Nur die Liebe heilt ein Herz​ - Marion Kummerow - E-Book

Nur die Liebe heilt ein Herz​ E-Book

Marion Kummerow

0,0
3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Kann Liebe existieren, wenn alle Hoffnung verloren ist?

Ein gebrochener Kriegsheld

Er war bereit, sein Leben für sein Land zu geben. Doch als er verwundet aus dem Krieg zurückkehrt, scheint sein Leben sinnlos geworden zu sein. Verbittert und hoffnungslos sucht Stan den Trost im Alkohol.
Bis zu dem Tag, an dem sie an seine Tür klopft.

Eine unerschütterliche Überlebende

Agnieszka hat die Schrecken der Arbeitslager überlebt. Trotz ihrer schlimmen Erfahrungen ist ihr Lebenswille ungebrochen. Sie taucht vor Stans Tür auf, in der Hoffnung einen alten Freund vorzufinden.

Doch Stan ist nicht mehr der Draufgänger von früher. Körper und Seele tragen die Narben seiner Tortur.

Als die alte Freundschaft zu mehr wird, fürchtet Stan, nicht gut genug zu sein für die Frau, die er liebt.

Kann Agnieska ihn davon überzeugen, dass er alles ist, was sie braucht?

Nur die Liebe heilt ein Herz ist die berührende Liebesgeschichte des polnischen Partisanen Stanislaw und der Jüdin Agnieszka. Beide Charaktere treten in mehreren Bänden der historischen Romanreihe Kriegsjahre einer Familie auf.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



NUR DIE LIEBE HEILT EIN HERZ

MARION KUMMEROW

Übersetzt vonANNETTE SPRATTE

Nur die Liebe heilt ein Herz

Spin-off der Reihe Kriegsjahre einer Familie

ISBNder Printausgabe: 978-3-948865-58-0

© 2022Marion Kummerow

Herstellung und Verlag:

Marion Kummerow

Weißtannenweg 7

80939 München

Übersetzung: Annette Sprotte

Titelbildgestaltung: http://www.StunningBookCovers.com

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Buch darf – auch auszugsweise – nicht ohne schriftliche Zustimmung der Autorin kopiert werden.

Dieses Buch basiert auf historischen Begebenheiten, historische Persönlichkeiten und Vorfälle wurden sorgfältig recherchiert und wiedergegeben.

Die Namen der Hauptpersonen und die Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder realen Personen sind rein zufällig.

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Anmerkungen der Autorin

Bücher von Marion Kummerow

Kontaktinformationen

KAPITEL1

Juli 1945 in der Nähe von Lodz in Polen

Stan Zdanek starrte auf die verkohlten Reste seines elterlichen Bauernhauses und schluckte mehrmals, doch der Kloß in seinem Hals wollte einfach nicht herunterrutschen. Erinnerungen drohten ihn zu überwältigen. Die glückliche Kindheit, die er mit seinem Zwillingsbruder Jarek und seiner jüngeren Schwester Katrina hier verbracht hatte. Die drei hatten nichts als Unfug im Kopf gehabt.

Jarek ist tot, dachte er verbittert. Seine Schwester hatte er seit jenem schicksalhaften Tag nicht mehr gesehen, an dem sie Hals über Kopf fliehen mussten, nachdem sie ihrer jüdischen Schwägerin Agnieszka geholfen hatten, aus dem Getto in Lodz zu flüchten. Hatte irgendjemand in seiner Familie den brutalen Krieg überlebt? Würden sie eines Tages auf den Hof zurückkehren? Würde das Leben jemals wieder werden wie früher? Würde er je wieder glücklich sein?

Hadernd mit seinem Schicksal blickte er hinunter auf sein Holzbein. Verfluchter Krieg! Verfluchte Nazis! Ein Schauder des Selbstmitleids, gepaart mit Wut, schüttelte ihn, woraufhin Stan die Faust in den Himmel reckte. Ein martialischer Schrei verließ seine Kehle, während sein Blick über die Felder hinterm Haus streifte, die bis an den Waldrand reichten. Um diese Jahreszeit sollten sie in voller Pracht stehen, die schwere Last der Frucht tragen, um im kommenden Winter hungrige Münder zu stopfen. Doch die Felder lagen brach. Unkraut überwucherte die Flächen, wo normalerweise Weizen, Mais und Kartoffeln wuchsen.

Mühsam umrundete er das kleine Bauernhaus, kletterte über abgestürzte Ziegel und Dachbalken. Er schirmte die Augen vor der sengenden Sonne ab und sah hinauf zum Dach, das riesige Löcher aufwies, genau wie die vordere Hauswand. Seine Lider verengten sich zu Schlitzen, als er den Schutthaufen am Boden wahrnahmen.

Glühende Wut fuhr über seinen Rücken. Als sei es gestern gewesen, durchlebte er die Szene von neuem, wie die Nazis das Haus angezündet hatten. Der Brandgeruch hing in seiner Nase, obwohl seitdem mehr als ein Jahr vergangen war. Ein Jahr, das ihm wie ein ganzes Leben vorkam. Er schnaubte verächtlich, während der Jähzorn sein Blut brodeln ließ.

Wenn doch nur –

Wenn die Dinge doch nur anders gelaufen wären.

Wenn er doch nur nicht angeschossen und gefangen genommen worden wäre.

Wenn er doch nur sein verdammtes Bein noch hätte.

Er war nach Hause zurückgekehrt, in der Hoffnung – worauf? Dass er mit dem Krieg abschließen konnte? Offiziell herrschte seit Deutschlands bedingungsloser Kapitulation am 8. Mai Frieden, aber Stans Seele war in Schmerz, Groll und Verzweiflung gefangen. Er hatte gehofft, dass die Heimkehr sein Gefühlschaos lindern würde. Doch jetzt, wo er die verkohlten Überbleibsel seines Elternhauses anstarrte, schalt er sich selbst einen Tor.

Mit einem verzweifelten Schrei hämmerte er eine Faust gegen die Wand, sodass Putz abbröckelte. Von dem Haus war nicht mehr viel übrig, schon gar keine Erinnerung an glücklichere Tage.

Stan betrat das Innere durch ein gähnendes Loch in der vorderen Wand, wo früher die Tür in ihren Angeln gehangen hatte. Schutt, Staub, Dreck und halb verrottetes Laub bedeckten den Boden zusammen mit den Hinterlassenschaften der Nagetiere, die in dem Gebäude Zuflucht gefunden hatten.

Ein weiteres Stöhnen kam aus seiner Kehle, doch diesmal wusste er es besser, als gegen die beschädigte Wand zu hämmern. Es würde wochenlange Schinderei brauchen, bevor er diese Ruine als Haus bezeichnen konnte. Der Küchentisch aus massivem Holz war zusammen mit allen anderen Möbeln im Untergeschoss zu verkohlten Resten verbrannt. Nur der gemauerte Herd aus Ziegelsteinen und Metall hatte mehr oder weniger unbeschadet überlebt.

Zögernd – und das nicht wegen seines Holzbeines – betrachtete er die Treppe zum Obergeschoss. Wie viel Zerstörung würde er dort vorfinden? Beklommen stieg er die Steinstufen hoch, einen langsamen, bedächtigen Schritt nach dem anderen. Grelles Sonnenlicht blendete ihn, als er das dachlose Obergeschoss betrat.

Die Wände schienen in einem brauchbaren Zustand zu sein, doch ohne das schützende Dach waren die Zimmer das ganze Jahr über den Elementen ausgesetzt gewesen. Reste von Vogelnestern übersäten den Fußboden. Die Stützbalken im Dachstuhl waren verkohlt. Er müsste sie ersetzen lassen, ehe er überhaupt daran denken konnte, das Dach zu reparieren.

Eine Welle der Hilflosigkeit überrollte ihn und verwandelte sich in rasenden Zorn. Er konnte das nicht. Er konnte nicht einmal sein eigenes Dach reparieren. Er war kein richtiger Mann mehr. Mit der Hand fuhr er sich durch den dichten blonden Vollbart, drehte sich um und stieg vorsichtig wieder nach unten.

Die meisten Fenster im Erdgeschoss waren zerstört, Glassplitter bedeckten den Boden. Soweit er erkennen konnte, war der einzige intakte Teil des Hauses die winzige Nische unter der Steintreppe, die gerade groß genug für eine kleine Person war, um sich darunter auszustrecken. Er war zu groß und würde sich einen anderen Schlafplatz suchen müssen.

Ernüchterung schlug ihm auf den Magen und er floh durch die verkohlten Reste der Hintertür in den Garten, wo er mit offenem Mund stehen blieb. Der Gemüse- und Kräutergarten seiner verstorbenen Mutter stand in voller Blüte. Tiefrote Tomaten hingen in dicken Rispen an den Pflanzen. Ihr süß-herber Geruch ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen und erinnerte ihn daran, dass er den ganzen Tag nichts gegessen hatte.

Er betrat den von einer Steinmauer umgebenen Garten und pflückte eine Tomate. Die warme saftige Frucht zerging ihm auf der Zunge. Die Beete quollen über von grünen Bohnen, Zuckererbsen, Kohl in jeglicher Form und Farbe, Pflanzen, die er als Karotten, Kartoffeln und Radieschen erkannte. Ein Lächeln erschien auf seinen Lippen, als er die hellroten Johannisbeeren an einem uralten Busch in der Ecke des Gartens entdeckte. Doch bei der Erinnerung daran, wie Jarek und er sich um das letzte Stück von Mutters selbstgebackenem Streuselkuchen gestritten hatten, verschwand es sofort wieder.

Er würde nie wieder mit seinem Zwillingsbruder streiten.

Noch während er sich fragte, wieso die Pflanzen alle so prall aussahen, bemerkte er die verbeulte, rostige Gießkanne, die ordentlich neben dem Brunnen stand und augenscheinlich regelmäßig benutzt wurde. Jemand musste sich um den Garten kümmern. Der Drang zu pinkeln trieb ihn dazu, nicht länger über dieses Mysterium zu grübeln, sondern stattdessen den Abort am anderen Ende des Gartens aufzusuchen. Auf dem Weg zurück zum Haus fiel sein Blick auf den Werkzeugschuppen, den das Feuer verschont hatte.

Er ging darauf zu und fand den Schuppen leer vor, abgesehen von einigen Werkzeugen. Die Wände und das Dach waren intakt, also beschloss er, ihn erst einmal zu seinem Heim zu machen. Der Schuppen würde ihn ausreichend vor Wind und Wetter schützen, zumindest bis zum Winter. Stan schüttelte unwirsch den Kopf. Über den Winter würde er sich Sorgen machen, wenn es so weit war.

Mit grimmiger Miene kehrte er zum Haus zurück, wo er seinen Armeerucksack abgestellt hatte. Er enthielt zwei Sätze Wechselkleidung, einen dünnen Schlafsack, Zahnbürste, Rasierzeug und etwas Proviant. Abgesehen von dem Dolch, den er ständig in einer Scheide am Gürtel trug, sowie einigen Zloty-Scheinen, befand sich sein gesamter Besitz in diesem Rucksack.

Und jetzt kam natürlich der Bauernhof der Familie dazu. Sein älterer Bruder Piotr war in Berlin geblieben, um dort sein Glück zu versuchen ... und Jarek war tot ... also blieben nur Katrina und er. Von Katrina hatte allerdings seit dem Feuer niemand mehr etwas gehört oder gesehen und er befürchtete, dass sie nicht mehr am Leben war.

In der Küche angelangt, fiel sein Blick auf die gut versteckte Falltür, die sein Vater vor dem Krieg eingebaut hatte. Er stemmte die festgeklemmte Klappe auf und starrte hinab in das gähnende schwarze Loch. Soweit er erkennen konnte, hatte die geheime Vorratskammer den Brand schadlos überstanden.

„Verdammte Scheiße!“ In der Vorratskammer waren eine Laterne sowie jede Menge Vorräte, aber wie bitte sollte er die Leiter hinuntersteigen? Das laute Knurren seines Magens beschleunigte die Entscheidung, den Abstieg zu versuchen. Seinen Rucksack leerte er aus, ehe er ihn aufsetzte. Nur mit der Kraft seiner Arme ließ er sich in das Loch herabrutschen und fühlte mit seinem gesunden Bein nach Halt.

Sobald er sicheren Boden unter sich hatte, drehte er sich um und tastete im Halbdunkel nach der Laterne, die er an ihrem gewohnten Platz vorfand. Sekunden später ertastete er die Zündhölzer direkt daneben.

Als die Flamme den Raum erhellte, dachte er für einen Moment, er wäre im Himmel gelandet. Danke, Katrina! Seine Schwester hatte die Vorratskammer vollgestopft mit Lebensmitteln in Dosen, Säcken voll Mehl, Kartoffeln, Einmachgläsern mit Früchten, Beeren und Gemüse. Außerdem fand er einen Kanister mit Petroleum für die Laterne sowie mehrere Flaschen Wodka.

Er packte Proviant und eine Flasche Wodka in seinen Rucksack, stellte die Laterne zurück auf das Regal am Eingang, löschte sie und hievte sich die Leiter hinauf, wobei er sich hauptsächlich auf seine Arme stützte. Sobald er wieder festen Boden unter sich hatte, setzte er sich auf den schmutzigen Küchenboden, wischte sich den Schweiß von der Stirn und blickte finster auf sein Holzbein, das nutzlos an seinem Stumpf hing.

Mit der Unterstützung der Krankenschwestern in der Charité in Berlin hatte er gelernt, mit dem Holzbein zu laufen, Treppen zu steigen und sogar zu rennen, doch so einfache Dinge wie eine Leiter hochzuklettern waren zu schier unüberwindlichen Hindernissen geworden.

Wie oft hatte er sich schon gewünscht, lieber zwei Meter unter der Erde zu liegen, statt als Krüppel zu leben? Nur die Beharrlichkeit seines Neffen Janusz und Piotrs zweiter Frau Anna hatten ihn davon abgehalten, Ernst damit zu machen.

Er stellte seine Errungenschaften auf den Herd, schnappte sich die Flasche Wodka sowie zwei Dosen Fleisch und ging hinaus auf die Veranda, wo er die erste Dose mit seinem Dolch öffnete. Er aß mit dem Hunger eines Menschen, der seit Jahren nicht richtig satt geworden war, und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. Ehe er das Fleisch aus der zweiten Dose verschlang, öffnete er den Wodka, setzte die Flasche an die Lippen und nahm einen langen Zug.

An die Außenwand des Hauses gelehnt saß Stan da und schloss die Augen, während der Alkohol sich in seinen Magen brannte. Obwohl es schon spät am Nachmittag war, stand die Sonne noch hoch am Himmel und würde erst gegen zehn Uhr abends untergehen.

Er leerte die zweite Dose Fleisch, nahm immer größere Schlucke Wodka und wünschte sich, er könnte genug trinken, um den dumpfen, pochenden Schmerz in seinem Stumpf und in seiner Seele zu betäuben. Irgendwann ging die Benommenheit in einen Vollrausch über und seine Stimmung stürzte in den Keller. Die eisige Kälte von Einsamkeit und Verzweiflung erfasste ihn und breitete sich allmählich in seinem Körper aus, bis sie von jeder Zelle Besitz ergriffen hatte.

Gefühle, die schon viel zu lange in ihm gefangen waren, brachen durch seinen Schutzwall aus Selbstbeherrschung. Mit einem tiefen Seufzen hörte er auf, dagegen anzukämpfen. Tränen flossen und verwandelten sich in erschütternde Schluchzer, während er um alles weinte, was er verloren hatte. Sein Bein. Seine Zukunft. Sein Glück.

Er weinte um alle, die gestorben waren. Seine Eltern. Sein Zwillingsbruder. Sein bester Freund Bartosz. Ludmila, die jüdische Frau seines Bruders. Die freundliche Hebamme Magda. Und so viele andere.

„Warum?“, brüllte er und reckte die Hand mit der halbleeren Flasche in die Höhe.

Dann sackte er in sich zusammen und kippte mehr Wodka in den Mund, während er sich seine Zukunft in den düstersten Farben ausmalte. Er würde seine Tage allein verbringen müssen, denn keine Frau wollte sich an einen Krüppel binden. Obwohl er noch so jung war, kaum siebenundzwanzig, würde er nie mehr das Vergnügen haben, bei einer Frau zu liegen. Die Vorstellung ließ ihn unter einer weiteren Welle von Schluchzern erschüttern, bis er schließlich betrunken und erschöpft in einen gequälten Schlaf fiel, auf der Veranda sitzend, das Kinn auf der Brust und den Rücken an die Wand gelehnt.

* * *

„Stan!“, rief eine Stimme.

Stan öffnete die Augen zu winzigen Schlitzen, schloss sie jedoch sofort wieder, als das blendende Sonnenlicht seine Pupillen traf und lähmende Schockwellen des Schmerzes in seinen Kopf jagte.

„Stan? Geht es dir gut?“, beharrte die Stimme und kleine Hände packten seine Schultern.

Stan versuchte sie abzuschütteln, in der Hoffnung, dass, wer auch immer ihn aus dem Schlaf reißen wollte, ihn in Ruhe ließ und aufhörte zu schreien. Die hohe, schrille Stimme jagte Nadelstiche in jede Nervenzelle seines Kopfes und Stan kämpfte gegen einen Brechreiz an.

Die andere Person hörte einfach nicht auf. Deshalb fluchte Stan schließlich und öffnete vorsichtig die Augen. Allmählich rückte die vor ihm stehende Person in den Fokus. Stan brauchte viel zu lange, um den Nachbarsjungen Tadzio zu erkennen, der mit besorgter Miene auf ihn herabschaute.

„Tadzio, bist du das?“, fragte Stan.

„Ja. Du bist zurück! Du hast überlebt!“ Der Junge machte Anstalten, ihn zu umarmen, also hob Stan eine Hand, um ihn auf Abstand zu halten.

„Langsam. Ich bin etwas mitgenommen.“ Stan rieb eine dreckige Hand über seinen Bart und verzog das Gesicht bei dem Schmerz, der auf die Bewegung folgte.

Tadzios Blick fiel auf die leere Flasche und er starrte Stan an. „Hast du das alles getrunken?“

„Ich vermute, das war etwas zu viel“, sagte Stan und versuchte ein kleines Grinsen. Doch selbst diese minimale Bewegung trieb grässliche Nadelstiche in seinen Kopf. „Was machst du hier?“

Tadzio grinste und zeigte auf den Gemüsegarten. „Ich wollte die Pflanzen gießen und Unkraut jäten.“

„Der Garten war deine Arbeit?“, fragte Stan und betrachtete den Jungen eingehend. Wie alt mochte er sein? Zehn? Elf? Sicherheitshalber fragte er: „Wie alt bist du eigentlich?“

„Dreizehn. Fast ein Mann.“ Tadzio schob stolz die Brust vor.

Naja, da fehlt noch was. Weil er Tadzios Stolz nicht verletzen wollte, behielt er seine Meinung für sich.

„Tut mir leid wegen des Hauses. Wir konnten nichts machen, solange die Nazis da waren. Wenigstens hat das Feuer nicht auf den Garten und den Schuppen übergegriffen. Als die Soldaten endlich verschwanden, haben meine Mutter und ich die Glut gelöscht.“ Der Junge zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Wir haben das Obst und Gemüse gegessen und euren Garten genutzt ...“

Stan sah von dem üppigen Garten zu dem Brachland hinter der Steinmauer und sagte: „Das ist schon in Ordnung. Das Essen hätte keinem genutzt, wenn es verrottet wäre, nicht wahr?“ Auch wenn ich sehr gern ein oder zwei Bissen gehabt hätte, als ich letzten Winter in diesem höllischen Kriegsgefangenenlager beinahe verreckt bin.

„Ja, oder? Das hat meine Mutti auch gesagt. Wir haben die ganze Zeit gehofft, dass du und Katrina zurückkommen. In der Zwischenzeit haben wir uns um den Garten gekümmert.“

Stans Gesicht verdüsterte sich bei der Erwähnung seiner Schwester. Er hatte noch immer keine Ahnung, ob sie am Leben war. Die Ungewissheit setzte ihm zu und zerrte an dem, was von seinem Herzen übrig war. Diese Unsicherheit war schlimmer, als traurige Gewissheit zu haben ... Er sah an Tadzio und dem üppigen Garten vorbei zu den Feldern voller Unkraut. Es würde einen Herkules-Akt erfordern, den Boden für die Saat vorzubereiten. Außerdem war es viel zu spät im Jahr für Getreide oder Kartoffeln. Der Zug war vor Monaten abgefahren. Wenn er direkt nach der Kapitulation im Mai hergekommen wäre ... dann hätte er im Herbst vielleicht eine Chance auf eine ordentliche Ernte gehabt.

„Wir brauchen Nahrung für den Winter“, murmelte Stan vor sich hin.

„Ich helfe dir.“

Stan starrte den Jungen überrascht an. „Du?“

„Ja, ich. Ich bin schon dreizehn. Wenn du mir beibringst, wie es geht, wirst du sehen, was für eine große Hilfe ich bin.“

„Gut, dann lass uns gleich anfangen.“ Stan kämpfte sich mühsam auf die Füße. „Kannst du mir etwas Wasser holen?“

Tadzio nickte und lief los. Kurz darauf kehrte er mit einem Eimer voll frischem, klarem Wasser zurück.

„Der Brunnen funktioniert noch?“, fragte Stan überrascht. Er trank einige Schlucke aus seiner Hand, ehe er sich mit einer weiteren Handvoll das Gesicht wusch.

„Das war nicht leicht zu reparieren. Meine Mutti hat den alten Jakub gebeten, uns zu helfen.“

Stan erinnerte sich vage an den Mann, der etwa anderthalb Kilometer die Straße runter wohnte. Er war schon steinalt gewesen, als Stan ein Kind war, und er fragte sich, wie der alte Mann es geschafft hatte, den Krieg zu überleben.

Stan goss sich das restliche Wasser über den Kopf und schüttelte sich. Dabei bekam Tadzio einige Spritzer ab und sprang quietschend davon.

„Willst du was essen? Ich habe Brot dabei“, bot Tadzio an, wobei er ein Tuch aus der Tasche zog, worin eine dicke Brotscheibe eingewickelt war.

Bei dem Anblick lief Stan das Wasser im Mund zusammen und er nickte eifrig. Tadzio brach ein Stück Brot ab und reichte es ihm. Nachdem er den letzten Krümel vertilgt hatte, klopfte Stan sich die Hände auf den Oberschenkeln ab. „Dann machen wir uns besser an die Arbeit.“

KAPITEL2

Agnieszka stand in der Schlange vor dem Büro des Roten Kreuzes in Warschau.

---ENDE DER LESEPROBE---