte im Gegensatz zu Katrin eine knabenhaft schlanke Figur. Das hellblonde, seidige Haar fiel weit über den Rücken herab.
Ohne Make-up gefiel sie ihrer Mutter besser, aber Helga hatte es sich abgewöhnt, daran Kritik zu üben.
»Dann ade, Mutti«, sagte Sabine, die wohl doch auf solche Kritik gewartet hatte.
»Komm heute bitte pünktlich«, sagte Helga. »Du weißt doch, daß Omi kommt.«
»Ich weiß, ich weiß«, und dann war auch sie draußen.
Helga war froh, daß sie Zeit zum Aufräumen hatte. In jedem Zimmer herrschte die gleiche Unordnung. Wieder einmal war sie froh, daß die Wohnung wenigstens so groß war, daß jeder seinen eigenen Raum hatte. Dank der großzügigen Unterstützung ihrer Eltern hatte sie die verhältnismäßig teure Wohnung auch nach ihrer Scheidung behalten können.
Sie hätte nicht zu arbeiten brauchen, wenn sie sich bereitgefunden hätte, zu ihren Eltern zu ziehen, die in einem ländlichen Vorort ein sehr schönes, großes Haus besaßen. Aber sie hatte noch weit größere Schwierigkeiten vorausgesehen, wenn sie alle unter einem Dach lebten, ganz abgesehen davon, daß es für die Kinder wegen der Schulen ungünstig gewesen wäre.
Sie wollte auch ihre persönliche Freiheit wahren, nachdem sie damals, vor fünf Jahren, endlich die Konsequenzen aus einer mißglückten Ehe gezogen hatte, in der sie immer draufzahlte, mit Geld und mit Gefühlen. Heinz Moll war ein Traumtänzer gewesen, mit großen, hochfliegenden Plänen, von denen er nie einen verwirklicht hatte. Ohne großen Einsatz schnell zu viel Geld zu kommen, war sein Traum gewesen, für Helga war es ein Alptraum geworden.
Er war nicht ganz aus ihrem Leben verschwunden. Er kam regelmäßig, um die Kinder zu sehen, und manchmal auch, um sie anzupumpen; und sie ärgerte sich, daß sie dann immer wieder nachgiebig wurde und ihm aushalf, ohne jemals einen Pfennig wiederzubekommen.
Bis sie die Wohnung aufgeräumt hatte, war es mittag geworden. Die Kinder mußten bald aus der Schule kommen. Das Essen hatte sie schon vorbereitet.
Mittags war sie immer daheim. Dr. Norden sorgte dafür, daß sie pünktlich heimkam, auch wenn in der Praxis Hochbetrieb war. Er war froh, eine so tüchtige und zuverlässige Kraft zu haben, und er hatte auch Verständnis für ihre häuslichen Sorgen.
Es läutete, und Helga blickte schnell auf die Uhr. Eigentlich war es noch ein bißchen zu früh, als daß es die Kinder schon sein könnten.
Doch vor ihr stand ihr geschiedener Mann. Heinz Moll sah noch immer recht annehmbar aus, und heute auch besonders gepflegt.
»Fein, daß ich dich antreffe«, sagte er. »Sind die Kinder schon zu Hause?«
»Nein, was willst du? Geld kann ich dir nicht geben, diesmal nicht.«
»Sei doch nicht so böse«, sagte er schmeichelnd. »Ich will dir was bringen, Helgalein.«
Sie starrte ihn an. »Bist du schon am Vormittag betrunken?« fragte sie, denn das gehörte auch zu seinen Schwächen.
»Daß du immer nur schlecht von mir denken mußt«, sagte er. »Ich will dir wirklich Geld bringen, Helga.«
»Woher hast du es?« fragte sie mißtrauisch.
»Du wirst zwar wieder was dran auszusetzen haben, aber ich habe es beim Pferderennen gewonnen. Große Dreierwette, über dreizehntausend Mark. Na, ist das was?«
Er war unverbesserlich. Er würde sich nie ändern. Aber was sollte sie ihm Vorhaltungen machen. Sie war geschieden.
»Ich dachte, wir könnten uns ein schönes Wochenende machen, wir alle zusammen«, fuhr er fort.
»Halt das Geld zusammen und fang etwas Vernünftiges damit an«, sagte Helga. »Außerdem bin ich am Wochenende nicht da.«
Er kniff die Augen zusammen. »Hast du dir einen andern angelacht?« fragte er gereizt.
»Das fehlte noch. Ich habe für alle Zeiten genug. Ich fahre mit meinem Chef zur Einweihung des Sanatoriums. Übrigens kommt Mutter. Sie wird bald hier sein.«
Damit konnte sie ihn abschrecken. Vor seiner ehemaligen Schwiegermutter hatte er einen höllischen Respekt.
»Da hast du einen Tausender«, sagte er großmütig. »Kauf den Kindern was Schönes. Ich komme nächste Woche mal vorbei. – Helga, wenn ich nun was auf die Beine bringe, könnten wir es dann nicht noch mal versuchen?«
»Hör auf damit«, sagte sie abweisend. »Wie gewonnen, so zerronnen. Ich kenne dich.«
»Gib mir doch eine Chance«, sagte er kleinlaut.
»Nein!«
Es klang so energisch, daß er zusammenzuckte. »Na dann, ein schönes Wochenende und sag’ den Kindern schöne Grüße.«
Aber die Kinder hatte er dann auf der Straße noch getroffen. Sie kamen mit Verspätung angestürmt. Er hatte jedem zwanzig Mark geschenkt, und das konnten sie nicht fassen.
Irgendwie hingen sie noch an ihm, obgleich sie mit der Trennung ihrer Eltern durchaus einverstanden gewesen waren. Sie hatten zuviel mitbekommen von seinen Schwächen, und solange er mit ihnen lebte, war er kein fürsorglicher Vater gewesen.
»Wenn er Geld bringt und nicht immer von dir holt, Mutti, kann er ruhig öfter kommen«, sagte Katrin, und dann legte sie ihren Zwanzigmarkschein auf den Tisch. »Nimm du es«, erklärte sie.
»Behalte es ruhig«, sagte Helga, »aber teile es dir ein.«
Peter sagte nichts. Er war überhaupt merkwürdig still, aber Helga war mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Nun hatte Heinz mal wieder Geld in den Taschen, und wieder würde er sich in Träumen verlieren. Plötzlich verspürte sie eine jähe Angst, daß Peter ihm nachgeraten könnte. Er hatte auch so wenig Ausdauer und gar keinen Ehrgeiz, dabei hatten die Lehrer ihr bestätigt, daß er überdurchschnittlich intelligent sei.
Ja, sie hatte ihre Sorgen, aber sie schluckte sie tapfer in sich hinein.
*
Dr. Norden hatte an diesem Tag nur drei Privatpatienten bestellt, für die er sich viel Zeit nehmen mußte. Offiziell war die Praxis heute schon geschlossen, und sein Kollege Dr. Günter Feldmann war seine Vertretung, wie Anrufende durch den Anrufbeantworter erfahren konnten.
Daniel Norden hatte noch so viel zu erledigen, wozu ihm sonst einfach keine Zeit blieb, aber den Vormittag hatte er doch für diese drei Patienten freigehalten. Es waren schwierige Fälle.
Schon gegen neun Uhr war Franz Glimmer gekommen, Besitzer einer Tankstelle und Autoreparaturwerkstatt. Dr. Norden kannte ihn schon seit Jahren, da Franz Glimmer seine jeweiligen Wagen vorbildlich betreute. Daß der Mann nicht gesund war, hatte Daniel schon lange vermutet, aber wenn er ihn nach seinem Befinden fragte, hatte er immer abgewinkt.
»Ich habe keine Zeit, krank zu sein, Herr Doktor«, war seine ständige Erwiderung. Aber vor ein paar Tagen war er dann doch mal gekommen, sich krümmend vor Schmerzen.
Dr. Norden hatte ihn gründlich untersucht, und heute morgen hatte er die Befunde von den einzelnen Instituten bekommen, mit denen er zusammenarbeitete. Sie waren erschreckend genug.
»Ja, Herr Glimmer, es wird wohl nicht zu umgehen sein, daß Sie sich einer Magenoperation unterziehen«, sagte Daniel Norden vorsichtig, denn eigentlich hätte er ihn sofort in eine Klinik schicken müssen.
»Operieren kommt gar nicht in Frage, Herr Doktor«, sagte Glimmer aggressiv. »Ich lasse kein Messer an mich heran.«
Daniel Norden kannte solche Reaktionen. Er hatte eine ganze Anzahl von Patienten, die so eingestellt waren.
Er sah den Mann forschend an. Er mochte ihn. Er war einer von jenen, die nicht nur profitgierig waren, sondern ihre Arbeit noch außerordentlich gewissenhaft erledigten. Er war mit einer netten Frau verheiratet und hatte zwei erwachsene Kinder.
»Sie sind siebenundvierzig Jahre, Herr Glimmer«, sagte er, »und wenn Sie sich bald operieren lassen, können Sie noch mal so alt werden, sonst –«, er machte eine Pause, denn der Mann sah ihn entsetzt an.
»Sonst?« fragte er heiser. »Wollen Sie sagen, daß das mein Tod sein kann?«
»Ich werde mich hüten«, erklärte Dr. Norden. »Aber Sie werden die Schmerzen nicht mehr loswerden. Im Gegenteil, sie werden immer schlimmer. Ich weiß nicht, welches Medikament ich Ihnen geben sollte. Ihr Sohn ist doch ein tüchtiger Bursche. Ihm können Sie doch die Werkstatt anvertrauen, und die Uschi macht sich doch sehr nett an der Tankstelle.«
»Reden Sie nicht herum«, sagte Franz Glimmer. »Ich sage Ihnen auch, wenn der Motor Ihres Wagens nichts mehr taugt, Herr Doktor.«
»Der Motor des Menschen ist das Herz. Es bestimmt den Rhythmus. Ihr Herz ist gut. Noch ist es gut, aber ewig wird es nicht standhalten, wenn Sie sich ständig mit Schmerzen plagen. Sperren Sie sich nicht gegen eine Operation.
Ich muß Ihnen eindringlichst dazu raten.«
»Ich will die Wahrheit wissen«, sagte Franz Glimmer. »Ist es diese verfluchte Krankheit, dieser Krebs?«
»Es könnte Krebs werden«, sagte Dr. Norden zögernd. Die Untersuchungsbefunde ließen darauf schließen, aber auch das wollte er ihm noch verschweigen. Wenn er sich zu einer Operation entschließen könnte, sollte er mit Zuversicht in die Klinik gehen.
»Und wenn ich mich operieren lasse, geben Sie mir eine Chance?« fragte Franz Glimmer tonlos.
»Eine Chance hat man immer. Ich würde Sie zum besten Chirurgen schicken, den ich kenne, zu Professor Manzold.«
»Als ob der einen Mechaniker nehmen würde«, sagte Franz Glimmer bitter. »Und wenn auch, sein Honorar bezahlt doch keine Versicherung.«
»Haben Sie eine so schlechte Meinung von den Professoren?« fragte Dr. Norden im scherzhaften Ton. »Sie sind doch sehr gut versichert, außerdem Privatpatient, wenn Ihnen das so wichtig erscheint.«
Franz Glimmer sah ihn verlegen an. »Ich weiß ja, wie Sie sind, Herr Doktor, und wenn Sie Chirurg wären, würde ich es mir nicht lange überlegen. Warum sind Sie eigentlich keiner?«
»Ehrlich gesagt, weil mir der ganze Mensch lieber ist, aber ohne Chirurgen geht es nun mal nicht. Wir können froh sein, daß wir sie haben. Und Professor Manzold wird Ihnen gefallen. Mit ihm können Sie reden, wie Ihnen der Schnabel gewachsen ist. Und später können Sie sich bei ihm auch mal revanchieren, denn er hat dauernd Scherereien mit seinem Wagen.«
»Sie beschwatzen mich ja doch«, sagte Franz Glimmer seufzend. »Gegen Sie kommt man nicht an. Aber wie soll ich es meiner guten Hilde beibringen, da sie sich doch gleich immer so aufregt?«
»Soll ich es ihr sagen?« fragte Dr. Norden.
»Wenn Sie das tun würden? Na, und wenn es dann sein muß, beiße ich in den sauren Apfel.«
Dr. Norden atmete erleichtert auf. »Ich komme mittags vorbei und spreche mit Ihrer Frau«, sagte er. »Und bei Professor Manzold melde ich Sie an. Ich sage dann gleich Bescheid, wann Sie einrücken können in die Klinik.«
Franz Glimmer runzelte die Stirn. »Pressiert es denn gar so?« fragte er.
»Ich wäre dafür«, sagte Dr. Norden.
»Na, wenn Sie es sagen, ergebe ich mich in mein Schicksal. Sie wissen ja auch ganz genau, wie lange man ein Auto beanspruchen kann.«
»Nur ist ein Menschenleben wertvoller, und Sie sind für Ihre Familie sehr wertvoll.«
»Und wenn es schiefgeht?« fragte Franz Glimmer stockend.
Das darf nicht sein, dachte Dr. Norden. »Der Patient kann viel dazu beitragen, daß es gutgeht«, sagte er. »Ich kann Ihnen jedenfalls sagen, daß schon sehr viele nach einer solchen Operation sehr alt geworden sind.«
»Hand aufs Herz, stimmt das auch?«
»Ich sage die Wahrheit.«
Franz Glimmer ging, und Frau Neuner kam. Sie war ein neurotischer Fall. Sie bildete sich viele Krankheiten ein, aber diese Einbildung war schon so ausgeprägt, daß sie in organische Beschwerden ausartete. Sie war fünfzig und trauerte der entschwundenen Jugend nach.
Dr. Norden kannte ihre ganze Lebensgeschichte. Auch aus dem geduldigen Zuhören konnte man seine Diagnose stellen, das hatte er von seinem Vater gelernt.
Ihr Mann betrog sie, ihr einziger Sohn war rauschgiftsüchtig. Es war zu verstehen, daß diese Frau langsam aber sicher in sich zerbröckelte. Sie litt unter den Wechseljahren, und es fehlte ihr an Lebensmut, mit den Anforderungen, die an sie gestellt wurden, fertig zu werden.
Geduldig hörte er sich ihre Klagen an. Daß ihr Sohn jetzt in einer Entziehungsanstalt war, hatte sie Dr. Norden zu verdanken.
»Ich habe mich schon erkundigt«, sagte er ihr. »Rainer macht Fortschritte, und wenn er herauskommt, packen Sie Ihre Sachen und gehen ein paar Wochen mit ihm ins Sanatorium. Zeigen Sie Ihrem Mann doch mal die Zähne, Frau Neuner. Rainer braucht Ihre Hilfe.«
»Sie haben für alles Verständnis, aber wer bringt das sonst schon auf«, sagte sie schluchzend.
»Dr. Cornelius bestimmt, und die Roseninsel soll doch gerade für die zu einer Insel der Hoffnung werden, denen das Schicksal so übel mitgespielt hat wie Ihnen.«
»Mein Mann hat den Jungen doch schon abgeschrieben«, sagte sie leise.
»Dann müssen Sie ihm eben mal klarmachen, daß er nicht ganz schuldlos an Rainers Einstellung zum Leben ist. Und wenn er Einwände erhebt, schicken Sie ihn mal zu mir.«
»Jedesmal, wenn ich von Ihnen weggehe, habe ich wieder ein bißchen Mut«, sagte Frau Neuner.
Der dritte Patient kam nicht, und darüber machte sich Dr. Norden Gedanken.
Dr. Neubert war Witwer, pensionierter Schulrat. Er lebte allein in seinem Häuschen, das nicht weit entfernt von Dr. Nordens Praxis lag.
Er rief bei ihm an, als aber keine Antwort kam, folgte er einer inneren Stimme und fuhr zu dem Haus in der stillen Villenstraße. Es wurde ihm nicht geöffnet. Er ging um das Haus herum. Die Terrassentür stand einen Spalt offen.
Dr. Norden vernahm ein Stöhnen, und als er in das Zimmer trat, sah er den alten Herrn am Boden liegen. Er verlor keine Sekunde, ging zum Telefon und rief den Sanitätswagen, dann das Kreiskrankenhaus an.
»Zum Donnerwetter, es ist ein Notfall«, fauchte er den Gesprächspartner an.
Dann kniete er neben dem Kranken nieder. Daß es ein Schlaganfall war, sah er sofort.
»Dr. Neubert, hören Sie mich«, rief er laut.
Ein undefinierbares Murmeln kam über die bläulichen Lippen.
»Ich bin es, Daniel Norden«, sagte er.
Ein Augenlid hob sich etwas, und es sah fast so aus, als gleite ein flüchtiges Lächeln über das zerknitterte Gesicht.
Dann hörte Daniel die Sirene des Krankenwagens und eilte hinaus. Aber als man Dr. Neubert auf die Bahre gehoben hatte und hinaustrug, wußte er, daß dieser alte Herr nicht mehr in sein Haus zurückkehren würde.
»Ich komme nach«, sagte er zu den Sanitätern. Dann verschloß er die Terrassentür, nahm den Hausschlüssel vom Schlüsselbrett und schloß auch diese Tür hinter sich zu. Er ging noch einmal um das kleine, rosenumrankte Haus herum und schaute nach, ob auch alle Fenster geschlossen seien.
Er war oft in diesem Haus gewesen, manchmal auch nur, um eine Stunde mit diesem klugen, alten Mann zu verplaudern, der mit seinem Vater eng befreundet gewesen war.
Muß es nicht schrecklich sein, am Ende seines Lebens so allein zu sein, ging es ihm durch den Sinn. Dr. Neubert hatte seine Frau und seine beiden Kinder überlebt. Er hatte den Tod dann als einen Freund betrachtet, der ihm willkommen war. Dr. Norden wünschte ihm, daß dieser Tod nun gnädig mit ihm sein würde. Das war alles, was er diesem gütigen Menschen noch wünschen konnte. Es wurde ihm dann vom Chefarzt des Krankenhauses auch bestätigt. Dr. Norden versprach, am Abend noch einmal vorbeizukommen.
Weil er jetzt an Dr. Neubert denken mußte, der sich so sehr gewünscht hatte, die Insel der Hoffnung noch kennenzulernen, hätte er fast vergessen, bei den Glimmers vorbeizufahren.
Schon auf dem Weg zur City fiel es ihm dann doch noch ein und er kehrte um.
Uschi Glimmer stand im blauen
Jeansanzug an der Tanksäule. Ihr karottenrotes Haar leuchtete weithin. Ihr jungenhaftes, sommersprossiges Gesicht hatte heute nicht den fröhlichen Ausdruck, den er gewohnt war.
»Gut, daß Sie kommen, Herr Doktor«, sagte sie überstürzt. »Papa geht es wieder ganz schlecht.«
»Hat er noch nichts gesagt?« fragte Dr. Norden.
»Was denn?« fragte Uschi.
»Daß er in die Klinik muß, Uschi. Es bleibt nichts übrig als eine Operation.«
»O Gott«, sagte sie bebend.
»Macht ihm Mut«, sagte Dr. Norden. »Ihr zwei, der Maxi und du, werdet es doch schaffen.«
Sie nickte und unterdrückte die aufsteigenden Tränen.
»Sagen Sie es der Mama, Herr Doktor?« fragte sie.
»Deswegen bin ich gekommen. Kopf hoch, Mädchen, es wird schon wieder.«
Hilde Glimmer war eine hübsche rundliche Frau. Sie sah immer wie aus dem Ei gepelit aus. Jetzt war auch ihr Gesicht sorgenvoll.
Aber sie war tapfer, als er es ihr sagte. »Ich habe mir schon so was gedacht, Herr Doktor«, murmelte sie. »Als der Franz gesagt hat, daß Sie mit mir reden würden, habe ich es mir gedacht. Wenn er nur wieder gesund wird. In drei Monaten haben wir Silberhochzeit. Fünfundzwanzig Jahre glücklich verheiratet. Er war zweiundzwanzig und ich neunzehn, und jeder hat gesagt, daß das nicht gutgeht. Und kein böses Wort hat es in unserer Ehe gegeben. Er ist der beste Mann auf der Welt.«
»Ja, das glaube ich Ihnen gern, Frau Glimmer«, sagte Daniel Norden. »Ich gebe ihm eine Spritze, und nachher spreche ich gleich persönlich mit Professor Manzold. Richten Sie schon alles her. Solche Operation muß vorbereitet werden. Ich denke, daß er heute noch geholt werden kann.«
»Holen dürfen sie ihn nicht«, sagte Hilde Glimmer entsetzt. »Dann dreht er durch. Der Maxi kann ihn fahren. Nur nicht mit dem Krankenwagen, dann gibt er sich gleich auf.«
Das sagte ihm Franz Glimmer auch. Er ließ sich widerstandslos die Spritze geben, und das sagte schon viel.
Als Dr. Norden zu seinem Wagen ging, kam Max aus der Werkstätte. Er wischte sich die Hände an der Hose ab. Er war ein hübscher Bursche, dreiundzwanzig und seinem Vater sehr ähnlich.
»Danke, daß Sie den Papa überredet haben, Herr Doktor«, sagte er. »Wir werden ihm schon keine Schande machen. Mein Freund Eugen hilft mir. Er geht ja auf das Technikum, um Ingenieur zu werden, aber Uschi zuliebe macht er sich auch mal die Hände dreckig. Aber Papa wird doch wieder gesund werden?«
So mutig er sich gab, stand doch Angst in seinen Augen.
»Das wollen wir doch sehr hoffen, Max«, sagte Dr. Norden. Er drückte die harte, schmutzige Hand des jungen Mannes, und gleichzeitig schickte er ein Stoßgebet zum Himmel, daß er nicht falsche Hoffnungen weckte.
Er fuhr zur Universitätsklinik, und er hatte Glück, daß Professor Manzold Zeit für ihn hatte.
»Es ist ein bißchen schwierig, mit den Betten im Augenblick«, sagte der Professor, »aber Ihnen kann ich ja nichts abschlagen, Dan. Ich wäre gern am Sonntag hinausgekommen zu eurer Insel. Vielleicht klappt es noch. An Patienten wird es euch sicher nicht mangeln. Schade, daß Friedrich das nicht mehr erleben konnte.« Er strich sich durch das schüttere weiße Haar. »Dann werden wir Ihren Patienten mal holen lassen«, sagte er.
»Er wird gebracht«, sagte Daniel schnell. »Sein Sohn bringt ihn. Und ich bringe Ihnen die Befunde und die Anamnese nachher noch vorbei. Vielen Dank für Ihr Verständnis. Seien Sie bitte nett zu Herrn Glimmer.«
Der Professor lachte leise auf. »Wie der Vater«, sagte er gedankenvoll. »Friedrich sagte auch immer: Sei nett, Arno. Aber ich bin auch nur ein Mensch, Dan. Ich tue, was in meiner Macht steht, aber über mir steht ein anderer, der unsere Geschicke lenkt.«
*
Dr. Norden hatte bei den Glimmers angerufen, dann endlich konnte er die wichtigen Behördengänge erledigen. Gegen einen seiner Patienten lief ein Entmündigungsverfahren, zu dem er persönlich gehört werden wollte; dann mußte er noch zur Bank. Noch im letzten Augenblick kam er dorthin. Die Zeit verrann wieder einmal viel zu schnell, und er hatte keine Ahnung, was indessen passiert war, und wer ihn mit brennender Ungeduld schon seit Stunden zu erreichen versuchte.
Für Isabel Guntram war es ganz überraschend gekommen, als man sie an diesem Vormittag damit beauftragte, David Delorme zu interviewen. Sie war kaum in ihrer Redaktion eingetroffen, als sie deswegen schon zum obersten Chef beordert wurde. Aber solche Überraschungen war sie ja gewohnt.
Das hübsche blonde Mädchen in ihrem Vorzimmer dagegen war ihr noch unbekannt, da sie fast drei Wochen abwesend gewesen war.
Irgendwie kam ihr der Name Moll bekannt vor, aber augenblicklich dachte sie dabei nicht an Daniels Sprechstundenhilfe. David Delorme hatte ihr ganzes Interesse.
»Wir werden uns ja noch näher kennenlernen«, sagte sie zu der jungen Volontärin, die sie mit einem schwärmerischen Augenaufschlag bedacht hatte, dann war sie schon wieder aus der
Tür.
»Nun krieg dich mal wieder, Sabine«, sagte der Reporter Uwe Winter. »Bis du mal soweit bist wie die Guntram, wird noch viel Wasser die Isar hinabfließen.«
»Sie ist eine tolle Frau«, sagte Sabine.
Das allerdings fand Uwe Winter auch, obgleich er sich keinerlei Hoffnung machte, daß Isabel dies zur Kenntnis nehmen würde.
»Wenn du sie dir als Vorbild nimmst, wirst du es weit bringen«, sagte er kameradschaftlich. »Allerdings hat sie an ihr Privatleben bisher kaum Zeit verschwendet.«
Das klang ein bißchen anzüglich, denn Uwe war es nicht entgangen, daß Sabine immer von einem jungen Mann abgeholt wurde.
Glühende Röte schoß in ihre Wangen. »Ein bißchen Privatleben kann man doch wohl noch haben«, sagte sie trotzig.
»Ein bißchen schon, aber in dem Beruf muß man immer am Drücker bleiben. Na, das ist dein Bier«, meinte er gleichmütig.
Zu diesem Zeitpunkt betrat Isabel schon die Hotelhalle. Aber zu David Delorme gelangte sie nicht so rasch. Sie mußte erst die Barriere überwinden, die Lorna Wilding um ihn aufgerichtet hatte.
Sie war eine bemerkenswerte Frau, wie Isabel nun feststellen konnte. Sie sah blendend aus und war äußerst geschickt im Umgang mit Menschen.
Isabel fühlte sich von einem forschenden Blick aus stahlgrauen Augen durchbohrt, nachdem sie ihren Presseausweis genau angesehen hatte.
»Zehn Minuten«, sagte sie gnädig. »Mr. Delorme braucht Ruhe.«
Das sah man ihm allerdings an. David Delorme wirkte sehr erschöpft. Nervös strich er sich ständig durch das volle blauschwarze Haar. Seine weit auseinanderstehenden Augen hatten einen schwermütigen Ausdruck.
»Darf ich Ihnen einige Fragen über Ihre Pläne stellen?« fragte Isabel nach der üblichen Einleitung.
Er sah an ihr vorbei. »Ruhe, Ruhe und noch mal Ruhe«, stieß er hervor. »Diese Empfänge gehen mir auf die Nerven, wenn Sie es genau wissen wollen.«
Er sprach schnell, und obgleich Isabel die englische Sprache perfekt beherrschte, konnte sie ihm kaum noch folgen, und alles, was danach kam, war wie ein böser Traum, denn Lorna trat ein, und auf ihre sanfte Frage, ob es ihm auch gutgehe, wurde er nahezu hysterisch.
Isabel blieb dann nichts übrig, als sich zurückzuziehen, aber als sie die Hotelhalle erreicht hatte, wurde sie von einem Kollegen aufgehalten, der für ein Konkurrenzblatt tätig war. Sie wimmelte ihn ab und steuerte dem Ausgang zu. Doch kaum hatte sie diesen erreicht, fühlte sie einen festen Griff an ihrem Arm, und als sie sich umwandte, sah sie in David Delormes verzerrtes Gesicht.
»Bringen Sie mich weg von hier, und ich sage Ihnen, was ich wirklich will«, stieß er hervor.
Isabel überlegte nicht lange. Sie war lange genug in diesem hektischen Metier tätig. Sie witterte eine Sensation, und sie war realistisch genug, diese für sich auszuwerten.
»Kommen Sie«, sagte sie kurz. Er folgte ihr wie ein anhänglicher Hund, der eben von seinem Herrn verstoßen worden war, zu ihrem Wagen.
Sie sah noch Lorna Wilding in der Tür des Hotels stehen, wild gestikulierend und rufend, aber sie startete ihren Wagen schnell.
»Thank you«, sagte David Delorme. »Ich glaube, ich wäre eines Totschlags fähig.«
»Nanana«, sagte Isabel, aber das verstand er nicht.
»Bringen Sie mich an einen Platz, wo niemand mich findet«, sagte David Delorme.
Warum gerade ich, fragte sich Isabel, aber dabei überlegte sie schnell.
»Fühlen Sie sich nicht wohl?« fragte sie.
»Überhaupt nicht«, erwiderte er. »Mit Ihnen kann ich mich wenigstens verständigen. Ich spreche nicht deutsch.«
»Möchten Sie einen Arzt aufsuchen?« fragte Isabel.
Er nickte. Sie fühlte es mehr, als sie es sehen konnte, denn sie mußte sich auf den Verkehr konzentrieren.
Er sprach wieder schnell und undeutlich, aber sie konnte verstehen, daß ihm das Wetter nicht bekomme und die Hetze ihm zuviel sei.
»Und dann sie, dieser Vampir«, stieß er zwischen den Zähnen hervor. »Ich will Gladys sprechen.«
Gladys, nicht Lorna! Es gab da also eine andere Frau.
Im Nachdenken war Isabel noch nie langsam gewesen.
»Wo ist Gladys?« fragte sie. »Kann ich Sie hinfahren, Mr. Delorme?«
»Sie ist doch nicht hier. Sie ist in England«, sagte er, »und wo sie augenblicklich ist, weiß ich nicht. Lorna hat alles kaputtgemacht. Sie hat mich zerstört!«
Es klang resigniert.
»Wie alt sind Sie eigentlich?« fragte sie.
»Zweiundzwanzig. Warum fragen Sie?«
»Es gehört eigentlich zu einem Interview«, erwiderte sie. »Noch niemand hat geschrieben, wie alt Sie genau sind.«
»Wenn Sie mich nur interviewen wollen, lassen Sie mich aussteigen«, sagte David. »Ich hasse diese Fragerei.«
»Warum sind Sie mir dann nachgelaufen? Sie wissen doch, daß ich Journalistin bin«, sagte Isabel, die so viel Respekt nun auch wieder nicht vor einem aufstrebenden Genie hatte.
»Sie waren so kühl und sachlich«, sagte er nun wie ein eingeschüchterter Junge. »Sie haben nicht die Augen verdreht und Süßholz geraspelt. Wer bin ich denn schon? Lorna Wildings Produkt.«
»Oh, das möchte ich nicht sagen«, erklärte Isabel. »Ich habe Sie gestern im Konzert gehört. Sie sind David Delorme, ein sehr begabter Pianist. Ich war mit einem Freund in Ihrem Konzert«, fuhr sie nach einer kleinen Pause fort, »er ist Arzt. Er versteht von Musik mehr als ich. Er war begeistert von Ihrem Spiel. Sie brauchen also nicht zu sagen, daß Sie Lorna Wildings Produkt sind.«
»Sie kennen diese Frau nicht. Ich bin ihr Gefangener. Sie hat mich gemanagt. Sie will den Erfolg für sich verbuchen. Ich gehöre nicht mehr mir selbst. Das ertrage ich nicht. Wissen Sie, wie ich mir diesen Weg erkämpft habe?«
»Ja, das weiß ich. Zumindest, was man darüber lesen konnte«, sagte Isabel.
»Mein Vater war Bergarbeiter. Wir waren sechs Kinder. Eine Schwester ist gestorben vor einem Jahr. Lorna hat mir nicht gestattet, ihr zu helfen. Sie rechnet mir Tag für Tag vor, was sie in mich investiert hat.«
»Wie kam es dazu?« fragte Isabel.
David versank in Schweigen. Seine Hände verkrampften sich ineinander.
»Meinetwegen können Sie es schreiben«, stieß er hervor. »Alles können Sie schreiben. So kann ich nicht weiterleben. Wohin fahren wir?« fragte er dann aber ängstlich.
»Zu Dr. Norden, das ist mein Freund, mit dem ich im Konzert war. Sie sind wirklich am Ende, Mr. Delorme.«
»Sie können ruhig David zu mir sagen«, murmelte er.
Als sie vor Daniels Praxis standen und Isabel das Schild sah, auf dem zu lesen war, daß Dr. Feldmann Vertreter von Dr. Norden sei, erinnerte sie sich, daß er heute keine Praxis mehr abhielt. Aber sie erinnerte sich auch daran, daß er erst morgen früh zur Roseninsel fahren wollte.
»Fahren wir ein paar Stockwerke höher, da hat Dr. Norden seine Privatwohnung«, sagte sie kurz entschlossen.
Lenchen öffnete ihnen die Tür. Sehr erstaunt schaute sie drein, ziemlich klein und schmal in ihrem grauen Kleid mit der schwarzen Schürze.
»Sie sind Lenchen«, sagte Isabel burschikos, nachdem sie tief Atem geholt hatte. »Ich bin eine Bekannte von Dr. Norden und bringe einen Herrn mit, für den Daniel große Sympathie hegt.«
Um Worte war sie nie verlegen. Sie buchte es zu ihren Gunsten, daß Lenchen sie wohlwollend musterte.
»Dr. Norden ist noch unterwegs«, sagte Lenchen. »Eigentlich wollte er schon früher zurück sein. Wenn Sie warten wollen?«
Mit ihr würde ich schneller klarkommen als mit Dan, dachte Isabel. Und als David sich mit einem tiefen Seufzer in einem der weichen Sessel niedergelassen hatte, folgte Isabel Lenchen in die Diele.