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Meine Entscheidung gegen den Brustkrebs Sie ahnte es schon lange, als ein Test die Gewissheit bringt: Evelyn Heeg hat die genetische Veranlagung für Brustkrebs. Doch die junge Frau nimmt den Kampf auf und entscheidet sich zu einem radikalen Schritt: die komplette Entfernung beider Brüste. Sie findet einen Spezialisten in München, der die Operation übernimmt und ihre Brüste aus körpereigenem Gewebe wieder rekonstruiert. Aber wird der Eingriff gelingen? Wird Evelyn sich hinterher noch als Frau fühlen? Wie werden Freunde, Familienangehörige und Kollegen reagieren? Unterstützt von ihrem Mann Tino geht Evelyn ihren eigenen Weg.
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Seitenzahl: 323
Veröffentlichungsjahr: 2009
Evelyn Heeg
Oben ohne
Die Entscheidung zu leben
Sachbuch
Fischer e-books
Mit einem Nachwort von Prof. Dr. med. Rita Schmutzler
Namen und äußere Merkmale einzelner Personen wurden verfremdet. Orte und Geschehnisse nicht.
für Gabriele und Anneliese
November 2005
»Guten Morgen, Frau Heeg.«
»Guten Morgen, Herr Professor Feller.«
Er reicht mir die Hand und lächelt mich an: »Ich habe sehr gut geschlafen, falls Sie das beruhigt.«
Ich muss auch lächeln. Das ist nicht die erwartete Begrüßung. Und tatsächlich kommt es ja wirklich nicht darauf an, wie ich die Nacht verbracht habe, sondern ob mein Chirurg erholt ist. Schließlich wartet jede Menge Arbeit auf ihn. Das bestärkt mich in meinem Vertrauen, dass alles gelingen wird.
»Lassen Sie mich noch einmal kurz die Anzeichnungen sehen«, sagt der Professor.
Ich stehe auf, um ihm die Linien auf meinem Körper zu präsentieren.
»Alles in Ordnung. Die Schwestern werden Sie gleich nach unten bringen, und dann legen wir los.«
Da gibt es nichts einzuwenden. Ich bin dankbar, dass die Warterei ein Ende hat. Ich habe erstaunlich gut geschlafen, die Nacht war also verhältnismäßig schnell vorbei. Und trotzdem ist alles sehr seltsam. Ich bin völlig gesund und liege hier in einem Münchner Krankenhaus. Auf mich wartet eine siebenstündige Operation.
Draußen dämmert es gerade. Die Aussicht aus meinem Fenster ist hübsch: Blick auf den Garten. Man sieht ihm nicht an, dass er zu einem Krankenhaus gehört. Das Haus hat auch nicht den üblichen Geruch nach Desinfektionsmitteln. Das Zimmer mit seinen hohen Decken wirkt freundlich. Wir sind im Moment zu zweit hier drin. Meine Mitpatientin hat schon alles hinter sich. Sie wird heute entlassen. Irgendwo da draußen muss auch der Englische Garten sein. Ich wollte mir das eigentlich alles noch ein bisschen anschauen. Aber daraus wird jetzt nichts mehr.
Die Schwester steht in der Tür: »Sind Sie startklar, Frau Heeg?«
Ich glaube schon.
»Sie müssen sich noch umziehen, und dann fahren wir Sie nach unten.«
Warum fahren? Ich kann doch laufen. Aber ich verkneife mir die Bemerkung. Die Pflegerin hält mir das OP-Hemd hin, und ich schlüpfe aus meinem Nachthemd und dann in dieses ungeliebte Kleidungsstück. Damit möchte ich nun doch nicht durchs Haus laufen. Ich setze mich zurück ins Bett.
»Sie können sich jetzt hinlegen, und dann fahren wir los.«
Hinlegen? Da komme ich mir so hilflos vor. Außerdem hat man einen denkbar schlechten Ausblick. Sitzend wäre mir diese Fahrt angenehmer. Aber ich fange jetzt nicht an zu diskutieren.
Ich strecke mich unter der Decke aus. Eine zweite Krankenschwester kommt herein, und die beiden setzen mein Bett in Bewegung. Wir passieren die Tür, und ich starre an die Decke des Krankenhausflurs, wo ab und zu eine Neonröhre vorbeizieht. Es ist gar nicht so einfach, das unhandliche und schwere Gefährt um die diversen Kurven zu bugsieren. Wir stoppen, und ich hebe kurz den Kopf, dann öffnet sich die Aufzugstür, und es geht hinab Richtung Operationssäle.
Es ruckelt, wir sind da, hier herrscht eine andere Atmosphäre, das Licht ist heller, und natürlich wird es jetzt steril.
»Sie müssen jetzt kurz umsteigen, Frau Heeg.«
Das neue Bett wird von Menschen in Grün weitergelenkt. Ein anderer Grüner kommt dazu. Es ist der Anästhesist von gestern Abend. Hätte er das nicht gesagt, hätte ich ihn jetzt nicht erkannt. Aber das weiß er wohl. Er gibt mir noch ein paar beruhigende Worte mit, während er mir den Zugang legt. »So, jetzt wird es kurz piksen.«
Ich habe keine Angst vor der Narkose. Auch die Operation schreckt mich nicht. So schlimm wie eine Chemo kann es nicht sein.
Ich atme tief durch, jetzt muss ich mir darüber sowieso keine Gedanken mehr machen. Ich spüre die kalte Flüssigkeit in meinen Adern, und alles wird schwarz.
April 2003
Autofahren war schon immer das beste Schlafmittel. Tino fährt, ich döse vor mich hin. Das ist unsere übliche Arbeitsteilung. Ich muss jeden Tag in der Woche fast 180 Kilometer pendeln, da bin ich froh, wenn am Wochenende mein Mann fährt. Der sitzt wiederum jeden Morgen und Abend im Zug und freut sich darauf, mal wieder selber lenken zu dürfen. In unserem alten mausgrauen VW Golf, einem Erbstück von Tinos Eltern, schnaufen wir das Höllental bei Freiburg hoch. Von den ursprünglich nicht gerade üppigen fünfzig Pferdestärken dieses Autos sind einige längst auf der Strecke geblieben. Das Höllental ist einer der spektakulärsten Einschnitte in der Westseite des Hochschwarzwaldes. Am Eingang des Tales windet sich die Straße zwischen dreißig, vierzig Meter hohen Felswänden. Danach öffnet sich das Tal etwas und steigt gleichmäßig an, bevor es sich in einigen Serpentinen nach Hinterzarten hochschraubt.
Wir passieren Neustadt, wo sich die Straße in einem letzten steilen Bogen über eine hohe Brücke aufschwingt. Hier oben auf über tausend Meter über dem Meer haben die Parkplätze passende Namen in alemannischer Mundart: »Verschnuferecke« steht da … Bis wir auf die Autobahn Singen–Stuttgart kommen, zieht die Landschaft der kalten Baar an uns vorbei. Hier kommen definitiv noch keine Frühlingsgefühle bei mir auf. Während in Freiburg bereits alles blüht, beherrschen braune Felder das düstere Bild.
Wir sind auf dem Weg zu meiner Oma. Es ist kein gewöhnlicher Besuch, denn Oma soll uns einfach – ihr Leben erzählen. Tino und ich kennen uns schon seit bestimmt sieben oder acht Jahren. So genau können wir es auch nicht mehr rekonstruieren, da wir uns bei einer Veranstaltung des Allgemeinen Hochschulsports kennengelernt haben. Wir sind beide passionierte Radfahrer, und damals waren wir zufällig zusammen in der Gruppe. Wir haben uns bei den Ausfahrten immer gut unterhalten. Und irgendwann hat Tino sich getraut und mich abends angerufen, um sich mal in »zivil« mit mir zu treffen. Es war ein schöner Abend, der immer länger und länger wurde. Zwei Jahre später haben wir dann geheiratet.
Vor einigen Wochen bin ich mit Tino mal wieder ins Gespräch über meine Familie gekommen. Tino, studierter Historiker, wollte tausend Sachen wissen. Von denen ich gelinde gesagt keine Ahnung hatte. Er weiß natürlich schon einiges von meiner Familie, aber das reicht nicht über die Kindheit meiner Mutter hinaus. Weiter zurück habe ich nur bruchstückhaftes Wissen. Seine Fragen waren mir unangenehm. Ich hatte an mich selbst den Anspruch: Mensch, das weiß man doch von seiner eigenen Familie! Klar ist meine Ahnungslosigkeit kein Wunder. Meine Mutter starb, als ich vierzehn war, und danach lief in unserer Familie alles etwas anders. Als die Älteste von uns Kindern kümmerte ich mich viel um meine Geschwister und den Haushalt. Meine Schwester ist sieben Jahre jünger, die brauchte einfach viel. Für den Haushalt hatte mein Vater eine Hilfe organisiert, die für ein paar Stunden am Tag da war. Dennoch blieb einiges an mir hängen – und wenn es nur das Darandenken war. Daneben ging ich aufs Gymnasium und machte Abitur, Freunde und Sport gab es auch noch. Kurz: Ich hatte andere Sorgen, als meinen Vater nach unserer Familiengeschichte auszufragen. Als ich achtzehn war, heiratete mein Vater wieder, ich ging zum Studieren nach Ludwigsburg und Freiburg.
»Warum reden wir nicht mit Oma?«, schlug Tino schließlich vor, als ich ihm nichts mehr erzählen konnte über die Familie meiner Mutter. Ja, warum eigentlich nicht? Ich wäre nicht auf die Idee gekommen. Und ich hatte auch etwas Angst davor. Wie würde Oma reagieren? Von selbst hatte sie nie davon erzählt. Vielleicht will sie gar nicht darüber reden. Vielleicht dringe ich zu sehr in sie ein. Zumal ich zumindest eines sicher weiß: Ein leichtes Leben hatte sie nicht. Davon zu erzählen, das würde ihr sicher wehtun. Außerdem ist sie auch gesundheitlich nicht mehr auf der Höhe. Sie hatte schon mal Darmkrebs, und seit einigen Jahren ist sie an Brustkrebs erkrankt.
Nachdem Tino nicht locker ließ, nahm ich meinen Mut zusammen und rief sie an.
»Oma, ich fände es schön, wenn wir dich besuchen könnten und du Tino und mir mal aus deinem Leben erzählst.«
»Warum denn das?«, fragte Oma sofort.
Ich erklärte ihr, wie es zu dieser Idee gekommen war und dass ich einfach zu wenig wüßte.
Es war kurz still in der Leitung.
»Interessiert euch das wirklich?«
In ihrer zurückhaltenden Art konnte sie es noch nicht glauben. Nachdem ich es ihr versichert hatte, stimmte sie schließlich zu.
Wir besuchen Oma regelmäßig. Alle paar Monate zieht es mich in das kleine alte Haus am Stadtrand von Stuttgart, wo sie mit ihrem Sohn, meinem Onkel, lebt. Die beiden bilden eine eingespielte Wohngemeinschaft. Oma kümmert sich um den Haushalt, mein Onkel sorgt für Haus und Garten. Bis auf die Blumenbeete – die sind Omas Revier. Normalerweise wird bei den Besuchen die ganze Zeit geredet, Oma interessiert sich intensiv für den Werdegang ihrer Enkel. Erstaunlich, wie sie sich alles Mögliche von ihren vierzehn Enkeln immer so merken kann. Sie weiß, was wir alle treiben, wann wer Geburtstag hat und und und. Bei der Vielzahl an Enkeln ist sie grundsätzlich dabei, sich irgendwelche Geschenke auszudenken und zu besorgen. Das ist für sie ziemlich anstrengend, aber uns lässt sie das nie merken. Solange ihre Hände noch mitgemacht haben, gehörte zu einem Weihnachtsgeschenk außerdem mindestens ein Paar selbstgestrickte Wollsocken. Als Teenager fand ich das ziemlich dröge, aber heute haben diese Socken einen großen Wert für mich, auch wenn ich sie quasi nie trage. Es ist ein Bild, das sich ganz fest eingeprägt hat in meinem Gedächtnis: Oma sitzt auf ihrem Sofa, und die Stricknadeln klappern. Dabei wirkte sie immer völlig mit sich und der Welt im Reinen, zufrieden, entspannt.
Aber das wird ein anderes Treffen werden. Tino hat die fixe Idee, das Ganze für die »Nachwelt« aufzuzeichnen. Dazu hat er extra eine Videokamera aufgetrieben, eine Freundin hat sie uns ausgeliehen. Ich glaube, er sieht sich ein wenig als der heldenhafte Chronist einer verschollenen Familiensaga oder so ähnlich.
»Das mit dem Video wird sie nicht wollen«, habe ich eingewendet.
Auf einem Familienfoto mit einigen ihrer Enkel hat Oma sich selbst mit der Schere herausgeschnitten, weil sie sich nicht sehen wollte. Sie wird es nie zulassen, dass wir sie filmen.
»Dann können wir ja nur den Ton laufen lassen«, meinte Tino.
Wir verlassen die Autobahn am Stadtrand von Stuttgart, kriechen durch ein Wohngebiet mit Tempo dreißig und biegen am Altersheim in die steile Straße ein, die zum Haus hinabführt. Diesen Berg muss Oma jeden Tag hochlaufen, wenn sie einkaufen gehen will. Natürlich bringt auch ihr Sohn Lebensmittel mit, wenn er von der Arbeit zurückkommt. Aber sie ist eine stolze Frau, stolz auf ihre Unabhängigkeit und Mobilität.
Oma ist inzwischen dreiundachtzig, und seit zwei Jahren hat sie Brustkrebs. Natürlich ist das bei einem so alten Menschen nicht mehr ganz so dramatisch. Aber für mich ist sie in gewisser Hinsicht deutlich mehr als nur die Großmutter. Nach dem Tod meiner Mutter und nachdem ich nicht mehr zu Hause lebte, war sie mein sicherer Hafen. Ich wusste, dass ich jederzeit bei ihr aufkreuzen konnte, sie würde mir zuhören, mich mit Essen versorgen, egal welche Sorgen ich mitbringen würde. Es ist ungeheuer tröstlich, dass sie da ist.
Wir parken vor Omas Haus, das malerisch an einem Hang liegt. Der Blick geht über eine Streuobstwiese, dahinter beginnt der Wald. Zu großen Familienfesten gehörte ein Spaziergang im Wald. Das fand ich an Stuttgart schon immer toll: Großstadt – und trotzdem so viel Grün. Tino kramt hinten im Auto, um alle Gerätschaften dabeizuhaben. Ich gehe schon vor und klingele an der Gartenpforte.
Sie erwartet uns wie immer an der Haustüre. Sie ist klein und zierlich, aber sie drückt mich kräftig, als wir im Hausflur stehen. Früher war sie eine sehr hübsche Frau. Auch heute noch achtet sie auf ihr Äußeres. Einmal pro Woche wäscht und legt der Friseur die Haare. Dafür läuft sie gerne den Berg hoch. Wir reden ein wenig über den Garten, der das Haus am Hang komplett umschließt. Es muss natürlich viel gegossen werden. Ich bin immer wieder erstaunt über die Energie, mit der sie in ihrem Alter alles in Angriff nimmt. Bis vor kurzem half sie sogar ehrenamtlich im Altersheim oben am Ende des Berges aus!
Wie immer ist sie ziemlich hektisch. Schon früher wirbelte sie durch die Küche, während ich auf dem Hocker in der Ecke saß und fasziniert dem chaotischen, aber energiegeladenen Treiben zuguckte. Heute macht sie uns erst mal Kaffee, und natürlich hat sie auch gebacken. Gemeinsam bugsieren wir alles die steile Treppe hoch ins Wohnzimmer, und da lassen wir uns am Esstisch nieder. Ich bin etwas nervös, und auch Tino sieht angespannt aus. Er hat die Kamera bereits auf den Tisch gelegt, doch Oma scheint sie nicht zu bemerken. Der Kaffee wird ausgeschenkt, der Kuchen verteilt, und Tino sagt, dass wir das Gespräch gerne aufnehmen würden, wenn sie einverstanden ist.
»Nein, das will ich nicht!«
Ihr Ton ist entschieden.
Tino bietet an, nur den Ton mitlaufen zu lassen, aber auch das ist ihr zu viel. Keine Aufnahme. Nein, definitiv nicht. Ich habe kurz Bedenken, dass sie nun alles abblasen wird. Tino packt die Kamera wieder ein, und Oma guckt kritisch. Aber dann beginnt sie unaufgefordert zu erzählen, ohne dass wir eine Frage gestellt hätten. Es ist, als ob sie schon lange darauf gewartet hätte, dass sich endlich mal jemand dafür interessieren würde.
Fast drei Stunden berichtet sie uns aus ihrem Leben, ihrer Jugend in Stuttgart, wo sie bereits als Mädchen viel im elterlichen Geschäft helfen musste, dem Krieg, ihrer ersten Liebe, einem Buchhändler, den sie auch geheiratet hat, aber der kurz darauf im Krieg gefallen ist. Dessen Bruder, ihr Schwager, verlor wiederum seine Frau. Und so taten sie sich danach zusammen und heirateten. Das klingt für uns wie eine Zweckehe, aber Oma sieht das alles mit der Weisheit und Abgeklärtheit, die sechzig Jahre Distanz ermöglichen. »Wisst ihr, als Buchhändler hätte er sicher eine schwere Zeit gehabt nach dem Krieg. Vielleicht war es sogar besser so.« Opa war Fernmeldetechniker, das war in der Aufbauzeit gefragt.
Es sprudelt nur so aus ihr hervor, sie erinnert alles ganz genau, sie kennt noch den Namen des Kinderarztes, zu dem sie mit der ersten Tochter gegangen ist. Unglaubliche Einzelheiten, dann wieder schreckliche und bedrückende Erlebnisse. Es ist faszinierend und überwältigend, doch ich kann mir das alles natürlich nicht merken. Das ist unmöglich. Unglaublich schade, dass wir es nicht aufnehmen können. Als Oma vom frühen Tod ihrer älteren Schwester erzählt, fragt Tino nach: »Woran ist sie denn gestorben?«
»Brustkrebs«, sagt Oma ungerührt.
Tino schaut mich bedeutungsvoll an, aber ich zucke nur mit den Achseln. Natürlich erzählt sie uns auch vom Tod ihrer drei Töchter, doch diesen Teil kenne ich sozusagen schon aus eigener Anschauung. Zuerst erwischte es die älteste Tochter. Danach kam meine Mutter an die Reihe. Und schließlich erkrankte dann noch die Zweitjüngste. Bei meiner Mutter war es erst der Brustkrebs, doch er hatte gestreut, ein Tumor wurde aus der Wirbelsäule entfernt, und sie starb schließlich an Lungenkrebs. Auch bei der zweitjüngsten Tochter begann es mit Brustkrebs. Nur die älteste Tochter hatte ein anderes Karzinom, wahrscheinlich Hodgkin, aber da ist sich Oma jetzt nicht mehr sicher. Es ist in jedem Fall eine Spur der Vernichtung, die der Krebs in unserer Familie hinterlassen hat. Vier Frauen in zwei Generationen, und Oma würde schließlich auch daran sterben, das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
Später holt sie einige Fotoalben, die ihr zweiter Mann, unser Opa, in seiner Freizeit zusammengestellt hat. Liebevoll und detailversessen hat er alle Bilder und Dokumente, derer er habhaft werden konnte, gesammelt, eingeklebt und mit gestochener Handschrift kommentiert. Sogar einen Feldpostbrief aus dem Ersten Weltkrieg hat er aufgetrieben. Da merkt man, dass er ein alter Briefmarkensammler war.
Eine Aufnahme zeigt einen Vorfahren, meinen Uropa, vor einer Buchhandlung, die er in Süditalien betrieben hat. Ich wusste gar nicht, dass es so viele Buchhändler in unserer Familie gibt! Auch Oma las schon immer gerne und viel. Der rustikale Wandschrank an der Wohnzimmerwand ist vollgestopft mit Büchern, klassische Werke stehen hier, die Schmachtfetzen stehen im Schreibzimmer.
Inzwischen springt Oma hin und her zwischen den Generationen und Lebensabschnitten, bis uns allen der Kopf brummt. Wir sind kaputt und erschöpft, und schließlich ist es auch gut. Es gibt noch Abendessen, doch wir reden inzwischen wieder von den tagtäglichen Dingen. Was meine Schwester so treibt, wie es um den Job meines Bruders bestellt ist. Wie es Tino bei seiner Arbeit geht, wie ich in der Schule klarkomme. Oma wirkt noch immer erschöpft. Die Falten in ihrem Gesicht sind tief, dunkle Ringe zeichnen sich um ihre Augen ab. Ich berühre Tino am Arm, und er nickt zurück. Nach dem Essen wollen wir aufbrechen und zurückfahren. Ich frage Oma nach ihrer Gesundheit, und sie seufzt. Ihr linker Arm ist dauerhaft angeschwollen und schmerzt. Das hat natürlich irgendwie mit dem Krebs zu tun, doch über medizinische Details weiß sie nicht Bescheid.
»Der Arzt sagt, dass ich eine Chemo machen soll, aber ich will das nicht.«
Sie hat erlebt, wie ihre drei Töchter diese Tortur über sich ergehen ließen – und trotzdem unter großen Qualen starben.
»Das verstehe ich«, murmele ich.
Es ist einfach hoffnungslos, und wir beide wissen es.
Nachdem wir die steile Treppe im Gänsemarsch hinuntergestiegen sind, muss ich mit Oma in den Vorratskeller. Das ist ein fester Programmpunkt: Im Vorratskeller liegen Omas Schätze. Selbstgekochte Marmelade und eine riesige Tiefkühltruhe. Daraus werde ich dann immer eingedeckt. Die Himbeer-Johannisbeer-Marmelade ist mein persönlicher Favorit. Früher in der Studenten-WG waren Omas Marmeladen auch immer heiß begehrt. Seit ich mit Tino zusammenwohne, hat sich die Situation verändert: Er frühstückt grundsätzlich nur Honigbrote, da kommt auch Omas Marmelade nicht gegen an. Trotzdem deckt sie mich weiterhin ein, ganz wie zu WG-Zeiten. Das lässt sie sich nicht nehmen. Und ich lasse mich auch nicht lange bitten. Mein Hintergedanke ist immer: Marmelade hält sich sehr lange, es schadet nicht, da zu viel zu haben, wer weiß, wie lange es noch Nachschub gibt.
Oma klappt die Kühltruhe auf und zieht einen gefrorenen Rührkuchen heraus.
»Komm, nimm den auch noch«, sagt sie, obwohl ich schon unter der Last der Marmeladengläser schwanke. »Ich komme noch mit zum Auto!«
Sie kann noch so kaputt sein oder Schmerzen haben, wir werden immer zum Auto begleitet. Sie wartet, bis wir alles verstaut haben, um dann so lange zu winken, bis wir am Ende der Straße verschwinden.
Nach dem Abschied fahren wir eine Weile schweigend über die Autobahn Richtung Freiburg. Es dämmert. Ich muss das alles verdauen, die ganzen Emotionen, die da hochgekommen sind. Das Leben in Zeitrafferformat. Mit all den Freuden und Leiden. Und auch das ganze Leben, das nicht stattgefunden hat, weil meine Mutter und ihre Schwestern so früh gestorben sind. Irgendwie ist aber auch traurig, dass bisher niemand von uns Enkeln bei Oma danach gefragt hat. Oma scheint es als unsere Aufgabe verstanden zu haben, danach zu fragen. Tatsächlich ist sie aber auch nie auf uns zugekommen oder hat einfach erzählt. Manchmal denke ich, dass sie eben kein besonders gutes Selbstbewusstsein hat.
Auch Tino ist schweigsam. Aber die Sache mit Omas Schwester beschäftigt ihn.
»Hast du gewusst, dass deine … Großtante auch so jung an Brustkrebs gestorben ist?«, fragt er schließlich.
»Nein, das wusste ich nicht«, sage ich.
»Aber das heißt doch, dass es ziemlich sicher eine erbliche Form ist.«
Das ist mir schon klar. Ich bin schließlich Biologielehrerin. Diese ganze Vererbungssache ist mir also nicht fremd. Außerdem: Es hat so viele Frauen bei uns gekostet, natürlich hat das eine erbliche Komponente. Eigentlich wusste ich das schon als Gymnasiastin. Und schon damals hatte mich die Mutter eines Freundes darauf angesprochen, dass man inzwischen einen Gentest machen lassen kann. Das erzähle ich Tino.
»Aber was kann man machen, wenn du … genetisch belastet bist, oder wie immer das auch heißt?« Er schaut kurz zu mir herüber.
»Ich habe dir das doch schon mal gesagt: Man kann die Brust amputieren.«
»Stimmt. Das hatte ich wohl verdrängt.«
In meiner Vorstellung kann ich jetzt vielleicht noch drei Jahre im Beruf Fuß fassen, schließlich ist das Referendariat erst seit zwei Jahren vorbei. Dann ein Kind bekommen, das ich noch selber stillen kann, und vielleicht sogar noch Nummer zwei hinterherschieben. Dann wäre der DNA-Test an der Reihe, und je nach Ergebnis eine Amputation mit Wiederaufbau. Ich habe gehört, dass das inzwischen ganz gut geht, zumindest hat mir das mal eine Frauenärztin erzählt.
Wir sprechen nicht zum ersten Mal darüber, seit wir uns kennen. Aber hier im Auto, nach dem Besuch bei Oma, hat es zum ersten Mal einen dringlicheren Charakter. Es fühlt sich plötzlich auch für Tino so an, als ob es bald Wirklichkeit werden könnte.
»Und dann mit eigenen Muskeln wieder aufbauen«, ergänze ich. Das ist der Stand meines Wissens, schiebe ich hinterher.
»Woher kommen die Muskeln?«
»Soweit ich weiß vom Rücken.«
Inzwischen ist es dunkel geworden, wir verlassen die Autobahn hinter Bad Dürrheim und fahren die letzten fünfzig Kilometer über die Landstraße, vorbei an Neustadt und Hinterzarten.
»Wann willst du den Test machen?«
Tino nimmt den Gesprächsfaden wieder auf, während wir ins Höllental hinabfahren. Ich bin achtundzwanzig Jahre alt, im Oktober werde ich neunundzwanzig. Meine Schallgrenze sind die dreißig, danach »will« ich mich darum kümmern. Bis dahin ist das Risiko sehr gering, so dachte und denke ich noch immer. Als ich nach dem Grundstudium nach Freiburg kam, habe ich meinen neuen Frauenarzt damals gleich informiert über die Häufung von Brustkrebs in meiner Familie, weshalb ich nun jährlich eine Mammographie und zweimal Ultraschall über mich ergehen lasse. Ich fühle mich sehr sicher, deshalb kann ich Tinos Bohren nicht nachvollziehen.
»Das hat doch alles noch Zeit«, sage ich.
Aber das scheint ihn nicht zu überzeugen.
Nein, das überzeugte mich damals tatsächlich nicht. Dieses eindrucksvolle Interview mit Oma hatte mir einiges klargemacht. Nicht nur, dass auch Evelyns Großtante an Brustkrebs gestorben war. Sondern auch insgesamt: Ihre Familiengeschichte hatte sie mir bisher immer nur stückchenweise berichtet. In dieser geballten Form damit konfrontiert, hatte ich zum ersten Mal ansatzweise kapiert, dass hier irgendetwas gewaltig schieflief. Und nicht erst seit der Generation von Evelyns Mutter. Aber je mehr ich mich darauf einließ, desto mehr Fragen tauchten auf. Nur für Evelyn schien das alles nicht so dringlich zu sein. Aber ich verstand auch, dass sie sich dieses Thema in gewisser Weise auf Distanz halten wollte. So jedenfalls habe ich damals ihre Antworten im Auto gedeutet: Nerve hier nicht rum, ich habe alles im Griff. Trotzdem war es für mich gerade die Information, dass bereits die Großtante daran gestorben war, die mich wachrüttelte. Auch wenn ich gar nicht kapierte, dass sie den Gendefekt nicht an Evelyns Mutter hatte vererben können – rein technisch gesehen. Aber wie gesagt: Ich hatte einiges noch nicht begriffen.
Zurzeit arbeite ich bei einer Bank in Basel, und der Job ist nicht sehr fordernd. Nach diesem Besuch wühle ich mich an einem besonders ereignislosen Nachmittag durch das Internet und informiere mich zum Thema. Ich stoße schnell auf mehrere Zentren für familiären Brust- und Eierstockkrebs. Das sind Forschungseinrichtungen der Deutschen Krebshilfe, die sich speziell an Frauen wenden, die an der erblichen Variante des Mammakarzinoms erkrankt sind. Oder die aus einer Hochrisikofamilie stammen. Ein passendes Wort, Hochrisikofamilie, das mir sehr zutreffend erscheint für Evelyns Clan.
Ich bewege die Maus an den Rand des Fensters. Diese Einrichtungen sind in Berlin, Bonn, Dresden, Düsseldorf, Hannover, Heidelberg, Kiel, Leipzig, München, Münster, Ulm und Würzburg. Da tut sich also etwas. Auf den Seiten dieser Forschungsstellen finde ich auch weitere Informationen. Etwa fünf bis zehn Prozent aller Brustkrebsfälle haben vermutlich ihre Ursache in einem Gendefekt. Gar nicht so wenig! Man hat bisher zwei Gendefekte identifiziert, genannt BRCA1 und BRCA2 – das Kürzel steht für Breast Cancer –, und es handelt sich um einen »autosomal-dominanten« Erbgang. Was das im Einzelnen heißt, weiß ich aus dem Leistungskurs Biologie nur noch verschwommen. Aber faktisch gilt einfach, dass Evelyn die erbliche Belastung mit einer fünfzigprozentigen Wahrscheinlichkeit von ihrer Mutter geerbt hat. Fifty-fifty, das ist eine ganze Menge! Ich bin beeindruckt.
Und weiter geht’s: Eine Frau, die das Gen oder, genauer gesagt, den Gendefekt vorweist, hat eine rund achtzigprozentige Wahrscheinlichkeit, in ihrem Leben an Brustkrebs zu erkranken (plus zwanzig bis sechzig Prozent Risiko für Eierstockkrebs – als kleine Zugabe quasi). Auch bei der Beschreibung der Risikofaktoren trifft Evelyns Familie gleich mehrfach ins Schwarze, denn bereits eines der nachfolgenden Kriterien reicht aus, um eine Beratung in den Zentren empfehlenswert zu machen:
Familien mit mindestens zwei an Brust- oder Eierstockkrebs Erkrankten (davon eine unter fünfzig Jahren erkrankt).
Familien mit mindestens drei an Brustkrebs Erkrankten.
Familien mit einer an einseitigem Brustkrebs im Alter unter dreißig Jahren Erkrankten.
Familien mit einer an beidseitigem Brustkrebs im Alter unter vierzig Jahren Erkrankten.
Familien mit einer an Eierstockkrebs im Alter unter vierzig Jahren Erkrankten.
Familien mit einer an Brust- und Eierstockkrebs Erkrankten, unabhängig vom Alter.
Seitenweise werden hier die Wenns und Abers erläutert, biologische Fakten heruntergerattert. Schließlich lese ich noch die Empfehlungen für ein strukturiertes Früherkennungsprogramm, einen Gentest und mögliche prophylaktische Operationen. Da ist mehrfach vom Alter von fünfundzwanzig Jahren die Rede. Vielleicht ist dreißig schon etwas spät? Schließlich stoße ich auf ein Schema, das den Ablauf des ganzen Prozesses zeigt. Dort lese ich, dass nach telefonischer Anmeldung ein erstes Beratungsgespräch stattfindet. Mindestens vier Wochen Bedenkzeit sollen danach ins Land gehen, bevor man sich für einen Gentest entscheidet. Dann folgt Kontaktaufnahme mit einem erkrankten Familienmitglied (wie soll das gehen, frage ich mich, Evelyns Mutter war ja seit Jahren tot, ebenso wie die Tanten), ein weiteres Beratungsgespräch und schließlich eine Blutentnahme, anhand derer dann endlich die Diagnostik beginnen kann. Sobald das Ergebnis vorliegt, kommen neue Beratungsgespräche auf einen zu. Auf Wunsch wird danach das Ergebnis wiederum mit dem Blut der Ratsuchenden verglichen, und das ermöglicht dann die endgültige Diagnose.
Also in jedem Fall eine ziemlich langwierige Sache.
Ich entschließe mich, die ganzen Informationen auszudrucken und mit nach Hause zu nehmen, um sie Evelyn zu zeigen. Auf »Drucken« geklickt und schnell auf den Gang vor dem Büro, wo unser Abteilungsdrucker steht, und die Blätter mitnehmen. Damit nicht mein Chef oder ein Kollege plötzlich auch noch zum Experten für familiären Brustkrebs wird.
In diesem Frühjahr machen wir viel Sport, weil wir für einen großen Wettkampf trainieren: eine Alpenüberquerung in acht Etappen, an der wir als sogenanntes Mixed-Team teilnehmen werden. Mich zu bewegen, war mir schon immer wichtig. Als Jugendliche habe ich rhythmische Sportgymnastik gemacht, dann entdeckte ich das Radfahren, und bis heute laufe ich sehr gern. Eigentlich hat mir mein Hausarzt als Jugendliche den Ausdauersport verordnet – um den niedrigen Blutdruck etwas nach oben zu bringen. Folglich habe ich angefangen, meinen Vater auf seinen Runden auf dem örtlichen Trimm-dich-Pfad zu begleiten. Und dann entdeckte ich das Radfahren. Zunächst auf einem Trekkingrad, aber schnell war mir klar, dass das ja ein fauler Kompromiss ist. Ein Mountainbike musste her. Na ja, und seit ich in Freiburg wohne, in einer landschaftlich tollen Gegend mit sehr vielen kleinen Straßen und wenig Autoverkehr, ist natürlich auch ein Rennrad Pflicht.
Auf dem Mountainbike habe ich schon dreimal die Alpen überquert, allerdings waren das keine Rennen. Vergangenes Jahr haben wir uns dann für die Transalp Challenge angemeldet, ein leicht verrücktes Vorhaben, für das wir seither auch halbwegs seriös trainieren. Unter der Woche ist inzwischen – da es auch abends wieder einigermaßen hell ist – eine kurze Runde auf dem Bike in die umliegenden Berge angesagt. Meistens geht es hoch auf den Rosskopf und auf dem Höhenrücken weiter zum Flaunser, wo der Kandelhöhenweg weiter am Hang entlang nach St. Peter führt. Wir haben aber nicht mehr so viel Zeit heute Abend und wollen den Abzweig ins Dreisamtal nehmen.
Wir wohnen so geschickt, dass wir in zwei Minuten im Wald sind, sozusagen mit direktem Anschluss an den Schauinsland. Und auf der anderen Seite brauchen wir ebenfalls nur wenige Minuten zu Fuß in die Innenstadt. Das ist das Schöne an Freiburg, diese Mischung bietet kaum eine andere Großstadt. Die erste halbe Stunde kurbeln wir schweigsam durch den Wald, denn es geht kontinuierlich bergauf. Ab und zu schießt ein Downhiller an uns vorbei nach unten, bewaffnet mit Vollvisierhelm und Protektoren. Der Rosskopf ist der »Hausberg« der Jungs mit dem langen Federweg. Ansonsten herrscht wohltuende Ruhe. Die Muskeln werden langsam warm, die Bewegungen der Beine flüssiger und leichter – und alle Ereignisse des Tages werden nach und nach aus meinen Gedanken gelöscht.
Hinter dem Rosskopfgipfel führt uns der Weg auf dem Höhenrücken nach Osten. Wir kommen langsam ins Reden, und Tino berichtet mir von seiner Recherche.
»Es gibt da Zentren für familiären Brustkrebs, die anscheinend eine besondere Vorsorge machen, für Betroffene … «
Es geht kurz bergauf, und der Atem wird zu knapp zum Sprechen. Dann kommt eine kurze Passage auf einem schmalen Wanderpfad über eine Wiese. Wir hoppeln über Wurzeln, kurven um Steine und rauschen schließlich einen kleinen Abhang hinunter. An einem kleinen Unterstand am Streckereck wird der Weg wieder breiter.
» … du erfüllst die Kriterien, soweit ich das verstehe … «
Der nächste steile Anstieg kommt, wieder im Wald, nachdem wir tolle Ausblicke über die Rheinebene bis hin zum Kandel genossen haben. Aber hier liegt grobes Geröll auf dem Boden, und kurz beginnen die Beine zu brennen, bis sich der Weg wieder neigt.
» … die fangen schon mit fünfundzwanzig an, alle möglichen Vorsorgeuntersuchungen zu machen. Und für Leute aus Hochrisikofamilien sogar einmal im Jahr Kernspin … «
Kernspin? Oh, das habe ich noch nie bekommen. Weiß mein Frauenarzt darüber Bescheid?, denke ich.
»Aber was ich nicht verstehe«, sagt Tino, »ist das mit dem Nachweis: Man braucht dafür wohl das Blut von einer erkrankten Verwandten. Aber die sind bei euch doch alle längst gestorben.«
Was hat Tino gerade gesagt? Er hat recht, die zuletzt gestorbene Tante war vor zwei Jahren beerdigt worden. Woher einen lebenden Verwandten nehmen? Ich zucke mit den Achseln. Das weiß ich auch nicht. Mir schießen verschiedene Gedanken durch den Kopf. Vielleicht kann man es bei mir ja auch gar nicht testen? Dieser Gedanke ist beunruhigend. Für mich war bisher immer klar, dass ich die Frage, ob ich diesen Gendefekt habe oder nicht, irgendwann definitiv beantwortet bekomme. Aber was ist, wenn es diese Gewissheit gar nicht gibt? Wie kann ich mit dieser Unsicherheit leben? Ein leises Gefühl der Panik steigt auf: Hätte ich mich vielleicht doch schon viel früher darum kümmern müssen. Geht mein Plan mit den Kindern vielleicht gar nicht auf?
Der Waldweg steigt wieder an, und kurz darauf biegt ein kleiner Pfad ab, den man nur mit voller Konzentration hochfahren kann. Geschafft, wir stehen auf dem Flaunser, der eigentlich nur eine unspektakuläre Weggabelung im Wald ist.
»Jedenfalls dauert der Prozess ziemlich lang.« Tino holt seine Windweste aus dem Trikot und zieht sie sich an. Ich nehme einen Schluck aus meiner Trinkflasche.
»Was meinst du mit Prozess? Wie funktioniert das alles?«
»Ich habe es dir ausgedruckt. Ist zu Hause in meiner Tasche. Lass uns weiterfahren.«
Ich ziehe auch etwas an und konzentriere mich, die Abfahrt ist gerade am Anfang nicht ohne, zumal es schon leicht dämmert. Über steile und steinige Trails und Waldwege, vorbei an einer winzigen Kapelle auf einer Lichtung mit Weiden, wieder hinein in den Wald, einen letzten ausgewaschenen und gerölligen Weg mit tiefen Querrinnen hinunter – und wir rollen wieder auf Asphalt, zurück Richtung Freiburg. Beunruhigende Gedanken quälen mich. Ich muss mich zwingen, Ruhe zu bewahren. Jetzt panisch werden, bringt nichts. Das scheint alles viel komplexer zu sein, als ich mir das vorgestellt habe. Das ist mit schriftlichen Unterlagen sicherlich einfacher zu verstehen. Mann, ich wollte mich eigentlich noch nicht damit beschäftigen.
Als mich vor Jahren die Mutter eines Freundes auf den Gentest angesprochen hat, war ich noch sehr ablehnend. Was soll es schließlich auch bringen, ob ich es weiß oder nicht? Ich konnte ja nichts dagegen tun! Sie gab mir damals einen Notizzettel, auf dem die Telefonnummer der Deutschen Krebshilfe stand. »Falls es dich irgendwann doch interessieren sollte«, sagte sie. Den Zettel heftete ich an die Pinnwand über meinem Schreibtisch, und da überlebte er sogar zwei oder drei Umzüge. Aber irgendwann habe ich ihn entsorgt. Es leuchtete mir immer noch nicht ein: Warum sollte ich mich einem Test aussetzen – nur damit ich weiß, dass ich ein hohes Erkrankungsrisiko habe?
Aber einige Jahre später erzählte mir eine Frauenärztin von der Möglichkeit, das Brustgewebe vorsorglich entfernen zu lassen. Das war reiner Zufall damals. Ich war auf der Suche nach einer neuen Frauenärztin, und eine Freundin gab mir die Adresse. Die Ärztin stellte mir die üblichen Fragen, und ich erzählte mal wieder von der Spur der Vernichtung, die der Krebs in meiner Familie hinterlassen hatte. Sie fragte mich, ob ich von der Möglichkeit wüsste, mich testen zu lassen. Ich bejahte, schob aber hinterher, dass ich lieber in der Unwissenheit lebe als mit der ständigen Angst davor, dass es bald losgeht. Sie klärte mich dann auf, dass ich auch operiert werden könnte, eine vorsorgliche Mastektomie. Zunächst aber verordnete sie mir eine engmaschigere Vorsorge: einmal im Jahr Mammographie, zweimal jährlich Ultraschall.
Mastektomie – die vollständige Entfernung des Brustgewebes –, wie das im Medizinerjargon heißt. Das war natürlich keine tolle Aussicht. Aber unter der Bedingung, dass es eine mögliche Behandlungsmethode gibt, erschien mir ein Test erstmals sinnvoll. Mit den Jahren reifte dann der Entschluss, das irgendwann anzugehen, eben mit dreißig. Allerdings bin ich nie wieder zu ihr in die Sprechstunde. Ich war einfach Männer als Gynäkologen gewohnt. Bei meinem nächsten Vorsorgetermin war sie im Urlaub, ich bin zu ihrer Vertretung, einem Mann, Dr.Schmieder. Bei ihm bin ich dann bis heute geblieben.
»Wo hast du die Unterlagen?«
Wir schälen uns aus den Radklamotten und befördern sie in die Waschmaschine.
Tino holt seine Tasche, zieht einige Blätter heraus und hält sie mir unter die Nase. In seinem Gesicht klebt noch Schmutz und Staub von der Abfahrt durch den Wald.
»Die Zentren sind überall in Deutschland. Das nächste ist … «, er fährt mit dem Finger über die Zeilen, » … in Ulm ist eines davon.«
»Brustkrebszentrum Ulm? Nein, das geht nicht.«
Tino sieht mich erstaunt an: »Warum geht das nicht?«
Ulm geht gar nicht. Definitiv! Meine Mutter war zu Beginn ihrer Krankheit viel im dortigen Universitätsklinikum, das war vielleicht eine Autostunde von Göppingen, wo ich aufgewachsen bin, entfernt. Sie bekam dort – glaube ich – regelmäßig Chemotherapien und wurde ein paar Mal operiert. Genau weiß ich das alles nicht mehr. Während ihrer ganzen Krankheit, das ging etwa zwei Jahre, und ich war zu Beginn vielleicht zwölf, war mir nicht klar, dass sie Krebs hat. Und das, obwohl ich durch die Krankheit meiner Tante schon wusste, dass man bei Krebs eine Chemobehandlung bekommt. Bei meiner Mutter habe ich das offensichtlich verdrängt. Der Zusammenhang bestand nie. Und darüber gesprochen hat auch keiner. Erst nach ihrem Tod hörte ich, wie mein Vater bei einem Telefongespräch sagte: » … der Scheiß-Krebs!« Da wurde mir schlagartig klar, was ich die ganzen Jahre nicht wahrhaben wollte oder konnte.
Ich kann mich an eine Situation erinnern, da saß meine Mutter mit höllischen Schmerzen auf einem Spezialkissen auf dem Sofa im Wohnzimmer (der Krebs hatte gestreut und einen Wirbel befallen, der in der Zwischenzeit durch einen künstlichen Wirbel ersetzt worden war). Völlig naiv, wie Kinder halt sind, fragte ich sie: »Mama, wie hält man das ganze Leben so Schmerzen aus?«
Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, was sie mir geantwortet hat. Auf jeden Fall ließ sie mich mit dem Gefühl zurück, dass das schon in Ordnung geht.
Meine Mutter trug natürlich eine Perücke. Das wussten wir auch. Sie machte mit uns sogar Scherze darüber. Allerdings habe ich sie nie ohne Haare gesehen. Ich wusste, dass sie nachts teilweise so schlief. Aber wenn wir morgens ins Schlafzimmer kamen, hatte sie auf jeden Fall immer die Perücke auf. Als ihr wieder Haare wuchsen, freuten wir uns trotzdem alle riesig. Wir schmiedeten Pläne, was wir ihr mit den neuen kurzen Haaren für Frisuren machen würden. Es war nur ein babyartiger Flaum, irgendwie hätte das eigentlich enttäuschend sein müssen, aber es spielte für mich keine Rolle. Es hatte alles so seine Richtigkeit.
Dass meine Mutter sterben würde, erfuhr ich rein zufällig. Am Tag bevor ich ins Schullandheim ging. Ich besuchte sie allein im Krankenhaus. Mittlerweile lag sie immer in Göppingen, da die Strecke nach Ulm zu weit geworden war. Von daher konnte ich jetzt mit dem Bus zu ihr fahren. An diesem Tag war einiges komisch, anders als sonst. Wobei ich das damals mehr spürte als wusste. Im Nachhinein ist das natürlich alles viel klarer. In ihrem Krankenzimmer lief die Klimaanlage, deshalb konnte man keine Fenster öffnen. Grausam! In der trockenen Luft wurden meine Lippen immer rasend schnell rissig. Von daher war der Labello-Stift mein fester Begleiter. Und wie immer fragte ich meine Mutter, ob sie ihn benutzen möchte. Sie reagierte nicht. Aber kaum hatte ich den Stift weggepackt, fragte sie mich, ob ich einen Labello dabeihätte. Ich holte ihn wieder heraus und gab ihn ihr – aber sie bekam ihn nicht auf – und ich bemerkte, dass sie an der falschen Seite zog, ohne es zu merken. Das hatte etwas völlig Unfassbares für mich! Außerdem hatte ich an diesem Nachmittag den Eindruck, dass sie die Tropfen ihrer Infusion zählte. Sie war offensichtlich ziemlich verwirrt.
Im Nachhinein ist mir klar, dass da bereits Morphium in ihre Adern tropfte. Aber damals wusste ich nichts davon. An diesem Nachmittag war auch eine von Mamas Freundinnen zu Besuch. Sie kam – wie alle ihre Bekannten – mit einer Thermoskanne Kaffee ins Krankenhaus, meine Mutter hat wohl immer sehr viel davon getrunken. Aber auch den Kaffee wollte meine Mutter nicht oder registrierte das Angebot ihrer Freundin nicht.
Nun ja, ich nahm das zwar wahr, aber machte mir keine weiteren Gedanken darüber. Als ich wieder gehen wollte, bot mir die Freundin meiner Mutter an, dass sie mich mit in die Stadt nehmen könnte, dann bräuchte ich nicht mit dem Bus fahren. Das war natürlich praktisch. Als wir auf dem Parkplatz zu ihrem Auto gingen, sagte sie: »Du weißt schon, dass deine Mutter wahrscheinlich nicht mehr lebt, wenn du aus dem Schullandheim zurückkommst, oder?«
Ich weiß nicht mehr, ob oder was ich geantwortet habe. Das war natürlich ein Schock. Ich habe auch keine Erinnerung mehr an die Autofahrt. Sie ließ mich in der Stadtmitte raus. Ganz in der Nähe arbeitete mein Vater. Kurz dachte ich darüber nach, ob ich jetzt zu ihm hochgehen sollte. Aber seine Arbeit war ihm immer sehr wichtig, und zudem wusste ich nicht so recht, was ich eigentlich von ihm wollte. In der Stadt hatte ich noch einiges zu besorgen für das Schullandheim. Sollte ich vielleicht besser direkt heimgehen? Aber was sollte ich zu Hause? Ich entschied mich, zumindest das Notwendigste noch zu besorgen. Daheim angekommen, rief ich dann doch meinen Vater im Büro an.
»Papa, kommen wir denn auch ins Heim, wenn Mama stirbt?«