Notbremse - Ulrich Kasparick - E-Book

Notbremse E-Book

Ulrich Kasparick

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Beschreibung

Ein beispielhafter Ausweg aus der Stressfalle

- Die Stille annehmen: vom Workaholic zu einem besonnenen, verantwortungsbewussten Menschen
- Ein schonungsloser Bericht über das rastlose Leben als Politiker

»Wenn du stille würdest, wäre dir geholfen.« Ulrich Kasparick war plötzlich gezwungen, still zu werden. Der Workaholic, der seit 20 Jahren in der Politik »hyperaktiv« ist, erkrankte schwer und musste auf seinen überstrapazierten Körper hören.
Wie er in einem langen und schwierigen Prozess lernte, die Stille anzunehmen und sich auf ein bewusstes, selbstreflektiertes Leben zu besinnen, erzählt er in diesem Buch. Offen und ehrlich beschreibt er, wie sein Leben zwischen Ruhe und Getriebensein laviert, wie er es schafft, in seinem rastlosen Metier zu meditieren und sich Kraft spendende Pausen zu gönnen.

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Seitenzahl: 345

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Inhaltsverzeichnis
Widmung
Vorwort
Die Welt des Lärms
Impressionen
Sonntag, 21. Juni 2009, Berlin-Frankfurt-Seoul
Copyright
Gütersloher Verlagshaus. Dem Leben vertrauen
Als Dank für meinen Weggefährten Thomas T. Und für Marie, die vieles von dem ahnt, was hier steht.
Statt eines Vorworts
Können Sie gut »Nein!« sagen, wenn man Ihnen ein interessantes Angebot macht?
Ich auch nicht. Deshalb habe ich ziemlich bald »Ja« gesagt. Zu diesem Buch hier. Ich hatte keine Ahnung, auf was ich mich dabei einlassen würde. Mich hat die Aufgabe gelockt. Ein Buch zu machen über einen Entzug. Politikentzug. Nach 20 Jahren Abhängigkeit geht ein Junkie zum Entzug. Davon handelt dieses Buch. Ja, es gibt diese Süchtigen, diese Politik-Junkies. Nicht nur Drogen und Alkohol, auch »gebraucht werden« kann eine Droge sein. Davon will ich berichten. Ich hatte keine Ahnung, wie ich den Stoff gestalten könnte. Es ist eine Art Protokoll geworden. Eine Art Tagebuch von der Entzugsstation sozusagen. Eine Pendelbewegung ist entstanden. Es geht immer hin und her zwischen der Welt des Lärms und der Welt der Stille, es berichtet von ruhigen Tagen und hektischen Zeiten, von Tagen des Zorns und Tagen der Dankbarkeit. Im Mai 2009 habe ich damit begonnen. Nun schließe ich es ab. Vielleicht interessiert es Sie. Vielleicht auch nicht. Es ist nicht wirklich wichtig. Wir werden später sehen, warum das so ist.
Ulrich KasparickHeringsdorf/Usedom im November 2009
Die Welt des Lärms
In dieser Welt von heute, die alles nach der unmittelbarenRendite berechnet, ist für das Schweigenkein Platz mehr. Das Schweigen wurde vertrieben,weil es nicht ergiebig war, weil es nur da war, esschien keinen Zweck zu haben, es kam nichts ausihm heraus, es war unproduktiv. Schweigen gibt esheute fast nur noch so: als Unfähigkeit - jemandfindet keine Worte, man kann nicht mehr reden -,als etwas Reduziertes, Negatives, nur in dieserForm erscheint es noch. Es scheint nur noch einKonstruktionsfehler im andauernden Ablauf desLärms zu sein.1
Max Picard
»Sofort auf den Tisch!« damit geht es morgens los im Ministerium beim ersten Blick auf den Stapel gelber Mappen, die auf meinem Schreibtisch liegen. Alles sofort. Schnell schnell. Termine drängen. Es ist keine Zeit zu verlieren. Wir reden nicht mehr miteinander, wir reden übereinander. Zuhören ist eine seltene Kunst geworden. Seine Majestät, der Terminkalender, diktiert mir am Morgen, wo ich hinzufahren habe, welche Rede ich zu halten habe, welche Delegation zu begrüßen ist, welcher Journalist ein Interview erwartet. An manchen Tagen weiß ich am Abend nicht mehr, was eigentlich mein erster Termin am Morgen war. Was, schon wieder ist der Tag um? Wo nur die Zeit bleibt. So lebe ich Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat, Jahr um Jahr. Seit 20 Jahren geht das so, unterbrochen nur durch kurze Urlaube oder Zeiten der Krankheit. Immer schneller dreht sich das Rad. Immer lauter werde ich. Immer unfähiger, zuzuhören. Das ist die Welt des Lärms. Das ist die Welt der Politik. Das ist die Welt der Junkies. Abhängige sind wir. 20 Jahre an der Nadel. Das hinterlässt Spuren. Schlagzeilen dominieren die Morgenlektüre. Wieder wird ein Stück der Wahrheit mit einer Schlagzeile erschlagen. Im Pressespiegel lese ich schon gar nicht mehr die Artikel, nur noch die Überschriften. Das Tempo wird immer schneller. Ich werde blitzschnell im Erfassen der Dinge, werde schnell ungeduldig im Gespräch, dränge den anderen, endlich auf den Punkt zu kommen, Zeit ist kostbar. Wenn das Parlament tagt,2 erhöht sich das Tempo noch einmal. Nun wollen auch die Abgeordneten schnell und möglichst sofort Antworten auf ihre Fragen haben, wollen wissen, was im Ministerium zu ihrem Thema »läuft«, wie die letzten Vereinbarungen sind. Ich laufe durch meinen Tag wie ein hechelnder Hund. Das Schlimme ist: Manchmal merke ich es nicht mal mehr. Bleibe immer beherrscht: nach außen immer freundlich, nach innen oft das glatte Gegenteil. Die Schlagzeilen jagen sich und sie jagen das »Haus«. »Haus« sagen wir zum Ministerium, denn da sind wir zu Hause. Gute Presse ist wichtig, deshalb drückt immer die Zeit: 16.00 Uhr ist Redaktionsschluss. Ein ehernes Datum an jedem Tag. Wir haben immer im Blick, wann die Redaktionen schließen, damit man eventuell noch telefonieren und einen Sachverhalt erklären kann. Wenn »das eigene Haus« nicht rechtzeitig mit der Presse »raus« ist, dann machen es die anderen Ministerien, dann haben die den »Gewinn« einer guten Schlagzeile oder Nachricht. Ministerien konkurrieren nämlich miteinander um gute Presse. So ist das. Da geht viel Energie hinein. Es ist ohnehin schwer genug, eine gute Schlagzeile zu bekommen, die schlechten nimmt die Presse viel lieber. »Bad news are good news.« Also sind wir vor allem darauf bedacht, dass der Minister möglichst keine schlechte Presse kriegt.
Wir arbeiten als Abhängige. Denn die Sitzungstermine stehen fest. In Europa, in den Ländern, in Bundesrat und Bundestag. Ich habe zu funktionieren und pünktlich zu liefern. Wenn ein lang umstrittenes Gesetz zur letztmöglichen Sitzung noch im Kabinett sein soll, dann müssen alle anderen Fristen ent-sprechend erreicht werden. Manchmal hilft noch eine Bitte um Fristverlängerung. Vermittler der Anfrage ist das Kabinettsreferat. Aber nicht immer spielt die andere Seite mit. Manche Abgeordnete bestehen auf ihrem Recht und geben keine Fristverlängerung. Das erhöht den Druck. Dann wird bis spätabends gearbeitet, besonders lang von meinen Mitarbeitern. Wenn dann noch Abgeordnete anfangen, kompliziert herumzudiskutieren, über Fragen, die alle längst geklärt und beantwortet sind, wenn sie mal wieder »aus dem Mustopf« kommen, von nichts wissen, ganz von vorn anfangen wollen - dann bin ich kurz vor dem Platzen. Man sieht es an meinem Lächeln.
Ich bin auf Erfolg geeicht. Ich bin darauf geeicht, mich durchzusetzen. Ich liebe das stille, effektive Handeln. Will meine Ziele möglichst geräuschlos erreichen. Bin deshalb im Gespräch moderat geworden - bis zur Unkenntlichkeit. Aber erfolgreich. Nur das Ergebnis zählt. Weil ich das stille Handeln liebe und unter Druck auch gut arbeite, deshalb höre ich oft nicht mehr zu in einer Podiumsdiskussion, sondern achte vor allem darauf, dass ich meine »Botschaft« platziere. Denn die wichtigen Gespräche finden ganz woanders statt. Auf dem Flur zum Beispiel. Die wirklich wichtigen Nachrichten kommen per SMS. So mache ich es auch im Interview. Den da auf der anderen Seite interessiert ohnehin nicht wirklich, was ich denke. Der da hinter Mikrofon und Kamera macht auch nur seinen Job und steht vielleicht noch mehr unter Druck als ich selbst. Wichtig ist also nur, dass ich in den wenigen Sekunden meine Botschaft »rüberbringe«. Gestanzte Sätze. Jederzeit abrufbar. Egal, bei welcher Gelegenheit. Wenn es komplizierter wird: say nothing. Das ist eine alte Handwerkskunst für schwierige Fragen. Man redet, ohne etwas zu sagen. Ich weiß, dass mein Gegenüber auch unter Druck steht. Journalisten machen einen Höllenjob. Dieser ständige Zeitdruck, die Nachrichten werden immer kürzer. Komplizierteste Zusammenhänge müssen sie in wenige Sekunden Sendezeit verpacken. Denn nur, wer als Erster die »Nachricht« hat, wird gesendet und zitiert. Nur das zählt. Was zählt, ist die verkaufte Auflage oder die Einschaltquote. Was zählt ist das »Ergebnis«. Das hängt vom Tempo ab. So ist es auch im politischen Alltag, im Wettbewerb der Ministerien, im Wettbewerb der Abgeordneten untereinander, im Ranking der Minister. Wer als Erster mit dem Vorschlag da ist, bestimmt die Schlagzeile. Gut beraten ist er, wenn er vorher schon weiß (weil er dafür gesorgt hat), dass er eine Mehrheit für seinen Vorschlag haben wird - dann ist der Erfolg sicher. Weshalb man sich scherzhaft erzählt: »Demokratie ist - wenn etwas anderes herauskommt, als der Vorstand vorgeschlagen hat...« Die gewaltigen Apparate der Ministerien und nachgeordneten Behörden sind Teil des Betriebes. Auch Ministerien wollen gute Presse. An guter Presse kann man den Erfolg der Politik des Ministers und seiner Staatssekretäre ablesen. An guter Presse zeigt sich die gute Arbeit eines ganzen Ministeriums. So ist das. So dumm ist das - in der Tat. Die Qualität der Arbeit misst sich am Pressespiegel, manchmal sogar nur am Gewicht des Pressespiegels. Entscheidend wird häufig, dass man wahrgenommen wird, nicht, wie man wahrgenommen wird. Es soll Landesminister geben, die meinen: »Hauptsache in der BILD, egal wie …«
Dazu kommen die Umfragen. Diese wöchentlichen Umfragen werden gelesen, sie bestimmen das Bild von den Handelnden. Wichtig ist, wer der »beliebteste Politiker« ist. Natürlich bestreitet jeder Kollege, dass er diesen Maßstab für wichtig hält - aber er liest ihn dennoch und ärgert sich, wenn er nicht »oben« steht, oder wenn er gar nicht im Ranking auftaucht … Beliebtheit ist wirklich ein wichtiger Maßstab! Als ob Beliebtheit der Politiker etwas über die Richtigkeit der Politik sagen würde. Wir werden demnächst die Menschen fragen, wer der beliebteste Zahnarzt ist. Jede Wette, es ist der, der am wenigsten Schmerzen verursacht. Ob er ein guter Mediziner ist, ist unwichtig. Aber Politiker sind keine Zahnärzte …
Wöchentlich hetzen die Agenturen irgendeine neue Umfrage durch die Redaktionen und verbreiten ihren Datenmüll. Abgeordnete lesen das. In den Sitzungen der Fraktion. Im Plenum des Bundestages während der Debatte. Während der Ausschusssitzung. In Wahlkampfzeiten beschleunigt sich dieses leere Karussell noch einmal. Je nach Umfrageergebnis wird dann schon mal ein Abgeordneter oder Minister »abgeschrieben«, so, wie man Sachwerte in einem Unternehmen »abschreibt«: »Aus dem wird nichts mehr«, heißt dann das Urteil. Auch wird schon mal jemand regelrecht »niedergeschrieben«, durch Journalisten, die den Minister oder Abgeordneten nicht mögen. Dabei sind die im Artikel verwendeten Fotos wichtig, die Sprache der Bilder ist stark. Es ist nicht unerheblich, ob ein Minister bei einem Presseball mit neuer Freundin fotografiert wird nach einem langen Abend oder ob man ein Bild druckt, das ihn bei einer Rede auf einem wichtigen internationalen Kongress zeigt oder bei einer Regierungserklärung. Selbst jeder einfache Abgeordnete achtet darauf, dass er in seinem Wahlkreis »ordentliche Bilder« bereithält, falls »die Presse« mal eins braucht und keine Zeit hat »jemanden vorbeizuschicken«. In einer Kommunikation, die von immer kürzeren Nachrichten bestimmt wird; in einer Welt, in der komplizierte Inhalte auf die Größe von »tweets« eingeschmolzen werden; in einer Welt, in der man Wahrheiten auf 140 Zeichen reduziert; in einer Welt, in der man, wenn das so weitergeht, demnächst auch noch auf die Vokale verzichten und nur noch Konsonanten schreiben wird, um noch schneller und noch kürzer »kommunizieren« zu können - in einer solchen Welt dreht sich am Ende alles nur noch um sich selbst. So gesehen ist eine Legislatur ähnlich wie ein immer schneller werdender Wirbel, dem Abfluss in meinem Badezimmer vergleichbar, wenn ich den Stöpsel herausziehe. Das ganze schöne, sorgsam hergerichtete Badewasser - am Ende landet alles - im Ausguss. Dann wird neu gewählt und alles fängt von vorn an: Wer wird Minister, wer wird Staatssekretär, wer wird Ausschussvorsitzender, wer hat »was zu sagen«, wer hat nur Powerpoint? Der neue Parteitag bestimmt eine neue Führung. Nun kommt endlich der »Aufbruch«. Nun geht’s endlich los … Dabei sind es nur neue Leute an den alten Stellen. Das Rad dreht sich weiter, nur mit frischen Kräften. Die Frischgewählten sind stolz, wenn sie nun interviewt werden; sie freuen sich, wenn das Fernsehen jetzt über sie berichtet. Sie freuen sich, wenn die Öffentlichkeit sie wahrnimmt.
Besonders wichtig scheint beispielsweise zu sein, ob man mit dem zweit-, dritt- oder viertbesten Ergebnis in eine Funktion gewählt worden ist, nicht, dass man überhaupt gewählt wurde und eher weniger, was man denn mit der Funktion nun anstellen möchte … Es ist dasselbe alte knarrende Rad, das nun mit frischen Kräften weitergedreht wird. Dass dieser ganze Rummel um Wahrnehmung und Presseresonanz die Menschen verändert, die da interviewt werden - das wird viel zu wenig wahrgenommen. Denn: Der Junkie freut sich zunächst über die neue Droge. Er »genießt nun die Aufmerksamkeit der Medien«. Öffentliche Wahrnehmung ist eine starke Droge. Denn sie erhöht das Selbstwertgefühl; öffentliche Anerkennung tut gut - aber schon bald, wenn erste Kritiken kommen, lässt die Wirkung dieser Droge nach. Dann braucht man noch mehr Stoff. Das alles gilt ebenso für die Verbände, Gutachtergremien und Stellungnahmen: Entscheidend ist »das Bild in der Presse«. Wir haben uns abhängig gemacht von einer Scheinwelt. Wir leben in einem medialen Nirwana. Junkies eben. Wohl dem Politiker, der nicht in der Zeitung steht! Der kann mit etwas mehr Ruhe seine Arbeit machen. Er ist zwar auch ein Gehetzter, denn das Gesetz der Medien wirkt auch in seiner Arbeit, aber er steht weniger in der »Schusslinie« als Kanzler oder Minister, »genießt weniger Aufmerksamkeit« als Vorsitzende und andere Spitzenfunktionäre. Es ist wichtig, dass man im Stillen arbeiten kann, denn unsere Öffentlichkeit ist verliebt in die Skandale. Manchmal hilft es deshalb, eine »Nebelkerze« zu werfen, über die sich alle aufregen können, damit man im Stillen zum eigentlichen Ziel kommt. Die Republik lebt vom Politikkino, von der täglichen Soap-Opera. Man konsumiert die massenmedial vermittelte Politik wie eine Fernsehfolge. Da gibt es die Gute und den Bösen, da gibt es den Kasper und den bösen Buben, da gibt es die Räuber und den Anständigen, da gibt es die böse Mutti und den großen Jungen. Alles ist da. Vor allem Klatsch und Tratsch. Nichts gibt schönere Schlagzeilen als Klatsch und Tratsch. Wer mit wem und warum und überhaupt. Am besten ist es, wenn irgendwas rauskommt: eine Schurkerei! Über so etwas lässt sich am besten schreiben und schwadronieren. Die Leere dreht sich um sich selbst. Wichtig ist die Performance. Wichtig ist, ob der ganze Schwachsinn in bestem Hochglanz erscheint. Wichtig ist, dass man möglichst »gut dasteht«, dass die großen Politikmagazine und Tageszeitungen positiv berichten.
Ach ja: das Wörtchen »positiv«. Das ist ganz besonders wichtig, denn »wir müssen positiv rüberkommen«. Man darf dem Wähler auf keinen Fall eine Schwäche zeigen, darf niemals zeigen, dass man noch keine Antwort hat. Um Gottes Willen! Nur das nicht. Denn der Wähler honoriert das nicht. Der Wähler will geführt werden! Deshalb ist es das Allerwichtigste, dass die Dinge »auf einem guten Wege sind«. Und was auf diesem Wege alles herumliegt! Alles ist auf dem guten Weg. Da ist überhaupt kein Platz mehr. Man kommt einfach nicht mehr weiter auf diesem Weg, so viel tummelt sich dort: Die Hochglanzbroschüren müssen noch glänzender, die Filme noch brillanter, die »Fernsehauftritte« noch überzeugender werden. Sprache verrät Interessantes: Es geht um »Auftritte« - wie beim Theater. Video-Botschaften werden zusätzlich zu Fernsehen und Radio via YouTube oder Homepage, mit Facebook oder Twitter »an den Wähler« gebracht. Zugemüllt wird der mit Nachrichten, die kein Mensch zum Leben braucht. Der Wähler reagiert genervt: »Lasst mich doch endlich mit eurem Mist in Ruhe!« Das ist die Botschaft der immer größer werdenden Gruppe der Nichtwähler. Es ist ein im Grunde gesunder Reflex auf eine immer inhaltsleerer werdende politische Kommunikation, die kaum noch wirkliche Begegnung zulässt, die den Wähler nur noch zum Empfänger einer Botschaft degradiert, die sich das politische Personal ausgedacht hat und für »wegweisend« hält. Wirkliche Kommunikation ist das nicht. Denn ein richtiger Dialog entsteht nur, wenn man auch zuhört. Wirkliches Zuhören wiederum kommt aus der Stille. Davon jedoch ist unser Politikbetrieb entfernt wie der Morgen vom Abend, wie der Himmel von der Erde, wie das Wasser vom Feuer. Wirkliche Begegnung gibt es nicht in der Welt des Lärms. Es ist ein »babylonisches Geschrei des modernen Politikbetriebes und seiner öden Verheißungen« wie man in Anlehnung an die Einleitung zu Max Picards vorzüglichem Buch »Die Welt der Stille« formulieren möchte. Ich will hier keine Bitterkeit verbreiten, aber ich will die Dinge bei dem Namen nennen, mit dem ich sie kennengelernt habe und auf den sie hören. Es ist deshalb vielleicht hilfreich, am Beginn dieses Büchleins zunächst einmal den Spiegel aufzustellen und ein wenig hineinzuschauen. Wahrzunehmen, was ist. Wahrnehmen, wie ich mich verändert habe durch die Droge. 20 Jahre Junkieleben, das hinterlässt Spuren. 20 Jahre eines ganzen Lebens - und ich habe das Gefühl, dass mir das Leben zwischen den Fingern zerrinnt wie Sand. Ich habe das Gefühl, dass ich eine Handvoll Scherben in der Hand halte, durch die das Wasser nur so hindurchfließt. Ich bekomme ein Gespür für die Nutzlosigkeit dessen, was ich da tue all die Tage und Wochen. Was bleibt denn von all den Sitzungen, Verhandlungen, Delegationsreisen, Gesprächen, Gesetzesentwürfen und Änderungsanträgen? Was ist die tatsächliche Substanz? Werden die Menschen glücklicher? Sind die, die Politik machen, etwa glückliche Menschen? Werden die Menschen zufriedener durch das, was ich tue? Wird die Welt friedlicher? Nimmt der Hunger ab? Kommt die Umwelt wieder ins Lot? Was ist die Substanz unseres Tuns, was die Substanz meines Tuns? Schau in den Spiegel! Und halt mal die Klappe.
»Wenn es still um dich wird und du in Schreck erstarrst: Erkenne, dass Arbeit eine Flucht vor der Angst und der Verantwortung geworden ist und Altruismus eine mühsam verkappte Selbstquälerei. Wenn du des Steppenwolfs schadenfrohen, grausamen Herzschlag hörst - dann betäube dich nicht damit, dass du die Hetze wieder suchst. Sondern halte das Bild fest, bis du ihm auf den Grund gekommen bist.«3 Das sagt einer, der es aus eigener Erfahrung weiß. Dag Hammarskjöld. UN-Generalsekretär. Politiker. Bevor er Generalsekretär wurde, war er Staatssekretär und stellvertretender Außenminister. Er war schon in jungen Jahren ein sehr erfolgreicher Politiker. Aber er war einer der wenigen, die nicht zum Junkie wurden. Als sein Tagebuch posthum erschien, schüttelten selbst Freunde den Kopf und verstanden ihre Welt nicht mehr. Weil da jemand Politik machte, ohne von ihr abhängig zu sein. Er hatte einen anderen Halt. »Halte das Bild fest, bis du ihm auf den Grund gekommen bist«, schreibt er. Schau dir dein Spiegelbild genau an. Du bist zum Junkie geworden. Hängst an der Nadel. Brauchst die Droge. Halt inne! Ich aber renne und renne und renne und renne. Ein Hamsterrad ist langsam dagegen. Es geht immer im Kreis herum: von Sitzung zu Sitzung, von Kabinett zu Kabinett, von Delegationsreise zu Delegationsreise, von Interview zu Interview. Ständig verbreite ich gute Botschaften, vermittele den Eindruck, der Wähler könne beruhigt sein, die Dinge seien alle »auf einem guten Weg«. Und doch weiß ich, dass meine Berufskaste zu denen mit dem schlechtesten Ruf gehört. Wegen der Skandale. Wegen der Geschichtchen. Wegen der Dienstwagen und überhaupt. Man traut mir nicht wirklich über den Weg, auch wenn ich immer direkt gewählt wurde. Mit steigenden Erststimmen von Wahl zu Wahl habe ich die Konkurrenten aus dem Feld geschlagen. Habe mehr Stimmen bekommen als die Partei, für die ich angetreten bin. Das waren schöne persönliche Erfolge - glaube ich; aber es schmeckt schal. Da lauert ein Misstrauen in mir, dass da etwas nicht stimmen könnte.
Niemals habe ich mich um einen politischen Posten beworben, sondern man hat mich gefragt, ob ich Staatssekretär werden wolle; zweimal hat man mich gefragt. Und ich hab zweimal »Ja« gesagt. Aber mich selbst beschleichen eines Tages Zweifel über den Sinn dessen, was ich da tue Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr. Aber ich drücke diese leisen Stimmen beiseite. Ich will gestalten. Ich will nicht nur kritisieren und mich über »gesellschaftliche Zustände« aufregen. Ich will die Dinge besser machen. Also lasse ich mich jagen und werde ein Getriebener. Seine Majestät, der Kalender, hat mich von nun an im Griff. Die Sachzwänge eben. Ich schreibe diese Zeilen im Sommer 2009. Und schon hebt die Musik wieder an.
Auftakt. Wahlkampfauftakt. Ich bin gespannt auf die Musik, die da zu hören sein wird. Ob es ein neues Stück wird? Oder spielt man weiter die alte Leier, die schon seit so vielen Jahren gespielt wird? Die Leier vom Wachstum? Die Leier von der Sicherheit? Die Leier von der Rente und den Auslandseinsätzen? Wir werden es hören. Und wir werden ein sicheres Gefühl dafür haben, ob es wirklich stimmig ist, was da auf der Leier gespielt wird. Wir werden sehr sicher spüren, ob das LIED, das da zu hören sein wird, etwas mit Wahrheit zu tun hat oder nur das Getöse des alten rostigen Hamsterrades ist, das sich immer schneller dreht, nur weil junge Kräfte nachgerückt sind, die nun mit frischem Mut - dasselbe alte Rad drehen. Ich schreibe dieses Buch, nachdem ich mich entschieden habe, nicht ein viertes Mal zu kandidieren. Mein persönlicher »Ausstiegsbeschluss« ist also gefasst. Dennoch will ich hier zunächst die Wirklichkeit des politischen Alltags beschreiben, so, wie ich sie wahrgenommen habe. Die Wirklichkeit der Junkies, die an der Nadel hängen. Die den öffentlichen Erfolg brauchen wie der Junkie den Stoff. Es ist nur ein sehr kleiner Teil der Wahrheit, gewiss, aber vielleicht ist es nicht so ganz untypisch, was ich hier notiere. Ich werde auch über den Entzug reden müssen. Darüber, was eigentlich mit der Seele eines Menschen geschieht, dem man die Droge wegnimmt, oder was sich in ihm abspielt, wenn er sich selbst zu einer Entziehungskur entschließt. Ich will mir den Weg anschauen, der dann zu gehen ist. Es wird eine Pendelbewegung werden. Ein Hin und Her zwischen Hektik und Ruhe, zwischen Lärm und Stille. Das ist die Grundstruktur des Buches. Das Pendel. Auf der einen Seite der Lärm, die Hektik, das laute Tun. Auf der anderen Seite das Nachdenkliche, die Stille, das allmähliche zur Ruhe kommen. Vielleicht gelingt es, im Verlaufe des Textes dieses Pendel zum Stillstand zu bringen - damit Neues entstehen kann.
Impressionen

Sonntag, 21. Juni 2009, Berlin-Frankfurt-Seoul

Ich bin mit einer kleinen Delegation nach Asien unterwegs, um gemeinsam mit German Trade & Invest Investorenwerbung für Ostdeutschland zu machen. Ein dichtes Programm liegt vor uns. Aber eigentlich summt in mir das Thema »Stille«. Denn da ist ja dieses Buch, das ich schreiben soll. Vielleicht lässt sich beides verbinden, die laute und die stille Welt? Es ist eine unentschiedene Frage. Der Abschied von zu Hause war heute anders als sonst. Denn es ist vielleicht meine letzte Auslandsdienstreise. Als ich aus meinem gemieteten Häuschen aufbrach, hatte ich eine klare innere Gelassenheit: Irgendwann werde ich zum letzten Mal meine Tür abschließen. Vielleicht war es ja das letzte Mal? Ich fühle mich innerlich aufgeräumt. Ich könnte gehen. Vielleicht aber will das normale Leben mich noch nicht zurücknehmen und ich erfahre anderes, vielleicht Neues?
Das Flugzeug ist laut, die Turbinen dröhnen. Wir warten noch auf die Starterlaubnis. Mein Inneres ist ruhig. Der Hof ist bestellt. Das Feld ist gepflügt. Nichts ist zu tun. 9 Stunden 25 Minuten soll der Flug dauern. Voraussichtlich, man weiß ja nie. Es ist Abend geworden am längsten Tag des Jahres. Noch ist es hell. Viertel nach sechs. Wir fliegen der Sonne entgegen nach Osten. Bald wird sie hinter uns untergehen. Wir fliegen in die Nacht. Etwa 8860 Kilometer sind es bis Seoul. Neben mir sitzt ein junger Mann von Unilever, der in Südkorea und China nach neuen Geschäftspartnern und Lieferanten Ausschau halten will. Wir sprechen ein paar Sätze miteinander. Ich habe mir als Getränk einen trockenen Franzosen geben lassen, ein Wasser dazu. Zum ersten Mal - und ich bin viel geflogen in den zurückliegenden Jahren - fühle ich mich wie in einem ICE, irgendwie gemütlich. Dabei sind wir auf einer großen Reise über Sibirien Richtung Asien unterwegs. Ich bin gern gereist, habe viel gesehen, habe mit Präsidenten, Ministern und Staatssekretären gesprochen, war in Slums und Forschungsinstituten. Ich habe in der trockensten Wüste der Welt das größte Teleskop der Welt besucht, habe Vorträge gehalten auf großen internationalen Kongressen, habe Interviews gegeben. Erinnerungen steigen auf. Bilder, die sich eingeprägt haben. Wir fliegen grade an Bornholm vorbei, sind in estnischem Luftraum, werden bis Krasnojarsk über Russland fliegen, dann an Peking vorbei nach Seoul. Dort seien tagsüber etwa 30 Grad zu erwarten, nachts etwas über 20, informiert der Kopilot. Ich habe zum ersten Mal seit Langem bei einem solchen Flug keinen Kopfhörer auf, um Musik zu hören, sehe keinen Film, verfolge keine Flugroute auf dem kleinen Monitor am Sitzplatz. Ich sitze stattdessen einfach bequem in der Business-Class und genieße meinen Rotwein beim Schreiben.
Die Frage ist da: Wäre Politik anders, wenn die Handelnden regelmäßig in die Stille gingen? Kämen bessere Entscheidungen zustande? Wären z. B. die Verhandlungsergebnisse zum Kyoto-Folgeprotokoll in Kopenhagen besser, wenn die Vermittler regelmäßig ZAZEN trainierten? Das sind überraschend seltsame Fragen, die mich hier anwehen, 11.000 Meter über der Ostsee. Die oberflächliche Antwort ist »Ja«. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass politische Entscheidungen besser durchdacht, dauerhafter und vielleicht auch »richtiger« und »mutiger« wären, wenn die Handelnden im Politikbetrieb, also die Mitarbeiter der Ministerien, in den Staatskanzleien und Ministerbüros, nicht so sehr Getriebene wären, sondern eine regelmäßige Übung der Stille hätten. Es würde dem Politikbetrieb ganz sicher guttun, wenn in ihm »Stille-Erfahrene« arbeiten würden. Sie könnten besser zwischen Wichtigem und Unwichtigem unterscheiden. Sie würden der medialen Resonanz nicht in dem Maße nachlaufen, wie es gegenwärtig der Fall ist. Aber so ist der politische Alltag nicht. Er ist ganz anders: Minister und Abgeordnete suchen die Talkshows; sie suchen sogar merkwürdige Spielesendungen im Fernsehen auf, zu denen sie als »Promi« eingeladen werden - wenn nur die Einschaltquote groß genug ist. Es ist der Druck, wahrgenommen zu werden. Es geht um den »Marktwert«, der an der »Bekanntheit« gemessen wird. Er wird vermittelt durch Fernsehen und Zeitungen. Also muss man irgendwie in den Massenmedien vorkommen. »Was nicht in der Zeitung steht, hat nicht stattgefunden« - das war einer der ersten Sätze, die ich von einem alten ehemaligen Ministerpräsidenten lernte, als ich anfing vor 20 Jahren. Stille-Erfahrene könnten sich möglicherweise diesem medialen Druck besser entziehen. Sie würden sich womöglich weniger darum scheren, was die Zeitungen schreiben, sie würden selbstbewusster ihre Arbeit tun. Die Prostitution den Massenmedien gegenüber würde weniger werden oder vielleicht sogar ganz aufhören. All dieser gewaltige Unsinn, der gegenwärtig den Politikbetrieb nicht unwesentlich bestimmt - all das würde sich erweisen als das, was es ist: ein völlig unwichtiges Nichts ohne jegliche Substanz. Aber: Wir haben die Stille-Erfahrenen nicht. Wir haben nur sehr wenige, die sich dem Druck entziehen. Die meisten lassen sich bestimmen von der Quote und dem Rang auf der Beliebtheits- und Bekanntheitsskala. Wir haschen alle nach Wind. Wir wollen auf der Skala möglichst weit oben stehen. Wir ordnen uns dem Druck unter. Wir fügen uns. Wir werden zu Getriebenen. Wir müssen »Erfolge« haben, müssen »Erfolgsgeschichten« schreiben. Ach ja, diese »Erfolgsgeschichten«. Oft nennen wir Förderprogramme oder politische Projekte, die endlich parlamentarisch eine Mehrheit fanden - eine »Erfolgsgeschichte«. Dabei ist das Wort unter der Hand schon längst zum Synonym geworden für das, was wir ohnehin tagtäglich tun. Ständig klopfen wir uns selbst auf die Schulter. Die Pressemitteilungen der Ministerien sind voll von diesem Denken. »Lobt euch hin und wieder mal selbst - sonst tut es ja keiner«, hat einmal ein Kanzler in der Fraktion gesagt, als wichtige und hoch umstrittene Reformen endlich mit knapper Mehrheit verabschiedet worden waren. Und die Fraktion hat gelacht, denn er sagte die Wahrheit. Es ist eine seltsame Welt, die ich da kennengelernt habe. Es ist die Welt der sinnentleerten Kommunikation, deren innere Gesetze nach sehr einfachen Regeln ablaufen: Egal, über welches politische Problem gesprochen wird - die jeweilige parlamentarische Mehrheit sieht die Politik »ihres« Ministeriums immer »auf einem guten Wege«. Misserfolge gibt es nicht. Misserfolge darf es nicht geben. Misserfolge gibt es nur in der Wahrnehmung der Opposition und die irrt ja bekanntermaßen allein schon deshalb, weil sie Opposition ist. Es ist ein sehr schlichtes Theaterstück, das wir da spielen. Die Figuren in diesem Theater sind sehr einfach zu begreifen: Da gibt es die Regierung. Die Regierung ist immer »erfolgreich«. Und dann gibt es die Opposition. Die Opposition krittelt nur herum und hat keine Alternativen. Die Puppen in dem Stück gehören entweder zur Regierung oder zur Opposition. Man kann sie schon an den Kostümen erkennen. Die Puppen der Regierung fahren die größeren Autos. Mit diesem Theaterstück lügen wir uns selbst in die Tasche und jeder weiß das auch, aber alle klatschen mit. Ich habe es oft erlebt, dass ein Antrag nur deshalb nicht beschlossen wurde, weil er von der Opposition kam, auch wenn er inhaltsgleich mit eigenen Anträgen der Regierungsfraktionen war. So manchen neu gewählten Abgeordneten habe ich ratlos gesehen, wenn er zum ersten Mal wahrnehmen musste, wie diese Spielchen getrieben wurden. Ich nenne das »Haschen nach Wind«. Die Opposition hat allein schon deshalb Unrecht, weil sie Opposition ist. Die Regierung hat schon allein deshalb Recht, weil sie die Mehrheit hat. Noch inhaltsleerer geht es nicht. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie in der rot-grünen Zeit (1998-2005), ich war damals im Forschungsministerium, ein FDP-Antrag, mehr Geld für Batterieforschung bereitzustellen, mit rot-grüner Mehrheit abgelehnt wurde - eben, weil er von der FDP kam, die damals in der Opposition war. Heute, im Jahr 2009, innerhalb des Konjunkturpakets II, haben wir gerade 500 Millionen Euro vom Parlament für unser großes Elektromobilitätsprogramm bekommen, z. B. zur Weiterentwicklung der Batterien für die Autos, damit sie endlich ohne Erdöl fahren - heute, während der Weltwirtschaftskrise, merken wir, dass wir wichtige Jahre verloren haben - eben durch die Festlegung der Rollen in diesem Theaterstück auf »Regierung« und »Opposition«. Wir haben kostbare Zeit verloren durch den Automatismus, dass - egal, worum es geht - eine Sache schon deshalb falsch sein muss, eben weil sie von den »anderen« kommt und vorgeschlagen wird.
Wie wäre es, wenn wir den Vorhang mal fallen lassen würden? Wie wäre es, wenn die Puppen ihre Kostüme ausziehen würden für einen Moment, damit man die Menschen darunter sehen könnte? Wie wäre es, wenn wir das Theater mal wenigstens für einen Augenblick unterbrechen und eine Pause machen würden? Was würde sich ändern, wenn die Junkie-Puppen hin und wieder in der Pause ins Theatercafé gehen würden? Wie wäre es, wenn wir die Bühne einmal räumen und die Stille eintreten lassen würden? Mir gefällt die Szene. Wenn die Stille die Bühne betritt. Womöglich würde uns etwas wirklich Neues einfallen. Etwas Radikales womöglich. Ich glaube, dass die regelmäßige praktische Übung in Stille, das tägliche aktive Training der Achtsamkeit, die Menschen klarer, mutiger und vernünftiger machen würde. Die Puppen würden vielleicht mit der Kasperei aufhören und beginnen, ein ernsthaftes Stück aufzuführen. Denn bei genauem Anschauen, beim stillen Überprüfen der eigenen Position und der der anderen Seite - würde man das gemeinsame Anliegen entdecken können. Man würde aufhören mit dem Theater, die Wahrheit in der Position des anderen sehen. So weit reicht es jedoch in unserem Politikalltag sehr oft nicht. Wir bleiben stecken im Theaterstück. Alle stöhnen darüber - aber machen weiter mit. Nur der Applaus wird weniger. Von Wahl zu Wahl.
So etwas schwirrt mir durch den Kopf, während wir Russland erreichen. Estland liegt hinter uns. Wir sind schon in der Nähe von Moskau. Und wieder hole ich mich zurück in die Gegenwart und nehme wahr, was JETZT gerade ist: Neben und vor mir sitzen Menschen im Flugzeug. Jeder sieht einen anderen Film auf seinem Monitor, hat die Kopfhörer auf, lässt sich »berieseln«, um die lange Flugzeit irgendwie zu überbrücken. Jeder ist für sich. Es ist eine atomisierte Gesellschaft. Mit hoher Geschwindigkeit sind wir irgendwohin unterwegs. Das eigentliche Ziel kennt niemand mehr. Es ist ein gutes Bild für unsere Leistungsgesellschaft. So leben wir: als Vereinzelte, die mit hoher Geschwindigkeit unterwegs sind und das Ziel nicht mehr kennen. Was ist mit der wirklichen Begegnung zwischen den Menschen? Was haben wir uns noch zu sagen? Was wäre zu reden mit dem, der neben mir sitzt - dem mit den Kopfhörern? Ratlosigkeit zeigt sich. Menschen, die die Kraft der Stille erfahren haben,
1
Max Picard: Die Welt des Schweigens, Frankfurt am Main 1959, S. 158.
2
Das Parlament tagt nicht ständig, nur zu so genannten »Sitzungswochen«. Sonst ist der Abgeordnete im Wahlkreis oder bei anderen dienstlichen Terminen.
3
Dag Hammarskjöld: Zeichen am Weg. Das spirituelle Tagebuch des UN-Generalsekretärs, Knaur Taschenbuch Verlag 2005, S. 49.
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Verlagsgruppe Random House
1. Auflage
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eISBN : 978-3-641-04658-3
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