Oben am großen Fluss - Sabine Bacher - E-Book

Oben am großen Fluss E-Book

Sabine Bacher

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Beschreibung

Sarah fällt aus der Zeit, weil sie Ihre Schwester Eva gehen lassen muss. Was ihr auf der Weiterreise dann begegnet liegt jenseits ihres Vorstellungsvermögens. Manchmal muss man sterben und sterben lassen, um zu werden, wer man wirklich ist. Der Zeit-Raumwechsel vom österreichischen Waldviertel in die spirituelle Realität Mexikos und weiter in den bedrohten Urwald des Volksstammes der Lakandonen zeigt Sarah, was das Leben wahrhaft lebenswert macht. Yaxchilan, die alte Mayaruinenstätte im Dschungel an der Grenze zu Guatemala heißt in der Sprache der Lacandon "Oben am großen Fluss." An diesem Ort geht sie jenseits ihrer Begrenzungen. Auf ihrer Reise findet sie verborgene Talente und die große Liebe - vor allem zu sich selbst.

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Seitenzahl: 402

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Sabine Bacher

Oben am großen Fluss

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Evas Heimkehr

Es liegt ein Schatten

Eine mexikanische Geschichte

An den blauen Wassern

Historia selva lacandona

Die Heilerin erwacht

Heimat

Quellenangaben

Impressum neobooks

Prolog

Oben am großen Fluss

Sabine Bacher

Impressum

Texte: © Copyright by Sabine Bacher Umschlag: © Copyright by Anna Kromer

Bild: © Painting by Alexandra Steinerwww.alexandra-steiner.webnode.atVerlag: Sabine Bacher

Weitersfeld 1, 2084 [email protected]

Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Printed in Germany

Blau, tiefes strahlendes Blau dieser Augen, darein sinken, aufgenommen im ozeanischen Urgrund. Salziges Tränen, meertugendhaftes Tun. Ihre persönliche Geschichte erschien ihr komplex, gespeichert in Erinnerungsstücken. Die Ahnen und Urahninnen hatten sie mit ihren Talenten beschenkt. Mit deren Suchen und Versuchen wurde sie betraut. Allein sortierte sie das Geschehen in den Farben der Erinnerung, die sie schon lange zusammengetragen hatte.

Langes Haar, immer sollte es wachsen, blonde Wirrnis, die Wildheit des Ungezähmten, offen fließend, selten gebannt. Auf der Suche wurde gefunden. Oder fand man, wenn die Suche endete? Die Unruhe trieb sie voran zu neuen Taten, das Alte zu vollenden. Wo war die Geschichte verblieben, wo sollte sie den Faden aufnehmen? Das Leben der Vielfalt wollte ihres sein, seit dem Tage ihrer Geburt.

Weiche Konturen, wohlgeformter Mund, zu grobe Nase, kein perfektes Gesicht aber doch ansehnlich, leuchtende Konsistenz.Sie dachte immer, sie wäre auf einem fremden Planeten gestrandet, ihre Kindheit Trubel, ungestümes Fohlendasein, eine Welt voller Farben, Gerüche, Menschen, viel Leben rundum. Reisen und Fantastisches, mal verwildernd, mal in ihrem Kind sein zärtlich umfangen von den Gestalten dieser Tage. Sie wuchs in das hinein, was zu sein sie dachte. Es ist uns jedoch bestimmt, das zu werden was wir wirklich sind. So sollte es geschehen.

Sie träumt und wacht, sie ist hier, immer in Bewegung, Leben ohne Anfang, Leben ohne Ende. Auf der Durchreise.

Evas Heimkehr

Der Telefonanruf kam in der Rushhour der Informationsverwaltung, inmitten der letzten hektischen Textbearbeitungen und Korrekturen brach er sich eine Schneise in das gewohnte System. Die Komplexität des Umbruchs forderte volle Aufmerksamkeit und immer noch trudelten aktuelle Berichte freier Mitarbeiter ein. Ein Chaos, in welchem alles wie am Schnürchen laufen sollte, im Zeitschriftenalltag, der sie wie ein Strom mitnahm, sie den vielen Schwierigkeiten zu trotzen wusste, und doch ging immer etwas schief, so musste es sein, um die Sucht nach den Symptomen des erhöhten Adrenalinspiegels zu befrieden.

Diesmal kam es anders. Die Nachricht war nicht völlig unerwartet, aber sie war von einer Macht, die den Boden unter den Füßen wegzureißen vermochte. Als sie den Anruf entgegennahm ahnte sie bereits, dass dies kein gewöhnliches Gespräch sein würde. „Sarah, David hier, ich hab schon ein paar Mal versucht dich zu erreichen, gut dass ich dich jetzt dran habe. Komm so schnell du kannst ins Allgemeine Krankenhaus. Eva hat es erwischt, die Ärzte sind sich nicht sicher, ob sie es schaffen wird. Sie hat eine schlimme Lungenentzündung und ihr Immunsystem ist in einem sehr schlechten Zustand, nach all den Jahren, du weißt… Wir sind alle schon da, bitte mach schnell, Lars, Mama, Papa. Ich bin so froh, dass ich im Land bin.“ Sie zitterte kaum merklich, ein inneres Schaudern war das, scheute sich zu lauschen, erinnerte diesen dunklen Albtraum, der sie heute Nacht nicht zur Ruhe kommen ließ. Filmriss.

Eva liegt im Sterben.

„David, das kann nicht sein. An Lungenentzündung stirbt man doch heute nicht mehr.“

Schneller und schneller, wir wurden selten müde dieses Spiel zu spielen. Evas lachendes Gesicht, wir kreischen was das Zeug hält, die Hände halten sich überkreuz, ihr dunkles langes Haar fliegt, legt sich um ihren Hals, wir kreiseln bis wir umfallen. Tellerreiben - wieso das Spiel diesen Namen trägt wissen wir nicht, aber das kümmert uns auch wenig. Als Kinder haben wir die Begriffe nicht hinterfragt, wir haben sie genommen wie sie sind.

Ach, der schöne Schwindel, wir krümmen uns vor Lachen, kitzeln uns, ich drücke sie an mich und so bleiben wir 2,3 Sekunden liegen. Unsere Welt, wir sind in unserer Welt, was verstehen die Großen davon. Nix und nochmal nix. Hinter dem Haus haben wir ein Lager gebaut, ein Versteck, da tragen wir alles zusammen, wie Eichhörnchen, kleine Hamster, unser Palast ist voller Schätze, goldene Glimmersteine, bunte Bänder, jede Menge Spiegel und Lippenstift, Rouge, Schminkzeugs, das wir von unserer Mama geklaut haben. Klauen ist überhaupt ein beliebtes Abenteuer in jenen Tagen. Alle Objekte, die uns begehrenswert erwachsen erscheinen, werden als Trophäen hier zusammengetragen. ‚Los ins Lager‘, ruf ich, ‚los, los!‘ Ich packe Eva bei der Hand, wir klettern den staubtrockenen Pfad in den Wald hinauf, klammern uns an Wurzeln fest, bis wir wieder aufrecht stehen können, ein Stück weiter noch, dann zwischen Reisighaufen und dem Ameisenhügel hindurch und an etlichen Fliegenpilzen vorbei - die sind giftig, hat man uns gesagt. Dann geht´s wieder ein bisschen raus aus dem Wald und hier im Lichtgrünen haben wir, an eine alte Buche, unseren kleinen Palast aufgeschlagen - aus Brettern, Reisig, Ästen und alten Decken, alles Material, was wir zum Bauen zusammentragen konnten.

Ich habe Zigaretten geklaut, ein ganzes Päckchen. ‚Wollen wir die ausprobieren?‘ Eva weiß nicht so recht. ‚Die riechen doch so scheußlich, das kann doch gar nicht gut sein.‘ ‚Aber den Erwachsenen schmeckt´s. Komm schon, allein macht´s keinen Spaß.‘ ‚Na gut, aber nur ein bisschen.‘ Ich nehme zwei aus der rot-weißen Schachtel. Reiche eine davon Eva und hole das Feuerzeug aus dem Blechkästchen mit den ganz besonderen Schätzen, entzünde damit umsichtig und ein wenig unbeholfen erst meine und dann Evas Zigarette. Lässig halten wir die Zigaretten, lehnen uns an den Baum und ziehen an. Beide fangen wir gleichzeitig zu husten an, einen Lungenzug haben wir gemacht – was das bedeutet habe ich allerdings erst später erfahren – das ist wirklich ekelhaft, mir wird speiübel, ich huste und finde das überhaupt nicht mehr toll. Eva gluckst seltsam, sie greift nach mir, ich sehe ihr ins Gesicht, o Gott, sie fuchtelt mit den Armen, ist ganz rot, kriegt keine Luft, panisch rüttle ich sie, schlag ihr auf den Rücken, ich weiß nicht was ich tun soll, Eva, nicht, atme wieder, ich pack sie bei der Hand, zerr sie den ganzen Abhang hinunter, sie stolpert widerlich röchelnd hinter mir her. Ich habe Angst, ich zerr sie weiter, bis zum Haus, Mama sieht aus dem Fenster, sie erkennt sofort, dass etwas nicht stimmt. Ich laufe weiter, Eva bricht zusammen, sie ist ganz blau, so ein Blau habe ich noch nie gesehen, ich zerre an ihr will sie weiterbringen, bin zu schwach, ich versuche sie zu tragen. Da kommt uns Mama entgegen, der Schock steht ihr ins Gesicht geschrieben, es ist ihr ein Leichtes Eva hochzuheben, sie macht etwas, was ich nicht verstehe, sie läuft zum Bach und steigt mit Eva hinein, taucht ihren Körper in dem eiskalten Wasser unter, was macht sie da, ich schreie, bitte, bitte, Eva nicht sterben, ich kreische, flehe, verzweifelt, ich bin schuld. Es wirkt, Eva atmet plötzlich wieder ein, ganz tief, und kreischt kurz, aber schrill auf, das fährt durch Mark und Bein. Mama riecht an Evas Mund, riecht den Zigarettenrauch, sie ist furios, so wütend habe ich sie noch nie gesehen, verzweifelt wütend, sie legt Eva nieder und kommt auf mich zu, sie schlägt mir ins Gesicht, ich hasse sie, ich habe es verdient. Eva lebt, Gott sei Dank, sie lebt, ich heule Rotz und Wasser, nie wieder werde ich so etwas machen. Evas Lunge ist schwach, von Geburt an, es ist eine zerbrechliche Brücke, die sie mit dem Leben und der Außenwelt verbindet, Asthma nennen Papa und Mama das, ich habe es vergessen. Mama trägt Eva ins Haus. Alles wird wieder gut.

Sarah war erstarrt. Sie musste ins Spital. Die Kollegen hatten gleich begriffen, dass etwas nicht stimmte. Sarah wirkte verwirrt. Ihr Gesicht gläsern. Die anderen sahen betreten, peinlich berührt halb zu, halb weg. Blickte das Ungewollte zur Tür herein, löste es Gefühle der Scham aus.

„Fahr nicht mit dem Auto, nimm dir ein Taxi!“ und schon hatte Rita, die Sekretärin, die Nummer gewählt. „In fünf Minuten vor dem Nebeneingang.“Ihr Stellvertreter Jürgen Bayer versprach ihr, die finale Produktion zu übernehmen. Sie wusste, auf ihn konnte sie sich verlassen. Sarah nahm ihre Jacke, die Handtasche und verließ die Redaktion.

Vor dem Eingang wurde ihr schwarz vor Augen. Sie lehnte sich kurz gegen die Wand, atmete tief, das Surren im Kopf ließ langsam nach. Die flirrenden Punkte formten wieder ein Bild. Das Taxi stand bereits vor der Tür. Der Fahrer sprang raus, hielt ihr die Türe auf und fragte mit arabischem Akzent und einem Lächeln nach dem Ziel. „Das Allgemeine Krankenhaus, bitte.“ Sarah registrierte alles minutiös. Sie war einem unwirklichen Zustand ausgesetzt. Das Irreale ein Tor zu etwas anderem. Das andere war nicht greifbar. Sie klammerte sich an kleine Dinge, an die Art wie der Taxilenker den Taxometer bediente, wie er das Lenkrad hielt, wie er leise vor sich hin summte und über den Rückspiegel bemerkte, dass dieser Fahrgast kein Gespräch wünschte, dass es hier um etwas Ernstes ging. Manche Menschen, die in seiner 15jährigen Laufbahn als Chauffeur in sein Auto gestiegen waren, suchten das Gespräch, sprudelten alles heraus. Andere wiederum, wie jene Frau, verkrochen sich in einen Winkel, wollten nicht angestoßen werden und hatten Angst, der Damm könne brechen und weil sie Angst davor hatten, sich zu zeigen, verschwanden sie lieber an einem dunklen lichtlosen Ort.

Es steckte immer etwas dahinter.

Er wusste das zu respektieren. Sie war ihm dankbar dafür, denn sie spürte in all ihrer Verwirrtheit die Rücksichtnahme der Menschlichkeit.

Die Reise an Evas Krankenbett war ihr endlos. Wie die Zeit dehnbar wurde, wenn sich das Unglück darin breit machte, als wären da ungreifbare Barrieren, unsichtbare Hände, die nach einem fassten, zogen und zerrten und zu sagen schienen: Du willst da nicht hin! Nein, das wollte sie wirklich nicht.

Der Verkehr der Stadt zäh, das AKH ein Labyrinth, monströs in seiner scheinbaren Undurchschaubarkeit. Der lange Krankenhausgang hin zu Evas Zimmer wollte kein Ende nehmen.

Als sie den Raum betrat, das Herz bis unter die Schädeldecke pochend, bemerkte sie zuallererst die Stille, irgendjemand flüsterte leise. Sie hatte Angst, vor dem was sein könnte. Sarah war immer für jegliche Art von Gefühlen empfindsam gewesen. An der sphärischen Zusammensetzung der Luft erkannte sie, welche Qualität an jedem Ort prägend war und damit das Geschehen bestimmte. Die Emanationen der Menschen erreichten sie ohne Filter. Ein Grund, warum sie es aufgegeben hatte, auf große Konzerte zu gehen oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren.

Warum gab es in diesem Zimmer keine Hektik und keine Ärzte, die um ein Leben kämpften? Wie konnte hier schon diese Stille des Todes eingekehrt sein? Sie erkannte das mit einer Deutlichkeit wie selten und begriff es nicht. Es war nicht das erste Mal, dass ihr der Tod begegnete. Sie erlebte jenen ihrer geliebten Minna hautnah, aber sie war mit ihren damals siebzehn Jahren noch zu jung, um die Tragweite des Erlebnisses wirklich zu erfassen. Das Leben ihrer Großmutter war ein erfülltes gewesen und obwohl sie jene in den Zeiten nach ihrem Tod schrecklich vermisste, wusste Hannah instinktiv, dass Minna Sophie glücklich war, dass sie ihren Mann wiederhatte, und dass ihre Lebensreise vollendet war. Aber dies hier blieb ihr sinnlos. Sie wollte hinauslaufen, nach einer Schwester, einem Arzt rufen, aber etwas hielt sie zurück, war es die Kraft ihrer großen kleinen Eva? Es schnürte sie ein. Eva möglicherweise jetzt schon zu verlieren entbehrte jeglicher Logik, und dass das alle Anwesenden offenbar akzeptierten stieß sie sauer auf.

Verhalten bewegte sich Sarah auf das Bett zu, da saßen der Vater, die Mutter, David und Evas Freund Lars, der sich über Eva beugte. David nahm kurz ihre Hand, drückte sie, sandte ihr dieses bittere Augenlächeln. Sie flüstert ihm zu: „Was ist hier los? Warum sind hier keine Ärzte, die alles daransetzen, dass Eva gesund wird. Da stimmt doch was nicht.“ „Eva hat darauf bestanden, dass jetzt Ruhe ist, vor einer Stunde. Davor war hier die Hölle los und alles wurde getan was möglich war.“ „Wie geht das? Ich verstehe es nicht. Wir können doch dagegen an, wegen ihrer Drogensache. Man kann sie doch nicht einfach liegen lassen, zulassen, dass das geschieht.“ David sah sie traurig wie bestimmt an. „Wie kannst du deiner Schwester in den Rücken fallen. Du weißt, wie sie ist und du weißt, wenn sie so etwas sagt, dann meint sie es auch. Und sie war gnadenlos präsent, als sie darüber entschieden hat, dass sie ihren Frieden haben will.“ Da wurde es still in Sarah und sie wusste, erinnerte sich wieder, trat aus ihrer Enge heraus: Ja, Eva hatte ihre eigene Realität.

An diesem Ort zeigten sich die Gesetze von Zeit und Raum aufgehoben. Auf dem Bett lag ein durchscheinend blass-dürres Geschöpf, das nur im entferntesten Sarahs quirlig leuchtender Erinnerung von Eva ähnelte, und doch ist sie es, die Kleine, die sie immer zu behüten wünschte, weil sie so zart war, aber von solcher Präsenz und inneren Stärke, dass ihr das nicht immer gelang, weil die Kleine das gar nicht unbedingt wollte.

Der Druck im Raum ansteigend.

Sie hatten sie aufgelesen, gestern Abend, mitten auf der Straße, sie musste schon eine Weile hoch fiebernd durch die Stadt gelaufen sein. Um das durchzustehen, hatte Sarah bestimmt einen Drogencocktail geschluckt, um sich gleich darauf mit Tequila zu betäuben, wie sie es schon oft in ihrem jungen Leben getan hatte. Sie rasselte und keuchte atemlos, als sie sie in dem Respekt einflößenden Wagen mit Blaulicht und Sirene mitnahmen, das Fieber in astronomische Höhen gerückt. Lars sagte leise, er hätte sie seit Tagen nicht mehr gesehen. Immer wenn sie ihre Schübe, ihre Abstürze hatte, verschwand sie in den städtischen Labyrinthen, wo sie ihre psychotischen Ergüsse durchlebte. Natürlich kannte Lars einige der Plätze, an denen sie sich dann aufhielt, die Wohnungen, in der sie in ihrer Sucht Unterschlupf fand, aber wenn Eva weder gesehen noch gehört werden wollte, dann verstand sie sich darauf unsichtbar zu werden, verschwand in ihrer ganz eigenen Welt aus Poesie und Trugbildern, aus den Traumstoffen ihrer Seele geschöpft. Aber ihr Körper konnte diesen Kreislauf nicht mehr verkraften und ihre Seele sehnte sich schon lange danach aufzugeben. Die gläsernen Geschichten und Gedichte, die sie seit ihrer Kindheit mit diesem unstillbaren Hunger schrieb, zeigten auf eine Welt hinter den Toren unserer Wirklichkeit. Diese leuchtendgrünen Augen schauten nie gesehene Wahrheiten und wollten sich wenig mit den drückenden Anforderungen unserer Realität befassen und dennoch konnte Eva knochenhart sein. Sie warf anderen ihre Meinung ins Gesicht, mit einer Schärfe, die für die Wiener Mentalität, welche lieber zu verdrängen sucht, als klar zu sehen, eher ungewöhnlich war. Ihre Streitlust kannte man als legendär. Kraftvoll und beherzt stritt sie sich um Kopf und Kragen. Probierte man nur einmal Eva zu sagen, was gut für sie wäre, was sie zu tun hätte, dann entfachten sich funkelnde Drachenaugen im Elfengesicht. Worte brannten sich ein. Da war Schluss mit lustig.

Sie rauchte wie ein Schlot und konnte tagelang von nichts als einem Apfel und einem Joghurt leben, um tags darauf eine Riesenportion von allem zu verschlingen. Eva ließ sich nicht in eine Form pressen und darum wurde sie von uns geliebt. Der Schatten der Liebe war ihr Schmerz.

Eva, dieses seltene Geschöpf, wahrhaft einem anderen Universum entstiegen, mutete mit ihrer körperlichen Zartheit zerbrechlich an. Das tiefschwarze Haar, das sie gewöhnlich kurz geschnitten und völlig verworren trug, klebte jetzt farb- und glanzlos um ein, Sarah wenig bekanntes, kantiges Profil.

Ihre Gesichtszüge wechselten entspannt und verbissen ihren Rhythmus. Sie atmete schwer und langsam, mit langen Atempausen. Ihre Augen schimmerten durch einen Spalt ihrer Lider, aber es waren keine offensichtlichen Zeichen von Bewusstheit erkennbar. Eva strahlte Müdigkeit aus, die alles an Energie rundum absorbierte, um die so gewonnene Substanz in ihren Kampf zwischen Leben und Tod zu investieren, den sie mit gewohnter Härte zu bestreiten schien. Manches Mal zuckte sie, ihre Muskeln spannten sich an, sie richtete sich mit aller Kraft auf, murmelte Unverständliches, sackte wieder in sich zusammen und ließ locker, bis in die nächste Phase ihres sterbenden Gebärens. Die Fäuste verkrampft, die Augen verdreht, in den Mundwinkeln klebte gelblicher Schaum, das Gesicht eingefallen, die Backenknochen, in glühendes Rot gefärbt, stachen krotesk wie Felsen daraus hervor. Dann völlig hingestreckt, weich, ein langgezogenes Ausatmen folgte dem Krampf. Sarah fand diesen Anblick kaum erträglich, wollte eingreifen, ETWAS tun. Plötzlich - völlig unerwartet - riss Eva die Augen auf, keuchte schwer und zeigte sich mit ihrem Geist klar und anwesend. Sie blickte rundum und fand was sie suchte in den Augen Sarahs. Ihre Hand fragte kraftlos nach der ihren und Sarah drängte angstvoll und doch gefasst in ihre Nähe. Sie ignorierte die Kanülen, griff die zerbrechliche Hand ihrer Schwester, beugte sich vor, lehnte sich ganz nah an sie heran, bis sie die Haut von Eva berührte, die von Hitze erfüllt brannte. Da war aber auch ein seltsames Empfinden von Kühle und Auflösung, materielle Substanz schwand dahin, ungreifbar das, was sich entzog. Ihr Atemhauch blieb schwach und Sarah witterte den Ruch des Todes, einer eigenartigen Süße, die sie schon einmal gerochen hatte. Da war endlich Frieden eingekehrt, der Kampf beendet. Alles gut, vielleicht konnte es das noch werden.

Es ist schön. schienen die schwachen Laute jetzt vermitteln zu wollen. Sarah krampfte Evas Hand allzu fest, wollte sie zurückhalten, etwas in ihr wusste glasklar, dass das eine sinnlose Geste war. War es soweit? Niemals. Wie kann man das wahrhaben wollen.

Ich gehe nach Hause.

Das was Sarah als ihre Schwester Eva kannte, wurde von einer neuen Qualität geflutet, war umgeben davon, ES war überall, fast mit Händen fassbar, stofflich, wie ein Sprühnebel, war es von Substanz und doch vergeistigt. Sie konnte dieses Etwas nur mit dem Wort Liebe definieren, eine andere Bezeichnung schien ihr kaum angemessen. Es war ein Fühlen, das sie berührte. Und alles war ebenso durchdrungen von der Schwäche, die Eva in ihrem Bett fesselte, dieses offenkundige Ende einer Reise, Ohnmacht im Gepäck, das Unvermeidliche. Ein Körper, der starb und verfiel, schon bald Fäulnis, schon bald Gewürm, wie grausig, wie konnte sie nur so etwas denken. Evas Augen verschleierten sich wieder, aber ihr Gesicht hatte ein aufkeimendes Licht, das Sarah neu war. Als die 32 Jahre junge Frau, dieses seltene Juwel, ihren letzten Atemzug mit einem sachten langgezogenen Seufzen aussandte, da verließ sie das Reich der Irdischen. In diesem Moment wurde Sarah ausgehoben, sie fiel rückwärts aus dem Körper, der Raum öffnete sich mit einem surrenden Rauschen, Strukturen lösten sich auf, es knackte Ohren betäubend. Übrig blieben Weite und Dunkelheit. Ihr Körper war in sich zusammengesackt und vornüber mit dem Gesicht auf Evas Schulter gefallen. Sie schwebte im Raum, über der Szene, die da vor sich ging. Das erregte keinerlei Angst. Die Wahrnehmung, von allem abgelöst zu sein, schuf ein schwereloses, sehr leichtes Empfinden. Es gab keine Trauer mehr, keine Verzweiflung. Es war alles gut, wie es gekommen war, exakt, wie es sein sollte. An ihrer Seite befand sich Eva, schimmernde geliebte Evaschwester. Hier war alles wahrer als wahr, die Szene unter ihnen beiden wirkte wenig real. Fremde Körper, lichtloser Raum, wie ein zweidimensionales Gemälde ob der Bewusstheit die sie eben fühlten. Die Gestalten in dem Gemälde weinten oder wirkten erstarrt. Jemand lief hinaus, um nun doch nach den Ärzten zu rufen. Es war Lars. Seine stumme Verzweiflung hallte in dem Krankenhausflur wider.

Es berührte sie beide wenig.

Sarah fühlte die unerschütterliche Verbindung zwischen Eva und sich selbst, ein Band, von dem sie wusste, dass es sie noch durch ihr weiteres Leben begleiten würde, bis an den Tag, da sie sich wiederfinden konnten, am Ende ihres eigenen irdischen Lebens. Sie erkannte jene Sphäre, in welche Eva bereit war einzutreten, die äußersten Ausläufer dieses Raumes. Sie sahen einander ein letztes Mal an, in einer anderen Dimension, einem Ort des Ge-wahr-seins. Eva lächelte.

Einen Augenblick später fand Sarah sich wieder an Evas leeren Körper gelehnt, vom Klang und Geschmack der Fassungslosigkeit berührt, den sie hier zurückgelassen hatte.

Der Tod veränderte nicht nur die Welt des Sterbenden, er veränderte vor allem die Welt der Lebenden, mehr konnte sie nicht wissen. Ihre Schwester war ihr nahe, wertvoll für ihre eigene Identifikation mit dem was Leben für sie ausmachte und nun war sie einfach gegangen.

Die Trauer in diesem Raum lastete schwer. Erstarrung und Nicht-Wahrhaben wollen kennzeichnet die erste Phase des Trauerns. Verzweiflung und Apathie, die Formen des Schocks sind bei jeder Persönlichkeit anders ausgeprägt, so sagt man. Mama und Papa halten sich an der Hand. Mama nimmt mich in die Arme. Will ich das? Ich lasse geschehen und weiß nicht mehr, ob das hier wirklich noch ich bin. Was zerbricht, das ist in mir, der Schmerz fühlt sich körperlich an. Ich will weg hier, weg,....

Sarah fand sich selbst auf einem Krankenlager wieder. Sie hatten ihr eine Beruhigungsspritze gegeben, weil sie hyperventilierte, fast hysterisch wurde.

War sie wahrlich dermaßen emotional? Sie kannte sich nicht in dieser Spielart, jedenfalls schon sehr lange nicht mehr. Ihr Kopf fühlte sich betäubt an, im Mund dominierte ein unangenehm süßlicher Geschmack. Sie lag auf einer rosa Wolke, einer trügerischen Wolke, von der sie wusste, dass sie jeden Moment in sich zusammenpappen konnte, wie Zuckerwatte, klebrig und süß, aber dennoch nichts als Luft. Da war diese Kühle, eine steinerne Kühle in ihr. Was war passiert? Die Erinnerung setzte aus, aber wahrscheinlich wollte sie das, nur nicht erinnert werden, nur nicht den Schmerz fühlen. Da war doch auch dieses andere Bild, dieses Entzücken und in der Kluft zwischen den unterschiedlichen Erfahrungsräumen befand sie sich, verhielt sich ruhig, unbeweglich, um weder in die eine noch in die andere Welt zu kippen. Sarah drückte die Hände fest an ihre Ohren, wie ein Kind, das verweigerte.

Sie hatten sich auf Evas Hülle gestürzt und alles gegeben, sie wieder zurück zu holen. Wiederbelebung in vielen Spielarten, alles was ihr medizinisches Wissen hergab. Sie fühlten sich schlecht, das konnte Sarah spüren, waren sie doch gefühlt ihrem Eid untreu gewesen. Sarah wusste bereits, dass es vorbei war, dass es so oder so geschehen wäre. Der Zeitpunkt war gekommen.

Als sie sich wehrte, gegen das, was da geschah, da machte etwas klick, etwas setzte aus. Sie verlor die Kontrolle. Nun lag sie hier, willentlich runtergefahren in Zeitlupentempo.

Ich will nach Hause.

Eva ist nicht mehr, alles kehrte wieder, der Gefühlsorkan. Sie raffte sich auf, und bewegte sich vorwärts. Nur raus, ein Taxi und in die Wohnung, weg vom Leben in dieser Welt.

.....

Zum fünften Mal versuchte sie nun den Schlüssel ins Schloss zu stecken, zitternd, hielt sie die rechte Hand mit der Linken, wie eine Betrunkene stützte sie sich ab. So gelang es ihr die Türe zu öffnen und als sie sie wieder hinter sich schloss, war ihre Erleichterung groß. Vertrautes kleines sicheres Sarahversum

Ruhe, Stille, lass die Welt zerbrechen. Dieses unbehagliche mulmige Gefühl ließ sie NICHT in Ruhe. Es war genau das, was man fühlte, wenn man sich in einer Zwischenwelt befand, wenn man weit jenseits der Komfortzone angelangt war. Das konnte nicht wahr sein, konnte einfach nicht wahr sein was hier passierte und doch war es das. In diesem Augenblick erreichte sie die Angst vor dem Nichts.

wie sie den tag verbrachte, wusste sie kaum. sie saß, starrte vor sich hin. es war Sarah bewusst, dass es viel zu tun gäbe, die beerdigung vorbereiten, die arbeit, so vieles, vieles, aber sie konnte nicht, ließ das telefon läuten, kümmerte sich nicht einmal um sich selbst, schob alles beiseite. weder essen, noch waschen, noch schlafen, noch sonst etwas interessierte sie. sie ließ gehen, alles, nichts von welt, das da noch wichtig schien. wenn sie wenigstens schlafen könnte, den süßen tiefen schlaf des vergessens. sie wusste nicht, ob sie gar nichts oder viel zu viel spürte, es war indifferent, es gab nichts mehr das ihr etwas bedeutete, das leben war mit eva gestorben, oder war sie selbst es, die gerade erst gestorben war und das noch nicht begriffen hatte? wer weiß. sarah rumorte, innen wie außen, gleich auch in eisiger erstarrung gefangen, ein zustand, der an die grenzen des menschenmöglichen geht, ein zustand, den schon viele durchgemacht hatten, kein einzelzustand, aber vereinzelnd. sie lief im kreis. der raum füllte sich mit schwärzestem dunkel, draußen, wie drinnen. sie lief, im kreis, rundum, rundum, alles drehte sich, kippte vornüber, das gesicht auf den boden, hatte sich was angeschlagen. die nase? war das blut? wenn schon. sie blieb liegen, schluchzte verhalten in den boden, krümmte sich. „warum, verdammt noch mal? bitte!!!! wann hat das ein ende, ich will´s nicht mehr, lass es nicht wahr sein. bitte, bitte gib mir meine kleine eva zurück. lass mich aufwachen, mein gott.“ völlig erschöpft von rumoren und toben fiel sie in einen erlösenden schlaf.

Die Kälte weckte sie nach einiger Zeit. Sie stolperte zur Couch, die Nase verkrustet, mit trockenem Blut wahrscheinlich, und kroch in die Pölster, zog die Wolldecke notdürftig über sich. Endlich konnte sie weinen, sie weinte wie ein kleines Mädchen. Sie weinte den ganzen Schmerz ihres Lebens, ihrer Seele, ihrer gescheiterten Beziehungen hinaus, sie weinte sich die unbändige Angst vom Leib, sie weinte sich von jedem Schmutzkörnchen in ihrem Unterbewusstsein los, ein nicht enden wollender Strom durchzogen mit Schnellen des Seufzens, Ächzens, mit Fällen der Wut, der tobenden Verzweiflung und schließlich mit sanften Sandbänken der Erlösung, der stillen, aber wunden Leere einer gereinigten Seelenlandschaft. Schlaf, nichts anderes mehr als betäubter, sehnsüchtig erhoffter, erschöpfter, aber dennoch stärkender Schlaf.

Es läutete an der Tür. Sturm. Sarah hob den Kopf, der tat weh. Es war Tag, früher Tag, das Licht noch sanft, flutete das Ostzimmer. Sie stand langsam, sachte auf und ging zur Tür. „Sarah, lass mich rein. Bitte.“ Sie öffnete die Haustüre mit Knopfdruck und schritt zurück, das Knarren des alten Parkettbodens - an immer derselben Stelle. Eine Erinnerung ihrer Realität. Sie ging ins Bad, das Spiegelbild blickte ihr abstoßend wie befriedigend entgegen. Sarah strich sachte über die trockene Blutspur, befühlte die Schwellungen an Nase und Lippe, die Augen waren verquollen, die Nase rot, alles verklebt vom Salz der Tränen und reinigenden Ausflüssen der Nase. Sie drehte das kalte Wasser auf und wusch sich ausgiebig. Die Kälte erfrischte, schon klopfte es mit der zaghaften Bestimmtheit ihrer Mutter an der Wohnungstür.

Susanne Engelmann, die Mutter, die Clanmutter, die Älteste seit Sophie Stankovic, deren Mutter, verstorben war.

Sie trat ein, etwas zögerlich, kam ganz in Schwarz gehüllt, wie es sich gehörte. Gefasst mit ihrer aufrechten Schönheit, aber mit einem neuen bitteren Zug um die Lippen. Es war hart ein Kind zu verlieren, auch wenn es schon erwachsen war. Susanne musste Haltung bewahren, um alle Schritte, die nach einem Sterben zu gehen waren, auch zu vollziehen. Es zuckte in ihrem rechten Mundwinkel, wieder diese unsicheren Bewegungen, das unstimmige Streichen über die Stirn, als wäre dort eine störende Haarsträhne, aber die Haare waren straff gebunden, erbarmungslos und perfekt an den Schläfen festgesteckt.

Erst nach der Beerdigung war es für sie an der Zeit zu weinen, wirklich zu fühlen. Sie berührte mit ihren Fingerspitzen die Wange der ältesten Tochter. Diese wandte sich ab, ertrug die Berührung kaum. Sie machte einen Schritt zur Seite. Sarah wusste, dass sie furchtbar aussah, aber es war ihr gleich. Sie hatte sie noch nie gebraucht, die Akzeptanz der anderen. Sie hatte ihren Weg gewählt und war ihn gegangen, was Eva und sie von den Eltern kopiert hatten. Die Familientradition der Andersgearteten, der Starken, die den Stürmen trotzten, die ihres Weges gingen. Eva schuf den Bruch, als Opfer ihrer Konsequenz. Sie offenbarte die blinden Flecken im Familienbuch.

Susanne setzte sich auf die Couch, aufrecht, faltete die Hände verspannt zusammen. Ihre Knöcheln zeigten Blässe. Sarahs verwahrloster Anblick war ihr unangenehm, das erkannte Sarah an der Art, wie sie sie anblickte, mehr an ihr vorbei, um ihr Bild nicht vollständig aufzunehmen. Sie suchte nach Worten, welche Worte wählte man in diesen Stunden, um nicht zu sehr die Verwundung anzutasten und gleichzeitig nicht kühl zu wirken. Den meisten Menschen fiel es schwer ihre Gefühle zu vermitteln.

„Wir müssen alles vorbereiten, für die Beerdigung, meine ich, kannst du mithelfen. David macht die Parte, wir müssen einen Sarg wählen.“

Wie konnte sie nur, wie war es ihr möglich, von all diesen Dingen auf diese abgespaltene Weise zu sprechen, als würde es sie nicht angehen.

„Ich weiß nicht. Ich glaube ich kann das nicht, nicht den Sarg, das ist unvorstellbar, nein... Blumen, Kränze ja, die Trauerfeier organisieren, gut. Aber um den Sarg und die Kirche und all das müsst ihr euch kümmern. Bitte.“ Sarah lief wieder ab, blieb beim Fenster stehen, blickte durch den cremefarbenen Vorhang aus Batist auf die Straße. Der Vorhang roch abgestanden, die Straße sah sie gar nicht, eine Alibihandlung. Sie spielte das Schattenspiel verwirrter Gestalten.

„Gut, das ist doch ein Vorschlag. Du organisierst die Trauerfeier. Bitte rechne mit vielen Gästen, ich werde dir die ungefähre Anzahl bald mitteilen.“

Es ist absurd, die aufgesetzte Normalität. Kann man dieserart leichter ertragen, was unerträglich scheint. Gibt das Stütze und ein Gefühl von Alltag?

Sterben ist schonungsloseste Wahrheit, Sterben ist Leben, ohne Leben kein Sterben, alles Leben stirbt.

…..

Das Händeschütteln, sich preisgeben müssen, ohne es zu wollen, gespickt mit salbungsvollen Worten eines Priesters, der Eva gar nicht gekannt hatte, wie seltsam. Eva, du hättest das zu verhindern gewusst, aber wir fügen uns brav den gesellschaftlichen Normen, in diesem Punkt jedenfalls. Viele vergossene Tränen, ach, für die meisten ist es bloß ein Weinen um sich selbst, der eigenen Vergänglichkeit bewusst werdend im Angesicht der realen Verstorbenen, Tränen über all das, was im Leben unweigerlich gehen würde. Sarahs Gedanken schmeckten bitter.

Das Ritual wurde für das Gesicht nach außen gespielt, keiner von den Familienmitgliedern war wirklich mit dem christlichen Hintergrund verbunden.

Wie vertraut hingegen die buddhistisch-zeremonielle Praxis des Vaters Alexander, das Rezitieren, friedbringend und erlösend, Schwingen von ghanta und vajra, Glocke und Donnerkeil, das erste gemeinsame Meditieren, seit Eva tot war, um ihr dabei zu helfen, einen guten Übergang in die Welt der Toten zu haben, nicht im Bardo, in den verwirrenden Zwischenwelten haften zu bleiben. Ja, so konnte man sich selbst trösten, das Gefühl haben, noch Teil des Wirkungsbereiches der Toten zu sein.

Sarah wusste, dass Eva einen guten Übergang gehabt hatte. Sie hatte es selbst miterlebt. Dem Buddhismus fühlte sich Sarah nach wie vor nahe. Sie hatte als junge Frau Zuflucht genommen und meditierte soweit es ihr möglich war täglich, aber mehr, um den Stress des Arbeitslebens zu ertragen, als um „höhere“ Zustände zu erreichen, geschweige denn aus dem großen irdischen Traum zu erwachen, das scherte sie bislang eher wenig, dafür genoss sie diesen Traum zu sehr. Nun hatte alles ein anderes Gesicht bekommen, mit dem sie zu diesem Zeitpunkt noch wenig anzufangen wusste. Zu wund war sie.

Es ist vorbei und jeder geht seiner Wege, die Eltern nach Salzburg und David nach Mexiko. Wie froh bin ich. Ich will keinen mehr sehen, niemanden. Alle haben sie ihren Platz, bloß ich bin aus der Welt gefallen. Es ist vorbei, das Leben wie ich es gekannt habe existiert nicht mehr, darf so nicht mehr weiterbestehen. Verlorengegangen. Da existiert bloß dieser Abgrund. Die Stadt verletzt mit ihrer Penetranz. Der Lärm der Straße, die stete Unruhe, das Murmeln der Stimmen immer und überall, das Licht, das ich nicht zu löschen vermag, ich ertrage es nicht mehr.

Es war Zeit zu gehen, bevor der lange Schatten sie erreichte. Sie musste weiterziehen, dorthin wo Heimat war.

Es liegt ein Schatten

Über Schimmelsprung lag ein Schatten. Der zauberhafte Odem vergangener Geschicke, eine neue Trauer hatte sich darunter gemengt. Der alte Traum schwang noch sehr präsent. Es war still in diesem gelben Haus, das von vielen Stimmen erfüllt worden war, in früheren Tagen, in kindlichen Stunden. Alleinsein war in ihrer Kindheit ein Luxus gewesen, Alleinsein war aber auch ein seltenes Bedürfnis damals. Jetzt war die Stille das Leben in der Schimmelsprunger Enclave und das Wispern der Mäuse und Insekten. Sarah war zu Hause, war immer zu Hause an diesem vertrauten Ort. Ob sie die Stille ertragen würde? Sie wusste es nicht. Vielleicht wollten die Stimmen der Vergangenheit sprechen und aus anderer Perspektive erzählen, was sich zugetragen hatte, welche Geschicke den Schlüssel der Familie Engelmann geschmiedet hatten. In alle Winde waren sie zerstreut, kein Halt mehr, kein Zentrum. Wenige übergeblieben. Sie zogen ihrer Wege und fanden - vielleicht - ein neues Glück.

Mit einem großen Koffer und zwei prallgefüllten Kisten war sie heimgekehrt und wusste nicht, wie lange sie bleiben mochte. Eine zarte Schicht Staub bedeckte alles, Möbel, Boden und Erinnerungen. Das Haus wollte von neuem in Anspruch genommen werden. Gelebt, geformt, vielleicht sogar neugedacht, um sich in ihr auszubreiten, so wie sie sich in ihm. Sage nicht, in einem alten Haus stecke kein Leben. Sie freute sich. Einfache kindliche Freude machte sie auf der Stelle zappeln. Ihr Gepäck deponierte sie im Schlafzimmer.

Ende Oktober war es, der Herbst trug sein buntes Kleid zur Schau. Das Haus gedämpft schimmernd in nebeliges Licht gehüllt. Sarah schlüpfte in ihre Arbeitskleider, krempelte die Ärmel hoch und stellte alles auf den Kopf, putzte sich aufs Neue ein in diese Welt, machte sie frisch, duftig, riss die Fenster weit auf, ließ das Haus durchwehen, mit herbstlichem Duft, diesem zarten Moder der Wälder, den frischen Winden. Sie schüttelte die Federbetten auf. Den ganzen Tag am Wüten, von einer warmen Süße genährt, wusste sie, dass sie hier wieder glücklich werden konnte, dass es den tiefen Riss, der sie spaltete, vielleicht zu kitten vermochte. Sie ging in den Schuppen, der bis obenhin mit ausreichend Holz gefüllt war. Letztes Wochenende hatten hier noch fleißige Hände gestapelt und geschlichtet, alles vorbereitet für den bevorstehenden Winter. Weiche Fichte, harte Buche und die Eiche zum Halten der Glut. Die Gebrüder Maierhofer sind die guten Geister dieser Familie, schon seit Jahrzehnten. Sarah hatte sie gebeten das Holz für den ganzen Winter zu richten, die Wiesen zu mähen und allfällige Reparaturen, die am Haus anstanden, durchzuführen. Sie hatten wieder einmal präzise gearbeitet und Sarah brachte guten Wein und reichlich Lohn mit, was sie ihnen in den kommenden Tagen vorbeibringen wollte, exklusiv mit ihrem Dank im Gepäck.

Sie hackte, mit aller Wucht, Gewalt und Wut, die in ihr steckten. Das Holz hacken hatte sie immer schon geliebt, drauflos schlagen was das Zeug hielt, den Dampf ablassen und sie war noch immer so unsäglich wütend, dass das passieren musste, dass niemand Eva hatte retten können, keiner es wirklich versucht hatte, schon gar nicht sie selbst. Aber Eva konnte man ja auch nicht wirklich retten, sie hatte sich entschieden, sie hatte ihren Weg bereits gewählt. Sarah gefiel das nicht, wollte es nicht akzeptieren.

Als sich die Sonne zu neigen begann, um am westlichen Horizont mit einem breiten Band aus magentafarbenen Streifen und kupfernen Tönen - welch Schauspiel - den Abschied zu zelebrieren, heizte sie den Kachelofen im Wohnraum und den kleinen Schwedenofen im Schlafzimmer an. Sie stellte Wasser zu, füllte den gesäuberten Kühlschrank mit mitgebrachten Schätzen, richtete sich ihr Abendbrot und eine Kanne Kräutertee. Bei Kerzenlicht ließ sie sich in der gemütlichen Wohnnische nieder, um den Abend ausklingen zu lassen. Ihre Beine unter dem Tisch langgestreckt, spürte sie für einen Moment so etwas wie Glück, ein glockenhelles Glück, das die Schwärze der Stunde zu durchdringen vermochte. Es war still, dass es anmutete als würden selbst ihre Gedanken von den alten dicken steinernen Gemäuern verschluckt, eine wohltuende Stille, heilsamer Balsam auf ihren Schultern. Alles schien in diesem letzten Monat aufgebrochen zu sein, ein Moloch und doch übte sie sich stur darin Haltung zu bewahren, nur keine Schwäche zeigen, musste sie doch jetzt die Stellung halten, für ihr geliebtes Schwesterherz.

Diese Stille, die war gut.

Wie schön wäre es, wieder ein kleines behütetes Mädchen sein. Ich erinnere mich gut an die Wärme, die ich in meiner Kindheit hier empfunden habe. Das Leben in Schimmelsprung war vollständig, war alle Welt für mich. Eingehüllt in eine dicke Wolke der Liebe gab es hier unzählige Stunden der Freude, der Fantasie, des Spiels. Hier waren wir das, was wir sein wollten. Wir konnten uns täglich verwandeln. Wir sprachen mit den Elfen, jagten die Zwerge, träumten uns in die Wolken hinauf und waren kleine wilde Tiere. Wir zauberten die schönsten Dinge mit unseren Händen.

Mama war die Herrscherin dieser Welt, ich war immer so stolz auf sie, diese schöne Muse, mit ihrer weichen Brust, in die wir uns hinein schmiegten, wenn sie uns hier in die vielen dicken selbstgenähten Polster gelehnt stundenlang Bücher vorlas und oft auch Geschichten erfand, wenn die Bücher schon langweilten. Mama war eine Königin, voller Ideen, voller Überraschungen. Sie ist es noch, aber es ist anders heute.

Susanne Engelmann war eine künstlerische Seele, entstiegen dem Olymp der Musen bezauberte sie manch künstlerisches Herz, das aus ihrem Strahlen, ihrem Schönsein ein Bildnis, ein Lied, Poesie erschuf. Ihre eigene Natur gebot es ihr, das Schöpferische in den alltäglichen Dingen zu verwirklichen. Sie malte keine Bilder noch spielte sie ein Instrument oder schrieb Gedichte wie ihre Tochter Eva schon in Kindertagen, aber sie lebte die Kunst, wenn sie ein Essen kochte, sie lebte sie in ihren Bewegungen, sie lebte sie bei der Gestaltung der Wohnung, bei ihren Auftritten in der Öffentlichkeit. Sie brauchte auf keiner Bühne zu stehen, war die vollkommene Schauspielerin auf der Bühne des Lebens. Dieser Hochglanz, diese ständige Selbstdarstellung und der Zwang, alles zu kultivieren, war Sarah heute fremd geworden, hatte mit den Jahren seinen Glanz eingebüßt. In Schimmelsprung, wo sie so viele Spuren hinterlassen hatte, Spuren, die noch Teil ihrer Erinnerungen waren, unverfälscht, ungetrübt, da hatten sie ihren Platz, waren wichtig für Sarahs Wahrheit.

Sarah träumte leise vor sich hin, nickte kurz ein, um schließlich ins frisch duftende Federbett zu kriechen. Zuversichtlich wie ein Kind, ertastete sie achtsam neugierig ihre Traurigkeit, wie ein Geschwür, dass es kennenzulernen galt. Sie bemerkte aber auch erstmals etwas wie Zufriedenheit, denn sie hatte den Weg bis hierher zurückgelegt. Sie hatte sich selbst nicht fallen lassen, sondern war zu sich gestanden. Es war noch zu früh dies als Freiheit zu bezeichnen. Es war mehr ein erster Keim, der ihren Sinnen frohmutig entsprang.

Wieder hellwach betrachtete sie die Decke. Die Stimmen waren noch hier, Stimmen über Generationen, die Erinnerungen hatten sich in den Mauern verewigt, alle Geschehnisse in irgendeiner Zeitspur gefangen, sie hörte sie hauchfein flüstern, kaum merklich und doch präsent und zwischen den Zeilen ließen sie Stille zu.

Sarah hingegen war unruhig. Sie versuchte, sich wieder zur Ruhe zu bringen, atmete tief, hielt ihren Körper davor zurück, sich zu bewegen, den Blick starr auf die weiße Decke gerichtet. Ein seltsames Gefühl breitete sich in ihr aus, ähnlich wie sie es aus der Meditation kannte, nur intensiver. Sie ließ es zu, schaukelte auf dieser Energie, wie ein kleines Ruderboot festgezurrt am Steg im leichten Wellengang. Sie war das Boot und die Welle. Plötzlich löste sich der Knoten des Bootes und sie trieb auf das offene Meer hinaus, in eine unbekannte Weite. In dieser Weite sah sie ihre Sehnsucht, die sie tief verborgen gehalten hatte, um ihrem Ansinnen gerecht zu werden. Aber jetzt drängte sie hervor. Sarah ergoss sich in den Ozean, überließ sich der sanft schaukelnden Idylle. Dies erfüllte sie mit kostbarem Frieden.

So glitt sie, geborgen wie ein Baby in den wiegenden Armen seiner Mutter, in die Welt des Traumes hinüber, sank in einen sanften Schlaf.

Die Großmutter lachte von einem Ohr zum anderen. „Kindchen! Da bist du ja.“ Evchen hockte neben ihr auf einem roten Felsen, sie ritzte etwas konzentriert in den Untergrund, hob kurz den Kopf und grinste ihr verschmitzt ins Gesicht. Es war, als wären die beiden nie fort gewesen. Da bemerkte sie, dass ihre Oma wesentlich jünger wirkte, als sie sie je gekannt hatte und sie sah auch den Mann an ihrer Seite, in dessen Arm Sophie sich untergehakt hatte. Er hatte ein schönes Gesicht, war nur unwesentlich größer als Sophie und sein dichtes unbändiges, schwarzes Haar war etwas länger, als Männer es gewöhnlich in jenen Tagen zu tragen pflegten. Der Großvater Ivec war leider allzu früh gestorben, noch als ihre Mutter Susanne ein kleines Kind war. Ein Autounfall raffte ihn grausam hinweg, trug ihn über die Wolken. Es wurde wenig über ihn gesprochen, er blieb als schwelende Wunde der Großmutter in ihrem Herzen verborgen. Hier aber stand er nun in all seiner lebendig wirkenden Pracht, Sarahs Herz frohlockte.

Ein goldenes Band umhüllte die beiden Großeltern deutlich. Das Band, das ihre Herzen verknüpfte, war von sphärischer Intensität. Sarah erahnte die tiefe Vertrautheit der beiden und gleichzeitig verstand sie nun endlich die Einsamkeit ihrer Ahnin. Hier war der Großvater, den sie nur von schlechten Fotografien kannte und es erfüllte sie mit Stolz, diesen Mann zur Familie zu zählen. Evchen war unterdessen aufgestanden, auch sie lächelte. Sie wirkte schöner und zarter noch. „Ich will dir etwas schenken, komm her.“ Eva nahm sie bei der Hand, zog sie an ihre Seite, sie konnte förmlich deren Körper spüren. „Da!“ Jetzt erkannte sie das Bild, welches Eva zu ritzen schien. Es war ein Paradiesvogel, der in allen Farben schillerte. Erst zweidimensional, nahm er schließlich Form an, bewegte sich, streckte und rekelte sich, schüttelte sein Gefieder auf, um dann mit zarten herzergreifenden Rufen in den Himmel davonzufliegen. „Der gehört dir, folge seinem Ruf, du musst gehen. Du hast noch einen guten Weg vor dir.“ Eva lächelte, wandte sich um und folgte ihren Großeltern, die sich schon entfernt hatten, dann drehten sich alle drei noch einmal um und winkten ihr zu. Als Sarah die Augen öffnete schien der Raum lebendiger zu sein, lebendiges sanftes greifbares Licht. Der Mond erhellte den Himmel und die Erde mit seinem nächtlichen Glimmer, wie er es schon immer alle vier Wochen tat, abgesehen von jenen verhangenen Tagen, da sein Strahlen nicht durchzudringen vermochte. Das silberne Licht legte einen zarten Zauber über das Schlafzimmer, über das Bett, über die neue alte Welt der Einsamen. Sarah konnte unmöglich wieder einschlafen, der Traum machte sie perplex. Sie war aufgekratzt. Die beiden geliebten Toten und der weniger vertraute Großvater hatten sie auf die Reise geschickt, eine befreiende Gewissheit war das und sie erkannte, dass sie ein Wesen voll übersprühender Energie war. Sie hatte sich schon allzu lange vor ihrer Wahrheit versteckt oder diese in sich verborgen. Als Evas Beschützerin und als Journalistin war sie zwar ausgefüllt, aber doch niemals frei ihr Sein zu leben und Eva hatte ihr diese Identität wieder zurückgegeben, heute Nacht. Ermutigt und freudvoll lag sie noch lange wach, ehe sie wieder in einen weichen beschützenden Traum sank.

Es möge beginnen.

Der Morgen erwachte fröhlich-sinnlich, sie trotzte den letzten schweren Gedanken, ließ sie zurück, auf dem Nachtkästchen, wollte sie aufbewahren, weil Teil ihrer Zeit, wollte sie neuordnen, weil es einen Anfang und ein Ende gab.

Der neue Morgen lockte sie hinaus in das Leben. Der Hochnebel umschloss das Häuschen und ihre Einsamkeit mit festem Griff, aber zäh und sachte zerrten die Sonnenstrahlen an diesem herbstlichen Mantel.

Es wollte ihr gefallen hier zu bleiben, hier zu sein, sich wieder eins zu fühlen. Sie schlüpfte in die Wäsche, streifte Jean, Sweater und den dicken handgestrickten Pullover aus violetter Wolle über. Wickelte den sandfarbenen Seidenschal um ihren Nacken, frisierte ihre Mähne mit den Fingern, schlüpfte in die braunen Leder-Stiefeletten mit fester Sohle für das felsige Gelände.

Sarah öffnete die jahrhundertealte schwere Holztüre mit ihrem schmiedeeisernen Knauf, lief hinaus in das weiche Herbstlicht, welches den Nebel zu besiegen wusste. Sie jauchzte und zu gerne hätte sie diesen einmalig kostbaren Moment mit einem Menschen geteilt, der in Einigkeit mit ihr sprachlos die bewegende Schönheit dieser Herbstlandschaft erfassen würde. Sie schob diesen Wunsch mit einem inneren Augenzwinkern beiseite, spürte sich selbst, genoss das ungemein. Worauf warten, wenn alles hier war?

Am Apfelbaum ging es vorbei. Schwer beladen mit seinen großen Früchten lud er zum Ernten ein. Sie pflückte davon und biss herzhaft in das süßsaftige Fruchtfleisch. Das beste Frühstück, das man sich vorstellen konnte. Früchte schmeckten immer am besten, wenn man sie reif direkt vom Baum oder Strauch naschte. Ein Tag voller Staunen nahm seinen Anfang. Die Blätter raschelten im Baum in der warmen Brise und sie raschelten zu ihren Füßen. Der Herbst war die vollkommene Schau des Wandels, wo nichts mehr so blieb, wie wir es gewohnt waren, wo in all diesem Werden und Vergehen ein Geheimnis lag. Sarah ging durch den Hohlweg bergan. Der Boden war trocken, nur im Wald ließ der moosig- feuchte Erdboden Pilze sprießen. Steinpilze im Überfluss, am Wegrand entdeckte sie Safranschirmlinge, Delikatessen auf dem Mittagstisch. Vielleicht würde sie beim Heimweg ein paar davon pflücken, für das Willkommensmahl in dieser neuen Heimstätte. Sie erreichte den Hügel, blickte ringsum, füllte sich randvoll mit den Bildern an.

Der Himmel kobaltblau, gesättigt mit Farbe, es dünkte sie, er würde gleich überlaufen und seine Fülle über die Erde ergießen, die sich schon in andere Farbenmuster zu hüllen begann. Die Kastanien in ihrem Rostbraun, Eichen in gelborangebraunen Tönen, Birken mit leuchtendem Gelb, Ahorn in Weinrot, das sie so gerne mochte. Und die Fichte wie ihre südländisch anmutende Kollegin, die Kiefer, hielten an ihrem wesensartigen Grün fest.

Ach, wie schön, schön, schön, sie breitete sich in dieser köstlichen Natur aus, wurde ein Stück weit ganzer. Zwischen den Baumwesen versammelte sich die Sträuchergesellschaft, Heckenrosen, prallgefüllt mit leuchtendroten Hagebutten, Schlehen und ihre kugelrunden aber stocksauren Beeren. Beide Früchte sind Kostbarkeiten, Labsal für den menschlichen Organismus, aber man musste schon wissen, wie man sie am delikatesten verwertete, Hagebuttenmarmelade, Schlehenmus, wunderbar. Sarah hatte jede Menge zu tun. Nach dem ersten Frost sammeln, entkernen, aufkochen und schließlich am besten mit Honig süßen und schon war ein Verjüngungselixier entstanden.

Die Welt im Lot.

Sarah kletterte auf den großen Felsen, der Birken und Kiefern Umwachsene, der Verborgene, der alles sah. Der Fels trug den Puls der Erde in sich. Wie oft hatte er sie eingelullt, war sie hier eingeschlafen, von süßen Träumen begleitet. Sie hatte es verlernt zu träumen, aber die Träume waren immer da, luden ein, das Leben in seiner Schönheit wieder und wieder zu leben. Ein Saatkorn bringt Frucht, ein Traum lässt Wachsen, erwacht in dir, um zur Reife zu kommen. Solange bis wir den Kern des Träumens erreicht haben.

Plötzlich zog ein Habicht unweit ihres kleinen Versteckes vorbei. Sein Ruf weckte sie schrill aus dem Dösen. Den Habicht, den liebte sie, er war ihr vertraut, wie ein Stück ihrer selbst. Der Habicht mit seinem hellen Bauchgefieder, der so flink in den Wäldern zu jagen verstand. Ihm zu begegnen war ein schönes Geschenk. Sein Rufen forderte sie auf, den Weg fortzusetzen, das Land der kindlichen Freuden zu erkunden.

Der Bach gluckerte. Er war die letzte Station ihrer Ankunft. Sie beugte sich hinunter, um einen Schluck zu trinken, wie Tiere oder Kinder es gerne taten. Es war wohl schon zu kalt hineinzusteigen. Sie wagte es dennoch, ein verlockender Reiz. Ein kurzer Sprung, ein sachtes Untertauchen, um den Körper zu beleben, ihn mit der geballten Kraft des Wassers zu ionisieren. Dieses Eintauchen war ihre Taufe, reingewaschen von Schmerzen und Begrenzungen, wo sie alles abstreifte - wie alte Schuppen -, was nicht mehr ihres war. Sie schrie auf, so beißend kalt war es, aber das tat gut, sie fühlte Belebung. Sarah stieg schnell aus dem Wasser, griff nach dem Unterleibchen und rieb sich damit trocken. Es war sehr kalt, ihre Haut zusammengezogen, die Brüste und Brustwarzen fest und steif. Sie schlotterte und streifte mit klammen Fingern ihre Kleider über. Wieder eingehüllt stieg eine herrlich frische Wärme hoch. Neugeboren, wie sie sich dieserart fühlte, wusste Sarah, dass sie es schaffen würde ihre Gedanken zu ordnen, um eine neue Zukunft zu gestalten. Sie wusste mit glasklarer Gewissheit, dass ihr Leben ein anderes werden würde, dass Eva nicht umsonst gestorben war, dass es sie lehren würde zu fühlen, zu tanzen, zu riechen und der Welt ein Licht zu schenken, wie Eva das auch in all ihrem Dunkel zu geben wusste. Sarah wurde weich, die Strahlen der Herbstsonne bohrten sich in ihr Innerstes und leise Tränen suchten sich die Bahn zu ihrem Herzen, wollten es zum Leben erwecken. Sie sah Evas Bild so deutlich vor sich, als wäre sie hier neben ihr, an diesem Ort, an dem sie schon viele Stunden miteinander verbracht hatten, Erinnerungen flossen erneut wie Aquarellgemälde ineinander. Die Meisen sangen, die Welt war erwacht, sie war erwacht, hier in jenem Augenblick öffneten sich die Bande, die seit Wochen ihren Brustraum, ihre Lungen umfangen hielten und die lang ersehnte Befreiung öffnete ihren Lungenraum und Luftmassen drangen tief bis in die äußersten Spitzen. Ihr Herz pochte laut, wild, jung und stark. Sie war auf dem richtigen Weg. Wie dankbar war sie der Natur um sich her, die sie aufbrach und sanft wiegte, ihr Heimat schenkte.

Ich bin wieder hier.