Oberkampf - Hilmar Klute - E-Book

Oberkampf E-Book

Hilmar Klute

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Beschreibung

Paris, der Ausnahmezustand und die Liebe Die letzte Beziehung beendet und den Job aufgegeben, zieht Jonas Becker nach Paris, um endlich seinen Traum vom Leben als freier Schriftsteller zu verwirklichen. Der Plan – ein Buch über den bohemienhaften Schriftsteller Richard Stein schreiben, während der Verlag die Miete für die kleine Wohnung in der Rue Oberkampf zahlt – scheint zu funktionieren: Die Tage verbringt Jonas mit dem von ihm verehrten Autor, nachts trifft er sich mit seiner neuen Freundin Christine in einer Bar nebenan. Doch mit dem Attentat auf Charlie Hebdo ist die schwebende Atmosphäre in Paris wie weggewischt, die Stadt ist plötzlich im Ausnahmezustand. Zudem reißt ein Brief seiner Ex-Freundin bei Jonas alte Wunden auf, und er erfährt vom plötzlichen Tod eines Freundes. Auch beim anfangs so unerschütterlich selbstgewiss wirkenden Stein zeigen sich Brüche – Jonas erfährt, dass Stein einen vom Vater entfremdeten Sohn hat, der in den USA verschollen ging und in eine Drogenkarriere abzustürzen droht. Als Stein ihn bittet, mit ihm in Amerika den Sohn zu suchen, sagt er zu. Und auch bei Christine muss Jonas sich entscheiden, wie ernst er es meint … Hilmar Klute schickt einen Schöngeist in eine abgründige Welt. In schwebenden, wunderschönen Sätzen schreibt er über den Zauber der Literatur genauso wie über die Brüchigkeit unserer Existenz. Dabei gelingt ihm ein Buch voller Sehnsucht und Melancholie, Komik und Schrecken.

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Seitenzahl: 358

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Hilmar Klute

Oberkampf

Roman

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Hilmar Klute

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Erster Teil

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

Zweiter Teil

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

Dritter Teil

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Und in einen Vogel verwandelt steigt dieses Jahrhundert wie Jesus in die Höhe. Die Teufel in den Abgründen heben den Kopf, um ihm nachzuschauen.

Guillaume Apollinaire

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil

1

In der Rue de Bretagne waren viele Bistros schon voll mit Gästen, nur der Marché des Enfants Rouges kam eher langsam in Gang; die Fische lagen mit offenen Mäulern auf dem Eisbett, und ein Imbissverkäufer briet einen gigantischen Berg von frisch geschnittenen Zwiebeln in einer großen Pfanne. Vor dem kleinen Bistro L’Estaminet standen Tische und Stühle im Sonnenlicht, es saß noch niemand dort, alles war Vorbereitung auf den Tag, dem wie alle Tage in dieser Stadt etwas Feierliches mitgegeben werden sollte, ein feiner Milderungsschein mit gedeckten Tischen und frisch geschriebenen Speisekarten; in Paris wird die Welt nicht untergehen, dachte Jonas und musste über den Satz lachen, weil er wie eine Verheißung klang.

Jonas war mitten in der Nacht angekommen. Der Flug sollte um sieben Uhr abends gehen, hatte sich aber um mehr als zwei Stunden verspätet, weil die Maschine wegen eines technischen Defekts untersucht werden musste. Während des Flugs hatte er nicht schlafen können, die Müdigkeit hockte in seinem Kopf wie ein eingeschlossener Passagier. Jonas starrte durch das ovale Fenster auf die sagenhaften Wolkenflächen, die unter dem Himmel schwebten wie Inseln aus dem Katalog; das Buch lag aufgeschlagen auf seinem Schoß, übertrieben grell angestrahlt von der Leselampe in der Flugzeugdecke; es war der jüngste Roman von Richard Stein, über dessen Leben Jonas Becker in den nächsten zehn Monaten ein Buch schreiben wollte, die Lebensgeschichte eines Mannes, der von Beginn an nichts anderes getan hatte, als sein eigenes Leben aufzuschreiben. Im Flugzeug, hoch über der Erde, kam ihm das ganze Vorhaben so lächerlich vor wie die Schlittenfahrt über eine Frühlingswiese. Was konnte er eigentlich anderes tun, als diesem Mann hinterherzuschreiben? Richard Stein hatte sein ganzes Autorenleben damit verbracht, sich selbst zu bespiegeln und jeden Tag, den er lebte, in einem ausufernden Journal zu verzeichnen.

Wann hatte Jonas zum ersten Mal den Wunsch verspürt, die Lebensgeschichte dieses Schriftstellers zu erzählen, dieses von Kühnheit umwehten und von Verzweiflung umstellten Mannes? Als Abiturient hatte er in Antiquariaten die ersten Taschenbücher mit Steins Erzählungen gekauft; beim Lesen war es so, als flögen exotische Vögel aus den Seiten direkt auf ihn zu, als hätte er lesend an eine geheime Welt gerührt, die eigentlich schon lange nicht mehr für die Öffentlichkeit zugänglich war. Diese Geschichten und Aufzeichnungen – Jonas las sie damals wie Botschaften aus einer alten Zeit, da einer, der schrieb, noch Größe für sich beanspruchen durfte, obgleich sich diese Größe nicht in messbare Erfolgszahlen ummünzen ließ. Stein war stets ein Geheimtipp gewesen, ein glühendes immerwährendes Versprechen, das nie eingelöst wurde. Oder nur für wenige Leser, solche wie Jonas, der diese Bücher las, als wären sie eigens für ihn geschrieben worden. Als hätte Richard Stein ausgerechnet ihm ein Lebensmodell zurechtgeschustert, dem Jonas einfach nur zu folgen hatte, Seite für Seite, Bild für Bild. Etwas wagen, etwas riskieren, alte Bindungen aufgeben, den radikalen Schnitt an das bisherige Leben setzen und fortgehen. Richard Stein hatte in jungen Jahren als fest angestellter Zeitungsredakteur in Wien gearbeitet; er war verheiratet, sie hatten zwei kleine Kinder und eine große Wohnung am Wiener Westbahnhof – Stein hatte angeblich immer darauf bestanden, dass seine Wohnungen in der Nähe von Bahnhöfen lagen, damit er nur über die Straße laufen musste, um abzuhauen. Er war selbstverständlich immer wieder zurückgekommen, jedenfalls stand es so in seinen Büchern. Bis zu jenem Sommertag Anfang der Siebzigerjahre, als er sich in eine junge Frau verliebte, die er bei einer Lesung in Paris kennengelernt hatte. Jonas hatte diese Stelle immer wieder gelesen, sie kam in mindestens drei von Steins Büchern vor. Wie er, Stein, sie in einem kleinen Seebad an der französischen Atlantikküste wiedergesehen hatte – eine flüchtige Erscheinung, leichtes gelbes Sommerkleid, absatzlose Schuhe, und wie er sie abends in der einzigen Bar des Ortes abermals aufgespürt habe, und dann sei sie plötzlich verschwunden, und er habe den Besitzer der Bar nach ihr gefragt, immer dringlicher, bis die Stimmung beinahe kippte; Stein hockte drei Nächte trinkend, rauchend und in zunehmender innerer Verfinsterung am Tresen; in der vierten Nacht dann sei sie wieder aufgetaucht, und er habe die erste Nacht mit ihr verbracht, dann die zweite, in der er sich, wie er schrieb, mit dem Liebesgift infiziert habe, und schließlich sei er wie der Teufel nach Wien zurückgeflogen, um seiner Frau alles zu erzählen.

Jonas war wie angeschossen von diesen Geschichten – wie einer sich selbst die Pferde durchgehen lässt und keinen anderen Kompass akzeptiert als die eigene Leidenschaft. Es geschah nur wenig in diesen Romanen und Erzählungen, wenig an äußerer Handlung. Aber wie die haltlose, traurige Gier zu leben einen Mann durch die Welt peitschte, das hatte Jonas bislang nirgends so aufgeschrieben gefunden. Natürlich hatte Jonas sich irgendwann anderen Lektüren zugewandt; so wie man von seinem bewunderten Vater abrücken muss, um ihn über viele Umwege wieder zum Gegenstand der Liebe machen zu können, suchte sich Jonas andere Götter. Aber Stein blieb immer als geschäftiger Schatten in seiner inneren Lesewelt, er meldete sich zuverlässig zurück, oft, wenn Jonas in Schwierigkeiten steckte, in Trennungen, Geldnöten oder beruflichen Niedergängen, deren es in den letzten zwei Jahren einige gegeben hatte. Dann genügte es, wenn Jonas eine oder zwei Seiten aus Richard Steins Tagebüchern las, die Beschreibung einer drei Wochen währenden Einsamkeit zum Beispiel, endlose leere Tage in der Mansarde, während unten die Stadt und das Leben weitergingen, öde Nächte ohne Schlaf und voller Abscheu vor Menschen. Indessen waren die Straßencafés voll, brachten die Kellner in den Restaurants die herrlichsten Speisen an die Tische; nur der Schriftsteller musste mit dem eigenen Dämon kämpfen, bei steinhartem Baguette und billigem Schnaps, und das war Richard Stein oder die Figur, die ihn in seinen Büchern vertrat. Diese Bücher waren, wie man sagt, »nicht jedermanns Sache«. Aber war Literatur überhaupt dazu da, jedermanns Sache zu sein?

Jonas mochte keine Trostliteratur; was sollte man anfangen mit Romanen, in denen um Zuversicht geworben wurde? Der wahrhaftige Trost war die Trostlosigkeit, die bedingungslose Resignation. Dort, nach ganz unten, dorthin musste man gelangen, um wieder mühsam nach oben zu kommen.

Die letzten Wochen hatte Jonas damit verbracht, seine Agentur abzuwickeln. Vier Jahre lang hatte er Experten für Fachveranstaltungen vermittelt – kluge-koepfe.de –, die meisten Köpfe waren zwar wirklich klug, aber voll mit totem Wissen, Statistikzeug, sauber auf die jeweilige Branche zugeschnitten, bei Bedarf aktualisiert. Kluge Köpfe konnte alles bieten: Ärzte, Philosophen, Manager, Wirtschaftsberater, Soziologen. Wenn die Welt auf einem mehrtägigen Symposium oder im privaten Rahmen mit einflussreichen Freunden erklärt werden musste, rief man Jonas Becker und sein Team an, das einem auf der Website unter »Wer wir sind« entgegenlächelte. Miriam, Frank, Fabian und Corinna, die Frau, mit der Jonas seit elf Jahren zusammenlebte – jeder Einzelne von ihnen war die Verbindlichkeit selbst. Miriam hatte nach zwei Jahren gekündigt, nachdem sie eines davon in Elternzeit gewesen war. Ein Jahr später ging Frank als Gastprofessor in die USA, weil er sich selbst für den klügsten Kopf hielt. Mit Fabian und Corinna hielt Jonas noch eineinhalb Jahre durch, dann wurden die Anfragen weniger, weil die Köpfe, die sie hatten, alle durchprobiert und so gut wie verbraucht waren. Sie hatten irgendwie vergessen, sich neue Köpfe ins Angebot zu holen. Und Corinna und er hatten vergessen, dass es außer den Köpfen noch etwas geben müsste, das sentimentale Naturen Herz nannten oder Seele oder was auch immer das Wort sein mochte für das, was ihnen beiden abhandengekommen war. Es war so, als wären sie unablässig im selben Zimmer, ohne einander aus den Augen zu verlieren. Zu Hause saßen sie vor dem Fernseher, das heißt, Corinna klickte sich durch die Programme, manchmal so schnell, dass aus den Fetzen der auf den jeweiligen Kanälen gesprochenen Sätze wiederum eigene Botschaften wurden – eine Klangcollage der Freudlosigkeit –, es war so offensichtlich, aber weder sie noch Jonas merkten, dass sie dabei waren, nicht nur die Agentur, sondern auch ihr gemeinsames Leben abzuwickeln.

 

Jonas beschloss, seine Ankunft in Paris mit einem Café Allongé und einer Zigarette zu beginnen; auf der Rue de Bretagne standen die Tische unter großen Heizpilzen, deren Brennstäbe zwischen den grauen Lamellen rot glimmten; er setzte sich ins Café de la Mairie und schaute direkt auf das Rathaus des Arrondissements – ein festes schönes Gebäude aus der starken Zeit, als den Männern die Westen platzten vor Stolz auf ihr Bürgertum, ihre unbestreitbare Zuständigkeit für diese Stadt. Damals hatten sie sich ein komplexes Verwaltungswesen geschaffen, für alles musste ein Papier unterschrieben werden. Die alten engen Gassen ließen sie aufreißen, sie schlugen Schneisen in die elende Enge, dort, wo die vor Hass und Elend Heißgelaufenen früher ihre Barrikaden hätten errichten können, hohnlachten ihnen bald die hellen Plätze entgegen. Die Beamten bauten die Stadt zu einer revolutionsfreien Zone aus – Architektur gegen den Aufstand, Jonas hatte es immer bewundert, wie man den Zorn lange Zeit mit Verkehrsplanung einhegen konnte.

Als Jonas sich hingesetzt hatte, bemerkte er die alte Frau mit den bunten Zigaretten. Wie sie dasaß in ihrem konzentrierten Irrsinn, mit dem sie ihre verloren gegangene Eleganz nachspielte. Wie sie die von brüchigem Rot übermalten Lippen viel zu früh spitzte, weil es ihr nicht rasch genug gelingen wollte, eine Zigarette aus der hellgrünen Plastikbox zu fischen. Sie murmelte etwas Schnelles, das wie ein leiser Befehl klang, so als müsste sie mit der dünnen fliederfarbenen Zigarette noch eine entscheidende Verabredung treffen. Irgendwann machen sich die alten Gewohnheiten selbstständig wie die Clownspuppen in Horrorfilmen.

Der Kaffee wurde serviert, und Jonas zog sein Smartphone aus der Hosentasche. Zwei-, dreimal am Tag rief er die Nachrichten des Tages ab, um auf dem Laufenden zu sein; es lief aber nichts Besonderes an diesem Morgen außer ein paar düsteren Börsenprophetien, aber die waren seit der Bankenkrise ohnehin ein eigenständiges journalistisches Genre geworden; dass etwas Schlimmes mit dieser selbstgefälligen Zivilisation geschehen würde, darüber waren sich alle Experten einig. Und Experten gab es viele, eigentlich war jeder ein Experte für irgendetwas. Nur Jonas war kein Experte. Vielleicht war er ein Experte für verpasste Chancen, verspätete Flüge und Ankünfte zur Unzeit; jetzt und hier in der übertriebenen Wärme des beheizten Straßencafés hätte er beinahe laut loslachen können über den Irrsinn der vergangenen Nacht, als er mit einem der letzten Regionalzüge vom Flughafen Charles de Gaulle in das Viertel gefahren war, das von nun an für ein knappes Jahr »sein Viertel« sein sollte: Oberkampf. War es ein ironischer Wink des Verlags, der ihm die kleine Wohnung angemietet hatte, damit er hier seine Herkulesarbeit verrichte? Sollte es eine Aufmunterung sein, alles aus sich rauszuholen, um dem Verlag ein herausragendes Buch zu spendieren, eine biographische Hochleistung, das Standardwerk zu einem berühmten Autor, den niemand liest? Oberkampf. Jonas hatte sofort Gefallen gefunden an diesem resoluten Wort, das die Entschlossenheit einer geballten Faust hatte. Immer wenn er es auf dem Stadtplan von Paris erblickte, wunderte er sich, dass kein Ausrufezeichen dahinter stand: Oberkampf!

Kurz nach Mitternacht war er der gleichnamigen Metrostation entstiegen, Ausgang Cirque d’Hiver, so stand es in der langen Infomail des Verlagsmanagements. Es schneite ein bisschen, so, als würfe jemand feines Konfetti von oben herab. Das Café an der Station, es hieß Métro Café, war noch offen, Jonas dachte kurz daran, ein Glas Wein zu trinken, bevor er in die Wohnung ging; aber er hatte keinen Schlüssel für das Appartement, den würde ihm der Hausmeister aushändigen, so stand es in der Mail. Allerdings hatte der Hausmeister bestimmt damit gerechnet, dass Jonas zu einer angemessenen Zeit eintreffen und nicht mitten in der Nacht aufschlagen würde. Jonas hielt es für besser, sich sofort um die Schlüssel zu kümmern, er lief durch die schmale Rue de Malte mit den eng geparkten Autos unter den Baugerüsten mit der im leichten Wind flatternden Kunststofffolie, welche die gesamte Längsseite der Häuser abdeckten. Den großen Rollkoffer zog er hinter sich her, auf dem Straßenpflaster klang es wie Gewittergrollen. Er bog nach rechts ab in die Rue Oberkampf, Nummer 11, den Türcode 9762 kannte Jonas. Er tippte die Ziffern behutsam in das quadratische Zahlenschild. Ohne besonderes Geräusch gab die schwere Gittertür dem Druck seiner rechten Schulter nach. Über Jonas’ Kopf wölbte sich ein mittelalterlich solider Torbogen, holpriges Kopfsteinpflaster lag unter seinen Füßen, der Rollkoffer dröhnte in der Nacht. Auf den Hof fielen ein paar sparsame Lichtfetzen aus den beleuchteten Fenstern, der Rest war von Finsternis verschluckt.

Der Eingang zum Büro des Concierge lag ein paar Schritte weiter links, Jonas sah in das dunkle Zimmer, er erkannte einen Schreibtisch, auf dem Aktenordner lagen, zwei waren aufgeschlagen, das weiße Papier hob sich schwach von der Dunkelheit ab. Es war aber niemand da, der Concierge schlief bereits in seinem Appartement, und der Schlüssel lag vermutlich in irgendeiner Schublade, unerreichbar für Jonas. Das Klopfen hätte er sich sparen können, aber ohne das Klopfen wäre er mit dem Gefühl gegangen, zu früh aufgegeben zu haben. Nichts tat sich, der Concierge schlief, der Schlüssel schlief, und was Jonas jetzt übrig blieb, war, bis zum kommenden Morgen zu warten oder sich ein Hotelzimmer zu nehmen, irgendeine überteuerte Kaschemme in der Nähe.

Als er aus dem Torbogen auf die Rue Oberkampf trat, standen die Raucher vorm einzigen offenen Laden in der Straße, dem »Le Kitch«. Jonas bestellte sich drinnen ein Glas Rotwein und nahm es mit hinaus, obwohl es kalt war und er keine Lust hatte zu rauchen. Aber es war angenehmer, ein bisschen Armfreiheit zu haben nach der Flugreise, drinnen in der überfüllten Bar hätte er Schulter an Schulter mit anderen gehockt. Die Leute, die mit ihm hier draußen standen, waren alle jung, die meisten bestimmt unter dreißig, und sie sahen ausgesprochen gut aus. Die Frauen in ihren schwarzen Kurzmänteln, die Typen in Lederjacken und Trenchcoats, niemand trug hier Funktionskleidung wie in Berlin, wo man offenbar, sobald man das Haus verließ, auf eine Art Safari gehen musste. Jonas beachteten sie nicht, das heißt, eine der jungen Frauen lächelte ihn kurz an, ein kleines Signal, dass er willkommen war hier auf der nächtlichen Straße, die jetzt denen gehörte, die das Leben ein bisschen feierten, nicht südländisch pathetisch wie die Italiener, sondern eher beiläufig, als kleine rasche Aufhellung, damit die Woche nicht zu schwermütig wurde in der dunklen Winterzeit. Nach ein paar Schlucken Wein hatte Jonas doch Lust bekommen, eine zu rauchen, und fragte die Frau, die ihm zugelächelt hatte, nach einer Zigarette. Sie hielt ihre eigene wie eine Trophäe hoch und verwies lachend an den Mann neben ihr, der offenbar auch ihr ausgeholfen hatte. Jonas ließ sich Zigarette und Feuer geben und war damit in den kleinen Kreis aufgenommen, der seinetwegen zwar nicht sofort das Gespräch aufgab, ihm aber mit freundlichen Gesten bedeutete, willkommen zu sein. Er hörte ihnen zu und merkte, wie sehr ihn das Verstehenwollen anstrengte, sein Französisch war nicht besonders gut, aber es hatte bislang immer für kleinere Unterhaltungen ausgereicht. Bald fiel einem der Männer auf, dass sie sich noch nicht mit Jonas bekannt gemacht hatten, und es setzte eine heitere Vorstellungsrunde ein, an deren Ende Jonas seinen Namen sagte, den zwei, drei von ihnen ohne französischen Akzent wiederholten.

»Du bist Deutscher?«, fragte die mit der geschnorrten Zigarette. Und weil sie auf Deutsch gefragt hatte, begann Jonas seine Antwort mit dem üblichen »Woher kannst du so gut …«

»Ich habe eine Weile in Freiburg studiert«, sagte sie und dass sie Christine heiße. Das Wort »Weile« entfaltete in ihrer Betonung eine zauberhafte, fast suitenhafte Melodie, aber dann wurde sie wieder in die französische Sprache zurückgezogen, die anderen zogen sie dahin zurück mit ihren in helles Lachen gekleideten Komplimenten; sie fühlten sich im warmen Grundton ihrer Sprache geborgen, ja, so musste es wohl sein, wenn man Franzose war: Die Sprache nimmt dich wie ein weiches, dickes Plumeau in sich auf; wenn das Leben dir die Kleider vom Leib reißt und dich demütigt wie ein roher Pferdekutscher, dann stellt die französische Sprache deine Würde wieder her. Sie lässt deine Zunge auf einer sprudelnden Kaskade tanzen und legt sie hinterher in ein samtenes Rotweinbad. Jonas redete einfach, wie ihm sein Hirn die Wörter zuteilte, viele waren es nicht, aber zusammen mit dem Wein und der Zigarette gewann er allmählich eine neue Kühnheit, die ihn ermunterte, von sich zu erzählen, zum Beispiel, dass er gerade vergeblich versucht habe, den Concierge dort drüben zu erreichen.

Christine hielt sich die flache Hand an die Stirn, um ihre Fassungslosigkeit über Jonas’ unangenehme Lage ins Gestische zu verlängern. Und ihr, ja war es ihr Freund, der mit dem halblangen Haar und dem elegant gebogenen Kinn? Er legte Jonas seine Hand auf die Schulter und lud ihn zu einem weiteren Glas Rotwein ein, das der dritte im Bunde, er hieß Nicolas, jetzt holen ging. Jonas sah in die Gesichter seiner neuen Freunde, alle waren fast zwanzig Jahre jünger als er, das heißt, Mathieu, der mit dem Kinn, mochte womöglich schon dreißig sein. Es war keine naive Ahnungslosigkeit in diesen Gesichtern, die hatten alle ihre kleinen Tragödien und ihre verregneten Nachmittage, keine Frage. Aber sie würden sich nicht in faule Traurigkeiten ziehen lassen, sondern lieber Tag für Tag ihre Eroberungen machen. Was es zu erobern galt? Alles, natürlich, Frauen, Männer und das Gefühl, immer noch ein bisschen mehr vom Alltagsgold abzukratzen. Jonas sah auf die Straße, auf der ein paar Menschen unterwegs waren und über der die Weihnachtsdekoration hing, ein großer elektrischer Schneekristall mit einer kleinen Glasstange daneben, durch die ein Licht flitzte, um einen tropfenden Eiszapfen zu simulieren, oder war es eine Sternschnuppe, ein Wunschbefehl an die nächtlichen Schwärmer?

Er sah zum Torbogen, hinter dem die Dunkelheit des Hofes lag, in dem sich sein Appartement befand, das er vermutlich erst gegen Morgen aufsuchen konnte. Mathieu brachte ein neues Glas Wein, Nicolas hielt ihm die Zigarettenschachtel hin, und Christine schlug vor, ein bisschen zu singen, damit einem wärmer werde. Aber sie redeten einfach weiter, und als Jonas alles Notwendige über seinen Aufenthalt hier erzählt hatte und niemand den Namen Richard Stein kannte, erklärte Mathieu, dass er heute seinen Abschied aus Paris feiern würde. »Der eine kommt, der andere geht«, so könne man den Abend hier überschreiben, sagte Mathieu. Nicolas klammerte sich in gespielter Kindlichkeit an seinen Freund und wimmerte: »Ne me quitte pas«, wofür er Lachen und Applaus bekam. Jonas war angesteckt von der Albernheit und Unbekümmertheit der drei, und er hoffte, diese Leichtigkeit würde ihn eine Weile durch die Nacht tragen.

»Wo ziehst du hin?«, fragte Jonas.

»Ganz runter, ganz nach Süden«, sagte Mathieu. Und nach einer kurzen Pause, in der sich offenbar jeder einen inneren Trommelwirbel gönnen sollte: »Montpellier.«

»Eine Stadt für Menschen, die gute Luft zum Durchatmen brauchen«, sagte Nicolas.

»Was ist daran verkehrt?«, fragte Jonas.

»Gar nichts«, sagte Nicolas, »außer, dass solche Menschen meistens weit über sechzig sind und unser Freund hier gerade mal neunundzwanzig geworden ist.«

»Dafür habe ich größere Chancen, über sechzig zu werden, als du.«

»Warum? Weil du in einem Landstrich lebst, wo es in zehn Jahren vielleicht noch drei Ärzte im Umkreis von zweihundert Kilometern geben wird?«

»Weil ich keine Ärzte brauchen werde – ich lebe von guter Luft, gutem Wein und guter Stimmung.«

Christine umschlang die Hüften der beiden Männer und sagte, sie sollten sich nicht um Dinge streiten, die in einer fernen Zukunft lägen. Außerdem sei Jonas gerade erst in Paris angekommen, und es sei unhöflich, ihm zu bedeuten, er habe die falsche Wahl getroffen.

»Du hast recht, Christine«, sagte Nicolas. »Aber ist es nicht auch unsere Aufgabe, unseren Freund Mathieu vor dem Fehler seines Lebens zu bewahren? Was ist, wenn er dort unten fett und unglücklich wird mit seinen sieben Kindern, von denen drei später in den Front National eintreten und sich für die Lotterjahre ihres Vaters in Paris schämen werden?«

Jonas ging in die Bar und bestellte eine weitere Runde für sich und die anderen. Er kam nur mit Mühe in den Laden, der komplett überfüllt war, und es drängten immer noch Leute herein. An der Theke war ein breit lachender grüner Monsterkopf angebracht, eine bunte Lichterkette rankte zwischen dem Holzregal mit den Gläsern und der Decke. Alles war voller Nippes, vermutlich, weil sie mit allen Mitteln den Namen des Lokals bestätigen mussten. Als der junge Typ hinter der Theke die vier Gläser gefüllt hatte, begann Jonas, ungeschickt nach ihnen zu greifen; aber da hatte sich Christine schon zwei Gläser geschnappt.

»Das ist vielleicht ein bisschen viel«, sagte sie, und Jonas lachte kurz auf, weil dieser Satz eine herrliche Vorlage war für eine Französin, die Deutsch mit einem starken Akzent sprach. Jetzt sah er zum ersten Mal ihr Gesicht deutlich genug, um es schön zu finden. Den großen Mund, der von dezenten Winkelfalten flankiert war, die leicht geschwungenen Brauen über den trotz ihres breiten Lachens nicht schmaler gewordenen Augen. Ein Mann neben ihr hob die Arme steil nach oben, damit sie an ihm vorbeikonnte; Jonas folgte ihr nach draußen, wo es jetzt ein bisschen zu schneien begonnen hatte, leichte lose Flocken, die ohne Wirbel zu Boden fielen, die Autos am Boulevard Beaumarchais fuhren sofort langsamer. Mathieu und Nicolas hatten ihre Mantelkrägen hochgeklappt und sahen um ein Vielfaches eleganter und verwegener aus als Jonas in seiner speckigen grauen Steppjacke, deren einziger Vorzug es war, keinen einzigen Hauch Kälte an seinen Körper zu lassen.

Sie stießen an, und Jonas fragte Mathieu, warum er sich entschlossen hatte, Paris zu verlassen.

Das sei eine lange Geschichte, sagte Mathieu, aber an was konnte Jonas leidenschaftlicher interessiert sein als an langen Geschichten in dieser Nacht ohne Wohnung und Bett, in der es galt, Zeit zu schinden und die Stunden kürzer erscheinen zu lassen?

»Der Grund«, sagte Mathieu, »steht neben dir.« Neben Jonas stand Christine, die sich halb aus Spaß, halb aus echter Verlegenheit beide Hände vors Gesicht hielt und die Finger langsam an den Wangen hinabgleiten ließ.

»Mathieu, das sollst du nicht sagen.«

»Aber Chéri, es stimmt doch. Ohne dich, das heißt, mit dir wäre ich hiergeblieben.«

»Ihr seid also ein Paar?«, fragte Jonas.

»Wir waren eins«, sagte Mathieu. »Aber im vergangenen Sommer hat sich Christine dazu entschieden, Single zu werden. So wie andere sich dazu entscheiden, einen Yogakurs zu machen oder ein Leben ohne Milchprodukte zu führen, so hat sich Christine für das Leben ohne mich entschieden.«

Christine war die öffentliche Analyse ihres Liebeslebens offensichtlich unangenehm, sie versuchte, Mathieu mit beschwichtigenden Gesten von seinen Ausführungen abzubringen, aber es half nichts, Mathieu kam immer mehr in Stimmung, die Geschichte ihrer Liebe und ihres Scheiterns zu erzählen. Es hatte aufgehört zu schneien, auf dem Gehsteig war ein hauchdünner weißer Schneepelz liegen geblieben. Jonas hörte angestrengt zu, weil Mathieu immer schneller redete und Jonas sich die französischen Wörter im Kopf vorstellen musste, er war darauf angewiesen, ihre schriftliche Gestalt vor sich zu haben, und sei es in der Imagination. Im Sommerurlaub also war es passiert, irgendwann Mitte August in Griechenland; sie saßen in einem Café am Hafen von Rhodos, und Christine begann damit, die Vorzüge von Freundschaften zwischen Männern und Frauen aufzuzählen. Zunächst habe er sich nichts dabei gedacht, sagte Mathieu. Im Urlaub fallen die Tage länger aus als gewöhnlich, und warum sollte man nicht ausführlicher über Themen reden, die man im Alltag vermutlich nicht einmal anschneiden würde. Aber dann habe sie immer mehr Beispiele aus ihrer eigenen Beziehung angeführt, deren Verlauf sie als unablässige Abschussfahrt in die Langeweile und Ereignislosigkeit nachzeichnete. Und der Urlaub, das zeige auch dieser hier auf Rhodos, sei eigentlich das Kontrastmittel zum Alltag, mit dem man die Leere, die sich zwischen ihnen ausgebreitet hätte, ganz genau sehen könne. Dieses Gespräch habe genau in der Mitte des Urlaubs stattgefunden, sie hatten also gerade die Hälfte der Zeit herumgebracht und mussten nun als getrenntes Paar versuchen, weitere zwei Wochen miteinander zu leben. Die unbeschreibliche Tristesse einer Liebe, die eine Leiche auf Urlaub geworden ist, böse dekoriert von weißen, auf den leichten Wellen des Hafenwassers schaukelnden Booten.

»Das ist ein bisschen übertrieben, Mathieu«, sagte Christine. »Wir haben uns doch gut verstanden in den Tagen danach, oder? Besser als vorher, das hast du selbst gesagt.«

Mathieu legte seinen Arm um Christines Schultern und drehte sie zu Jonas hin, so als gelte es, ein Foto zu machen, das die beiden im Zustand der Erleichterung zeigen sollte.

»Ja, du hast recht, Chérie«, sagte Mathieu mit einer etwas aufdringlichen Großzügigkeit in der Stimme, »anfangs fand ich deine Entscheidung grausam, aber ich habe ziemlich schnell kapiert, dass man nichts festhalten kann, was einem ohnehin unter den Händen wegrutscht.«

Jonas hätte gerne gefragt, wie sie ihre Liebe dann abgewickelt hätten. Ob es ähnlich mühselig gewesen sei wie zwischen ihm und Corinna oder ob man derlei in Frankreich generell etwas leichtherziger vonstattengehen lässt. Nicolas nahm ihm die Zwischenfrage ab, würzte sie aber mit der Feststellung, dass Mathieu ohne Christines klugen Entschluss jetzt wohl kaum mit Delphine zusammen sei.

Delphine?

»Die Frau, mit der unser unglücklicher Freund kommende Woche ins heitere Montpellier ziehen wird. Sie kommt von dort. Eine echte Landpomeranze.«

»Eine junge Frau aus dem Volk, wolltest du sagen«, konterte Mathieu. »Ihr werdet euch eure großstädtische Arroganz irgendwann sonst wo hinstecken können, glaubt mir: Die Provinz wird siegen – eines nicht allzu fernen Tages.«

Das alles ging in betrunkenem Gelächter unter, aber für Jonas klang es nicht mehr heiter. Auch Christine schien nur pflichtschuldig mitzulachen. Wer inszenierte hier was und für wen? Jonas sah auf die Uhr, es war nicht einmal drei. Aber der Laden leerte sich allmählich, und Jonas sah mit Schrecken, dass der Wirt den Schlüssel ins Schloss steckte und keine neuen Gäste mehr hineinließ.

»Sie schließen bald«, sagte Christine mit einem Ausdruck von Mitleid für Jonas. Nicolas und Mathieu hatten sich noch Zigaretten besorgt und gaben sich gegenseitig Feuer wie alberne Jungs.

»Ich werde mir die Zeit schon irgendwie vertreiben«, sagte Jonas. In meinem Koffer sind genug Bücher, damit komme ich in den Morgen.«

Christine nickte. Die anderen hatten sich längst von ihnen abgewandt und in Albernheiten verloren; an Jonas dachten sie nicht mehr, und es war ihm auch ganz recht, dass er nun auf sich gestellt war.

»Danke euch jedenfalls, dass ihr mir geholfen habt, ein bisschen Zeit totzukriegen.« Mathieu sah, dass Jonas nach seinem Rollkoffer griff, und riss ihn in eine übertrieben feste Umarmung.

»Machs gut, und lass es dir nicht zu kalt werden in dieser unmenschlichen Stadt. Und wenn du es nicht aushältst, kommst du zu uns in den Süden.«

Nicolas küsste ihn auf beide Wangen, Christine rieb ihm die Schulter. »Alles Gute«, sagte sie auf Deutsch und küsste ihn dann leicht auf die Wange. Jonas sah, dass die drei sich kaum voneinander verabschiedeten, sie winkten sich zu, Christine ging die Rue Oberkampf Richtung Voltaire, die anderen beiden schlenderten zum Boulevard Beaumarchais, wo Mathieu ein schwarzes Taxi heranwinkte, Nicolas mit einem Klaps auf die Schulter in die Nacht entließ und davonfuhr.

Jonas beschloss, wieder in den Hof zurückzugehen, in die Finsternis seines neuen Zuhauses. Der dünne Schneefirnis war verschwunden, es war halb vier und so still, dass er die Regentropfen in den dürren Büschen wie Seidenpapier rascheln hörte. Als er durch den Torbogen ging, sah Jonas, dass im Büro des Concierge Licht brannte. Er hob den Rollkoffer an, um keinen Lärm zu machen, auch damit der Concierge ihn nicht bemerkte, ehe Jonas ihn selbst in Augenschein genommen hatte. Er hatte Lust, sich heranzuschleichen wie eine Katze, die Ereignisse zu prüfen, ehe er sich auf sie einlassen würde. Durch das Fenster sah er einen älteren Mann mit halblangen weißen Haaren und fransigem Vollbart an einem Campingtisch sitzen und rauchen. Der Mann tippte auf ein Tablet, wischte hin und wieder hektisch und ungeschickt darauf herum, vermutlich war es ein Dienstgerät, das er nachts, unbemerkt vom Besitzer, heimlich privat nutzte. Als er Jonas gesehen hatte, wischte er noch einmal kurz und wie ertappt auf dem Display herum, so als wollte er eine Spur verwischen. Der Mann stand auf und trottete ein wenig gebückt zur Tür, die er aufschloss.

»Ja?«

»Ich bin Jonas Becker und brauche den Schlüssel zu meinem Appartement.«

Der Mann nickte, trottete zurück, öffnete eine Schublade und kam mit zwei auf einen Drahtring gezogenen Schlüsseln an. Im Gehen legte er seine rechte Hand auf Jonas’ Schulter, sagte, dass er Frankie heiße, wobei er das »A« französisch aussprach, Fronkie. Er begann, schnell und komplett unverständlich zu plappern, es klang wie ein unter Wasserdampf stehender Topf, dessen Deckel klappert. Jonas verstand kein einziges Wort und beschloss, einfach mit bestätigenden Kommentaren zu antworten, was sich auch als hinreichend erwies. Frankie schloss ihm sogar die Tür zum Appartement auf; es lag im vierten Stock, eine vielleicht dreißig Quadratmeter große Wohnung, einfach, aber nicht uncharmant eingerichtet. Das Bett stand in einer eigenen kleinen Kammer, die es vollständig ausfüllte. Draußen wurde es langsam hell, ein bläulicher Abglanz des Himmels war zu sehen, die Stunde, in der man eigentlich nichts mehr entscheiden kann. Als Frankie endlich gegangen war, unter endlosem Plappern und heiserem Säuferlachen, legte sich Jonas angezogen auf das Bett und versuchte einzuschlafen. Er war nicht müde, es zog sich kein erlösender Schleier über seine Augen. Er hätte aufstehen und wieder auf die Straße gehen können, aber es war einfach noch nichts zu holen in dieser Stadt, die jetzt ihr Pausenbild eingeschoben hatte; er musste die toten Stunden abwarten, die grausame kurze Zeit, in der die Welt ohne Menschen und Menschlichkeit auskommt, die Penner aus den Metrostationen geworfen werden, aus den Bahnhöfen gekehrt wie Gerümpel.

Jetzt war er hier, in diesem Studentenappartement, das ihn beinahe tröstete in seiner lieben Enge, auf dem warmen Bett. Ein Tisch, ein paar Stühle, ein kleines Bücherregal – er hatte sich oft vorgestellt, in einer solchen Bedürfnislosigkeit Trost zu finden. Mehr brauchst du nicht, diesen Satz hatte er sich oft gesagt und sich den Tagesablauf eines Schriftstellers vorgestellt, der er gern gewesen wäre. Ein alleinstehender, nicht einsamer Mann, der morgens um acht aufsteht, einen Kaffee trinkt und sich dann ohne Dringlichkeit an den Laptop setzt, um seine Tagesarbeit zu verrichten. Ein Tisch, ein Stuhl, eine Tasse Kaffee. Mehr brauchst du einfach nicht. Dann schlief Jonas für zwei Stunden ein.

 

Als Jonas am nächsten Morgen den zweiten Allongé im Café de la Mairie bestellt hatte, fiel ihm ein, dass er zur Feier seiner Ankunft eine rauchen wollte. Natürlich hatte er keine Zigaretten dabei, gestern Abend hatte er sich bei den jungen Leuten durchgeschnorrt. Ein Gelegenheitsraucher wird von den Rauchern bedient, das war ein ungeschriebenes Gesetz. Die Raucher freuen sich, wenn sie einen neuen Sympathisanten gewinnen können, und werden freigebig. Kein Raucher wird einem Gelegenheitsraucher den Wunsch nach einer Zigarette abschlagen. Ermutigt durch diese Regel stand Jonas auf und ging zu der Alten mit den bunten Zigaretten.

Sie sah ihn an, als hätte er gefragt, wann sie das letzte Mal mit einem Mann geschlafen habe.

»Das ist völlig unmöglich, Monsieur«, sagte die Frau.

Jonas entschuldigte sich und wollte wieder an seinen Platz gehen, da rief die Alte den Kellner, der zunächst nicht reagierte. Erst als die Frau die Stimme hob und einen grellen Ton anklingen ließ, ging er zu ihr. Jonas hörte, wie sie dem Kellner sagte, er möge sie vor dem Zugriff dieses Herrn dort schützen; dabei wies sie mit dem Zeigefinger auf Jonas. Der Kellner redete sanft auf die Alte ein, die sich daraufhin allmählich zu beruhigen schien. Jonas trank den Kaffee aus, legte das Geld auf den kleinen Teller, auf dem der Rechnungszettel unter eine kleine Plastikzunge geklemmt lag. Er sah kurz zu der Alten rüber, die immer noch empört den Kopf schüttelte und vor sich hin redete; aber es sah aus, als habe sie den Anlass für ihre Empörung bereits vergessen. Jedenfalls würdigte sie Jonas keines Blickes mehr, sondern befasste sich mit der Neuordnung ihrer farbigen Zigaretten.

Im Gehen spürte Jonas, dass sein Handy in der Hosentasche vibrierte. Er sah auf das Display, es war Fabian, der Mann, der mit ihm gemeinsam die Klugen Köpfe abwickelte. Jonas zögerte, ranzugehen. Die Agentur war das Letzte, womit er sich noch beschäftigen wollte. Er hatte doch jetzt ein anderes Terrain betreten, ein neues Leben angefangen oder war es die Illusion, das alte Elend mittels einer neuen Beschäftigung aus dem Seeleninnenfutter zu reiben. Aber hatte Fabian nicht einen entscheidenden Anteil daran, dass er das alles hinter sich lassen konnte? Die Verhandlungen mit dem Gewerbeaufsichtsamt, die Tricks mit dem Finanzamt, all die Schrauben und Kurbeln, die Fabian gedreht hatte, damit Jonas möglichst unbeschadet aus dem Schlamassel kam. Er hatte Jonas das Rückzugsgefecht aus der Hand genommen, ihm den Rücken gedeckt und alle Mühen auf sich genommen, die notwendig waren, um einen beruflichen Traum zu begraben.

»Wer stört meine Pariser Tagträumereien?«, Jonas wollte einen witzigen Ton anschlagen, als Entschädigung für Fabians Anstrengungen.

»Was ist denn bei euch los?«, Fabian sprach in dem leicht aufgekratzten Ton, mit dem eher beladene Menschen auf einer heiteren Gesprächslaune bestehen.

»Was meinst du? Hier ist angenehm wenig los, und das ist genau das, was ich gerade brauche«, sagte Jonas.

»Guckst du manchmal auf dein Smartphone?«

Jonas schwieg, das war jetzt Fabians Auftritt.

»Irgendwelche Irren haben eine Zeitungsredaktion gestürmt und alle Redakteure abgeknallt. Kommt gerade als Eilmeldung auf Spiegel Online.«

»Welche Zeitung, Le Monde oder was?«

»Keine Ahnung, nein, nicht Le Monde. Irgendein Satireblatt, ich kenn mich nicht aus mit dem Zeug.«

»Charlie Hebdo?«

»Ja, exakt. Kennst du die?«

Einer von Fabians Vorzügen war, dass er kaum unnützes Wissen gespeichert hatte. Alles, was er wusste, ließ sich unmittelbar auf die Arbeit anwenden, und wenn ihm der Name eines Referenten nicht geläufig war, stellte er die Frage nach dessen Eignung ohne eine Spur von Sarkasmus. Jonas kannte keinen Menschen, dessen Denken auf neutralerem Boden stattfand als das Denken Fabians. »Muss man den kennen?« – am Anfang hatte sich Jonas über diesen Satz geärgert, weil in ihm gewöhnlich der dümmliche Hochmut der Nichtwissenden mitklang. Die Frage besaß eine Anmaßung und Verächtlichkeit gegenüber dem Kundigen; muss man den kennen, oder beruht die Prominenz dieses zweifelhaften Menschen auf der Steigbügelhalterei einiger weniger Elitetypen, die aus Spezialwissen einen Anspruch auf Allgemeinbildung erheben?

Bei Fabian klang es eher beiläufig professionell, ohne einen Anflug von Ironie: Muss man den kennen, und wenn ja, akzeptiere ich das sofort und mache ein umfassendes Dossier über den für unsere Kunden.

»Ja, ich hab das Heft ein paarmal in der Hand gehabt«, sagte Jonas. »Sie sind bekannt für ihre Karikaturen von Muslimen, glaube ich.« Das »glaube ich« hatte Jonas angefügt, um Fabian nicht mit seinem scheinbar stets zur Verfügung stehenden Allgemeinwissen zu verstimmen.

»Die Jungs sind noch auf den Straßen unterwegs«, sagte Fabian. »Also sei mal vorsichtig, wenn du den Flaneur machst.«

»Hast du eine Ahnung, wo die Redaktion genau liegt?«, fragte Jonas.

»Augenblick«, Jonas hörte, wie Fabians Finger auf der Tastatur klapperten.

»Rue Nicolas-Appert«, Fabian sprach den Straßennamen deutsch aus.

»Und das ist wo?« Jonas wusste, dass er Fabian glücklich machte, wenn er schnelle Dienstleistungen am Computer von ihm verlangte. Er spürte, dass er Fabian vermisste, seine Unkompliziertheit, die Abwesenheit jeder Attitüde, sein »Kein Problem«, sein »Alles klar«, die Macherfloskeln, die ihm früher auf die Nerven gegangen waren; jetzt entbehrte er sie wie der reisende Katholik die Hostie.

»Also, die Nicolas-Appert geht vom Boulevard – keine Ahnung, wie man das ausspricht – Richard-Lenoir ab. Scheint eine große Straße zu sein, die U-Bahn-Station heißt auch Richard-Lenoir.«

»Metro.«

»Was?«

»Die U-Bahn in Paris heißt Metro.«

»Meinetwegen. Aber ich sag’s noch mal: Pass auf dich auf, die Polizei warnt die Bevölkerung davor, auf die Straße zu gehen.«

»Ich bin vorsichtig«, sagte Jonas und beendete das Gespräch. Er sah sich um, die Leute waren immer noch die ungerührten Passanten von eben, obwohl sie durch eine Stadt liefen, in der soeben etwas geschehen war. Eine Stadt, auf die ein Anschlag verübt wurde, war eine verwundete Stadt, so würde es morgen in den Zeitungen stehen; Jonas sah auf sein Handy, die Eilmeldung hatte bereits den gesamten Raum der Nachrichtenseite eingenommen. Die Sache ging um die Welt, alles lief in Sekundenschnelle um die Welt, kaum war das Ereignis geschehen. Jonas war hier, in Schrittnähe zur Katastrophe; er konnte die Wirklichkeit mit der Nachricht abgleichen, er hatte die Möglichkeit, eine Bestätigung für das Stattgefundene einzuholen.

Jonas lief die Rue de Bretagne Richtung Boulevard Beaumarchais, auf dem jetzt Kolonnen von Polizeiwagen mit lauten Sirenen fuhren. Mit drei Autos hatten sie die Zufahrt zur Rue Oberkampf gesperrt, und nach ein paar Schritten sah Jonas weiter hinten die rot-weißen Absperrbänder, hinter denen jetzt ein paar Hundert Leute, Polizisten, Feuerwehrmänner und Journalisten, um den Fortbestand der zivilisierten Welt kämpften.

2

Die Agentur hatte Jonas ebenso schnell abgewickelt, wie er sie fünf Jahre zuvor zusammen mit Corinna aufgebaut hatte. Corinna wollte die leeren Räume nicht sehen, sie halte das nicht aus, hatte sie gesagt, ihr widerstrebe die »kalte Entsorgungssituation«, diese merkwürdige Formulierung hatte sie in einer Mail an Jonas benutzt. Die Computer waren bereits alle verkauft, die weißen Schreibtische mit Klebezetteln versehen. Noch zwischen den Jahren sollte das Mobiliar abgeholt werden, eine Start-up-Firma hatte einen guten Preis dafür geboten. In die Räume würde wieder eine Agentur einziehen, diesmal eine, die Champagner aus aller Welt an Luxus-Caterer vermittelte. Wenn es in dieser Welt keine herkömmliche Arbeit mehr geben sollte, wird es immer noch originelle Köpfe geben, die Angebot und Nachfrage erfinden, dachte Jonas. Und wenn jede herkömmliche Art von Dienst beendet sein wird, werden die Kreativen ihre Fiktion von Arbeit an den Mann bringen. Die leeren Räume kamen ihm auf einleuchtende Weise friedlich vor, so als sei hier die einzig richtige Entscheidung getroffen worden. Fabian hatte einen Computerausdruck mit Anweisungen für die Putzkolonne auf einen der Tische geklebt, Vorsichtsmaßnahmen zum Schutz der Möbeloberflächen und der Elektrik – dieser Mann sorgte noch im Untergang dafür, dass alles mit Präzision und Ordnung vonstattenging.

Jonas setzte sich an seinen Schreibtisch und wählte die Nummer von Richard Stein. Er wusste, dass der Alte erst gegen Mittag ansprechbar war, seine Nächte fielen gemeinhin relativ kurz aus, weil er nicht schlafen konnte und bis in den Morgen las oder fernsah. Zwei- oder dreimal hatte er bereits mit Stein geredet, und jedes Mal hatte Jonas den Eindruck gewonnen, Stein sei nicht überzeugt von ihrem gemeinsamen Vorhaben. Andererseits war er eitel genug, die Aussicht auf eine umfassende Biographie nicht zurückzuweisen. Es galt also, ein Spiel zu spielen, in dem es darum ging, den Narzissmus des Alten als Spielart des Genialen zu begreifen und Stein auch den Eindruck zu vermitteln, dass ein so großes Vorhaben wie das einer Biographie ausschließlich den ganz Großen zustünde. Für Jonas war das Spiel genauso hilfreich, weil er sich den Mann auch ein bisschen größer machen musste, als er eigentlich war. Richard Stein war sein Bewährungshelfer für die Zeit nach den Klugen Köpfen. Er war Jonas’ nächstes »Projekt«, so nannte man ja heutzutage die Verwirklichung von Träumen.

Das erste Mal hatte Jonas ihn vor etwa zwanzig Jahren bei einer Lesung in Köln erlebt. Die Routine, mit der Stein seine Texte las, hatte Jonas damals enttäuscht. Er hatte einen fiebernden Baudelaire erwartet, einen einsamen, leidenschaftlichen Bohemien, der an beiden Enden brannte, wie es manchmal so schön blöd über eigentlich bloß hysterische Menschen hieß. Aber Stein war ein Profi, ein Berufsschriftsteller, der lächelnd Hände schüttelte, Bücher signierte, Fotos anschaute, die Leser ihm hinhielten, und der sich fachmännisch erinnerte, obwohl Stein, jedenfalls hatte Jonas den Eindruck, außer sich selbst keinen Menschen auf diesen Fotos erkannt hatte. Jonas hatte sich kurz zuvor Steins Roman Gewalt gekauft, eine Erzählung von knapp 150 Seiten, in Großdruck und in schönes Leinen eingebunden. Stein fragte ihn, ob er eine Widmung hineinschreiben sollte. Jonas sagte, der Name reiche völlig. Eigentlich brauchte er nicht einmal den Namen, diese elende Widmerei ging ihm schon immer auf die Nerven, warum, bitte, sollte ein Buch mehr wert sein, wenn der Schriftzug des Autors dort hineingekritzelt war? Jonas wollte möglichst nah ran an Richard Stein. Er wollte ihn von Nahem betrachten, ihm für ein paar Minuten in die Augen sehen, um sich auszumalen, wie viel Leben dieser Mann wirklich in seine Bücher gerettet hatte. Natürlich war ein Blick, war ein Gesicht kein Indiz für irgendetwas, das sich im Buch als Wahrheit behauptete. Als Jonas vor dem damals noch nicht alten, aber mit Grandezza alternden Mann stand, kam ihm der einerseits lächerliche, andererseits fabelhafte Gedanke, dass Richard Stein zu schön sei, um auch noch wirtschaftlichen Erfolg zu haben. Mit diesem Mann hatten sich ausschließlich die Musen zu beschäftigen, die Steuerberater durften nicht einmal in seine Nähe geraten. Es konnte nicht sein, dass eine Akademie Richard Stein für seine Bücher mit Preisen auszeichnete. Jonas wünschte sich diesen Schriftsteller als verfluchten und verachteten Poeten, dessen Anhänger ebenfalls als verdächtig zu gelten hatten. Natürlich wusste Jonas, dass es anders war. Jonas hatte jedes Mal aufgelacht, wenn Richard Stein wieder mit einem hoch dotierten Literaturpreis geehrt wurde, seine Bücher von Literaturfonds gefördert und er selbst mit einem Stipendium in Rom oder Kalifornien versorgt wurde. Natürlich kannte er die Lobreden, die Zeugnisse großer internationaler Schriftsteller, die in Richard Stein ein Jahrhundertgenie erkannt hatten und mit eindringlichen Worten vor die lesende Welt traten, um sie zu beschwören, die Bücher dieses Mannes zu kaufen. Einer schlug ihn sogar für den Literaturnobelpreis vor.

Nach der Lesung in Köln wollten die Veranstalter Stein zum Essen ausführen, aber Stein lehnte ab mit dem Verweis auf seine Müdigkeit; er ziehe das Hotel vor, weil er am nächsten Morgen den ersten Thalys nach Paris nehmen müsse. Die Enttäuschung über die Absage war den Leuten wie der Abdruck eines Faustschlags ins Gesicht geschrieben; wie gerne hätten sie sich mit dem schlanken Mann gezeigt, dessen graue Löwenmähne fast bis auf die Schultern reichte; einen Dichter im Maßanzug, und dazu in Deutschland, wo Autoren bestenfalls in Tommy-Hilfiger-Pullis an die Pulte treten und nur dann ein ausgeleiertes Sakko anziehen, wenn sie den Wilhelm-Raabe-Preis bekommen. Richard Stein war perfekte und abweisende Eleganz! Jonas konnte sich nicht vorstellen, dass dieser Mann in Köln in einen dieser küchendunstigen Fressschuppen ging oder in einen Kölsch-Keller, wo der Köbes mit dem Körbchen herumlief und kleine trübe Biere an die Gäste verteilte.

Aber exakt in einem solchen Keller saß Jonas mit dem Dichter – eine Viertelstunde, nachdem Stein seine Gastgeber abgeschüttelt hatte. Es hatte sich einfach ergeben, jedenfalls kam es Jonas so vor. Stein hatte es darauf angelegt, mit Jonas ein Bier trinken zu gehen, das hatte er ihm später einmal gestanden. Irgendetwas habe ihn interessiert an Jonas, wahrscheinlich die Frage, die Jonas ihm nach dem Signieren gestellt hatte, nämlich, ob es eigentlich eine Qual sei, sich sein ganzes Leben lang schreibend mit sich selbst zu beschäftigen.