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Beschreibung

Auch für erfahrene Notärzte und qualifiziertes Rettungsfachpersonal können Extremsituationen bei der Notfallversorgung enorm herausfordernd und potenziell risikoreich werden: Der zu versorgende Patient befindet sich nicht in einer Wohnung, auf der Straße oder bereits im Rettungswagen, sondern in extremer Umgebung, die eine gewohnte und übliche Notfallrettung und -versorgung nicht zulässt. Unter Extrembedingungen muss ein Höchstmaß an Sicherheit für die Patienten und das Rettungsteam gewährleistet werden. Die Prozeduren und Methoden bei der Rettung und Versorgung von Notfallpatienten werden wesentlich durch das widrige Umfeld bestimmt und unterscheiden sich oftmals stark vom üblichen Vorgehen. So können z.B. unwegsames Gelände, spezielle Industrieanlagen, Einsätze unter großer öffentlicher Wahrnehmung oder Extremwetterlagen zu unkonventionellen Maßnahmen führen. Dieses Buch vermittelt in der 2. Auflage das relevante Wissen, um solche schwierigen wie seltenen Einsatz- und Versorgungssituationen der Rettungs- und Notfallmedizin erfolgreich zu bewältigen. Konzentriert auf die notfallmedizinische Praxis zeigt es umsetzbare Rettungsstrategien und Versorgungsverfahren für verschiedene Extrembedingungen auf. Autoren aus den unterschiedlichsten Bereichen erläutern mit ihrer speziellen Expertise und individuellen Erfahrungen Tipps und Tricks für verschiedene Notsituationen. Das Praxisbuch richtet sich an alle im Notarzt- und Rettungsdienst tätigen Fachkräfte und versteht sich als wichtige Ergänzung der einschlägigen Standardwerke zur Rettungs- und Notfallmedizin. Die vollständig aktualisierte Neuauflage enthält nun auch spannende Exkursbeiträge, die die Rettungseinsätze in Extremsituationen der letzten Jahre beschreiben.

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Matthias Ruppert | Jochen Hinkelbein (Hrsg.)

Notfallmedizin extrem

2., aktualisierte und erweiterte Auflage

mit Beiträgen von

M. Bayeff-Filloff | T. Becker | R. Bender | Y. Beres | R. Blomeyer | T. van Boemmel |R. Bohnen | S. Braunecker | H. Brugger | M. Döhla | C. Fasel | J. Fibranz | M. Gäßler |H. Genzwürker | M. Helm | J. Hinkelbein | S. Hoppe | B. Hossfeld | J. Hühn | C. Jänig |F. Josse | A. Kircharzt | J. Kohfahl | T. Küpper | A. Lang | H. Lorenz | D. Luschkova | A. Melzer | V. Morhart-Bojko | A. Müller-Cyran | C. Neuhaus | T. Piepho | R. Prohaska | S. Rauch | K. Reindl | M. Reng | K. Rücker | S. Rudolph | M. Ruppert | M. Schiffarth | F. Schmid | W. Schmidbauer | J. Schwietring | M. Seemann | M. St. Pierre | M. Stuhr | W. Tichy | J. Tiedemann | C. Traidl-Hoffmann | W. Voelckel | B. Wallner | K. Waltner | S. Weber | N. Weinrich | M. Weinzierl | W. Welslau | A. Werner | D. Werner | M. Winter | B. Wolcke | G. Zeilinger

Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft

Die Herausgeber

Dr. med. Matthias Ruppert

ADAC HEMS Academy GmbH

Richthofenstraße 142

53757 Sankt Augustin

und

ADAC Luftrettung gGmbH

Hansastraße 19

80686 München

Univ.-Prof. Dr. med. Jochen Hinkelbein

Johannes Wesling Klinikum Minden

Universitätsklinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin und Notfallmedizin

Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum

Hans-Nolte-Straße 1

32429 Minden

MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG

Unterbaumstraße 4

10117 Berlin

www.mwv-berlin.de

ISBN 978-3-95466-836-6    (eBook: ePDF)

ISBN 978-3-95466-837-3    (eBook: ePub)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Berlin, 2023

Dieses Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten.

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Die Verfasser haben große Mühe darauf verwandt, die fachlichen Inhalte auf den Stand der Wissenschaft bei Drucklegung zu bringen. Dennoch sind Irrtümer oder Druckfehler nie auszuschließen. Der Verlag kann insbesondere bei medizinischen Beiträgen keine Gewähr übernehmen für Empfehlungen zum diagnostischen oder therapeutischen Vorgehen oder für Dosierungsanweisungen, Applikationsformen oder ähnliches. Derartige Angaben müssen vom Leser im Einzelfall anhand der Produktinformation der jeweiligen Hersteller und anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden.

Eventuelle Errata zum Download finden Sie jederzeit aktuell auf der Verlags-Website.

Produkt-/Projektmanagement: Meike Daumen, Berlin

Copy-Editing: Monika Laut-Zimmermann, Berlin

Layout, Satz und Herstellung: zweiband.media, Agentur für Mediengestaltung und -produktion GmbH, Berlin

Coverbilder: © Martin Schiffarth, KFV GAP, Berufsfeuerwehr München, Henrik Morlock /morlock-fotografie, Sylvi Thierbach, Manuel Döhla, Deutsches Institut für Katastrophenmedizin und Aleksandr Lesik

Sektionsaufmacher: I ADAC Luftrettung gGmbH, II Henrik Morlock/morlock-fotografie, III KFV GAP, IV Sylvi Thierbach, V Daniel Schröder, VI Matthias Ruppert

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Zuschriften und Kritik an:

MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Unterbaumstr. 4, 10117 Berlin, [email protected]

Vorwort zur 1. Auflage

Die präklinische Notfallmedizin wird per se als risikobehaftetes Umfeld betrachtet; Versorgungssituationen werden jedoch ungleich komplexer, wenn die Patientin/der Patient sich nicht einfach in einem Gebäude oder auf der Straße befindet, sondern unter Umgebungsbedingungen, die eine gewohnte Notfallversorgung erschweren oder gar nicht zulassen. In diesem Buch werden daher Notfall- bzw. Versorgungssituationen als „Extremsituationen“ behandelt, in denen ganz unterschiedliche widrige Rahmenbedingungen auf die eigentliche Versorgung des Patienten Einfluss nehmen. Für solche Extremsituationen kann aufgrund ihrer geringen Inzidenz in aller Regel keine persönliche Expertise aufgebaut werden und oft versagen strukturierte Algorithmen. Zudem existieren nur wenig erkenntnisbasierte, wissenschaftliche Grundlagen für das Management seltener Notfallsituationen.

Daher war es unser Ziel, ein Praxisbuch herauszugeben, das Erfahrungswissen ausgewählter Expertinnen und Experten für spezielle Bereiche zusammenführt und einen Überblick zu diesem facettenreichen Themenkomplex gibt. So unterschiedlich die hier aufgenommenen Extremsituationen sind, so unterschiedlich ist auch die Annäherung der Autorinnen und Autoren an die einzelnen Themen, was dem breiten Rahmen der behandelten Extremsituationen nur gerecht wird.

Vor dem Hintergrund des Mangels an erkenntnisbasiertem Wissen zu diesem Themenkomplex haben wir bewusst auch gewisse Redundanzen oder sogar unterschiedliche Sichtweisen zu Einzelaspekten in den Kapiteln zugelassen.

Wir wünschen Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, viel Vergnügen und vor allem einen Erkenntnisgewinn beim Lesen dieses Buches. Wir hoffen, dass Sie den einen oder anderen Aspekt erfolgreich und zielführend in Ihre eigene Praxis übernehmen können. Vorhandenes Wissen zu nutzen und vorbereitet zu sein, sind die grundlegenden Bausteine eines erfolgreichen Rettungseinsatzes.

Matthias Ruppert und Jochen HinkelbeinMünchen und Köln im März 2018

Vorwort zur 2. Auflage

Seit der 1. Auflage dieses Buches hat das Thema „Notfallmedizin in Extremsituationen“ in fast erschreckender Weise an Aktualität und Alltagsbezug gewonnen.

Der fortschreitende Klimawandel mit Naturereignissen wie der Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen 2021, Amok-Anschläge wie in München 2016 und Trier 2020, Großunfälle wie das Zugunglück in der Nähe von Garmisch-Partenkirchen 2022 oder die zumindest latent wieder bestehende Gefahr kriegerischer Auseinandersetzungen auch in Mitteleuropa führen vor Augen, dass jeder in der Akut- und Notfallmedizin Tätige mit einer Versorgungssituation in einer wie auch immer gearteten Extremsituation konfrontiert werden kann.

Um diesen Bezug herzustellen und ein „Lernen aus Ereignissen“ zu bestärken, haben wir uns bei der 2. Auflage des Praxisbuchs entschieden, einschlägige Fallberichte zu ergänzen. Ebenso haben wir spezifische Gefahren und Bedrohungslagen, wie beispielsweise einen radioaktiven Fallout, stärker in den Fokus genommen.

Die aktuellen Erfahrungen zeigen erneut deutlich, dass etablierte Algorithmen und Versorgungsstrategien in Extremsituationen nicht 1:1 umgesetzt werden können und zum Teil einer erheblichen Adaptation an die Umgebungsbedingungen bzw. an die jeweilige Situation bedürfen.

In jedem Fall stellt eine patientenorientierte und sichere Versorgung unter schwierigen Bedingungen eine extreme Herausforderung auch an notfallmedizinisch erfahrenes Personal, das möglicherweise unvermittelt damit konfrontiert wird, dar.

Vor diesem Hintergrund hoffen wir mit dieser 2. Auflage einen weiteren Beitrag leisten zu können, um Sie – liebe Leserinnen und Leser – besser auf derartige Situationen vorzubereiten, mit denen Sie nicht nur als Teil eines Versorgungssystems, sondern auch zufällig – beispielsweise auf einer Reise – konfrontiert werden könnten.

Matthias Ruppert und Jochen HinkelbeinMünchen und Köln im Juli 2023

Inhalt

IExtremsituationen und extreme Gegebenheiten

1Extremsituationen – Bedeutung für die NotfallmedizinMatthias Ruppert und Jochen Hinkelbein

2Human Factors und Patientenversorgung unter ExtrembedingungenMichael St. Pierre

3Leitsymptom Ressourcenmangel – Notfallbehandlung in abgelegenen GegendenMichael Reng

4Atemwegsmanagement, Analgosedierung und Narkose unter schwierigen BedingungenWolfgang Voelckel

5Reanimation unter schwierigen BedingungenBenno Wolcke

CASE REPORT:Penetrierendes Trauma mit Kreislaufstillstand und erfolgreicher ReanimationMatthias Ruppert und Michael Bayeff-Filloff

6Interaktion mit der LuftrettungMichael Gäßler und Jens Schwietring

7Psychosoziale Akuthilfe (PSAH) nach lebensbedrohlichen Einsatzlagen (LebEL)Andreas Müller-Cyran, Sebastian Hoppe und Michael Weinzierl

IIBesondere Einsatzindikationen in der Industrie

1Notfälle in IndustrieanlagenThorsten Becker

2Chemie-UnfallRalf Blomeyer

3Einsätze im TagebauJörg Fibranz

4Einsätze in BergwerkenArndt Melzer

5Notfälle in ÜberdruckbaustellenWilhelm Welslau und Roswitha Prohaska

6Einsätze in WindenergieanlagenMarkus Stuhr und Nils Weinrich

IIIBesondere Einsätze im Zusammenhang mit Verkehrsmitteln

1Notfälle im BahnbetriebMichael Reng

CASE REPORT:Das Zugunglück vom 03.06.2022 bei Burgrain, Garmisch-PartenkirchenKlemens Reindl

2Notfälle in VerkehrsflugzeugenChristopher Neuhaus

3Der eingeklemmte PatientWilli Schmidbauer und Christoph Jänig

IVRettungssituationen unter besonderen geografischen und topografischen Gegebenheiten

1Rettung aus Höhen und TiefenBjörn Hossfeld, Johannes Hühn und Raphael Bender

2Einsätze im schwierigen und unzugänglichen Gelände – Optionen der Windenrettung mit HubschraubernDaniel Werner und Thomas van Boemmel

3Maritimes UmfeldMarkus Stuhr und Jens Kohfahl

4Einsätze bei TauchunfällenStefan Braunecker und Katja Rücker

5Notfallmedizin extrem – Erfahrungen aus TropenexpeditionenThomas Küpper

6Medizinische Herausforderungen des alpinen UmfeldsSimon Rauch, Bernd Wallner und Hermann Brugger

7Erfahrungen aus PolarregionenAndreas Werner, Karlheinz Waltner und Josefine Tiedemann

VBesondere Situationen und Spezialfragen

1Einsätze unter besonderer öffentlicher WahrnehmungVeronika Morhart-Bojko und Falko Schmid

2Einsätze bei Sport- und MassenveranstaltungenHarald Genzwürker

3Rettungsdienstliche Einsätze in „bedrohlichen Lagen“Björn Hossfeld, Matthias Helm und Florent Josse

CASE REPORT:Die Amokfahrt in Trier 2020Tim Piepho, Wolfgang Tichy und Andreas Kirchartz

4Versorgung von Personen des öffentlichen LebensFalko Schmid und Veronika Morhart-Bojko

5Notfälle innerhalb der BOS-OrganisationenVeronika Morhart-Bojko und Falko Schmid

6Einsätze mit Spezialkräften der PolizeiRenate Bohnen

CASE REPORT:Der Anschlag von München 2016Stephan Rudolph

7Medien und Öffentlichkeit – Der Umgang in besonderen EinsätzenChristoph Fasel

VINotfall- und katastrophenmedizinische Herausforderungen bei Naturkatastrophen, extremen Klimaereignissen und Kriegshandlungen

1Notfälle und Einsätze in extremer Hitze und in extremen HitzeperiodenAnna Lang, Daria Luschkova, Monika Seemann und Claudia Traidl-Hoffmann

2Notfälle und Einsätze nach Einsatz von CBRN-WaffenRalf Blomeyer

3Radioaktiver Fallout im Verteidigungsfall – Strahlenschutz für die HelferManuel Döhla

4Notfallmedizin in militärischen KonfliktenYannick Beres, Sebastian Weber und Florent Josse

5Von der Naturgefahr zur NaturkatastropheMartin Schiffarth und Gerold Zeilinger

6Katastrophenmedizinische Versorgung bei zerstörter Infrastruktur nach KatastrophenHanjo Lorenz

CASE REPORT:Die Ahrtal-Katastrophe am 14. Juli 2021Martin Schiffarth

7Herausforderungen bei der akut-medizinischen Erstversorgung im ErdbebengebietMichael Winter

Die Herausgeber

Die Autorinnen und Autoren

Sachwortverzeichnis

I

Extremsituationen und extreme Gegebenheiten

1Extremsituationen – Bedeutung für die NotfallmedizinMatthias Ruppert und Jochen Hinkelbein

1.1Einflussfaktoren in Extremsituationen

Während der notfallmedizinischen Versorgung von Patienten treten häufig unterschiedliche Situationen und Rahmenbedingungen auf, die nicht immer zu einem optimalen medizinischen oder organisatorischen Versorgungsablauf beitragen. Solche Rahmenbedingungen können beispielsweise durch räumliche Enge oder exponierte Einsatzorte, durch klimatische Verhältnisse, Gefahrenbereiche oder eine hohe öffentliche Wahrnehmung – schlicht durch jede ungewohnte und damit potenziell bedrohlich wirkende Umgebung – generiert werden. Solche Extremsituationen führen dann regelhaft zu einer erheblichen Steigerung des Workloads für das Rettungsteam und können ein erhöhtes Risiko für Helfer und Patienten darstellen. Gewohnte Versorgungsstrategien müssen an die jeweilige Situation häufig in dynamischer Form angepasst werden.

Etablierte Konzepte der Notfallmedizin für die Versorgung kritisch Kranker oder Verletzter verlieren dabei natürlich nicht ihre Gültigkeit – sie müssen aber situationsgerecht adaptiert werden. Dies erfordert beim Rettungsteam eine hohe Kompetenz und Flexibilität im Bereich der Situationsbewertung und in der Gestaltung konsekutiver Entscheidungsprozesse – weshalb diesen nicht-technischen Fertigkeiten in diesem Buch ein breiter Rahmen gewidmet ist. Die Adaptierungen der Versorgungsstrategien betreffen sowohl das diagnostische Vorgehen und die Patientenüberwachung/das Monitoring als auch die therapeutischen Ansätze. Insbesondere ist dabei die Indikationsstellung zu invasiven Maßnahmen, wie beispielsweise zur Narkoseeinleitung und Intubation, zu nennen. Die Notwendigkeit einer Adaptierung hat einen besonderen Stellenwert, wenn der unmittelbare Zugang zum Patienten eingeschränkt ist.

Notfallmedizin unter Extrembedingungen findet außerdem regelhaft in einer uns ungewohnten Geschwindigkeit statt: von „ganz schnell und ggf. chaotisch“ z.B. bei Terror- oder anderen Gefahrenlagen bis hin zu „ganz langsam“ z.B. im Rahmen protrahierter technischer Rettungen. Je länger ein Einsatzverlauf ist, umso mehr kann oder muss eine Patientenversorgung auch sequenziell stattfinden, was in der üblichen präklinischen Notfallmedizin selten zum Tragen kommt.

Auch ein möglicher Ressourcenmangel in Bezug auf Personal und/oder Material, der entweder initial besteht oder aufgrund der Einsatzdauer im Verlauf auftreten kann, muss im Rahmen der Abwägung möglicher medizinischer Versorgungsstrategien sorgfältig berücksichtigt werden.

Die Einschätzung und Bewertung der jeweiligen Extremsituation gehört dabei in aller Regel nicht zu den Kernkompetenzen des jeweiligen Rettungsteams, woraus sich eine intensive Interaktion in z.T. auch größeren, multidisziplinären Teams ergeben muss – und das nicht nur mit Einsatzkräften der Feuerwehren, sondern beispielsweise auch mit betrieblichen Strukturen, politischen Verantwortungsträgern oder anderen Organen der Gefahrenabwehr – möglicherweise auch mit Spezialeinsatzkräften der Polizei. Auch hierbei spielen nicht-technische Fertigkeiten – allen voran eine gute Kommunikation und das richtige Führungsverhalten – eine herausragende Rolle (s. Abb. 1).

Abb. 1 Einflussfaktoren auf die Notfallversorgung in Extremsituationen

Eine Notfallversorgung unter Extrembedingungen ist häufig körperlich anstrengend. Erforderliche Eigenschutz- oder Sicherungsmaßnahmen, eine zu tragende erweiterte persönliche Schutzausrüstung (PSA) und eine vielleicht tolerierbare, aber dennoch immanente eigene Gefährdung können zu einer physischen und psychischen Erschöpfung der Helfer führen, was wiederum die operationelle Sicherheit des ganzen Einsatzes gefährden kann.

Die Notfallversorgung kritisch Kranker oder Verletzter in Extremsituationen ist daher in vielerlei Hinsicht und in unterschiedlicher Ausprägung eine komplexe und für den einzelnen sehr seltene Anforderung, weshalb in diesem Buch auch ein Blick über den Tellerrand geworfen wird. Die Expertise aus Extrembedingungen in anderen geografischen Breiten – hier beispielsweise in den Tropen und Polarregionen – lassen vielleicht in einigen Aspekten einen Transfer zu, der uns hierzulande hilfreich sein kann auch ohne selbst in einer solchen Region jemals in eine Notfallversorgung involviert zu sein.

1.2Grundlegende Prinzipien für die Notfallversorgung in Extremsituationen

1.2.1Risikomanagement

Nicht jede „Extremsituation“ ist als solche in ihrer Bedeutung von vorneherein offensichtlich erkenn- und einschätzbar. Als eine zunächst kaum erkennbare Extremsituation wäre beispielsweise die Gefahr durch eine Einwirkung nicht wahrnehmbarer Noxen zu nennen. Aber auch bei offensichtlich komplexen Konstellationen oder Situationen ist es entscheidend, diese zunächst bewusst zu erkennen und im Team zu benennen („Team Alert“). Erst dadurch wird eine gemeinsame Risikoeinschätzung und -bewertung ermöglicht.

Je komplexer die Situation und je mehr unterschiedliche Einsatzkräfte sich vor Ort befinden, umso wichtiger ist es, die einzelnen Teammitglieder bzw. Organisationen und Fachdienste mit ihren individuellen Kompetenzen/Möglichkeiten aber auch jeweiligen Limitationen zu identifizieren. In kleineren Gruppen kann sich diese Bewertung auf jedes Individuum des Rettungsteams beziehen, bei größeren Gruppen bzw. bei größeren Einsätzen wird sich dies auf die einzelnen Institutionen als Ganzes und im Dialog auf deren jeweilige Führungskräfte reduzieren. Größere Schadenslagen zeigen zudem immer wieder – wie auch in den Fallberichten dieses Buches beschrieben – dass die sinnvolle Einbeziehung zufällig vor Ort befindlichen medizinischen Fachpersonals eine hilfreiche Strategie zur Überbrückung eines kritischen Personalmangels darstellen kann – dies aber auch eine weitere Herausforderung in der Führung darstellt.

Schließlich ist es in einer frühen Phase des jeweiligen Einsatzes von größter Bedeutung, den eigenen Handlungskorridor zu definieren, was auch in einigen Kapiteln dieses Buches thematisiert wird. Für die jeweilige Extremsituation muss sich jeder Beteiligte persönlich im Klaren sein, was er sich selbst zutrauen kann. Ein Notarzt mit Höhenangst ist bei der Rettung von einem Baukran beispielsweise genauso wenig hilfreich wie ein Notfallsanitäter mit Platzangst unter Tage. Im Gegenteil bedingt der Ausfall eines Helfers in einer exponierten Situation in aller Regel eine zusätzliche Problemstellung und ggf. sogar Gefährdung für alle anderen Helfer und den Patienten.

Das Thema „Eigenschutz“ bzw. „Eigengefährdung“ darf aber andererseits keinesfalls schwarz/weiß betrachtet werden. Jeder (rettungsdienstliche) Einsatz zur Versorgung eines Notfallpatienten geht mit einer gewissen Gefahr für das Helferteam einher. Die Frage, welches Maß an Gefährdung in Extremsituationen akzeptabel und für den Einzelnen tolerabel ist, hängt von einer Reihe von Faktoren ab und muss auch individuell beantwortet werden. Dabei spielen häufig Faktoren wie körperliche Konstitution und Fitness sowie andere gesundheitliche Aspekte, persönliche Erfahrungen im Umgang mit Stress- oder Belastungssituationen im Allgemeinen und (zufällig) vorhandene Spezialkenntnisse eine Rolle. So wird ein zufällig selbst tauchender Notarzt einen Dekompressionsunfall wahrscheinlich souveräner abwickeln können, als ein Kollege, der keinerlei Berührungspunkte zu diesem Sport hat.

So wie jeder Beteiligte das tolerierbare Maß einer Exposition/Gefährdung für sich selbst gewissenhaft bewerten muss, so ist während des Einsatzes bzw. während der Patientenversorgung von Bedeutung, gegenseitig auf die Belastungssituation des einzelnen Teammitgliedes zu achten. Gerade Blockaden (im Sinne des sprichwörtlichen „Kaninchen vor der Schlange“) sind ein häufiges Symptom für human performance limitations (HPL) bzw. das Zeichen einer nicht mehr kompensierten Belastungssituation oder einer Angstreaktion des Einzelnen.

Zusammengefasst spielen Maßnahmen eines guten und zeitgemäßen Risikomanagements für notfallmedizinische Einsätze in Extremsituationen eine wesentliche Rolle.

1.2.2Adaptierte Versorgungsstrategien

Extremsituationen bedingen – wie bereits dargestellt – häufig veränderte Zeitverläufe im präklinischen Versorgungsintervall. Durch zeitaufwendige Rettungs- oder Evakuierungsmaßnahmen ergibt sich zwangsweise die Notwendigkeit – oder aber die erleichternde Option – einer sequenziellen Versorgung. Damit ist gemeint, dass sich die notfallmedizinische Versorgung am ursprünglichen Auffindeort des Patienten zunächst auf absolut lebensrettende Interventionen beschränken muss (oder kann) und eine weitergehende Diagnostik/Therapie erst nach Optimierung der Zugänglichkeit des Patienten oder nach seiner Verbringung an einen besser geeigneten Ort sinnvoll erfolgen kann (oder muss). Hierbei sind natürlich auch mehr als zwei sich abwechselnde Phasen von Rettung und notfallmedizinscher Versorgung denkbar. Diese Strategien bedürfen immer einer gemeinsamen Planung aller Beteiligten, wobei insbesondere die Dringlichkeit der therapeutischen Maßnahmen einerseits und der Zeitbedarf für eine Optimierung der Versorgungsbedingungen andererseits gegeneinander abgewogen werden müssen.

Grundsätzlich ist es wahrscheinlich richtig zu postulieren, dass die Indikationsstellung zu invasiven, potenziell zeitkonsumierenden und komplikationsbehafteten Maßnahmen umso strenger zu stellen ist, je widriger die jeweilige Extremsituation ist bzw. die Umgebungsbedingungen sich darstellen. Umgekehrt aber erfordern vital indizierte therapeutische Interventionen möglichst unabhängig von Einflussfaktoren eine konsequente Umsetzung.

Eine der kritischsten Entscheidungsfindungen ist unter solchen Umständen die Indikationsstellung zur Narkoseeinleitung und Intubation bei einer respiratorischen Insuffizienz oder Bewusstseinsstörung. Allgemeingültige Aussagen zu dieser Indikationsstellung sind bei der Vielzahl von Einflussfaktoren in der jeweiligen individuellen Situation natürlich nicht möglich. Neben der mitunter schon komplexen rein medizinischen Bewertung der Situation müssen die Zugänglichkeit zum Patienten, die Personalkonstellation, die Materialverfügbarkeit (z.B. auch in Bezug auf alternative Atemwegssicherungsmethoden) und die Nachteile durch die Narkose per se (aufgehobene Interaktionsmöglichkeit mit dem Patienten, Verlust von Muskeltonus, Vasodilatation etc.) dabei betrachtet werden.

Potenziell hilfreich für eine Entscheidungsfindung ist das häufig verlängerte Zugangsintervall zum Patienten in einer Extremsituation. Im normalen Rettungsdiensteinsatz werden Patienten in aller Regel in den ersten 20 Minuten nach Unfall bzw. Beginn der akuten Vitalbedrohung gesehen – eine Abschätzung der Dynamik einer Organfunktionsstörung ist durch das erste kurze Zeitintervall nur sehr eingeschränkt möglich. Der Patient in einer Extremsituation wird unter Umständen erst nach deutlich längerer Latenz vom Rettungsteam angetroffen – eine Einschätzung der Dynamik z.B. einer respiratorischen Insuffizienz oder Bewusstseinsstörung fällt dadurch möglicherweise leichter und kann Hilfestellung geben bei der Frage, ob ein Patient unmittelbar „vor Ort“ intubiert werden muss oder nicht.

1.2.3Maßnahmen zur Optimierung der Versorgungssicherheit

Unter dem Begriff „Versorgungssicherheit“ kann man die Sicherheit des eingesetzten Personals sowie die notfallmedizinische Versorgungsqualität und die sich daraus ableitende Patientensicherheit subsumieren. Viele Maßnahmen zur Optimierung dieser Versorgungssicherheit zielen auf eine Reduzierung des Workloads jedes einzelnen Beteiligten ab, was zu einer besseren Situationswahrnehmung und -bewertung führt und erforderliche Entscheidungsprozesse erleichtert.

Dazu erscheint es sinnvoll, jeden Einsatz unter „Extrembedingungen“ bewusst und sinnvoll in Phasen zu unterteilen – beispielsweise in Zeitabschnitte der medizinischen Versorgung und der technischen Rettung. Weiterhin sollten in regelmäßigen Abständen definierte Unterbrechungen der – häufig parallel und unter Zeitdruck – ablaufenden Arbeiten stattfinden, in denen das gesamte Rettungsteam die Situation gemeinsam re-evaluiert und die nächsten Schritte festlegt.

Einige Erfahrungen aus der Praxis können helfen, um die Arbeitsbelastung der Beteiligten weiter zu reduzieren. Dabei kommt dem „Management“ der Notfallausrüstung unter schwierigen Umgebungsbedingungen ein hoher Stellenwert zu, um nicht durch Verlust oder Funktionseinschränkungen des Materials einen vermeidbaren Ressourcenmangel zu erzeugen. Die Exposition des Materials gegenüber Wind, Regen, extremen Temperaturen etc. kann zu ungewohnten Problemstellungen führen – beispielhaft sei der Elastizitätsverlust vieler Kunststoffprodukte bei extremer Kälte genannt, weshalb z.B. Endotrachealtuben in solchen Situationen „am Mann“ getragen werden sollten.

Die konsequente Sicherung aller Ausrüstungsgegenstände an exponierten Einsatzstellen und ein Aufrechterhalten der Ordnung in der Ausrüstung sind wesentliche Voraussetzungen für die Bewerkstelligung schwieriger und/oder langdauernder Versorgungssituationen (s. Abb. 2).

Abb. 2 Mangelnde Sicherung der Notfallausrüstung gegen Davonwehen; Patientensimulationstraining in einem Offshore-Windpark (Foto: Matthias Ruppert)

In gleicher Weise bedürfen alle Installationen am Patienten einer besonders sorgfältigen Fixierung, insbesondere wenn weitere Strecken mit dem Patienten zurückgelegt werden müssen oder sich Situationen sehr unübersichtlich darstellen. In solchen Fällen hat sich beispielsweise auch die großzügige Anwendung von sog. Defipads (statt einfacher EKG-Elektroden) nicht nur wegen der therapeutischen Optionen, sondern in erster Linie wegen ihrer guten Klebeeigenschaften bewährt.

Wenn ohne Zeitverlust möglich, sollte bei Einsätzen an exponierten Einsatzstellen versucht werden, im Vorfeld (z.B. während des Anfluges) ein Spritzenset mit den wichtigsten Notfallmedikamenten (z.B. Analgetika, Sedativa, Narkotika, Katecholamine) aufzuziehen und zu etikettieren, um diese zeitkonsumierende Tätigkeit – insbesondere wenn die personellen Ressourcen vor Ort limitiert sind – nicht unter schwierigen Umgebungsbedingungen vornehmen zu müssen.

Die vielfältigen Anforderungen, Aufgabenstellungen und Eindrücke, denen der Einzelne bei einer Notfallversorgung unter Extrembedingungen ausgesetzt ist, führen häufig zu gefährlichen Lücken in der Patientenüberwachung (s. Abb. 3). Dieses Problembewusstsein bedingt, Maßnahmen zur Sicherstellung eines kontinuierlichen Monitorings umzusetzen. Sofern entsprechende apparative Möglichkeiten zur Verfügung stehen, empfiehlt es sich zum einen, in solchen Situationen konsequent den Pulston des Monitors laut zu stellen, und zum anderen großzügig – gerade beim analgosedierten Patienten – ein exspiratorisches CO2-Monitoring gerade auch unter Spontanatmung durchzuführen, um eine kontinuierliche und unmittelbare Überwachung der respiratorischen Funktion sicherzustellen.

Abb. 3 Parallele Anforderungen an das Rettungsteam – schwieriges Gelände und aufwendige technische Rettung, Überwachung eines analgosedierten Patienten (Mountainbike-Unfall) (mit freundlicher Genehmigung der ADAC Luftrettung gGmbH)

Zusammengefasst ist ein aufeinander aufbauendes Bündel von Maßnahmen erforderlich, um in Extremsituationen sinnvoll und sicher eine notfallmedizinische Versorgung und ggf. Rettung vornehmen zu können (s. Abb. 4).

Abb. 4 Grundlegende Prinzipien für die Notfallversorgung in Extremsituationen

Der Stellenwert der einzelnen dargestellten Prinzipien hängt erheblich vom Charakter der jeweiligen Situation ab. Die hier dargestellten Grundlagen sollen der Einführung in diesen facettenreichen Themenkomplex dienen und werden in den einzelnen Kapiteln situationsbezogen weiter betrachtet.

2Human Factors und Patientenversorgung unter ExtrembedingungenMichael St. Pierre

2.1Was sind Human Factors?

Im Alltag stellt die präklinische Patientenversorgung für das behandelnde Team gelegentlich eine Herausforderung dar. Unter klimatischen, situativen und psychischen Extrembedingungen hingegen ist sie das immer. Entscheidend für die Bewältigung dieser Herausforderung sind die Menschen, die an der Patientenversorgung beteiligt sind: Rettungsdienstmitarbeiter, Notärzte und alle anderen beteiligten Berufsgruppen. Vom Verhalten dieser Menschen hängt die Sicherheit der akutmedizinischen Versorgung ab: sowohl die Sicherheit des behandelnden Teams als auch die des zu versorgenden Patienten. Diese Sicherheit muss bei jedem Einsatz neu errungen werden. Extrembedingungen erschweren dieses Vorhaben.

Die Erkenntnis, dass menschliches Verhalten einen maßgeblichen Einfluss auf das Risiko in Systemen hat, in denen Mensch und Technik miteinander interagieren, gilt zu Beginn des 21. Jahrhunderts unabhängig von der betrachteten Arbeitswelt als gesichert. Auch die präklinische Notfallmedizin ist ein solches System, weil in ihr Mensch und Technik interagieren, um Verletzten und Kranken zu helfen. Daher finden sich auch in der Diskussion um Patientensicherheit und optimale Patientenversorgung in der präklinischen Notfallmedizin zunehmend Begriffe wie „Faktor Mensch“, „Humanfaktor“ oder „Human Factors“. Für kaum einen Leser dürfte dieser Aspekt der Patientensicherheit völlig neu sein. Nimmt man als Notfallmediziner darüber hinaus an Simulationstrainings teil, die als einen Schwerpunkt die Vermittlung von „non-technical skills“ haben, so wird man regelmäßig mit diesen Begriffen konfrontiert, da der Schwerpunkt dieser Trainingsformate in der Regel in der Vermittlung von und Auseinandersetzung mit humanfaktoriellen Einflussfaktoren liegt.

Trotz der wachsenden Verbreitung von und zunehmenden Vertrautheit mit diesen Begriffen fällt bei genauerem Hinsehen auf, dass der Begriff „Human Factors“ in der Medizin häufig in einer anderen Bedeutung verwendet wird als dies andere Wissenschaftsdisziplinen tun. Während in der Medizin eine Sichtweise weit verbreitet ist, welche „Human Factors“ sowohl mit Verhaltenssicherheit (engl.: „behavioral safety“) als auch mit „Störfaktor Mensch“ gleichsetzt, wird der Begriff in der übrigen Wissenschaftswelt weiter gefasst.

Der Begriff der Human Factors beschreibt zum einen eine anwendungsorientierte Wissenschaftsdisziplin, die das Verhältnis zwischen Menschen und ihren Aktivitäten zu optimieren sucht. Im weitesten Sinne geht es hierbei um die Interaktion Mensch-Maschine/Umwelt (z.B. Arbeitsplatzgestaltung, Gerätedesign) und Mensch-Mensch (z.B. Teamarbeit, Kommunikation). Zielrichtung von Human Factors ist dabei immer das Wohlergehen und die Gesundheit der darin tätigen Menschen sowie die Effizienz und die Sicherheit von Arbeitsmitteln und Arbeitssystemen. Verhältnisprävention hat dabei immer Vorrang vor der Verhaltensprävention: „Fitting the job to the worker“ und „Make it easy to do the right thing!“ wäre zwei prägnante englische Zusammenfassungen dieser grundlegenden Intention. Die dafür verantwortlichen Forschungsdisziplinen kommen aus den Ingenieurwissenschaften, der Arbeitswissenschaft und aus der Psychologie. Als Synonym für Human Factors werden die Begriffe Ergonomie und Human Factors Engineering verwendet.

Aus humanwissenschaftlicher Sicht sind Human Factors alle physischen, psychischen, kognitiven und sozialen Eigenschaften von Menschen, welche die Interaktion mit der Umgebung und mit sozialen bzw. technischen Systemen beeinflussen oder von diesen beeinflusst werden. Dabei geht es um Individuen, Gruppen und Organisationen (Badke-Schaub et al. 2012). Umgangssprachlich werden Humanfaktoren häufig von technischen Faktoren abgegrenzt. Diese Sichtweise trifft jedoch nicht den Kern des Problems, da für die Betrachtung der Human Factors gerade die Tatsache relevant ist, wie Mensch und Technik im Alltag wechselwirken und ob die Arbeit der Menschen unterstützt und erleichtert, oder aber erschwert und behindert wird.

In diesem weiter gefassten Verständnis sind Human Factors alle Eigenschaften, mit denen wir Menschen in Kontakt mit der Umwelt treten können. Manche dieser Eigenschaften sind neurobiologisch „fest verdrahtet“ und somit nicht veränderbar. Andere Human Factors hingegen (z.B. Kommunikationsmuster, Führungsverhalten) sind durch Lernprozesse veränderbar und können damit Gegenstand von Lehrinterventionen und Trainings sein (s. Tab. 1). Die dabei erlernten Fertigkeiten werden in der Literatur auch als „non-technical skills“, „para-technical skills“ oder als „soft-skills“ bezeichnet, um sie von manuellen Fertigkeiten und fachlicher Sachkompetenz abzugrenzen.

Tab. 1 Unveränderbare und veränderbare Human Factors

Unveränderbare Human FactorsVeränderbare Human Factors

menschliche Grundmotive (physiologisch, sozial, informativ)

Reflexe

Psychophysiologie (z.B. Stressreaktion)

Vorhandensein von Emotionen

basale Funktionsweisen der Wahrnehmung

Prinzipien der Informationsverarbeitung

Funktionsweisen des Gedächtnisses

Aufmerksamkeitsspanne

Müdigkeit und Schlafbedürfnis

Temperaturregulation

Wissen (deklarativ, prozedural)

Reaktionen auf Situationshinweise

Kommunikationsmuster

Interaktionsmuster

Einstellungen und Werte

Strategien des Denkens

Für die sachgerechte Diskussion von Human Factors ist somit der Hinweis angebracht, dass es sich bei Human Factors um menschliche Eigenschaften und nicht um Fertigkeiten handelt. Human Factors kann man weder anwenden noch trainieren. Trainier- und anwendbar hingegen sind die genannten „non-technical skills“. Dieses gemeinsame Verständnis ist für alle Berufsgruppen in gleichem Maße von Bedeutung, die unter extremen Bedingungen zusammenarbeiten müssen oder für solche Aufgaben qualifiziert werden sollen.

2.2Human Factors – Wertvolles Kapital für eine sichere Patientenversorgung

In den Analysen zur Entstehung von Zwischenfällen und Unfällen taucht der Begriff der Human Factors regelmäßig auf. Häufig kommen die Untersuchungen zu dem Schluss, dass menschliche Faktoren – und nicht etwa ein Versagen der Technik – in 75–90% an der Entstehung der Unfälle beteiligt gewesen sein sollen. In der Regel werden die Human Factors dann pathologisiert und als „Human Error“ , als „Menschliches Versagen“ bezeichnet, und der Mensch als Risikofaktor porträtiert. Trotz der Ubiquität und Popularität dieser Annahme in der Medizin ist die zugrundeliegende Sichtweise problematisch und wird von vielen Sicherheitsforschern schon seit Jahrzehnten nicht mehr geteilt: Menschliches Denken und Handeln kann nicht in Analogie zu technischem Gerät verstanden werden, welches binär entweder in einem funktionsfähigen oder aber in einem defekten Zustand vorliegt. Was wir in der Kenntnis um den Ausgang einer Situation als „Fehler“ bezeichnen stellt eine normale Arbeitsweise des Gehirns dar und ist untrennbar mit den Stärken menschlicher Intelligenz verbunden: das Verhalten variabel gestalten und sich an ständig wechselnde Umgebungsbedingungen anpassen zu können. In diesem Verständnis tun Menschen in einer Situation immer das, was aus ihrer augenblicklichen Perspektive, unter Berücksichtigung des aktuellen Kenntnisstandes, der vorherrschenden Motive, der zur Verfügung stehenden Ressourcen und grundlegenden Konflikte (z.B. ökonomische Aspekte vs. Aspekte der Patientensicherheit) sinnvoll und stimmig ist. Menschen handeln immer „lokal rational“ (Woods et al. 2010). Macht man sich nach einem Zwischenfall oder Unfall die Mühe, von den wesentlichen Akteuren herauszufinden welche Denkprozesse, Emotionen und Motive zum Zeitpunkt einer Entscheidung aktiv waren, wird deren Entscheidung in der Regel nachvollziehbar; unter diesen Bedingungen hätten wir vermutlich genauso gehandelt. Stellt sich im Nachhinein heraus, dass einer Entscheidung oder Handlung eine Fehleinschätzung zugrunde lag, macht dies den Denkprozess nicht fehlerhaft oder pathologisch. Es zeigt lediglich, dass wir Menschen unter Kenntnis des Ausgangs eine Situation anders bewerten als wenn wir uns in der Situation selbst befinden (Rückschaufehler; engl.: hindsight bias) und dass bestimmte Informationen wesentlich für eine Entscheidung gewesen wären, diese aber nicht zur Verfügung standen.

Für die Patientenversorgung unter Extrembedingungen ist diese Erkenntnis relevant: Ohne Human Factors, ohne die menschliche Stärke der Verhaltensvariabilität und Adaptierung an rasch wechselnde, unübersichtliche und teilweise physisch belastende Umgebungsbedingungen, wäre keine Patientenversorgung möglich. Notfälle halten sich nicht an Spielregeln und nur Human Factors ermöglichen es uns, sich auf wechselnde und extreme Bedingungen einzustellen. Da sich Denken und Handeln noch während einer Patientenversorgung als fehlerhaft herausstellen können ermöglichen es Human Factors zudem, diese frühzeitig zu entdecken und unser Handeln so rasch auf die veränderten Bedingungen einzustellen, dass wir kreative Lösungen entwickeln und am Ende kein Schaden entsteht. Human Factors sind somit kostbares Gut, kein Risikokapital.

Human Factors stellen zu allererst sicher, dass menschliches Verhalten zum Ziel kommt. Ohne Human Factors wäre keine Patientenversorgung unter Extrembedingungen möglich. Human Factors sind kostbares Gut, kein Risikokapital.

Obwohl diese differenzierte Sichtweise von Human Factors-Experten schon lange geteilt wird, beginnt sie sich nur zögerlich im Gesundheitswesen durchzusetzen.

2.3Notfallsituationen erfordern Adaptivität und Variabilität des Handelns

Handeln lässt sich für Routinesituationen weitestgehend standardisieren. Notfälle hingegen halten sich nicht an Spielregeln, sodass eine der Kernanforderungen an die notfallmedizinische Patientenversorgung darin besteht, dass sich die behandelnden Menschen beständig an eine sich verändernde Situation anpassen müssen. Diese Notwendigkeit ergibt sich insbesondere aus der Tatsache, dass sich Notfallsituationen in einer Reihe an Merkmalen von Alltagssituationen unterscheiden. Manche dieser Merkmale, die in der Literatur auch unter dem Begriff der „Komplexität einer Situation“ zusammengefasst werden, sind unter Extrembedingungen besonders stark ausgeprägt.

In einer Notfallsituation

… kann man mit einer Fülle an Informationen konfrontiert werden (sodass man leicht den Überblick verliert).

… sind viele der Variablen miteinander vernetzt und gekoppelt (sodass das analytische Denken kaum mehr Schritt halten kann).

… ist das Geschehen vieldeutig und undurchsichtig (sodass man oft nicht weiß, woher das Problem des Patienten kommt).

… entwickeln die Ereignisse eine Eigendynamik (sodass sich das Problem verändern kann, während man noch über Lösungen nachdenkt).

… bestehen Zeitdruck und die Möglichkeit der Irreversibilität (sodass es ein „zu spät“ für manche Handlungen geben kann).

Im Alltag ist die Komplexität einer Situation in aller Regel gering. Insbesondere besteht selten die Notwendigkeit, unter Zeitdruck mit nur begrenzten Informationen entscheiden und handeln zu müssen. Zeitdruck wiederum ist der Hauptfeind des guten Denkens. Ob der Zeitdruck durch eine ausgeprägte Eigendynamik der Notfallsituation oder aber durch eine falsche Einschätzung der Situation „hausgemacht“ ist, spielt dabei keine Rolle. Die Zeit, die subjektiv für eine Entscheidungsfindung zur Verfügung steht, begrenzt alle weiteren Möglichkeiten. Sieht man sich an, mit welchen Eigenschaften einer Notfallsituation die behandelnden Personen konfrontiert werden, so erhält man eine Vorstellung davon, welche Anforderungen Notfallsituationen an die kognitive Leistungsfähigkeit der behandelnden Personen stellen. Wesentlich ist, dass es sich hierbei, vergleichbar zum erlebten Zeitdruck, um keine statischen, für alle Beteiligten gleich erscheinenden Anforderungen, sondern um wahrgenommene Eigenschaften einer Situation handelt. Diese Wahrnehmung verändert sich mit zunehmender Erfahrung der Personen. Eine Situation die den Berufsanfänger völlig überfordert kann von einem erfahrenen Notfallmediziner intuitiv erfasst und mit Leichtigkeit bewältigt werden. Diese Entwicklung von Expertise wird maßgeblich davon bestimmt, wie häufig jemand eine bestimme Situation erleben und somit Erfahrungen damit sammeln konnte (Ericsson et al. 2006). Für die Patientenversorgung unter Extrembedingungen kann jedoch im Alltag wenig Expertise entwickelt werden. Diese Erfahrungslücke kann teilweise durch simulationsbasierte Ausbildung geschlossen werden.

Das Handeln in Notfallsituationen ist jedoch nicht durch die Anwendung starrer Regeln geprägt. Vielmehr müssen sich Menschen durch variierendes Verhalten an eine sich dynamisch entwickelnde Situation anpassen. Konkret bedarf es folgender Dinge:

Problemerkennung: Intransparenz und Unsicherheit bedingen, dass wichtige Elemente einer Situation undurchschaubar und entscheidende Informationen unzugänglich sind.

Flexibilität: Auch bei vertrauter klinischer Diagnose gilt: Jeder Notfall ist ein Unikat auf das man flexibel reagieren muss.

Informationsmanagement: Wichtige Informationen können fehlen, irrelevante Daten können sich dem Behandler aufdrängen. Durch gezielte Auswahl und Integration von Daten muss entschieden werden, wann man handeln kann. Über allem muss der Argwohn erhalten bleiben: „Kann es nicht auch etwas ganz anderes sein?“

Prioritätensetzung und Zielbildung: Die Formulierung eines angemessenen Ziels gehört zu den zentralen kognitiven Aufgaben einer Notfallsituation. Nur wenn klar ist, wohin man will, können sich konkrete Schritte ergeben. Will man der Gesamtsituation gerecht werden, kann man nie „nur eines“ wollen. Vielmehr müssen verschieden Ziele im Sinne einer Kompromissbildung aufeinander abgestimmt werden.

Entscheiden unter Zeitdruck: Zeitdruck ist der Feind guten Denkens. Zeitdruck begrenzt die Möglichkeiten der Informationssammlung, Analyse, des Planens und der Zielformulierung. Je stärker der Zeitdruck, desto eher werden Informationslücken durch Erwartungen und Vorwissen gefüllt und Entscheidungen anhand von Daumenregeln (Heurismen) oder anhand von emotionaler Stimmigkeit getroffen (Affektheuristik).

Entscheiden unter Risiko: In der Akutmedizin ist die Frage nicht, ob man ein Risiko eingehen möchte, sondern unter welchen Umständen man es tut und ob der resultierende Nutzen für den Patienten dieses Risiko aufwiegt.

Führung und Teamarbeit: Kein Notfall wird nur von einer Person abgearbeitet; Teamarbeit ist ein integraler Bestandteil notfallmedizinischer Patientenversorgung. Da unterschiedliche Berufsgruppen abweichende Herangehensweisen und Prioritäten haben, sind eine klare Führungsstruktur und eine präzise Kommunikation unabdingbar (s. Abb. 1).

Abb. 1 Komplexe Einsatzsituation – Patientenversorgung durch bodengebundenen Rettungsdienst, Bergwacht, Feuerwehr und Luftrettung (Foto: Matthias Ruppert)

2.4Human Factors und Extrembedingungen

Fragt man danach, welchen Einfluss Extrembedingungen auf Human Factors haben, so ergeben sich aus den beiden eingangs genannten Definitionen zwei Perspektiven.

2.4.1Verhältnisprävention – Human Factors Engineering

Bei der ersten Perspektive einer anwendungsorientierten Wissenschaftsdisziplin stehen das Wohlergehen und die Gesundheit der arbeitenden Menschen sowie die Effizienz und die Sicherheit von Arbeitsmitteln und Arbeitssystemen im Mittelpunkt. Sicherheit soll dadurch hergestellt werden, dass man Einfluss auf die Verhältnisse nimmt (Verhältnisprävention). Die bevorzugte Vorgehensweise des Human Factors Engineering (HFE) besteht darin, dass die Umgebungsbedingungen an die Mitarbeiter angepasst werden. Dies ist beispielsweise dadurch möglich, dass die Kabine eines RTH nach Human Factor-Kriterien entwickelt wird.

Da im Gegensatz zu den Einsatzmitteln die Verhältnisse an der Einsatzstelle vorab nicht beeinflussbar sind, sind auch Gefahren einsatzbedingt gegeben und können nicht verhindert werden. Da sich folglich die klassischen HFE-Fragestellungen nur sehr eingeschränkt auf die präklinische Notfallmedizin übertragen lassen, spielt die Verhältnisprävention eine untergeordnete Rolle im Notfall (s. Tab. 2).

Tab. 2 Klassische Human Factors-Fragestellungen (Ergonomie), die im Kontext der notfallmedizinischen Arbeitswelt bereits unter Standardbedingungen wenig sinnvoll erscheinen (nach Salvendy 2012)

Klassische Human Factors-FragestellungenStehen und Sitzen Kann die Arbeitshöhe der Aufgabe angepasst werden? Heben und Tragen Sind die zu hebenden Lasten entsprechend internationaler Empfehlungen begrenzt bzw. müssen Lasten schwerer als 23 kg bewegt werden? Lärm und Vibration Liegt der Geräuschpegel unter 80 dBA? Sind Arbeiter und Geräuschquelle räumlich ausreichend getrennt? Werden technische Maßnahmen zur Schalldämpfung eingesetzt? Beleuchtung Ist das Arbeitsfeld ausreichend hell (200–800 Lux)? Sind ausreichend Kontrastunterschiede vorhanden? Sind wichtige Informationen ausreichend lesbar? Klima Entspricht die Umgebungstemperatur den physischen Anforderungen der Aufgabe? Entspricht die Luftfeuchtigkeit den physischen Anforderungen der Aufgabe? Ist die Aufenthaltsdauer in zu kalter/zu heißer Umgebung begrenzt?

Physische Extrembedingungen (s. Tab. 3) verschärfen das Gefahrenpotenzial an der Einsatzstelle und erschweren eine adäquate Situationseinschätzung durch das Einsatzteam. Neben der notfallmedizinischen Kompetenz sind daher weitere kognitive Fertigkeiten sowie skills erforderlich. Diese können im Rahmen von simulierten Einsatzsituationen trainiert werden (z.B. Windenrettung, Zusammenarbeit mit Einsatzkräften der Polizei etc.). Um sowohl in trainierten Einsatzsituationen als auch völlig neuartigen Einsatzlagen die konkrete Gefährdung so gering wie irgendwie möglich zu halten, steht der Eigenschutz an oberster Stelle: Somit wird im Vergleich zu anderen Arbeitsfeldern die grundlegende Herangehensweise von Human Factors auf den Kopf gestellt: „Verhaltenssicherheit vor Verhältnissicherheit“.

Tab. 3 Übersicht über notfallmedizinisch relevante physische und psychische Extrembedingungen

Physische und psychische ExtrembedingungenPhysische Extrembedingungen klimatische Extreme: Beeinträchtigung psychomotorischer und kognitiver Fähigkeiten durch Hitze bzw. Kälte geografische Extreme: Höhlenrettung, alpine Rettung, Windkraftanlagen, Überdruckbaustellen Psychische Extrembedingungen emotionale Belastung: Massenanfall an Verletzten, Kollegen/Bekannte/Verwandte unter den Opfern Überraschungseffekt: unerwartete und neuartige Situation, die nicht durch Prozeduren, Training oder persönliche Erfahrungen abgedeckt ist Gefährdungspotenzial: potenziell negative Auswirkungen auf eigene Gesundheit inklusive Gefährdung des eigenen Lebens (Amok- bzw. Terrorlagen) Ausmaß der Schädigung: Zerstörung größerer Teile der Infrastruktur, potenziell langwirkende Konsequenzen (Naturkatastrophen)

2.4.2Grenzen der Verhaltenssicherheit – Die Stressreaktion

Die Sicherheit, die sich durch Verhalten erreichen lässt, ist jedoch wesentlich durch die individuelle Leistungskurve der einzelnen Personen begrenzt. Neben der Schwierigkeit der Aufgabe spielt hierbei vor allem das Stresserleben der handelnden Person eine maßgebliche Rolle.

Individuelles Stresserleben kann in der Patientenversorgung unter Extrembedingungen zum limitierenden Faktor und zur Gefährdungsquelle werden.

Wesentlich für das Entstehen von Stress in einer Notfallsituation ist die Tatsache, dass die behandelnden Personen schlagartig oder allenfalls mit nur kurzer Vorlaufzeit mit einer für sie unbekannten Situation konfrontiert werden. Die Wahrnehmung dieser neuen Situation erfolgt innerhalb der ersten Augenblicke schnell, unbewusst und ganzheitlich und zielt auf die Bewertung von zwei situativen Aspekten. Der erste Aspekt dieser Bewertung lautet: „Ist diese Situation für meine Ziele bedrohlich, neutral oder günstig?“ Wesentlich ist, dass die subjektive Wahrnehmung der Situation (die sich je nach Können, Wissen, Erfahrung unterscheiden kann) von Bedeutung ist und nicht bestimmte Eigenschaften der realen Situation. Dieser ersten Bewertung folgt eine zweite (ebenso ganzheitliche und unbewusste), die sich auf die Art und den Umfang eigener Ressourcen bezieht: „Werde ich mit der Situation zurechtkommen?“

Die rasche und unbewusste Beantwortung dieser beiden Fragen entscheidet darüber, ob und in welcher Intensität bei der betreffenden Person Stress entsteht. Das Resultat dieser Bewertung wird als Gefühl wahrgenommen.

In jeder neuen Situation läuft unbewusst eine doppelte Bewertung ab: „Ist diese Situation für meine Ziele bedrohlich, neutral oder günstig?“ und: „Werde ich mit der Situation zurechtkommen?“ Die Beantwortung dieser Fragen bestimmt, ob und in welcher Intensität Stress entsteht.

Stress ist ganz allgemein gesprochen ein Anspannungszustand, der als physische und psychische Reaktion auf eine Beanspruchung hin eintritt. Unter Beanspruchung ist dabei ein Ereignis gemeint, das von Menschen eine sofortige Veränderung oder Anpassung ihres Handelns verlangt. Dieser Anspannungszustand bereitet den Organismus auf eine schnelle und zielgerichtete Handlung vor. Obwohl der Begriff „Stress“ im ursprünglichen Sinn keine negative Bedeutung hatte, erleben Menschen Stress jedoch häufig in Verbindung mit einem unangenehmen Gefühl. Dies ist immer dann der Fall, wenn Ereignisse nicht nur eine Veränderung des Handelns verlangen, sondern darüber hinaus auch als Bedrohung empfunden werden.

Eine Notfallsituation wird als bedrohlich empfunden, wenn ein Ungleichgewicht zwischen den Anforderungen und den zur Verfügung stehenden Ressourcen besteht.

Eine als bedrohlich empfundene Situation kann für Menschen jedoch nicht so bleiben: Entweder die Situation muss verändert werden oder aber die handelnde Person selbst muss sich ändern. Um sich dieser Bedrohung stellen zu können, erhöht der Organismus in jedem Fall mit einer stereotypen Reaktion seine physische und psychische Leistungsbereitschaft. Die daran anschließende Auseinandersetzung mit der Bedrohung erfolgt entweder:

durch Kampf (wenn die bestehende Gefahr als schwächer bewertet wird),

durch Weglaufen bzw. Flucht (wenn ein Angriff aussichtslos erscheint) oder

durch Nichtstun bis hin zur völligen Erstarrung (wenn keine Entscheidung weder für den Kampf noch für die Flucht möglich ist).

Da im Kontext der Notfallmedizin jedoch Patienten versorgt werden, stellt keine der drei Alternativen dieser „fight, flight, or freeze-response“ (engl.: Kampf, Flucht oder Einfrieren) eine angemessene Reaktion dar. Die körperliche Aktivierung durch die Stressreaktion geht somit nicht nur ins Leere, sondern kann darüber hinaus durch eine Beeinträchtigung der Feinmotorik die Patientenversorgung teilweise erheblich behindern (z.B. durch Tremor).

Neben der körperlichen Aktivierung bewirkt Stress auch charakteristische Veränderungen des Denkens, Fühlens und Verhaltens. Hierbei werden vor allem

die Aufmerksamkeit auf das aktuelle Problem fokussiert und der Bereich der Wahrnehmung auf diejenigen Bereiche eingeengt, die eine Person für die wichtigsten hält,

der Zugriff auf das Gedächtnis limitiert und

der Auflösungsgrad der Informationsverarbeitung verringert.

Als Folge der genannten Anpassungen vermindert sich unsere Fähigkeit,

Erinnerungen aus dem Langzeitgedächtnis abzurufen,

Informationen aus der weiteren Umgebung wahrzunehmen („Tunnelblick“),

Informationen im Arbeitsgedächtnis zu verarbeiten,

das Bild von der Situation („Situationsbewusstsein“) aufzufrischen,

Schlussfolgerungen zu ziehen und

Entscheidungen zu treffen.

Weitere kognitive Merkmale der Stressreaktion sind,

dass Handlungen stärker durch Gefühle und weniger durch bewusstes Nachdenken geleitet werden (Affektheuristik), eine tiefergehende Situationsanalyse entfällt und Entscheidungen werden unüberlegter getroffen und

dass Planungs- und Entscheidungsvorgänge vereinfacht werden, indem auf Automatismen und „Daumenregeln“ (Heurismen) zurückgegriffen wird, die sich in ähnlichen Situationen bewährt haben.

Ungeachtet der Andersartigkeit einer Notfallsituation tut man unter Stress das, was man am besten kann oder schon immer getan hat. Möglicherweise resultieren daraus jedoch nicht die Maßnahmen, die dem Patienten am meisten geholfen hätten.

2.4.3Extremer Stress – Kontrollverlust und kognitive Notfallreaktion

Kontrollverlust und Kompetenzschutz

Weil Patientenversorgung unter Extrembedingungen die behandelnden Personen leichter an ihre Leistungsgrenzen bringen und ihre Kompetenzen überfordern kann, haben diese Notfallsituationen ein hohes Potenzial für psychologischen Kontrollverlust. „Kontrolle“ bedeutet in der Psychologie, die Umwelt so beeinflussen zu können, dass man mit Erfolg handlungsfähig ist. Das Gefühl, etwas bewirken zu können („Kompetenzgefühl“), ist daher Voraussetzung, um überhaupt zu handeln. Das Gefühl machtlos zu sein hingegen, lähmt Menschen. Aus diesem Grund haben Menschen ein starkes, unbewusstes Motiv, ihr Gefühl von Kompetenz und von Kontrolle über eine Situation zu schützen. Solange dies der subjektiv der Fall ist, fühlen sie sich fähig, zu handeln.

Je bedrohlicher eine Situation erlebt wird, desto mehr kann jedoch der Schutz des Kompetenzgefühls zum dominierenden Handlungsmotiv werden, sodass sich die innere Logik des Handelns von „Sachrationalität“ zu „Kompetenz-Rationalität“ hin verändert.

Für den Betreffenden unbemerkt tritt die angemessene Behandlung des medizinischen Problems hinter die Kontrolle der eigenen Gefühle zurück. Wichtiger als die Lösung eines noch so vitalen Problems wird dann die Aufrechterhaltung des Gefühls, eine Situation im Griff zu haben oder wenigstens etwas in der Umwelt bewirken zu können (s. Abb. 2). Diese psychologische „heimliche Agenda“ trägt zu Entscheidungsfehlern bei.

Abb. 2 Notfallsituationen können das Kompetenzgefühl der behandelnden Personen bedrohen (Foto: Michael St. Pierre)

Die kognitive Notfallreaktion

Um das Kompetenzgefühl aufrecht zu erhalten und vor störenden Außeneinflüssen zu schützen kommt es zu charakteristischen Veränderungen der Informationsaufnahme, Informationsverarbeitung und der resultierenden Handlungen. Diese Veränderungen können unterschiedlich stark ausgeprägt sein und dienen vornehmlich dazu, das eigene mentale Modell der Situation gegen Zweifel abzuschirmen und durch Handeln das Gefühl von Kontrolle zu behalten.

Dominiert die Kompetenzrationalität das Denken und Handeln, so spricht man von einer kognitiven Notfallreaktion.

Bei drohendem Kontrollverlust kommt es zu folgenden charakteristischen Veränderungen (Dörner 2003, St. Pierre u. Hofinger 2020):

Externalisierung des Handelns

Der Schwerpunkt liegt auf dem Handeln (ad-hoc-istisches Handeln) und weniger auf internen Prozessen (Denken, Planen). Dass man etwas tut (und zwar sofort) ist wichtiger als das, was man tut.

Handeln wird durch Außenreize und weniger durch Ziele gesteuert. Daraus resultiert ein sprunghaftes Vorgehen (Reparaturdienstbetrieb).

Auswirkungen von Handlungen werden nicht überprüft: Man „feuert“ Maßnahmen wie Kanonenkugeln ab, ohne den weiteren Verlauf der Ereignisse zu kontrollieren (ballistisches Verhalten).

schnelle Lösungen

Obwohl gerade die Neuheit und Einzigartigkeit der Situation zur Überforderung führt, wird zur Problemlösung auf bekannte Denk- und Handlungsschemata zurückgegriffen (Methodismus).

Es werden schnelle und einfache Lösungen bevorzugt.

Mögliche Entwicklungen und Langzeitauswirkungen von Handlungen werden nicht beachtet: man löst das Problem, das man hat, und befasst sich nicht mit denen, die man noch nicht hat – aber vielleicht genau deshalb bekommen wird (Überwertigkeit aktueller Probleme).

Reduktion der Informationsaufnahme

Um effizient handeln zu können, benötigen Menschen ein stabiles mentales Modell. Um diese Stabilität zu gewährleisten, wird an einer einmal gefundenen Ordnung möglichst lange festgehalten. Informationen die darauf hindeuten, dass Annahmen nicht zutreffen, werden ausgeblendet. Man schützt das eigene Denkmodell vor der Realität (Fixierung).

Werden Menschen von einer Situation überwältigt, so wird die Informationsaufnahme auf ein Minimum reduziert. Im Extremfall reagieren die Betroffenen dann kaum mehr auf Außenreize.

unangemessene Komplexitätsreduktion

Es werden einfache und reduktionistische Denkmodelle gebildet. Je klarer und einfacher Modelle sind, desto mehr Sicherheit verleihen sie und desto mehr vermitteln sie Menschen das Gefühl, sich auszukennen und Herr(in) der Lage zu sein.

Das eigene (reduzierte) Modell der Situation wird gegenüber anderen Sichtweisen geschützt; es resultieren Rechthaben wollen, Abwehr von Kritik und Zweifeln sowie die Vermeidung des Wörtchens „aber …“ (Dogmatismus).

Alternativ zu schnellen Lösungen und Komplexitätsreduktion wird versucht, das Kompetenzgefühl mittels intensiver Analyse der Situation zurückzugewinnen. Man ist bestrebt, vollständiges Wissen zu erlangen und alle Risiken abzuwägen. Dadurch wird eine Entscheidung hinausgezögert oder gänzlich vermieden (Paralyse durch Analyse).

Zur Emotionsregulation wird die Verantwortung für Probleme schnell bei anderen Personen gesucht, anstatt der Komplexität des Realitätsbereichs zugeschrieben (Attributionsfehler, Personalisierung).

Wichtig für das Verständnis der aufgeführten kognitiven Veränderungen erscheint der Hinweis, dass es sich hierbei nicht um irrationale oder pathologische Verhaltensweisen handelt. Vielmehr sind alle Verhaltensweisen insofern zielführend, da sie ja nicht den Sachanforderungen der Notfallsituation, sondern der Stressregulation der Handelnden gerecht werden wollen: Das Gefühl, die Situation nicht kontrollieren zu können, muss verschwinden. Für den Betroffenen in der Situation läuft die kognitive Notfallreaktion in aller Regel unbewusst ab. Bewusst fühlt man sich dem Problem in Einschränkungen (und in Verbindung mit unangenehm negativen Emotionen) durchaus gewachsen, da das Kompetenzgefühl erfolgreich gegen alle Anfeindungen verteidigt wurde.

2.5Human Factors und Extrembedingungen – Konsequenzen

Eine Verhältnisänderung ist aus den dargelegten Gründen nicht möglich. In eingeschränktem Maße kann durch adäquate Auswahl von Schutzkleidung und Ausrüstung der Einfluss physischer Extrembedingungen (s. Tab. 3) gemildert werden.

Limitierend für sicheres Verhalten auch unter Extrembedingungen ist die Entstehung von Stress bzw. die Ermöglichung von Stressresistenz. Hierbei sind mehrere Ansatzpunkte gegeben:

Personalauswahl: In anderen Hochrisikotechnologien (z.B. zivile und militärische Luftfahrt), bei Spezialeinsatzkräften der Polizei und des Militärs, und teilweise auch bei der Auswahl von Mitarbeitern in der Luftrettung erfolgt eine systematische und rigorose Personalauswahl. Die Kriterien des Assessments führen zu einer Selektion von Persönlichkeitseigenschaften, welche die betreffenden Personen geeigneter erscheinen lassen, um stressvolle Situationen sicher zu bewältigen.

Erfahrungen sammeln: Stress entsteht aufgrund eines wahrgenommenen Ungleichgewichts zwischen eigenen Ressourcen und den Anforderungen der Notfallsituation. Da die stressauslösende Bewertung eine subjektive und erfahrungsabhängige Einschätzung darstellt, reduziert zunehmende Erfahrung das Stressniveau. Für wahrscheinlich die meisten komplexen Notfallsituationen bzw. Extremsituationen ist es kaum möglich, einen individuellen Erfahrungsaufbau sicherzustellen, da entsprechenden Ereignisse schlicht zu selten sind. Simulationen sind das geeignete pädagogische Lehrmittel, um Situationen zu schaffen, welche den Anforderungen realer Einsatzbedingungen nahekommen.

Denkstrategien trainieren: Extrembedingungen überraschen die behandelnden Personen mit Ereignissen und Situationsmerkmalen, für die sie in der Regel keine Erfahrungen und keine erlernten Strategien haben. Somit können die Situationseinschätzung und Problemlösung nicht über die Anwendung erlernter Regeln erfolgen, sondern müssen über bewusstes, sequenzielles Denken erfolgen. Die dafür notwendigen Denkstrategien (z.B. FOR-DEC, DECIDE) können trainiert werden.

Teamarbeit und Führung schulen: Teammitglieder können eine wesentliche Ressource darstellen, um den Stress einer Extremsituation abzufangen. Entscheidend dafür sind ein geteiltes Situationsbewusstsein, klare Kommunikationsmuster und eine geteilte, den Belastungsgrenzen der Teammitglieder angepasste Arbeitsbelastung.

Literatur

Badke-Schaub P, Hofinger G, Lauche K (2012) Human Factors. Psychologie sicheren Handelns in Risikobranchen. Heidelberg, Springer

Dörner D (2003) Logik des Misslingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Berlin

Ericsson KA, Charness N, Feltovich PJ, Hoffman RR (2006) The Cambridge handbook of expertise and expert performance. Cambridge: Cambridge University Press

Salvendy G (2012) Handbook of Human Factors and Ergonomics. 4. Auflage. Wiley & Sons, Hoboken, NJ

St. Pierre M, Hofinger G (2020) Human Factors und Patientensicherheit in der Akutmedizin. 4. Auflage. Springer, Heidelberg

Woods DD, Dekker S, Cook R, Johannesen L, Sarter N (2010) Behind human error, 2nd edn. Ashgate Publishing Ltd., Farnham

3Leitsymptom Ressourcenmangel – Notfallbehandlung in abgelegenen GegendenMichael Reng

In unserer hochzivilisierten Welt scheint ein echter Ressourcenmangel am Notfallort auf den ersten Blick kaum denkbar. Wir können über die allgegenwärtigen Mobiltelefone und Smartphones mit ihren ausfallssicher redundant ausgelegten Netzen jederzeit Material und Mannschaften aus den schier unbeschränkten Vorhaltungen nachfordern. Das ist leider nicht immer so.

Vom vieldiskutierten und strategisch-taktisch berücksichtigten Ressourcenmangel beim Massenanfall von Verletzten, wie auch von der in der zugehörigen Leitlinie ausführlich beschriebenen Erstversorgungssituation bei Reanimation, soll hier nicht die Rede sein. Aber auch abseits solcher Desaster zeigt sich unter bestimmten Umständen rasch, dass selbst bei der Versorgung „einfacher“ Notfälle mitten in Westeuropa jederzeit Situationen entstehen können, bei denen für längere Zeit auf sonst selbstverständliche Mittel zur adäquaten Versorgung akut erkrankter oder verletzter Menschen verzichtet werden muss.

Hierbei müssen die zwei häufigsten, zugrundeliegenden Ursachen unterschieden werden, die einen solchen Ressourcenmangel verursachen: das Versagen der Alarmierungskette bzw. ein Notfall in schwer zugänglichem bzw. nur dünn besiedeltem Gelände.

3.1Versagen der Alarmierungskette

Das sensibelste Glied der Rettungskette ist der Notruf. Kann kein Notruf abgesetzt werden, so können die Rettungskräfte die erforderlichen Ressourcen nicht zeitnah zum Einsatz zu bringen. Daher ist es wichtig, sich Gedanken zu machen, wie in jedem Fall ein Notruf abgesetzt werden kann und welche Umstände die Effizienz des jeweiligen Verfahren beeinträchtigen können.

3.1.1Mobiltelefon

Es werden kaum mehr Notfallmeldungen über kabelgebundene Telefone oder fest installierte Alarmierungseinrichtungen (Notrufsäulen) abgegeben. Viel zu selbstverständlich ist die örtlich ungebundene telefonische Kontaktaufnahme über Mobiltelefone geworden. Die Alarmierung über Mobiltelefone bietet zudem viele Vorteile: So ist die stets vorwahlfreie Nummer 112 Systembestandteil der GSM-Spezifikation und nahezu weltweit von allen Mobiltelefonnetzen aus als Notrufnummer nutzbar.

GSM ist das Global System for Mobile Communications, der weltweit am weitesten verbreitete und auch in Deutschland genutzte technische Standard für volldigitale Mobilfunknetze.

In Amerika und Kanada wird der Notruf 112 dieser Mobiltelefone, sofern sie in den dortigen Netzen einbuchen können, automatisch auf die Nummer 911 umgeleitet. Spezielle Notrufnummern im alpinen Gebiet erreichen die Bergrettung in Österreich und Schweiz direkt, können aber auch über die 112 weitervermittelt werden. Bei einem Notruf wird dem Leitstellendisponenten die Telefonnummer des Anrufers, in der Regel unabhängig von einer eingestellten Rufnummernunterdrückung angezeigt. Auch das Orten des Mobiltelefons ist zumindest über die genutzte Funkzelle (auch in Gebäuden) immer möglich. Bei eingeschalteter und verfügbarer (im Freien!) GPS-Funktion des Mobiltelefons ist die Ortung des Telefons in unbewohntem Gebiet via GPS jedoch deutlich präziser als die Ortung via Funkzelle. Die GPS-Funktion verbraucht allerdings viel Akku-Energie und sollte daher in Notfallsituationen nur passager eingeschaltet werden, um die Laufzeit des Mobiltelefons so lange wie möglich aufrecht zu erhalten. Ein EU-weiter Standard für die Standortübermittlung bei Notrufen ist in Arbeit.

Jeder PIN-Schutz eines GSM-Telefons kann durch die Wahl der Notrufnummer 112 oder Drücken einer ggf. vorhandenen „Notfalltaste“ überwunden werden. Obligate Voraussetzungen zur Nutzung des Mobiltelefons zur Alarmierung sind:

Eine eingelegte SIM-Karte (der Guthaben- oder Vertragsstatus ist dabei egal),

ausreichend Ladung im Telefon-Akku zum Aufbau des Telefonats und

ein verfügbares Mobiltelefon-Netz.

Eine eingelegte SIM-Karte ist verpflichtend, da deren Käufer identifiziert werden und so einem Missbrauch der Notrufeinrichtungen vorgebeugt werden kann. Sowieso wird niemand ein Mobiltelefon ganz ohne SIM-Karte mit sich führen.

Kritischer ist die Notwendigkeit, im Telefon einen geladenen Akku zu haben. Es empfiehlt sich daher bei Aktivitäten in wenig bevölkerten Gebieten einen – geladenen – externen Akku (sog. Powerbank) samt passendem Überleitungskabel mitzuführen. Soll dieser nur „im Notfall“ eingesetzt werden, kann eine kleine, handliche Bauform gewählt werden. Für Mobiltelefon- und Powerbank-Akku gilt: Bei Kälte sinkt die verfügbare Leistung, es empfiehlt sich daher, Akkus in Körpernähe zu tragen (20°C sind ideal). Das Ausschalten von WLAN, Bluetooth, Push-Meldungen und weiteren Diensten hilft Akku-Energie zu sparen. Für längere Touren kann ein Akku mit integrierten Solarzellen sinnvoll sein, dieser muss zum Laden allerdings „offen“ getragen werden. Der Stärke der Solarladung darf aber – unabhängig von der sowieso unzuverlässigen Sonneneinstrahlung – nicht überschätzt werden. Auch Akku-Bauformen mit integriertem Hand-Dynamo können sinnvoll sein, um jederzeit Notrufe absetzen zu können.

Ohne verfügbares Mobilfunk-Netz kann natürlich kein Notruf abgesetzt werden. Erhöhte Standpunkte sind für einen guten Empfang meist günstiger als Vertiefungen im Landschaftsprofil. Der Einsatz eines Headsets erlaubt es, die „Balkenanzeige“ der Empfangsstärke während des Gesprächs zu sehen und die Position des Mobiltelefons zu optimieren. Bezüglich der Netzabdeckung gibt es bei der Wahl der 112 im Vergleich zu Anrufen bei anderen Nummern einen wichtigen Vorteil: Hat das Mobiltelefon keinen Empfang im Netz der eingelegten SIM-Karte, so wird bei Wahl der 112 automatisch das beste verfügbare (ggf. auch konkurrierende) Netz genutzt. Damit reduzieren sich die nicht abgedeckten Gebiete in Westeuropa drastisch. Ist die 112 wegen eines regionalen technischen Defekts nicht erreichbar kann in Deutschland die offizielle Notruf-App der Bundesländer (nora-notruf.de) hilfreich sein, die die integrierten Leitstellen per Internet erreicht.

Für Smartphones gibt es zahllose Notruf-Apps, die den Notruf in bestimmten Gebieten optimieren und die ggf. erforderliche Ortung vereinfachen (z.B. die SOS EU ALP der Bergrettung Tirol, iRega App für die Bergrettung in der Schweiz etc.). Hilfreich ist die für Android- und Apple-Geräte kostenlos verfügbare „Open Signal App“ die wie mit einem Kompass anzeigt, aus welcher Richtung das aktuell stärkste Mobilfunk-Signal kommt. Ist das Signal schwach, zeigt die App, in welche Richtung man laufen muss, um ein stärkeres Signal zu erhalten.

Wenn keine Sprechverbindung und keine APP-Verbindung möglich ist, kann dennoch – nicht selten unbemerkt vom Benutzer – eine SMS-Verbindung zustande kommen und die Notfallmeldung übertragen.

Gelingt es nicht, einen Notruf abzusetzen, so ist es sinnvoll, einen Notruf via SMS zu formulieren. Klug ist es dabei im SMS-Text neben den typischen Notruf-Inhalten die eigene Position und eine Bestätigung des Notrufs anzufordern. Die gängigen SMS-Programme zeigen den erfolgten Versand (kann mehrere Minuten dauern) an.

Für die Orientierung kann es sinnvoll sein, die Karte des Gebiets, in dem man sich aufzuhalten plant, vor Reisebeginn auf das Smartphone zu laden. Die Orientierung mittels einer lokal auf dem Mobiltelefon verfügbaren Karte und dessen GPS-Empfänger benötigt keine Netzverbindung. Falls ein längerer Aufenthalt weit abseits der Zivilisation geplant wird, kann auch die Investition in Satellitentelefonie sinnvoll sein, die – je nach Netz – im Freien (Höhlenforscher profitieren nicht) von nahezu überall weltweite Kommunikation erlaubt. Relativ preisgünstig sind hier sog. SAT-Tracker, die weltweit eine textbasierte SOS-Meldung absetzen können.

3.1.2Notruf „von Hand“

Wenn die Technik versagt oder nicht verfügbar ist, gibt es natürlich auch die Option, Notrufsignale ohne technische Unterstützung abzusetzen.

Das alpine Notsignal sollte jedem Bergwanderer und Tourengeher bekannt sein:

Hör- oder sichtbares Zeichen sechs Mal innerhalb einer Minute.

Beispiel: lautes Geräusch, Rufen, Winken, mit Kleidungsstück Wedeln etc.

Achtung: tiefe Töne sind weiter hörbar

Das Signal soll dann jeweils nach einer Minute Pause wiederholt werden.

Als Antwortzeichen erfolgt ein Zeichen drei Mal pro Minute.

Es macht daher Sinn, auch in unwegsamem Gelände eine Uhr mitzuführen. Dass ein Zeiger-Zifferblatt ggf. auch für Kompass-Funktionen genutzt werden kann, ist ein nützlicher Nebeneffekt.

Beim Wassersport und in der Schifffahrt sind andere Notrufzeichen üblich:

das langsame und wiederholte Heben und Senken der Arme

insbesondere für Bootsfahrer, Surfer und Kiter wichtig

ein wiederholtes, jeweils länger als fünf Sekunden anhaltendes Tonsignal

roter Rauch bzw. rote Signalraketen

Das Morsesignal 3 x kurz, 3 x lang, 3 x kurz (SOS) kann auch ohne Funk und abseits der Seenotrettung in geeigneten Situationen (Verschüttung, Höhlen- oder Schachtunfall etc.) herangezogen werden.

3.1.3Stille Post, mangelnde Rückmeldung

Die Rettungskette versagt auch, wenn Informationen falsch oder unvollständig weitergegeben werden. Heute ist es – wie auch in den aktuellen Reanimationsleitlinien dargestellt – nicht selten sinnvoll, den Notruf via Mobiltelefon unter Nutzung der Freisprecheinrichtung abzusetzen, was den Vorteil bergen kann, dass alle Umstehenden (potenziellen Helfer) automatisch über den Gesprächsinhalt informiert sind. Zudem hat der Melder so während des Telefonats seine Hände frei um sich damit bereits zu diesem Zeitpunkt aktiv am Management des Notfallgeschehens beteiligen zu können (z.B. HDM).

Gelegentlich muss ein „Melder“ ausgesandt werden, um die Alarmierung des Rettungsdienstes durchzuführen, weil im Bereich des Notfallgeschehens keine geeigneten Kommunikationsmöglichkeiten bestehen (z.B. beim Wanderunfall Laufen zum nächsten Punkt mit Mobilfunknetz, in den Bergen Laufen zur nächsten Hütte etc.): Dabei ist es wichtig, den Melder darauf hinzuweisen, dass nach erfolgter Alarmierung nach Möglichkeit eine Rückmeldung erfolgen sollte, damit die verbliebenen Helfer vor Ort bzw. der ggf. allein gelassene Verunglückte so bald als möglich wissen, dass die benötigte Hilfe unterwegs ist.

3.2Notfall im „Abseits“

Natürlich können in schwer zugänglichem oder dünn besiedeltem Gelände alle Unfälle und akuten Erkrankungen auftreten, die auch in leichter zugänglichen oder dichter besiedeltem Regionen behandelt werden müssen. Oft bleibt dem (zufälligen) „Helfer vor Ort“ dabei nur, sich mit den gegebenen Ressourcen bis zum Eintreffen von Rettungsdienst und/oder geeignetem Material zu behelfen. Es gibt allerdings einige Notfälle, von denen im Folgenden die Rede sein soll, die typischerweise in der „Wildnis“ auftreten und besondere Handlungsweisen erfordern.

Vor Beginn jeder der im Folgenden dargestellten Basis-Rettungsmaßnahmen muss immer versucht werden, einen Notruf abzusetzen, um erweiterte Hilfe nachzufordern, da nur so bei ernsthaften Problemen eine Perspektive für den Langzeiterfolg jeglicher Rettungsmaßnahme besteht.

3.2.1Häufige Notfälle

Akzidentelle Hypothermie

Unter Hypothermie versteht man den unbeabsichtigten Abfall der Körperkerntemperatur (KKT) unter 35°C. Hauptursache hierfür ist das oft unfreiwillige längere Verweilen in einer kalten und/oder nassen Umgebung. Unterkühlungen treten z.B. nach Bagatellverletzung beim Wandern, die ein Weiterlaufen verhindern und zum Biwakieren im Freien zwingt, oder beim Wassersport auf, wenn das Verlassen des Wassers aus welchem Grund auch immer längere Zeit nicht möglich ist. Auch viele „Auffindungssituationen“ gehen mit Unterkühlung einher. Das gesunde Individuum reagiert auf die beginnende Hypothermie mit Schüttelfrost. Bei einer KKT unter 32°C nimmt das Frösteln mehr und mehr ab und ist bei 30°C in der Regel nicht mehr nachweisbar. Unter 34°C KKT nehmen die Hirnaktivitäten des Patienten ab, er wird zunächst leicht erregbar, dann verwirrt, apathisch und wird schließlich ab etwa 28°C KKT komatös. Unterhalb von 30°C KKT sinkt auch das Herzzeitvolumen drastisch, wobei das Gehirn durch den in der Kälte reduzierten Sauerstoffbedarf glücklicherweise langsamer Schäden als bei Normothermie nimmt. Eine KKT unter 24°C kann in seltenen Fällen überlebt werden, eine Hypothermie unter 9°C KKT gilt als mit dem Leben nicht vereinbar.

Die Behandlung bei limitierten Ressourcen wird sich immer am klinischen Bild orientieren. Vorrangig ist es, den Patienten in eine warme oder wärmende Umgebung zu verbringen bzw. eine solche zu schaffen. Ein Patient mit Schüttelfrost ist durch seine per Definition geringe Hypothermie nur wenig gefährdet und bedarf nach Verbringen in wärmende Umgebung keiner besonderen Behandlung. Ein hypothermer und in der Vigilanz alterierter Patient ist dagegen vital bedroht. Er sollte – insbesondere bei der Rettung aus Wasser oder Eis – stets horizontal gelagert werden, um den Kreislauf zu unterstützen und um den „afterdrop“ der KKT durch schubweise Mobilisation des kalten Blutes aus den peripheren Gefäßen zu vermeiden. Aus diesem Grund sollten auch Fremd- und Eigenbewegungen soweit wie möglich unterbunden werden (Ausnahme: CPR und Defibrillation bei Kammerflimmern sind trotz der resultierenden Bewegungen bei gegebener Indikation unerlässlich). Nasse Kleidungsstücke sollten bei solchen Patienten zum Entkleiden immer zerschnitten werden, sobald eine warme Umgebung, z.B. durch Decken, geschaffen werden konnte, um die Bewegungen beim „konventionellen“ Entkleiden zu vermeiden. Idealerweise soll der Patient dann so gelagert werden, dass er nicht nur geschützt liegt, sondern auch eine konduktive Wärmeableitung durch die Liegefläche vermieden wird (Unterlage). Auch ein provisorischer Windschutz kann sehr hilfreich sein. Eine milde externe Wärmezufuhr sollte auf den Torso, nicht auf die Extremitäten einwirken. Weder unmittelbare Hitze (> 37°C) noch Druck soll lokal appliziert werden um topische Schäden zu vermeiden. Größere Volumengaben sind bei hypothermen Patienten initial meist nicht erforderlich (erst im Rahmen der Weiterversorgung wegen der Gefahr des Ausbildens einer Crush-Niere), gewärmte Infusionen sind vorteilhaft. Eine empirische, intravenöse Glukosegabe beim hypothermen Patienten wird in den amerikanischen Leitlinien empfohlen.

Akzidentelle Hyperthermie

Hitzevermittelte Erkrankungen vom Sonnenbrand zum Hitzschlag können je nach Dauer und Grad der Hitzeexposition von Bagatellbefunden bis hin zu lebensbedrohlichen Zuständen variieren. Leider treten sie nicht selten im Rahmen übertriebener Freizeitaktivitäten abseits regulärer Versorgungswege auf. Das klinische Erscheinungsbild reicht dabei von Mattigkeit über Muskelkrämpfe, Hitzekollaps, Hirnödem mit Bewusstseinsstörungen und von Krampfanfällen bis zum Tod.

Natürlich liegt im Vermeiden der Hitzeexposition bei gleichzeitiger körperlicher Schonung der Schlüssel zur Prävention hitzevermittelter Schäden. Sind aber bereits Symptome vorhanden, so sollten bis zum Eintreffen professioneller Hilfe neben dem Entfernen des Patienten aus dem überhitzten Bereich die Behandlungsstrategien aus Tabelle 1 zur Anwendung kommen.

Tab. 1 Behandlungsstrategien je nach Schweregrad der Hyperthermie

Schweregrad der HyperthermieKlinikBehandlung mild Hitzekrämpfe orale Flüssigkeitszufuhr Hitzeödem Hochlagerung der geschwollenen Extremität(en) moderat Hitzekollaps

passive Kühlung

oraler isotonischer oder hypertoner Flüssigkeitsersatz

Hitzeerschöpfung

aktive Kühlung (Haut anfeuchten, Kühl-Packs etc.)

orale oder intravenöse Zufuhr isotonischer Flüssigkeiten

schwer Hitzschlag

wie bei Hitzeerschöpfung +

(partielles) Eintauchen in kaltes Wasser

intravenöse Rehydratation (gut: gekühlte Infusionen)

je nach Vigilanz: Atemwege sichern, beatmen

Eine antipyretische Medikation ist bei der Hyperthermie nutzlos.

Blitzschlag

Blitzschläge treffen Menschen naturgemäß vor allem im Freien. Auch hier ist die Prävention anzustreben, um die schweren Folgen eines Blitzschlages zu vermeiden. Hört man den ersten Donner, ist zu diesem Zeitpunkt das Risiko eines Blitzschlages bereits hoch. Der effektivste Schutz ist dann, sich unmittelbar in einen geschlossenen Raum zu begeben, Automobile mit Blechdach schützen ebenso, nicht aber solche mit Gewebe- oder Kunststoffdach (Cabriolet, Convertible). Ist ein solcher Schutz nicht verfügbar, sollten zumindest die Hauptgefährdungsbereiche verlassen werden.

Blitze schlagen besonders häufig ein in:

Berggipfel und Berggrate

hohe Objekte (Ski-Lift, Antennentürme etc.)

freistehende Bäume

Wasserflächen

Wer keinen Schutz finden kann sollte alles Metall ablegen und sich möglichst auf einem isolierenden Material in Hockstellung auf den Boden kauern. Ziel ist es, eine möglichst kleine Bodenkontaktfläche zu bieten, um die sog. „Schrittspannung“ niedrig zu halten. Handelt es sich um mehrere potenziell blitzexponierte Personen, so sollten diese über fünf Meter Abstand voneinander halten, um nicht gemeinsam vom Blitz erschlagen zu werden.