Nur eine Tochter - Fausia Kufi - E-Book

Nur eine Tochter E-Book

Fausia Kufi

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Beschreibung

Ein Leben, bewegender als ein Roman

»ES IST Nur eine Tochter«, heißt es bei Fausia Kufis Geburt. Sie ist eines von 23 Kindern, die ihr Vater mit sieben Frauen gezeugt hat. Das ungewollte Baby wird ausgesetzt, um unter der sengenden Sonne in einer der wildesten Berggegenden Afghanistans zu sterben. Doch Fausia überlebt – ebenso wie sie andere bedrohliche Situationen überleben wird. Als ihr Vater von Mudschahedin getötet wird und die Familie in Ungnade fällt, suchen die Kufis Zuflucht in Kabul – nur um sich hier vor den Taliban schützen zu müssen, die an Macht gewinnen. Doch weder durch die Burka noch durch Repressalien lässt sich Fausia in ihrem Traum von Freiheit beirren. Als einziges Mädchen in ihrer Familie besucht sie die Schule, später die Universität. Sie heiratet einen Mann, den sie liebt, und bringt zwei Töchter zur Welt. Als ihr Mann an den Folgen der Folter stirbt, wagt Fausia das Unvorstellbare: Sie geht als Frau in die Politik. 2005 wird sie ins Parlament gewählt und setzt sich seither unermüdlich für die Rechte von Kindern und Frauen ein. Doch dieses Leben verlangt Opfer: Vor jeder Reise schreibt sie einen Brief an ihre Töchter Shohra und Shaharzad, denn sie weiß nicht, ob sie zurückkehren wird. »Nur eine Tochter« erzählt von einem Schicksal, das inspiriert und ermutigt. »Verliert niemals euren Mut zu träumen« – diese Botschaft Fausias an ihre Töchter richtet sich an uns alle.

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Fausia Kufi

in Zusammenarbeit mit Nadene Ghouri

Nur eine Tochter

Eine Frau verändert Afghanistan

Aus dem Englischen von

Anne Emmert

Die Originalausgabe wurde 2010 unter dem Titel »Letters to My Daughters« verfasst. Die französische Ausgabe erschien 2011 unter dem Titel »Lettres à mes filles« bei Éditions Michel Lafon Publishing, Neuilly-sur-Seine.

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe

© 2011 der deutschsprachigen Ausgabe

Kailash Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

© 2010 Éditions Michel Lafon Publishing, Letters to My Daughters

Lektorat: Claudia Alt, München

Karte von Afghanistan rechts: Peter Palm, Berlin

Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

ISBN 978-3-641-06529-4

www.kailash-verlag.de

Vorwort

September 2010

An dem Morgen, da ich den ersten Brief an meine Töchter schrieb, hatte ich einen politischen Termin in Badachschan, der Provinz also, die ich als afghanische Parlamentsabgeordnete repräsentiere. Badachschan ist die nördlichste Provinz Afghanistans und grenzt an China und Tadschikistan. Sie ist auch eines der ärmsten, am wenigsten entwickelten, entlegensten und kulturell konservativsten Gebiete des gesamten Landes.

Badachschan weist die weltweit höchste Mütter- und Kindersterblichkeit auf, was zum Teil der Abgeschiedenheit der Region und der bitteren Armut der Bevölkerung geschuldet ist. Zum Teil liegt es aber auch an der Kultur, in der nicht selten die Tradition wichtiger ist als die Gesundheit der Frauen. Ein Mann bringt seine schwangere Frau nur ins Krankenhaus, wenn völlig klar ist, dass sie andernfalls nicht überleben würde. Bis sie aber dort ankommt, häufig nach drei Tagen quälender Wehen, die sie auf dem Rücken eines Esels auf felsigen Bergpfaden verbringen musste, ist es häufig zu spät, um beide, Mutter und Kind, zu retten.

An jenem Tag war ich vor der Reise nach Badachschan gewarnt worden. Es lag eine glaubhafte Todesdrohung der Taliban vor, die eine selbstgebaute Bombe unter meinem Auto anbringen wollten. Den Taliban missfällt es, wenn Frauen eine einflussreiche Position in der Regierung bekleiden, und meine öffentliche Kritik an ihnen missfällt ihnen noch mehr.

Sie versuchen oft, mich umzubringen.

In jüngster Zeit haben sie ihre Anstrengungen intensiviert. Sie bedrohen mein Haus, forschen meine Fahrtrouten zur Arbeit aus, um unterwegs eine Bombe zu zünden, wenn mein Auto vorbeifährt, und heuern sogar bewaffnete Männer an, um den Polizeikonvoi, der zu meinem Schutz abgestellt ist, anzugreifen. Einer der bewaffneten Angriffe auf mein Auto dauerte eine halbe Stunde, und zwei Polizisten kamen dabei ums Leben. Ich kauerte mich im Fahrzeug zusammen und hatte keine Ahnung, ob ich das überleben würde.

Die Taliban und alle anderen, die mich zum Schweigen bringen wollen, weil ich meine Stimme gegen Korruption und eine unzulängliche Verwaltung in meinem Land erhebe, werden sich erst zufrieden geben, wenn ich tot bin. An jenem Tag jedoch ignorierte ich die Drohung, wie schon so oft zuvor. Würde ich es anders halten, könnte ich meine Arbeit nicht tun. Doch ich spürte die Gefahr und hatte Angst. So ist das immer. Genau das ist die Wirkung einer Todesdrohung, und diejenigen, die sich dieser Taktik bedienen, wissen das sehr genau.

Um sechs Uhr morgens weckte ich sanft meine ältere Tochter Schaharasad, die zwölf ist, und erklärte ihr, falls ich nicht zurückkehren sollte, solle sie den Brief ihrer zehnjährigen Schwester Schuhra vorlesen. Schaharasads Blick traf den meinen. Er war voller Fragen. Ich legte ihr einen Finger auf die Lippen, küsste sie und ihre schlafende Schwester auf die Stirn, verließ leise das Zimmer und schloss die Tür hinter mir.

Noch während ich mich von meinen Kindern losriss, wusste ich, dass meine Ermordung durchaus im Bereich des Möglichen lag. Doch ich habe die ärmsten Menschen meines Landes zu repräsentieren. Für diese Aufgabe lebe ich ebenso wie für die Erziehung meiner beiden wunderschönen Töchter. Ich konnte mein Volk nicht im Stich lassen. Ich werde es nie im Stich lassen.

Teil eins

Liebe Schuhra, liebe Schaharasad,

heute nehme ich politische Termine in Faisabad und Darwas wahr. Ich hoffe, ich bin bald zurück und sehe euch wieder. Aber ich muss euch sagen, dass es auch anders kommen kann.

Es hat für diese Reise Morddrohungen gegen mich gegeben. Vielleicht haben die Leute diesmal Erfolg.

Als eure Mutter empfinde ich es als bitter und schmerzhaft, euch das sagen zu müssen, aber bitte versteht, dass ich bereitwillig mein Leben opfern würde, wenn dadurch ein friedliches Afghanistan und eine bessere Zukunft für die Kinder dieses Landes möglich würde.

Ich führe dieses Leben, damit ihr – meine kostbaren Mädchen – die Freiheit genießen könnt, euer Leben zu leben und eure Träume zu träumen.

Für den Fall, dass ich ermordet werde und euch nicht wiedersehe, bitte ich euch um Folgendes.

Erstens: Vergesst mich nicht.

Weil ihr noch klein seid, eure Schulausbildung noch beenden müsst und nicht allein bleiben könnt, möchte ich, dass ihr bei eurer Tante Chadidscha wohnt. Sie liebt euch sehr und wird sich für mich um euch kümmern.

Ihr habt meine Erlaubnis, alles Geld, das ich auf der Bank habe, auszugeben. Aber bitte verwendet es weise und steckt es in eure Ausbildung. Konzentriert euch auf die Bildung. Mädchen sind darauf angewiesen, wenn sie es in dieser Männerwelt zu etwas bringen wollen.

Nach eurem Schulabschluss möchte ich, dass ihr im Ausland studiert. Ihr sollt universelle Werte kennenlernen. Die Welt ist groß, schön und wunderbar, und ihr sollt sie nach Lust und Laune erforschen.

Seid mutig. Habt vor nichts im Leben Angst.

Wir Menschen werden alle eines Tages sterben. Vielleicht ist heute der Tag, an dem ich sterbe. Wenn es so ist, dann seid euch bitte gewiss, dass es einen Sinn hatte.

Geht nicht aus dem Leben, ohne etwas erreicht zu haben. Macht es euch zum Anliegen, anderen Menschen zu helfen und unser Land und unsere Welt zu verbessern.

Ich küsse euch beide. Ich liebe euch.

Eure Mutter

1

Nur eine Tochter

1975

Schon am Tag meiner Geburt sollte ich eigentlich sterben.

In den fünfunddreißig Jahren meines Lebens habe ich dem Tod unzählige Male ins Auge gesehen, und doch lebe ich noch. Ich weiß nicht, warum das so ist, aber ich weiß, dass Gott etwas mit mir vorhat. Vielleicht soll ich mein Land lenken und aus dem Abgrund der Korruption und der Gewalt herausführen. Vielleicht soll ich auch einfach meinen Töchtern eine gute Mutter sein.

Ich war das neunzehnte von insgesamt dreiundzwanzig Kindern meines Vaters und meiner Mutter letztes Kind. Sie war die zweite Frau meines Vaters. Als sie mit mir schwanger wurde, war sie entkräftet von den sieben Kindern, die sie schon geboren hatte. Zudem war sie unglücklich, weil sie die Liebe meines Vaters an seine neueste und jüngste Frau, seine siebte, verloren hatte. Sie wollte, dass ich sterbe.

Ich kam draußen auf den Viehweiden zur Welt. In den Sommermonaten unternahmen meine Mutter und eine Schar von Helfern mit den Rindern und Schafen die jährliche Reise zu den Weidegründen oben in den Bergen, wo das Gras süßer und saftiger ist. Das bot ihr die Gelegenheit, dem Haus für ein paar Wochen zu entfliehen. Sie übernahm die Verantwortung für die gesamte Unternehmung und packte genügend getrocknete Früchte, Gemüse, Reis und Öl ein, um die kleine Reisegruppe für drei Monate – oder so lange sie eben weg war – zu ernähren. Die Vorbereitungen und das Packen waren immer eine aufregende Sache, denn alles musste bis ins Kleinste geplant werden, ehe sich der Konvoi aus Pferden und Eseln zu den Bergpässen aufmachte, um höher gelegene Weidegründe aufzusuchen.

Meine Mutter liebte diese Wanderungen, und wenn sie durch die Dörfer ritt, war ihr die Freude darüber, vorübergehend von den Fesseln des Hauses und der Hausarbeit befreit zu sein und frische Bergluft zu atmen, anzusehen. Einer in meiner Heimat üblichen Redensart zufolge sieht eine Frau auf dem Rücken eines Pferdes in ihrer Burka umso hübscher aus, je mehr Tatkraft und Leidenschaft sie in sich hat. Damals hieß es, niemand sei auf dem Pferderücken schöner als meine Mutter. Es lag an ihrer Haltung, ihrem würdevollen und aufrechten Sitz.

Doch 1975, im Jahr meiner Geburt, war sie nicht in feierlicher Stimmung. Dreizehn Monate zuvor hatte sie an den großen gelben Toren unseres hooli gestanden, eines ausladenden einstöckigen Lehmhauses, und die Hochzeitsgesellschaft beobachtet, die sich über den Bergpfad in unser Dorf geschlängelt hatte. Mein Vater hatte beschlossen, eine siebte Frau zu nehmen. Sie war damals erst vierzehn Jahre alt.

Jedes Mal, wenn er wieder heiratete, war meine Mutter am Boden zerstört – obwohl mein Vater immer scherzhaft darauf hinwies, meine Mutter werde mit jeder neuen Ehefrau noch schöner. Von all seinen Frauen schätzte mein Vater meine Mutter – Bibi dschan (wörtlich übersetzt »Schöne Liebenswerte«) – am meisten. Doch in der dörflichen Bergkultur meiner Eltern waren Liebe und Ehe nur selten gleichbedeutend. Die Ehe diente der Familie, der Tradition und der Kultur, und diesen Genüge zu tun galt mehr als das Glück des Einzelnen. Liebe war etwas, das niemand erwartete oder brauchte. Sie machte nichts als Ärger. Glück, so meinte man, bestehe darin, dass man seine Pflicht tat, ohne zu fragen. Und mein Vater war der festen Überzeugung, dass ein Mann seines Ansehens und seiner Stellung die Pflicht hatte, mehr als eine Frau zu heiraten.

Meine Mutter hatte also auf der großen Steinterrasse gestanden, verborgen hinter den Toren des hooli, als die mehr als zehn berittenen Männer den Berg herabkamen, mein Vater in seinem prächtigsten weißen Salwar Kamiz, einem langen Hemd über weiter Hose, sowie einer braunen Weste und einer Lammfellkappe. Seinem Schimmel, an dessen kunstvoll verziertem Zaumzeug leuchtend rosafarbene, grüne und rote Wolltroddeln baumelten, folgten mehrere kleinere Pferde mit der Braut und ihren weiblichen Verwandten, die eine weiße Burka trugen. Die anderen Frauen begleiteten die Braut in ihr neues Heim, das sie mit meiner Mutter und den anderen Ehefrauen meines Vaters teilen würde. Mein Vater, ein kleiner Mann mit eng stehenden Augen und einem gepflegtem Bart, lächelte liebenswürdig und schüttelte den Dorfbewohnern, die gekommen waren, ihn zu grüßen und das Spektakel zu beobachten, die Hände. Sie riefen einander zu: »Wakil Abdul Rahman ist da, Wakil Abdul Rahman ist zu Hause!« Mit seiner überaus hübschen neuen Frau. Die Leute mochten ihn sehr und hatten nichts anderes von ihm erwartetet.

Mein Vater Wakil (Abgeordneter) Abdul Rahman war Mitglied des afghanischen Parlaments. Er repräsentierte das Volk von Badachschan, wie ich es heute auch tue. Ehe mein Vater und ich Parlamentsmitglieder wurden, war schon der Vater meines Vaters Asamschah Dorfführer und Stammesältester gewesen. Seit jeher war es in meiner Familie Tradition, sich in der Kommunalpolitik und im Dienst an der Öffentlichkeit einzusetzen. Man kann also sagen, dass die Politik nicht minder durch meine Adern fließt als die Bergbäche und die Flüsse in den Tälern Badachschans.

Die Distrikte Darwas und Kuf, aus dem meine Familie stammt und von dem sich auch mein Nachname ableitet, sind so bergig und abgelegen, dass man mit einem Allradfahrzeug noch heute bis zu drei Tage in die Provinzhauptstadt Faisabad unterwegs ist – und das ist die Fahrzeit bei gutem Wetter. Im Winter sind die schmalen Bergpässe komplett geschlossen.

Mein Großvater hatte die Aufgabe, den Menschen in sozialen Fragen und bei praktischen Problemen zu helfen, den Kontakt zu den Behörden der Zentralregierung in der Provinzhauptstadt Faisabad herzustellen und in Zusammenarbeit mit dem Distriktverwalter der Provinz die staatlichen Dienstleistungen und die Infrastruktur zu verbessern. Mit den staatlichen Behörden in Faisabad konnte er von zu Hause aus, im Bergdistrikt Darwas, nur in Verbindung treten, indem er auf dem Rücken eines Pferdes oder Esels eine sieben bis zehn Tage lange Reise unternahm. Er benutzte sein Leben lang kein Flugzeug oder Auto.

Mein Großvater war selbstverständlich nicht der Einzige, der so mühevoll reiste. Die Dorfbewohner gelangten nur zu Fuß oder mit dem Pferd in die größeren Städte. So kauften die Bauern ihr Saatgut, so brachten sie ihre Rinder zum Markt, so kamen Kranke ins Krankenhaus, und so statteten sich Familienangehörige, die durch Heirat getrennt worden waren, gegenseitig einen Besuch ab. Solche Reisen waren nur im warmen Frühling und in den Sommermonaten möglich, und auch dann waren sie mit großen Gefahren verbunden.

Das größte Risiko stellte die Überquerung des Atanga dar. Der Atanga ist ein hoher Berg, der an den Fluss Amudarja grenzt. Dieser klare grüne Wasserweg liegt auf der Grenze zwischen Afghanistan und Tadschikistan und ist ebenso gefährlich wie schön. Im Frühling, wenn der Schnee schmilzt und der Regen einsetzt, schwillt der Fluss an und bildet eine Vielzahl tödlicher Stromschnellen. Der Passweg über den Atanga bestand zu Zeiten meines Großvaters aus einer Reihe schlichter Holzstufen, die zu beiden Seiten des Berges angebracht worden waren, damit die Menschen leichter auf der einen Seite hinauf und auf der anderen hinunter klettern konnten.

Doch die Stufen waren schmal, wacklig und rutschig. Ein falscher Schritt, und der Wanderer fiel direkt in den Fluss, dessen Strömung ihn in den sicheren Tod riss. Man stelle sich vor, wie die Menschen erschöpft von einer siebentägigen Wanderung mit den Einkäufen, die sie in Faisabad erstanden hatten, zurückkehrten. Beladen waren sie mit einem Siebenkilosack Reis, mit Salz oder Öl, wertvoller Fracht also, von der die Familie den ganzen Winter leben musste. Und nun mussten sie es noch mit einem lebensgefährlichen Pass aufnehmen, an dem schon viele Freunde und Verwandte ihr Leben verloren hatten.

Mein Großvater konnte es nicht mit ansehen, wie seine Leute Jahr für Jahr dort umkamen. Er setzte alle Hebel in Bewegung, damit die Regierung eine richtige Straße baute. Doch obwohl er reicher war als die meisten Menschen in Badachschan, war er doch nicht mehr als ein Kommunalpolitiker aus einem entlegenen Bergdorf. Er konnte gerade noch nach Faisabad reisen, um sein Anliegen vorzubringen, doch für eine Reise nach Kabul, wo der König und die Zentralregierung angesiedelt waren, fehlten ihm Mittel und Macht.

Da er wusste, dass sich zeit seines Lebens keine Veränderung einstellen würde, beschloss mein Großvater, dass sein jüngster Sohn sein Engagement fortsetzen sollte. Mein Vater war noch ein kleiner Junge, als mein Großvater ihn auf seine Aufgabe in der Politik vorzubereiten begann. Sehr viel später, nach Jahren massiver Lobbyarbeit, war es einer der größten Erfolge meines Vaters im Parlament, dass er den Traum meines Großvaters wahr machte und den Bau einer Passstraße über den Atanga durchsetzte.

Um diese Straße und die Audienz meines Vaters bei König Sahir Schah, mit dem er das Projekt besprach, rankt sich eine berühmte Familienanekdote. Mein Vater stand vor dem König und sagte: »Schah Sahib, der Bau dieser Straße ist seit Jahren geplant, doch es geschieht nichts – Sie und Ihre Regierung planen und reden, aber Sie halten Ihre Versprechen nicht.« Obwohl das Parlament damals aus gewählten Volksvertretern bestand, führten noch immer der König und seine Höflinge das Land. Unverhohlene Kritik am König gab es selten. Wer sie doch vorbrachte, musste entweder mutig oder tollkühn sein. Der König nahm die Brille ab und sah meinen Vater lange und durchdringend an, ehe er mit ernster Miene feststellte: »Wakil Sahib (Herr Abgeordneter), Sie sollten nicht vergessen, dass Sie sich in meinem Palast befinden.«

Mein Vater bekam es mit der Angst und fragte sich, ob er wohl zu weit gegangen war. Eilig verließ er den Palast, wobei er auf dem Weg nach draußen auf Schritt und Tritt befürchtete, verhaftet zu werden. Doch einen Monat später schickte der König den für öffentliche Bauarbeiten zuständigen Minister nach Badachschan, wo er gemeinsam mit meinem Vater Pläne für den Straßenbau ausarbeiten sollte. Der Minister traf ein, sah sich den Berg kurz an und erklärte, die Aufgabe sei unlösbar. Mehr sei dazu nicht zu sagen, und er werde sofort nach Kabul zurückkehren. Mein Vater nickte bedächtig, bat ihn jedoch, vorher noch einen Ausritt mit ihm zu unternehmen. Der Mann willigte ein, und sie ritten hinauf auf den Pass. Als sie Halt machten und absaßen, schnappte sich mein Vater das Pferd des Ministers und eilte, beide Pferde im Schlepptau, den Berg wieder hinunter. Den Minister ließ er die ganze Nacht allein oben auf dem Berg, damit er eine Vorstellung davon bekam, wie es für die Dorfbewohner war, wenn sie auf dem Pass festsaßen.

Am nächsten Morgen kehrte mein Vater zurück und holte den Minister ab. Der war selbstverständlich außer sich vor Wut, von den Stechmücken halb tot gebissen und hundemüde, nachdem er aus Angst vor Wildhunden und Wölfen die ganze Nacht kein Auge zugemacht hatte. Doch er hatte am eigenen Leibe erfahren, wie hart das Leben für die Bewohner dieser Gegend war. Er willigte ein, Ingenieure und Dynamit herbeizuschaffen, damit die Passstraße gebaut werden konnte. Der Atanga-Pass meines Vaters existiert immer noch. Dieses Meisterwerk der Ingenieurskunst hat im Lauf der Jahre Tausenden von Badachschanis das Leben gerettet.

Doch lange, bevor der Pass gebaut und mein Vater Parlamentsmitglied wurde, hatte mein Großvater den kleinen Abdul Rahman zum arbab ernannt, zum Dorfführer. Im Alter von zwölf Jahren erhielt der Junge damit praktisch die Macht eines Stammesältesten. Er hatte dörfliche Streitigkeiten um Land, Familie und Ehe beizulegen, und Familien, die für ihre Tochter eine gute Partie suchten, baten ihn um Rat bei der Wahl des richtigen Ehemannes. Bald verhandelte er über Gesundheits- und Bildungsprojekte, brachte Geld auf und traf sich mit Provinzvertretern aus Faisabad. Die Beamten wussten, dass er, obwohl er noch ein Kind war, in unserem arbab-System die Unterstützung der Einheimischen genoss, und waren daher bereit, sich mit dem kleinen Jungen zu beraten.

Diese frühen Jahre vermittelten meinem Vater eine solide Grundlage in allen Aufgabenbereichen der Kommunalverwaltung, sodass er als Erwachsener für Führungsaufgaben bereitstand. Der Zeitpunkt war günstig, denn damals entwickelten sich in Afghanistan gerade demokratische Strukturen. In dem Jahrzehnt zwischen 1965 und 1975 richtete der König ein Parlament ein und beteiligte die Bevölkerung an politischen Entscheidungsprozessen, indem er sie ihre örtlichen Vertreter wählen ließ.

Das Volk von Badachschan hatte sich von der Zentralregierung jahrelang vernachlässigt gefühlt und war deshalb hoch erfreut, dass seine Stimme endlich Gehör finden sollte. Mein Vater wurde als erstes Parlamentsmitglied für den Distrikt Darwas in die neue Versammlung gewählt. Er repräsentierte Menschen, die zu den ärmsten in Afghanistan, ja, in der gesamten Welt zählten.

Trotz ihres ärmlichen Lebens sind die Badachschani ein stolzes Volk, das seinen Werten treu bleibt. Sie können wild und wütend sein wie das unberechenbare Bergwetter, aber auch zart und zäh wie die Wildblumen, die auf dem Granitgestein an den Flussufern wachsen.

Abdul Rahman war einer von ihnen und kannte ihr Wesen besser als jeder andere. Voller Hingabe stürzte er sich in seine neue Aufgabe.

Der einzige Kontakt zur Außenwelt fand damals über das Radio statt. Mein Vater hatte das einzige Radio in unserem Dorf von meinem Großvater geerbt, ein klobiges russisches Holzmodell mit Messingknöpfen. An dem Tag, an dem mein Vater seine erste Rede im Parlament von Kabul halten sollte, versammelten sich die Dorfbewohner vor unserem Haus in Kuf, um sich die Übertragung anzuhören.

Außer meinem älteren Bruder Dschamalschah wusste niemand, wie man das Radio einschaltete oder die Lautstärke regulierte. Meine Mutter, die bei dem Gedanken, dass ihr Mann nun Parlamentsmitglied war, vor Stolz fast platzte, öffnete die Tore des hooli, damit sich die Dorfbewohner die Rede anhören konnten. Dann rief sie Dschamalschah, der das Radio für sie anmachen sollte.

Doch mein Bruder war nicht zu Hause. Völlig aufgelöst rannte sie durch das Dorf und rief nach ihm, doch er war nirgends zu finden. Die Rede sollte bald beginnen, und vor dem hooli hatte sich bereits eine große Menschenmenge versammelt: Cousins, Dorfälteste, Frauen, Kinder. Einige von ihnen hatten noch nie in ihrem Leben Radio gehört, und alle wollten ihren Abgeordneten vor dem Parlament sprechen hören. Meine Mutter wollte meinen Vater nicht im Stich lassen, hatte aber nicht die leiseste Ahnung, wie das Gerät funktionierte.

Zuerst probierte sie alle Knöpfe. Nichts geschah. Da die Menschenmenge ihr erwartungsvoll zusah, ergriffen sie Panik und Angst, und sie spürte schon die Tränen aufsteigen. Ihr Ehemann würde eine Demütigung erfahren, und sie war schuld daran. Wenn doch nur Dschamalschah da wäre – wo war der Junge nur? Frustriert schlug sie mit der Faust auf das Radio – und wundersamerweise begann das Gerät zu spucken und zu knacken.

Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Doch noch immer konnten die Leute nichts hören, weil die Lautstärke nicht ausreichte. Wieder hatte sie keinen blassen Schimmer, was zu tun war. Ihre Freundin, die vierte Frau meines Vaters, schlug vor, den Lautsprecher herbeizuschaffen. Die Frauen wussten nicht, wofür er da war oder wie er funktionierte, hatten die Männer aber schon damit hantieren sehen. Sie stellten ihn neben das Radio und schlossen ihn an. Es funktionierte. Das gesamte Dorf hörte die Rede meines Vaters live aus dem Parlament, und meine Mutter strahlte glücklich und zufrieden. Sie war eine Frau, die vollkommen darin aufging, für ihren Ehemann da zu sein. Später beschrieb sie mir gegenüber diese Zeit als die glücklichste ihres Lebens.

Mein Vater erwarb sich rasch den Ruf, eines der fleißigsten Mitglieder im Parlament des Königs zu sein. Obwohl Badachschan bettelarm blieb, war es eine gute Zeit für den Frieden und die nationale Sicherheit, und auch Wirtschaft und Gesellschaft waren überwiegend stabil. Diesen Zustand allerdings konnten unsere Nachbarn nicht so einfach hinnehmen. In Afghanistan heißt es, unsere geografische Lage sei schlecht für Afghanistan, aber gut für die Welt, für China, Iran, Russland sowie die europäischen Großmächte. Das ist wahr. Wer schon einmal in dem bekannten Strategiespiel »Risiko« die Weltherrschaft angestrebt hat, kann bestätigen, dass jeder, der Afghanistan erobert, ein Einfallstor zum Rest der Welt besitzt. Das war schon immer so. Damals war der Kalte Krieg auf dem Höhepunkt, und infolge seiner strategischen und geografischen Bedeutung zeichnete sich bereits das tragische Schicksal ab, das mein Land später heimsuchen würde.

Mein Vater war geradeheraus, aufrichtig und fleißig. Aufgrund seiner Großzügigkeit, seiner Ehrlichkeit, seiner Gottgläubigkeit und seinem Festhalten an traditionellen islamischen Werten genoss er nicht nur in Badachschan, sondern im ganzen Land hohes Ansehen. Weil er es ablehnte, vor der Elite zu katzbuckeln und die politischen Machtspielchen mitzuspielen, die viele seiner Kollegen so schätzten, hatte er aber am Königshof auch Gegner. Vor allem war er ein altmodischer Politiker, für den der Dienst an der Öffentlichkeit und die Hilfe für die Armen an oberster Stelle standen.

Monatelang hielt er sich in Kabul auf, setzte sich für den Bau von Straßen, Krankenhäusern und Schulen ein und stellte für einige, wenn auch nicht alle Projekte die Finanzierung sicher. Da die Herrschenden in Kabul unsere Provinz als eher unwichtig erachteten, war es oft schwierig, Gelder bei der Zentralregierung lockerzumachen. Das war für meinen Vater ein ständiges Ärgernis.

Meine Mutter erzählte mir später, dass sie jeweils einen Monat vor der jährlichen Parlamentspause mit den Vorbereitungen für seine Rückkehr begann. Sie stellte verschiedene süße Delikatessen für ihn her, trocknete Obst, putzte das Haus und schickte die Diener in die Berge, um Brennholz für das Zubereiten der Mahlzeiten zu sammeln, die für seine Ankunft geplant waren. Abends kam eine ganze Eselskarawane mit Holz durch das Tor des hooli, das meine Mutter in der Ecke des Gartens im Holzlager aufschichten ließ. Sie war durchaus nicht weniger fleißig als mein Vater. Nie gab sie sich mit der zweitbesten Lösung zufrieden, immer strebte sie nach Perfektion. Mein Vater dankte es ihr allerdings nur selten. Was für ein furchterregender Tyrann er zu Hause sein konnte, war an ihren Blutergüssen abzulesen.

Bis auf eine heiratete er alle Frauen aus politischen Gründen. Durch die Ehe mit der Lieblingstochter eines Stammesoberhauptes oder eines einflussreichen Dorfältesten festigte und erweiterte er strategisch seinen Machtbereich. Der Vater meiner Mutter war ein wichtiger Dorfältester aus dem Nachbardistrikt gewesen, dessen Dorf mit dem meines Vaters im Streit gelegen hatte. Mit der Ehe schloss er im Grunde einen regionalen Friedensvertrag.

Einige seiner Frauen liebte er, von zweien ließ er sich scheiden, die meisten ignorierte er. Im Lauf seines Lebens nahm er insgesamt sieben Frauen. Meine Mutter war ihm ohne Zweifel die liebste. Sie war zierlich, hatte ein hübsches, ovales Gesicht und blasse Haut, große braune Augen, langes schwarz glänzendes Haar und geschwungene Augenbrauen.

Sie genoss sein volles Vertrauen und verwahrte auch die Schlüssel zum Tresor und zu den Lebensmittellagern. Er betraute sie mit der Zubereitung großer Festessen, und sie überwachte die Diener und die anderen Ehefrauen, wenn in der Küche des hooli in riesigen Mengen duftender Pilaw-Reis, Goscht und frisches Nan-Brot hergestellt wurden.

Diener und meine Brüder trugen die dampfenden Töpfe von der Küche ins Gästehaus, ein einstöckiges Gebäude hinter dem hooli, wo mein Vater seine Besucher unterhielt. Frauen durften diesen ausschließlich Männern vorbehaltenen Bereich nicht betreten, denn in unserer Kultur hat sich eine verheiratete Frau einem nicht mir ihr verwandten Mann nicht zu zeigen. Daher mussten bei diesen Gelegenheiten meine Brüder helfen, die sonst keine Hausarbeiten verrichteten.

Bei solchen Abendgesellschaften erwartete mein Vater, dass alles perfekt war. Der Reis musste locker sein, die Körner durften nicht zusammenkleben. Wenn es so war, lächelte er, zufrieden mit seiner hervorragenden Wahl der Ehefrau. Fand er aber auch nur ein paar klebrige Reiskörner, verdüsterte sich sein Gesicht, er entschuldigte sich höflich bei seinen Gästen, ging in die Küche, riss meiner Mutter wortlos die eiserne Schöpfkelle aus der Hand und schlug ihr damit auf den Kopf. Blitzschnell hob sie schützend die Hände, die von früheren Züchtigungen bereits vernarbt und verkrüppelt waren. Manchmal verlor sie das Bewusstsein, stand danach aber wieder auf und rieb sich, die verängstigten Blicke der Diener ignorierend, Asche auf den Kopf, um die Blutung aufzuhalten. Dann machte sie sich wieder an die Arbeit und sorgte dafür, dass bei der nächsten Schüssel Reis keine zwei Körnchen zusammenklebten.

Sie ertrug die Züchtigungen klaglos, weil sie in ihrer Welt gleichbedeutend waren mit Liebe. »Wenn ein Mann seine Frau schlägt, dann weil er sie liebt«, erklärte sie mir. »Er erwartet etwas von mir und schlägt mich nur, wenn ich ihn enttäusche.« Für moderne Ohren mag das befremdlich klingen, doch sie war wirklich davon überzeugt. Und diese Überzeugung gab ihr Kraft.

Meine Mutter erfüllte meinem Vater seine Wünsche nicht aus Pflichtgefühl oder Angst, sondern aus Liebe. Sie betete ihn aufrichtig und aus tiefstem Herzen an.

Deshalb erfasste sie eine tiefe Traurigkeit, als sie die Hochzeitsprozession beobachtete, die sich durch das Dorf schlängelte, an dem Tag, da Ehefrau Nummer sieben ins Haus kam. Sie stand auf der Terrasse neben einer Dienerin, die in einem großen Steinmörser Mehl mahlte, und obwohl sie als Herrin des Hauses das Mahlen normalerweise nicht selber übernahm, packte sie diesmal den Stößel und bearbeitete, gegen die Tränen ankämpfend, zornig die Körner.

Doch Selbstmitleid war auch an jenem Tag ein Luxus, den sie sich nicht leisten konnte. Sie war verantwortlich für die Zubereitung des Essens und hatte dafür zu sorgen, dass die Delikatessen der ersten Mahlzeit, die Abdul Rahmans neue Braut in seinem Hause zu sich nahm, seinem Status gerecht wurden. Wenn sie ihrer neuen Rivalin nicht ein besonders köstliches Festmahl zubereitete, würde sie ihren Mann damit gegen sich aufbringen.

Ein Teil der Zeremonie galt jedoch ihr. Als oberste Ehefrau musste sie die Gesellschaft begrüßen und der neuen Braut fest die Faust auf den Kopf legen, um ihre Vorrangstellung und die Unterordnung der neuen Frau, die in der Hierarchie unter ihr stand, zu bekräftigen. Sie beobachtete, wie drei Frauen – die Mutter, die Braut und deren Schwester – das Tor zum hooli passierten und ihnen vom Pferd geholfen wurde. Sie legten ihre Burkas ab, sodass die Schönheit der beiden jungen Mädchen für alle sichtbar war. Beide hatten langes, rabenschwarzes Haar, das bis zur Taille reichte. Eine sah meiner Mutter mit selbstbewussten grünen Augen und Schmollmund direkt in die Augen. Meine Mutter legte ihr fest und ruhig die Faust auf den Kopf. Das Mädchen sah sie entsetzt an, mein Vater hüstelte und lachte, und das andere Mädchen lief vor Verlegenheit puterrot an. Meine Mutter hatte sich die falsche Frau ausgesucht und der Schwester der Braut die Faust auf den Kopf gelegt. Betroffen schlug sie die Hände vor den Mund, doch da war es schon zu spät: Die Hochzeitsgesellschaft war ins Haus gegangen, um mit den Festlichkeiten zu beginnen. Sie hatte die einzige Chance, der jungen Frau öffentlich zu zeigen, wer für das Haus zuständig war, verstreichen lassen.

Dreizehn Monate später gebar meine Mutter in einer abgelegenen Berghütte ein Kind. Die Zuneigung des Mannes, den sie liebte, hatte sie eingebüßt, sie war einsam und verzweifelt. Drei Monate zuvor hatte die junge Frau einen Sohn zur Welt gebracht, einen gesunden Knaben mit rosigen Wangen und schokoladenbraunen Kulleraugen, der den Namen Ennajat erhielt. Meine Mutter hatte keine Kinder mehr gewollt und wusste, dass dies ihr letztes sein würde. Die gesamte Schwangerschaft hindurch war ihr übel gewesen, und sie war blass und erschöpft, weil ihr Körper nach den vielen belastenden Geburten ausgelaugt war. Ennajats Mutter dagegen hatte vor Freude über ihre erste Schwangerschaft gestrahlt und war schöner gewesen denn je, mit festen Brüsten und einer gesunden Gesichtsfarbe.

Meine Mutter war im siebten Monat schwanger, da leistete sie Geburtshilfe für Ennajat. Als sich seine Lungen erstmals mit Luft füllten und er bei seiner Ankunft in die Welt schrie, legte sich Bibi dschan die Hände auf den Bauch und betete im Stillen, dass auch sie einen Jungen zur Welt bringen möge, um die Zuneigung meines Vaters wiederzugewinnen. Mädchen galten in unserer Dorfkultur als wertlos. Noch heute beten Schwangere um Söhne, weil nur ein Sohn ihnen Ansehen verleiht und ihren Ehemann glücklich macht.

Bei meiner Geburt krümmte sich meine Mutter dreißig Stunden vor Schmerzen. Als ich zur Welt kam, war sie fast bewusstlos und hatte kaum genügend Kraft, ihrem Entsetzen darüber Ausdruck zu verleihen, dass ich ein Mädchen war. Sie drehte sich weg und wollte mich nicht auf den Arm nehmen. Ich war fleckig, blau angelaufen und winzig, das genaue Gegenteil von Ennajat also, dem rosigen Ausbund an Lebenskraft. Meine Mutter stand nach der Geburt auf der Schwelle zum Tod. Niemanden kümmerte es, ob das neue Mädchen lebte oder starb. Deshalb wickelten mich die Geburtshelferinnen, die sich darauf konzentrierten, das Leben meiner Mutter zu retten, in eine Mullwindel und legten mich hinaus in die gleißende Sonne.

Dort lag ich fast einen Tag lang. Ich schrie mir die kleine Lunge aus dem Leib, doch niemand kam. Man erwartete wohl, dass die Natur ihren Lauf nehmen und ich sterben würde. Mein winziges Gesicht war von der Sonne so verbrannt, dass ich noch als Jugendliche Narben auf den Wangen trug.

Als sie sich endlich meiner erbarmten und mich wieder in die Hütte holten, ging es meiner Mutter schon viel besser. Die Verwunderung darüber, dass ich noch lebte, und das Entsetzen über den Zustand meines verbrannten Gesichts verschlug ihr die Sprache. Ihr Mutterinstinkt verdrängte die anfängliche Gefühlskälte, und sie nahm mich in die Arme. Als ich endlich aufhörte zu schreien, begann sie leise zu weinen und schwor sich, dass mir nie wieder etwas Schlimmes zustoßen dürfe. Gott, das wusste sie, wollte aus unerfindlichen Gründen, dass ich lebte und dass sie mich liebte.

Ich weiß nicht, warum Gott mich an jenem Tag verschonte. Oder warum er mich seither bei den vielen anderen Gelegenheiten verschont hat, bei denen ich hätte sterben können. Doch ich weiß, dass er etwas mit mir vorhat. Und ich weiß, dass er mich wahrlich segnete, als er mich in jenem Moment zu Bibi dschans Lieblingskind machte und ein dauerhaftes, unzerstörbares Band zwischen Mutter und Tochter schmiedete.

Liebe Schuhra, liebe Schaharasad,

schon früh lernte ich, wie schwer es ein Mädchen in Afghanistan hat. Die ersten Worte, die ein neugeborenes Mädchen zu hören bekommt, sind bedauernd an die Mutter gerichtet: »Es ist nur eine Tochter.« Das ist kein besonders freundlicher Empfang in dieser Welt.

Wenn das Mädchen dann ins Schulalter kommt, ist fraglich, ob sie auch die Erlaubnis erhält, den Unterricht zu besuchen. Ist ihre Familie mutig und reich genug dafür? Wenn ihre Brüder älter werden, repräsentieren sie die Familie, und ihr Einkommen trägt zum Lebensunterhalt bei. Deshalb will jede Familie ihrem Sohn zu Bildung verhelfen. Doch die Zukunft eines Mädchens liegt in unserer Gesellschaft meist in der Ehe. Da sie nichts zum Familieneinkommen beitragen kann, ist es in den Augen vieler Afghanen auch sinnlos, ihr Bildung angedeihen zu lassen.

Wenn ein Mädchen zwölf Jahre alt wird, fragen sich Verwandte und Nachbarn oft hinter vorgehaltener Hand, wann sie endlich heiratet. »Hat schon jemand um ihre Hand angehalten?« »Ist einer bereit, sie zu heiraten?« Bleiben Anträge aus, geht schnell das Gerücht, es liege daran, dass sie verdorben sei.

Gesetzt den Fall, dass die Familie diesen Tratsch ignoriert und das Mädchen das gesetzliche Heiratsalter von sechzehn Jahren erreicht, ohne dass vorher ein Partner für sie gefunden wurde, und angenommen, es wird ihr dann noch gestattet, einen Mann ihrer Wahl zu heiraten oder auch nur die Wahl ihrer Eltern abzulehnen, so hat sie eine echte Chance, in ihrem Leben Glück zu erfahren. Ist die Familie dagegen in Geldnot oder lässt sich vom Gerede der Leute leiten, dann verheiratet sie ihre Tochter, ehe sie fünfzehn ist. Die Kleine, die zu ihrer Geburt »Es ist nur eine Tochter« zu hören bekam, wird bald selber Mutter. Bringt sie ein Mädchen zur Welt, so wird auch ihr Baby mit den Worten »Es ist nur eine Tochter« willkommen geheißen. Und so geht es weiter, Generation für Generation.

Das war auch mein Start ins Leben. »Nur eine Tochter«, Tochter einer Analphabetin.

»Nur eine Tochter« – das hätte wohl auch mein Leben geprägt und später das eure. Doch der Mut meiner Mutter, eurer Großmutter, ebnete mir einen anderen Weg. Sie ist die Heldin meiner Träume.

In Liebe,

eure Mutter

2

Geschichten aus alten Zeiten

1977

Die ersten Jahre meiner Kindheit waren so golden wie der Sonnenaufgang in den Bergen. Die Sonne warf ihr Licht über das Pamirgebirge direkt in das Tal und auf die Dächer der Lehmhäuser in unserem Dorf. Meine Erinnerungen an jene Zeit sind unscharf, wie die Bilder aus einem alten Film. Sie sind orange gefärbt wie die Sonne im Sommer und weiß wie der Schnee im Winter, sie duften wie der Apfel- und der Pflaumenbaum vor unserem Haus und das lange geflochtene Haar meiner Mutter, das ebenso glanzvoll war wie ihr strahlendes Lächeln.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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