Was dann nachher so schön fliegt - Hilmar Klute - E-Book

Was dann nachher so schön fliegt E-Book

Hilmar Klute

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Beschreibung

»Ein ganz wunderbares Buch über die Kraft der Literatur« Ulrich Matthes, Literarisches Quartett. Ein Roman über die Leidenschaft fürs Schreiben, die Schönheit der Chance und die Liebe zur Literatur. Das literarische Debüt von Hilmar Klute ist voller Sätze, die man am liebsten immer wieder lesen möchte. Ruhrgebiet, 80er-Jahre: Volker Winterberg arbeitet als Zivi im Seniorenheim und schreibt Gedichte. Er träumt davon, ein Dichter zu werden wie Peter Rühmkorf und die Leute von der Gruppe 47. Aber vorläufig muss er noch frühmorgens seine Alten für den Tag vorbereiten. Die übrige Zeit verbringt er trinkend, rauchend und schreibend in Kneipen, die Nächte oft in fremden Betten. Dann gewinnt er die Teilnahme an einem Treffen für Nachwuchsschriftsteller in West-Berlin. Dort lernt er Heiner Müller kennen, den jungen, eigentümlichen Dichter Thomas und vor allem Katja, die mit Volker Ausflüge an die Mauer macht und ihm nach seiner Rückkehr Liebesbriefe schreibt. Als Volker ein zweites Mal nach Berlin reist, beginnt ein turbulentes Abenteuer mit Katja und eine verwickelte Odyssee durch das alte West-Berlin.

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Seitenzahl: 445

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Hilmar Klute

Was dann nachher so schön fliegt

Roman

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Hilmar Klute

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungMotto1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel
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Für Golda

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Sind wir vertieft in unsere Eingeweide Leser?

sind wir auf einmal leicht

leichte Gefiederte

leben wir jetzt oder lebten wir einmal?

Nicolas Born

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1

Dieser stille raue Zauber, der auf der herbstlichen Frühe lag. Es gab noch keine Andeutung des Morgens, die Nacht war einfach hinter dem Abteilfenster hängen geblieben wie schwarzes Seidenpapier, und ich hätte jetzt gerne ein Gedicht über meine sternklare Wachheit geschrieben. Die Pendler waren bereits in die summenden Nahverkehrszüge gestiegen, morgendliche Unlust in den Gesichtern, nach einer kurzen Fahrt in Mülheim oder Essen würden sie in ihre Lochkartensysteme entlassen werden, die paar Lehrlinge unter ihnen waren in ihren speckigen Anoraks vor Müdigkeit erstarrt. Mein kleines hellgrünes Notizbuch lag auf dem freien Sitz neben mir, was hielt mich davon ab, einfach anzufangen, ins Schreiben abzugleiten, noch bevor mein Zug sich in Bewegung setzte? Es gab ja immerhin ein paar Erinnerungen an die Nacht festzuhalten, die ich in ziemlicher Unruhe verbracht hatte, nicht nur, weil die beiden Katzen aus der Nachbarschaft gebrüllt hatten wie kleine Löwen, eine Nachtmusik, wie bestellt für einen, der bald losmusste. Die bevorstehende Reise hatte mich unruhig gemacht, weil sie aufgeladen war mit der Erwartung an ein anderes Leben, das sich der Reise anschließen sollte. Ich wollte schreiben und irgendwann mit dem Schreiben mein Auskommen finden. Und diese irre Wendung musste jetzt geschehen, in diesem Herbst 1986, der ein warmer, klarer Herbst war wie aus einer dieser schönen Inseltaschenbuch-Anthologien.

Die Einladung nach Berlin hatte ich schon vor Monaten in meinen Spind gelegt; nach jedem Händewaschen mit den zwei Sorten Desinfektionsmittel aus den Spendern links und rechts vom Waschbecken betrachtete ich mehrmals am Tag den Bogen mit dem Emblem der Berliner Festspiele, fünf ineinander verschachtelte Quadrate – ich zeichnete sie in der Pause manchmal auf die Rückseite des Übergabeprotokolls. Für diesen Tag, meinen Reisetag, hatte ich Urlaub eingereicht – ein Donnerstag, die Fahrkarte für den Intercity nach Berlin besaß ich schon seit drei Wochen.

Ein halbes Jahr zuvor hatte ich in der WAZ eine kleine Notiz gelesen. »Welcher Nachwuchsschriftsteller schreibt Geschichten, Gedichte, Satiren oder Märchen bislang nur für die Schublade? Jetzt bietet sich beim ersten Wettbewerb für Jungautoren der Berliner Festspiele die Chance, seine Werke einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen.« Ich schickte fünf Gedichte nach Berlin, von denen ich glaubte, dass sie meine besten waren. Zwei Monate später lag das Schreiben im Briefkasten, die verschachtelten Quadrate auf dem Umschlag. Ich starrte den Brief an, sie hatten mich ausgewählt mit fünfzehn anderen. Der Altenpfleger Volker Winterberg in seinem weißen Pflegeranzug – die raffinierte Tarnung für einen Dichter, der noch eine Weile unerkannt bleiben musste. Jedenfalls so lange bis ich die Restzeit meines Zivildienstes abgedient hatte.

Ein paar von den Alten hatte ich ganz gern, natürlich nur Männer, weil ich ausschließlich für die Männer zuständig war. Herrn Feist zündete ich jeden Morgen eine Zigarette an, nachdem ich ihn gewaschen und angezogen hatte. Er war blind und hatte sich in seiner Blindheit dergestalt eingerichtet, dass er sich von vorn bis hinten bedienen ließ, obwohl er durchaus ein paar Verrichtungen hätte machen können.

Herr Pachtzins stand manchmal im Flur, mit nichts weiter bekleidet als mit einer Netzhose, in die eine verrutschte Einmal-Unterlage geklemmt war. Wenn er mich sah, hob er zitternd die Krallhand an die Stirn.

»Wo möchten Sie hin, Herr Pachtzins?«, fragte ich ihn.

»Wasserstraße.«

»Was wollen Sie denn in der Wasserstraße?«

»Befehl zum Melden, wir rücken ein.«

Herrn Fischer zog ich jeden Abend ein sogenanntes Urinalkondom über seinen riesigen Penis, der zwischen seinen dünnen Beinen lag wie ein gestrandeter toter Fisch. Ich nahm das Ding in die Hand und stülpte das Urinalkondom darüber, ohne dass ich besonders behutsam vorgehen musste, Herr Fischer spürte da unten nichts mehr. Er hatte auch sonst kaum noch Energie für irgendwas, aber er wehrte sich mit allen verbliebenen Kräften gegen die Kraftlosigkeit, das war sein täglicher Kampf. Wenn er mir etwas sagen wollte, sprach er seine Sätze dreimal schnell hintereinander. Der Parkinson hatte ihm die Stimme geraubt, und er glaubte, man würde ihn verstehen, wenn er alles mehrmals flüsterte. Früher war er Journalist, in den vierziger Jahren. Vermutlich schrieb Fischer damals Artikel, in denen er seine Landsleute ermunterte, an den Endsieg zu glauben. Im Heim tippte er tagsüber auf einer mechanischen Schreibmaschine Briefe an seinen Bruder, der in Hamburg wohnte. Um seine Finger in Bewegung zu halten, sagte er. Ich kann mich nicht erinnern, dass Herr Fischer seinerseits Briefe von seinem Bruder oder sonst wem bekommen hätte. Wenn ich ihm das Kondom übergestülpt hatte, lag er mit offenen Augen im Bett – und so blieb er die ganze Nacht liegen, ohne auch nur eine Minute zu schlafen.

Ich war fast jede Nacht mit meinen Kumpels unterwegs, trank in Kneipen Bier, rauchte Javaanse Jongens und schlief manchmal mit einer der Altenpflegerinnen, Erika, sie war dreizehn Jahre älter als ich und hatte Sartre gelesen. Weil sie mit einem Mann zusammenlebte, der übrigens noch einmal dreizehn Jahre älter war als Erika, mussten wir uns in den Wohnungen ihrer Freunde treffen, die dann halt an diesem Abend ausgingen. Ich hatte keine große Lust auf den Sex mit Erika. Mein Schwerpunkt lag ja auch mehr auf der Lyrik, und ich war eigentlich nur zufrieden, wenn ich alleine in meinem Zimmer hockte und an meinen Texten herumdrehte. Ich wollte es so machen wie die ganz Großen, für jeden Vers dreißig Fassungen schreiben und diese noch mit Querverweisen, französischen Flüchen und fünf Alternativwörtern versehen. Ich wollte ein richtiger Schwerstarbeiter der Literatur werden, so wie Peter Rühmkorf, der unter der Last seiner Verse fast zusammenbrach. Ja, Rühmkorf hatte recht: Was dann nachher so schön fliegt, wie lange ist darauf rumgebrütet worden!

Im Sommer hatte ich Rühmkorf bei einer Veranstaltung in Recklinghausen gesehen. Er las dort mit Hannelies Taschau und Erich Fried, den damals alle Welt bewunderte für seine platten, kitschigen und verlogenen Liebesgedichte. Fried war eine groteske Erscheinung, ein übergroßer Kopf auf einem kleinen gedrungenen Körper – der Mann sah aus, als sei er aus zwei verschiedenen Menschen zusammengeschraubt worden. Er gab sich betont gebrechlich, kam immer erschöpft lächelnd in den Raum, auf einen hellen Stock gestützt, in der anderen Hand eine Plastiktüte mit seinen Gedichtbänden, die er alle bereits signiert hatte. Fried war ein lyrischer Großunternehmer, ein Literatur-Industrieller, wo er ging und saß, schrieb er Gedichte. Als die schüchterne Hannelies Taschau ein paar blasse Texte gelesen hatte, sprang Fried vom Stuhl auf und sagte: »Liebe, ich habe gerade ein Gedicht gemacht, gestattest du, dass ich es vorlese?« Die Taschau wäre ihm am liebsten mit dem Arsch ins Gesicht gesprungen, aber selbstverständlich bat sie sogar darum, dass der eitle Fried sein Gedicht Entgegnung auf ein gutes Gedicht von Hannelies Taschau vortrug. Es war das übliche Fried-Zeug, schwer dialektisch natürlich, schlechter Brecht und mindestens an der Grenze zum Blödsinn. Ich fand diese studienrathafte Besserwisserei so grauenhaft, dass ich mich aus dem Saal schlich, um draußen eine Zigarette zu rauchen, die ich mir schon beim Anhören der Entgegnung auf ein gutes Gedicht von Hannelies Taschau gedreht hatte. Als ich die Tür leise hinter mir schloss, stand dort Peter Rühmkorf rauchend an einem Stehtisch und lächelte mich an. Ich spürte, wie eine heiße Schlange meinen Hals hochkroch, während sich ihre Schwester, die eiskalte Schlange, an meinem Rücken abarbeitete. Rühmkorf sah mich an, aus seinen Nasenlöchern sprudelte Zigarettenrauch, er war entspannt und wollte prüfen, ob ich auch entspannt war. Was sollte ich jetzt machen? Natürlich drehte ich mich um, wie Menschen es tun, die nicht glauben, dass ausgerechnet sie gemeint sein können. Aber da war nur die weiße Saaltür, die ich soeben selbst hinter mir zugezogen hatte. Und hier gab es das Lächeln von Peter Rühmkorf, das kluge, feine Lächeln in diesem klaren schönen Gesicht. Ich musste mit ihm sprechen, das Lächeln war eine Einladung des etablierten Dichters an den jungen. Es wollte sagen: Wir zwei stehen hier draußen, weil wir ein schwer ironisches Verhältnis zu diesem lächerlichen Zinnober dadrinnen haben. Rühmkorf trug ein kariertes Hemd mit besonders großem Kragen. Ich könnte ihn fragen, wo man Hemden mit derart großen Krägen herbekommt. Natürlich verwarf ich die Idee umgehend, denn ich konnte nicht ernsthaft mit dem größten lebenden Dichter über die Größe von Hemdkrägen ins Gespräch kommen. Aber ich musste es auch nicht, denn die Tür, die ich soeben hinter mir zugemacht hatte, öffnete sich wieder und eine kleine wuselige Frau kam heraus und eilte auf Rühmkorf zu, der gerade noch seine Zigarette ein wenig hochheben konnte, weil die Frau ihm sonst in die Glut gerannt wäre. Die Frau wollte, dass Rühmkorf sofort in den Saal zurückkam, weil er gleich dran wäre. Wie bitte? Rühmkorf soll dran sein? Ein Dichter wie Rühmkorf war doch nicht dran. Er durfte höchstens gebeten werden, etwas aus seinem fantastischen Werk vorzulesen.

Rühmkorf drückte seine Zigarette aus, sein Lächeln nahm er zwar mit, aber er sah mich nicht mehr an, sondern ging neben der aufgeregten Frau zurück zu Hannelies Taschau, die vermutlich nach jedem Text, den sie las, eine Entgegnung von Erich Fried reingereicht bekam. Ich stellte mich an den Tisch, an dem vor fünf Sekunden noch Peter Rühmkorf gestanden hatte, rauchte erleichtert meine Zigarette und überlegte allen Ernstes, ob ich mir die ausgedrückte Kippe von Rühmkorf in die Tasche stecken sollte. Ich tat es natürlich nicht, weil ich es peinlich fand – später ärgerte ich mich über meine Vornehmtuerei.

Welche Texte sollte ich für Berlin auswählen? Außer denen, die ich eingesandt hatte. Ich war mir nicht sicher, was dort am besten ankam – eher freche, junge Sachen oder Gedichte, die wie exotische Vögel wild im Echoraum der deutschen Nachkriegslyrik flatterten? Ich hatte beides im Repertoire, ich war ein lyrisches Chamäleon. Las ich Gedichte von Paul Celan, fand sich garantiert das Wort Mohn in meinen Arbeiten. Starrte ich auf die formelhaften Texte von Ernst Meister, rieselten Geist und Staub in meine Verse, und wenn ich Ingeborg Bachmann durchblätterte, »stundete« sich irgendetwas bei mir oder war »unverloren«.

Im Altenheim hatte ich niemandem von der Einladung nach Berlin erzählt. Nur dass ich Urlaub nehmen und für ein paar Tage wegfahren würde. Es interessierte dort auch keinen, was ich außerhalb der Schichten unternahm; ich war den meisten Kollegen eher suspekt, weil ich mich viel zu lange mit den alten Leuten beschäftigte. Das galt als unnütz, denn man war ja angehalten, in Eile die Betten zu machen, die Leute anzuziehen, in den Rollstuhl zu wuchten und schließlich in den Aufenthaltsraum zu schieben, wo sie den Tag verdämmerten, vollgepumpt mit Haldol und verschleierten Erinnerungen.

Nach der Frühschicht setzte ich mich manchmal in den Aufenthaltsraum und las den Alten die Zeitung vor. Zwischendurch stellte ich Fragen, zum Beispiel, wie die Hauptstadt der Bundesrepublik heißt. Die meisten sagten Berlin, weil sich Bonn als Hauptstadt in einem neunzigjährigen Gedächtnis nicht durchsetzen konnte. Einmal starb eine Frau, während ich vermischte Meldungen aus der WAZ vorlas. Sie war in ihrem Rollstuhl eingenickt, und als ich sie ansprach, weil ich wissen wollte, welcher Schauspieler den Hauptmann von Köpenick gespielt hat, antwortete sie nicht. Ich ging zu ihr, kniete mich vor den Rollstuhl und tätschelte ihre Wange, die noch warm war, aber das Leben hatte den Rollstuhl bereits verlassen. Viele wünschen sich einen solchen Tod: alt, zusammengesunken langsam wegdämmern, während sie ein Zivildienstleistender, dem kurz zuvor Peter Rühmkorf zugelächelt hat, nach der Lieblingsrolle von Heinz Rühmann fragt.

Abends saß ich in meinem Zimmer und sah mir meine Gedichte an. Ich fand eigentlich alles gut, es gab keinen Zweifel, und genau das machte mir Sorgen. Irgendetwas stimmte vermutlich nicht mit meiner Urteilsfähigkeit; denn wenn sie mir alle gefielen, hatte ich kein professionelles Verhältnis zu meiner Arbeit. Manchmal glaubte ich, dass ich die Aufgaben des Altenpflegers besser versah als die des Dichters.

»Du weißt, was für einer Generation wir hier den Hintern abwischen?«, fragte Erika und sah mich mit ihrem Examensblick über den Rand des Weißweinglases an, an dem sie nippte.

»Nee, was denn für ’ne Generation?«

Erika lächelte diese billige Lächelmischung aus Mitleid und Nachsichtigkeit.

»Die Generation, die Auschwitz möglich gemacht hat«, sagte sie als hätte sie die längst überfällige Antwort auf die Frage nach der Hauptstadt der Bundesrepublik gegeben.

Sie ging mir von Anfang an auf die Nerven mit diesem Schuld-Zeug. Was sollte der arme Leo Pachtzins mit seiner traurigen Krallhand mit Auschwitz zu tun gehabt haben? Er war Melder bei irgendeiner elenden Kompanie, er sah dabei zu, wie seine Kameraden von einer einzigen Granate in die Bäume katapultiert wurden, wo sie als blutiger Christbaumschmuck hängen blieben, bis sie langsam und in Einzelteilen herunterfielen. Was hat Frau Riechmann mit Auschwitz zu tun gehabt? Sie hat ihre zweijährige Tochter die ganze Nacht gewindelt und eingekleidet auf dem Küchentisch stehen lassen, damit sie das Kind schnell packen und in den Bunker bringen konnte. Und Herr Fischer? Ja, Herr Fischer hat vielleicht seine Leser in Richtung Endsieg-Stimmung gepeitscht. Aber soll ich ihm abends vorm Zubettgehen sagen, tut mir leid, Herr Fischer, ich kann Ihnen heute kein Urinalkondom überstreifen, weil Sie mitgeholfen haben, Auschwitz möglich zu machen?

»Und du wirst mal zur Generation gehören, die in der Mittagspause schon Frascati getrunken hat«, sagte ich.

»Das ist nicht witzig, Volker«, sagte Erika. »Auschwitz war der Zivilisationsbruch. Unfassbar und unwiederholbar.«

Ich hätte so weitermachen können mit Ironie und der kleinen dandyhaften Verächtlichkeit des verblasenen Klugscheißers, der schließlich nur übergangsweise diese elende Arbeit verrichtete, mit der Erika und die anderen sich vermutlich bis ans Ende ihres Lebens quälen mussten. Ich hätte sagen können, dass all diese Attribute und Sensationswörter wie Zivilisationsbruch und unfassbar und unwiederholbar auf so viele andere Abscheulichkeiten passen und die Einzigartigkeit von Auschwitz nicht beschwören können. Jedenfalls nicht so wie es Paul Celan konnte, dessen Todesfuge ich auswendig wusste – »ein Mann wohnt im Haus, der spielt mit den Schlangen, der schreibt, der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland«. Als Celan das Gedicht bei der Gruppe 47 vorlas, lachten die Jungs sich dort halbtot. Sie kannten ja nur ihren Realismus, ihre kühl kalkulierte Kriegsprosa und dieses Gehampel mit der korrumpierten Sprache, die man nicht mehr ohne Weiteres benutzen darf, weil sie auf der Rampe von Auschwitz auf alle Zeit beschmutzt worden sei. Mir war das alles immer zu einfach und zu langweilig. Warum sollten es irrsinnige Verbrecher schaffen, eine Sprache zu zerstören, nur weil sie in dieser Sprache Hunde auf Menschen hetzten?

Ich glaube, Erika hätte damals besser in die Gruppe 47 gepasst als ich. Sie wäre dort eine der wenigen Frauen gewesen, neben Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann hätte man auch Erika Heilberg zu den literarischen Fräulein-Wundern gezählt. Ihre Kurzgeschichten machen schnell Furore, weil sie mit Sujets spielen, an die sich zuvor noch kein Schriftsteller herangetraut hat. Es geht meistens um die Ungleichheit der Geschlechter, aber auch um alte Menschen, die in Windeln liegen und kurz vor ihrem Tod erkennen müssen, dass sie Auschwitz möglich gemacht haben. Als die kleine rothaarige Frau mit dem etwas bitteren Mund auf dem Stuhl neben Hans Werner Richter Platz nimmt, herrscht absolutes Schweigen, der Spott erstirbt auf den Mündern der Männer, Günter Grass dreht sich eine Zigarette, um Gelassenheit vorzutäuschen, Marcel Reich-Ranicki legt seinen kleinen Notizblock zur Seite und Walter Jens tippt mit dem Zeigefinger gegen seine hohe Stirn. Und selbst als Erika aufhört zu lesen, regt sich keine Hand, kein Kommentar schafft sich Luft, die Stille ist sensationell – hier ist etwas Neues passiert, ein literarisches Wunder. Endlich sagt Reinhard Baumgart, die Geschichte sei in ihrer schwebenden Art einzigartig; eine Arabeske mit festem Fuß in der Wirklichkeit, schwärmt Reinhard Lettau und selbst Wolfdietrich Schnurre, der alte Grantler, findet bei Erika Heilberg einen neuen Ton, gesellschaftskritisch und doch auf eine betörende Weise weiblich. Natürlich bekommt Erika Heilberg den Preis der Gruppe, Hans Werner Richter schüttelt ihr die Hand und nennt ihr die Nummer seines Hotelzimmers. Martin Walser lädt sie zu einer Schiffsreise auf dem Bodensee ein und Günter Eich widmet ihr einen seiner Maulwürfe. Und ich? Komme einfach nicht durch mit meinen Sachen. Sie sind zu verspielt, zu sehr an der Wirkung interessiert, sagt Walter Höllerer, der es ja wirklich gut mit mir meint. Seine Kritik ist konstruktiv, und das lässt meine Enttäuschung umso größer ausfallen. Ich bin nicht satisfaktionsfähig, meine Texte haben nicht das Zeug, von Hans Mayer und Marcel Reich-Ranicki professionell auseinandergenommen zu werden. Ich gehe vor die Tür des Wirtshauses, der Regen hat einen aufregenden Steingeruch in die Luft gezaubert; weil es so nass ist, bekomme ich meine Zigarette nicht an, Streichholz um Streichholz fliegt, von meinen Flüchen begleitet, auf den nassen Boden.

Dann schiebt sich plötzlich eine Feuerzeugflamme vor meine Augen. Ich ziehe an meiner knisternden Zigarette, nehme sie in die Hand und drehe mich um zu Peter Rühmkorf, der mit der gleichen Flamme seine Marlboro anzündet. Er trägt eine Schiebermütze über der schwarzen Brille und hat dieses breite Vogelgrinsen, das mir schon in Recklinghausen so sympathisch war.

»Na?« Rühmkorf bläst den Rauch beim Mundwinkel raus.

»Läuft nicht so gut«, sage ich. Rühmkorf legt mir seine Hand auf die Schulter und sieht mich lange und ernsthaft an.

»Weißt du was?«

»Was?«

»Deine Gedichte sind noch ein bisschen rhetorisch, es fehlt die Oberflächenspannung, der innere Expander.«

Ich verstehe ungefähr, was er meint, frage trotzdem, ob er es mir genauer erklären könnte.

»Du brauchst ein bisschen mehr Leben, verstehst du? Hol deine Klamotten und mach, dass du hier wegkommst. Hier sind nur Buchhalter und Papiertiger. Du musst raus in die Welt, streck den Daumen raus, trampe nach Frankreich, fahr in den Ostblock, lerne Deutschland über das Ausland kennen.«

Ich gewinne ein paar schnelle Züge aus meiner Zigarette.

»Und tu mir bitte einen Gefallen, ja?«

»Welchen?«

»Schreib bitte keine solchen Blähungen wie der Typ, der drinnen gerade an der Reihe ist.«

Peter Rühmkorf wirft seine Zigarette weg und läuft mit weit ausgebreiteten Armen in den Regen. Ich glaube, er lacht leise vor sich hin, vielleicht probiert er auch eines seiner Gedichte aus: »Wer hadern will, verschenke seine Rechte. Der Klügre ist’s, der hier zunächst den Service wahrnimmt und seinen Schädel von der Steuer absetzt.« Dieses Genie! Nachdem ich meine Zigarette bis zum Stummel aufgeraucht habe, schleiche ich mich ins Wirtshaus. Da sitzt Erich Fried und liest aus seinen Gedichten.

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2

In der Wärme des fast leeren Intercity war ich besser aufgehoben als in meinem Bett, wo ich stundenlang nach einer den Schlaf begünstigenden Position gesucht hatte. Kühnheit, das Wort dachte ich und hätte es am liebsten gleich hingeschrieben. Die Kühnheit, vorgeblich ein Leben zu führen, in welchem man morgens um sieben schon erschöpft war von der körperlichen Arbeit, während man in Wahrheit dabei war, ein anderes, schöneres Leben in sich vorzubereiten. Der schwarze Zeiger der Bahnhofsuhr federte auf den letzten Balken vor der Sechs und weil der Schwung zu kühn war, federte er ein bisschen auf der Stelle.

Es war seltsam, dass ich mich nicht freute, als der Intercity nach Berlin mit einem Ruck in Fahrt kam. Ich saß am Fenster, hatte meine Mappe mit den Gedichten auf den freien Sitz neben mir gelegt und dachte an meine Alten, für die in einer halben Stunde der Tag anbrach, den sie lieber eine Stunde später und am allerliebsten überhaupt nicht mehr erleben wollten.

Wer würde in den nächsten Tagen Herrn Feist wecken, ihm seine Filterzigarette richtig herum in den kleinen runden Mund stecken und ihm das Feuerzeug aus der Hemdtasche klauben? Wer würde Herrn Pachtzins mit einem Gegenbefehl erlösen, wenn er wieder auf dem Flur in Richtung Morgenappell stolperte, mit nichts als der Netzhose bekleidet? Und wer würde Herrn Fischer das Urinalkondom überziehen – wer war denn zuständig für diese alten Leute, wenn nicht ich? Wer wusste denn, wie schwer das Leben und die Einsamkeit auf einem Menschen lasten, wenn nicht der junge ernste Mann, der Gedichte schrieb?

Erika hatte mich zum Bahnhof gebracht und fast hätten wir uns noch beim Abschied gestritten, weil Erika wieder davon faselte, dass die DDR immer noch das bessere Deutschland sei, dort gebe es nämlich keine Nazis. Ich sagte diesmal nicht, dass dort die Nazis einfach nur Genossen heißen – ich sagte es nicht, weil ich ohne Zorn in mein Glück reisen wollte, unbeschwert von den kleinen Kämpfen auf der Endmoräne von Achtundsechzig, dem frascativerdünnten Zornesmut der mittelalten Brigaden, deren Ideale dabei waren, sich schmerzlos in Ibuprofen und Marlboro light aufzulösen.

Das Traurige war, dass wir Jungen ihren verblassenden Weltbildern keine frischen gegenüberstellen konnten. Links zu sein war immer noch aufregender als rechts zu sein. Wer war denn schon rechts? Welcher Lyriker von Rang hasste nicht Kohl und Dregger und Strauß? Charismatische Konservative kannte dieses verschlafene, selbstzufriedene Land nicht – und Richard von Weizsäcker schwebte ja über den Lagern und den Ideologien. Im vergangenen Jahr hatte er vor dem Deutschen Bundestag erklärt, der achte Mai 1945 sei der Tag der Befreiung gewesen und nicht der Tag der Niederlage. Dafür haben ihn die Altnazis in seiner Partei fast gelyncht. Ein Bundespräsident sagt das Selbstverständliche und das Selbstverständliche wird zum Skandal. Andererseits konnte man ja sehen, dass die alten Nazis inzwischen nur noch Restposten waren – wenn ein Rechter, der im Krieg gekämpft hatte, von Schuld sprach, war für die Linken schon wieder ein bisschen Terrain weniger übrig.

 

Ich saß im Zug und sah aus dem Fenster dem Ruhrgebiet zu, wie es sich langsam von mir löste. Der Mercedesstern über dem Ärztehaus, der grüne Kreis mit dem Schriftzug der Brauerei Fiege neben dem Kortumpark. Die schmutzigen Hausfassaden hinterm Dortmunder Bahnhof, die kleinen Zechensiedlungen, die Schrebergärten mit den sorgsam aufgeteilten Rabatten, und dann die Auflösung der Stadt ins Ländliche, graue Einfamilienhäuser, in die man in den Fünfzigern hoffnungsfroh und familienselig eingezogen war; die kleinen Teerstraßen, die mutlos in einem Feld endeten, weil man nicht bedacht hatte, dass unter der Erde eine alte Schachtanlage jedes Fundament in die Tiefe zog. Ich war erleichtert, endlich aus dieser Gegend verschwinden zu können, wenn auch nur für wenige Tage. Ich hatte ja bisher kaum etwas anderes kennengelernt als dieses Konglomerat aus Städten, Grünanlagen und Verwaltungsgebäuden, die starke Hand der Arbeiterschaft hatte über meiner Kindheit geschwebt, die Schule erwies sich als das falsche Modell für meinen Bildungseifer, der Mathematik, die Naturwissenschaften und Latein ausschloss, aber auf dem Gymnasium keine Alternative fand. Ich schrieb Gedichte, schickte sie an irgendwelche flatterigen Literaturzeitschriften, bekam sie entweder zurück oder sie verschwanden auf Nimmerwiedersehen im Papierkorb irgendeines tristen Hobby-Verlegers. Und jetzt dieser plötzliche Erfolg! Endlich war jemand auf mich aufmerksam geworden, und wenn ich mich in Berlin nicht allzu dämlich anstellte, durfte meiner Autorenkarriere nichts im Wege stehen.

Irgendwann hatte ich das Ruhrgebiet hinter mir, dann auch das östliche Westfalen mit seinen groben, schweigsamen Dörfern und gegen Mittag kam ich an den Grenzübertritt Marienborn. In wenigen Augenblicken würde ich in die Deutsche Demokratische Republik hineinfahren. Mir fiel natürlich sofort das Lied von Wolf Biermann ein: »Hier fallen sie auf den Rücken, dort kriechen sie auf dem Bauche. Und ich bin gekommen, ach kommen bin ich vom Regen in die Jauche.« Wieso eigentlich »kommen«? Was war das für ein seltsames Deutsch? Würde ich später auch so schreiben?

Ich saß im Abteil mit zwei Männern, einem älteren und einem dicklichen, etwa dreißigjährigen, ich nehme an Vater und Sohn. Als wir die Grenze passiert hatten, begann der Jüngere, der die ganze Zeit wenig gesagt hatte, plötzlich auf die DDR zu schimpfen. »Kuck mal raus, wie das hier aussieht. Die haben vierzig Jahre lang alles verrotten lassen. Alles im Arsch hier, alles.« Je mehr Verrott er draußen sah, desto heller wurde seine Stimme. Und je heller seine Stimme wurde, umso größer wurde meine Panik, dass diese Miniaturrevolution aus dem Ruder lief, denn wir fuhren immerhin durch ein Land, in welchem man nicht alles sagen konnte. Und, auch wenn es mir innerlich widerstrebte: Es gab Dinge, dachte ich, die man wirklich nicht sagen sollte, besonders nicht, wenn man durch das benachbarte Inland fuhr. Der Mann schimpfte unablässig weiter, seine Schimpferei wurde immer vulgärer, ich kann den Wortlaut nicht mehr wiedergeben. Plötzlich wurde die Abteiltür aufgezogen, zwei NVA-Soldaten traten ein, harte, freundliche Männer, die den Auftrag hatten, die Deutsche Demokratische Republik zu verteidigen. Einer von ihnen sprach den Dicken an, freundlich, aber mit klarer Ansage: »Wenn Sie nicht aufhören, unser Land zu beschimpfen, werden wir den Zug anhalten und Sie müssen aussteigen.«

Der Dicke schwieg einen Moment, fuhrwerkte mit dem Handballen an seinem rechten Auge herum und setzte seine Litanei mit seltsam weinerlicher Knabenstimme fort: »Aber hier ist doch alles kaputt, seht euch doch um, alles im Arsch hier.« Ich hatte jetzt Angst, dass die Soldaten ihre Drohung wahrmachten.

»Sie haben sich zurückzuhalten«, sagte der, der redete. »Wenn Sie nicht aufhören, werden wir Sie unverzüglich festnehmen.«

 

Es war wohl das Wort festnehmen, das den Dicken endlich zur Ruhe brachte, womöglich aber auch das irgendwie nach Folter klingende »unverzüglich«. Sein Vater hatte die ganze Zeit geschwiegen, er hatte Angst so wie ich. Das ganze Abteil roch nach Angst. Selbst der Blechaschenbecher unterm Fenster klapperte. Als die Soldaten ein weiteres Mal deutlich machten, dass sie den Dicken und, wer weiß, vielleicht auch seine Begleiter, zu denen sie mich im Zweifelsfall auch zählen könnten, abführen werden, hielt er endlich den Mund. Ich sah den Rest der Strecke schweigend nach draußen, sprach hinter vorgehaltener Hand die Namen Schandelah und Königslutter – Orte, die so fremd klangen wie aus orientalischen Märchenbüchern. Der Dicke schlief irgendwann ein und schnarchte; sein Vater sah mich immer wieder an, als wollte er sichergehen, dass ich von alldem nichts verraten würde.

Am späten Nachmittag kam ich am Bahnhof Zoologischer Garten an. Ich stand auf dem Bahnsteig wie auf einer Insel, meine graue Reisetasche zwischen den Füßen. Eine Gedichtzeile von Nicolas Born fiel mir ein: »Ich war nie so zufällig.« Wo stand die noch mal? Ich versuchte mich an den Kontext zu erinnern, aber die Zeile blieb mutterseelenallein in meinem Kopf stehen, vielleicht weil sie keine weiteren Zusammenhänge brauchte, jedenfalls für mich nicht in diesem Augenblick.

»Hey.«

Ich drehte mich um.

Sie trug einen Parka, ich dachte immer, dass nur wohlstandsverwahrloste Professorenjungen Parka tragen.

»Volker«, sagte ich und gab ihr die Hand, ihre war weich, ohne Druck. Sie lachte verlegen, Händeschütteln war wohl eine Geste von früher und in West-Berlin schon lange aus der Mode. Lange brünette Haare, schlank, sie hatte Cowboystiefel an, als sei nichts dabei.

»Ich bin Katja«, sagte sie, und sie wüsste, dass ich der Lyriker aus dem Ruhrgebiet bin. Sie sei ein einziges Mal dort gewesen, in Düsseldorf. Ich wollte nicht blöd, klugscheißerisch oder auch nur unhöflich sein, deshalb sagte ich nicht, dass Düsseldorf zum Rheinland gehört. Sie hatte leicht aufgesprungene Lippen und zog schnell einen Labello drüber.

»Willkommen in Berlin«, sagte sie, so wie man einen Touristen begrüßt. Ich lachte kurz auf, um den kleinen Ärger wegzukriegen.

»Viel hast du ja nicht dabei«, sie nickte meiner Reisetasche zu. Ich hatte keine Ahnung, was man schon groß dabeihaben musste, wenn man für vier Tage nach Berlin fuhr. Weil ich das Thema nicht vertiefen wollte, bestätigte ich: nur die Tasche.

Ich kannte den Bahnhof Zoo bis dahin nur aus dem Film Wir Kinder vom Bahnhof Zoo und war darauf gefasst, in wenigen Augenblicken dünne Mädchen mit zerstochenen Oberarmen zu sehen. Wir gingen die Treppe in die Halle hinunter – ich sah nur einen alten, reichlich runtergekommenen Bahnhof, graues Nachkriegsdeutschland, Imbissbuden, in denen alte Frauen Essen kochten wie zu Hause; Tauben, die über den Boden liefen, die große Bahnhofsuhr mit ihrer katechetischen Zeitvergehens-Geste; ich war so überrascht, dass in Berlin die ganze seelenlose Geschichte des Wiederaufbaus so gnadenlos ausgestellt war. Katja marschierte stramm Richtung Ausgang, wo ihr Wagen stand. Sie zog die Schiebetür eines VW-Busses auf. Ich setzte mich auf die linke Seite, ein langer Sitz aus rotem Kunstleder, es roch wie in den toten Autos der Kinderzeit, in die wir kletterten und davon träumten, in abenteuerliche Unfälle verwickelt zu werden, aus denen wir wie durch ein Wunder unverletzt und für alle Zeit unbesiegbar hervorgehen würden. Katja zog die Tür zu und lächelte mich irgendwie professionell an. Mich irritierte die Diensteifrigkeit, mit der sie jeden Handgriff tat, eine Servicekraft der Literaturförderung, mein Gott! Als sie losfuhr, begann sie zu erzählen, wasserfallartig, ohne dass ich Fragen stellen musste. Wir fuhren über den Kurfürstendamm, den ich niemals Ku’damm zu nennen wagte, ich war nicht von hier, ich wollte nicht tun, als sei ich ein Berliner. Obwohl ich es gerne gewesen wäre, ich sah die breite Straße, die Geschäfte, die vielen Menschen, die auf diesem großzügigen Terrain spazierten – so eng das alles hier geographisch sein mochte, so wild und weit kam es mir vor –, in jedem Hauseingang vermutete ich eine rasende Geschichte. Ich stellte mir vor, hier zu leben, und als ich Katja im Halbprofil betrachtete, das feine Haar hinter das Ohr gestrichen, dachte ich: Warum nicht mit ihr in einer kleinen Wohnung mit Gasherd wohnen, morgens beim Gemüsehändler das Nötigste kaufen, diesen rauen, herzlichen Alltag haben mit den Freunden aus dem Hinterhof gegenüber – und wir würden einmal die Woche »Nie wieder Deutschland-Partys« machen, aber nicht mit diesem Ernst, sondern eher ironisch, schon auf halbem Weg zum Erwachsensein, dabei die guten Anteile von links immer auf dem Einkaufszettel.

Sie erzählte, dass sie aus Jever kommt, »kennst du das? Liegt im Norden, na ja, das Bier wirst du kennen – oder nee, du bist wahrscheinlich Weintrinker, ich habe deine Gedichte gelesen.« Sie machte eine Pause und tat so, als müsste sie einer schwierigen Verkehrssituation gerecht werden, die aber nicht eintrat. Hatte sie jetzt zu viel von sich hergegeben, indem sie gestand, meine Gedichte gelesen zu haben?

»Sie sind wunderbar«, sagte sie. »Ganz ernst.«

»Warum bist du nach Berlin gezogen?«, fragte ich hastig und hilflos, wie man jemanden fragt, warum er an den Nägeln kaut, obwohl man gerade festgestellt hat, dass er sich die Haut aufritzt.

»Studium«, sagte sie. »Englisch auf Lehramt. Aber ich überlege, ob ich nicht besser in den Magister-Studiengang wechseln sollte.«

Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. Mit dem Studium und seinen Bedingungen hatte ich mich noch nicht auseinandergesetzt; ich hatte genug mit meinen Gedichten und mit den alten Leuten zu tun. Ich überlegte kurz, ob ich Katja davon erzählen sollte. Von dem riesigen Pimmel des Herrn Fischer, den ich jeden Abend luftdicht in Folie verpackte. Oder von Herrn Krisch, der im selben Zimmer lag wie Herr Fischer. Otto Krisch, ein schöner alter Mann mit einem feinen Gesicht, hatte keine Ahnung mehr von der Welt. Nicht einmal eine Ahnung! Er lebte in einem Gefängnis, das sein eigenes Gehirn ihm gebaut hatte – das hatte ich immer als die abgrundtiefe Bosheit der Natur begriffen: Das Gehirn, auf das man so viel gibt, von dem man sich Glück, Erfolg und Liebesfähigkeit verspricht, programmiert sich im Alter selbst zum Folterinstrument um. Je weniger Verstand er besaß, desto stärker schien sein Körper zu werden. Er schlug um sich, manchmal mussten wir ihn zu zweit oder zu dritt überwältigen und am Bett festschnallen. Dort saß er schreiend im Unterhemd, die weißen Haare, die ich ihm morgens quer über den eigentlich kahlen Kopf scheiteln musste, hingen wie altes Stroh an seiner Wange herunter. Er zerrte an den Zipfeln seiner Bettdecke, eigenartig behutsam, so als müsse er alle anderen im Zimmer auf die Kostbarkeit des Stoffes aufmerksam machen. Ich hielt ihn manchmal am Arm fest, in der Hoffnung, er würde das als Beschwichtigung und nicht als Gewalt begreifen. Einmal sah er mich an, er schien in einen Moment der Klarheit geraten zu sein, und sagte: »Wie kommt es, dass du mir mit einem Messer die Augen ausstichst?«

Katja fuhr in die Fasanenstraße und parkte den Wagen direkt vor dem Literaturhaus.

»Das ist ganz neu«, sagte sie. »Ihr seid die Ersten, die hier auftreten«, sie drehte den Schlüssel heraus und kletterte von ihrem Sitz; aber ich hatte die Tür bereits aufgezogen und stand auf dem Gehsteig. Sie gab mir die Hand, ich wechselte rasch meine Reisetasche von rechts nach links und irgendwie kam mir ihr Händedruck jetzt kräftiger vor.

»Drinnen warten sie auf dich«, sagte Katja, bevor sie wieder ins Auto stieg. Ich hatte keine Ahnung, was sie mit dem Ganzen hier zu tun hatte. War sie eine Taxifahrerin für junge Leute mit Niveau? Oder hatte sie einen Teilzeitjob bei den Berliner Festspielen? Egal, ich musste jetzt in dieses Haus gehen, die Leute begrüßen, wahrscheinlich waren schon alle da – die jungen Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus der ganzen Bundesrepublik.

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3

Es hatte keine zwei Wochen gedauert, bis das Kreiswehrersatzamt meine Verweigerung anerkannte. Was sollten sie auch anderes tun bei dem Begründungsschreiben, das ich ihnen vor den Latz geknallt hatte? Eigentlich war es weniger ein Begründungsschreiben als eine Art poetologisches Pamphlet. Ich schrieb, dass jemand, der die Gedichte von Enzensberger, Auden und William Carlos Williams verehrt, niemals zur Waffe greifen dürfe. Wer das Leben besinge wie die Dichter, der dürfe nicht töten. Vor allem John Donnes berühmte Gedichtzeile »Each man’s death diminishes me« sei mir eine Verpflichtung. Weil ich sicher war, dass beim Kreiswehrersatzamt nur Vollidioten saßen, übersetzte ich die Zeile vorsichtshalber ins Deutsche. Es war meine erste Übertragung aus dem Englischen. Der Satz, den sie mir zurückschickten, war allerdings in Deutsch gehalten, und er gefiel mir mindestens so gut wie der von John Donne: »Sie sind berechtigt, den Wehrdienst mit der Waffe zu verweigern.« Ich stellte mir vor, wie die Typen sich gegenseitig meine Verweigerung vorlasen, verlegen lachten, sich an die Stirn tippten, bis irgendein Vorgesetzter mit der Faust auf den Tisch schlug und schrie: »Schluss jetzt mit der Zirkusnummer. Der Typ ist irre, so etwas können wir hier nicht brauchen. Die Russen stehen immer noch mit ihren SS-20-Raketen vor unserer Haustür, und wir befassen uns mit einem durchgeknallten Gedichteschreiber. Schreibt diesem Lyriker, dass er uns am Arsch lecken soll. Aber er muss innerhalb von acht Wochen seinen Zivildienst antreten. Dann kann er sich hinterher noch überlegen, ob es besser ist, zwanzig Monate lang alten Leuten den Arsch abzuwischen oder fünfzehn Monate ein bisschen durch den Schlamm zu kriechen und dann tschüssikowski.«

Das waren die Männer, die diese Republik am Laufen hielten. Kalter Krieg, kalte Schnauze, kalter Kaffee. Ich wollte mit ihnen nichts zu tun haben. Aber ich gehörte auch nicht zu den Totalverweigerern. Obwohl ich immer eine stille Bewunderung für die Leute hegte, die weder Bund noch Zivildienst machten, sondern lieber jahrelange Prozesse führten, in den Knast gingen und die autoritäre Seite des Staates erleiden mussten. Die konnten sich dann ein bisschen so fühlen, als seien sie Widerstandskämpfer in einer Diktatur.

Bevor ich meine Verweigerung schrieb, ging ich regelmäßig zu den Beratungsstunden von den Vereinigten Kriegsdienstgegnern. Da erzählten Männer, die ein bisschen älter waren als ich, was sie in den ersten Monaten beim Bund alles durchgemacht hatten. Einer wachte nachts schreiend auf und musste immer von seiner Freundin in den Arm genommen werden. Er führte sich auf, als habe er in Vietnam gekämpft wie die fertigen Typen in den Romanen von Philip Roth, die nicht ins vietnamesische Restaurant gehen können, ohne Gefahr zu laufen, alle Tische umzuschmeißen und den Kellnern Napalm ins Gesicht zu pusten. Zwei Monate Bund in irgendeinem Kaff im Emsland und schon ein Kriegstrauma? Als ich meine Verweigerung vorlas, fand exakt dieser Typ meinen Text nicht gut, weil er meinte, ich würde die vom Wehrersatzamt verarschen.

»Einmal Soldat, immer Soldat, was?« sagte ich.

»Was willst du damit sagen?«

»Dass du hier die große Im-Westen-nichts-Neues-Nummer abziehst, aber in Wirklichkeit genau so ein intoleranter Waffengänger bist wie die, für die du zwei Monate lang durch die Matsche gekrochen bist.«

»Spinnst du? Ich bin Opfer staatlicher Gewalt. Die haben mich gefoltert.«

»Du bist Opfer deiner eigenen Verlogenheit, Alter.«

Natürlich war das der Moment, in dem er aufsprang, die Fäuste ballte und von zwei anderen Verweigerern festgehalten wurde. Ich bin danach nie wieder in diese Beratungsstunden gegangen, sondern habe mich hingesetzt, meine Verweigerung geschrieben und bin tatsächlich durchgekommen mit dem Zeug. Aber die Zeit bis zum Antritt meines Zivildienstes war denkbar kurz. Mir blieben nur knapp zwei Monate und besonders viel Geld hatte ich auch nicht. Also kaufte ich mir ein paar Notizbücher. Ich brauchte Reize von außen, neue starke Bilder aus der Wirklichkeit, die ich zu Gedichten machen konnte, Peter Rühmkorf hatte absolut recht. Und ich brauchte eine Stadt, in der ich all dies finden konnte. Paris zum Beispiel. An einem Regensonntag stellte ich mich an eine Raststätte, zu der ich umständlich mit dem Bus und dann zu Fuß durch Gestrüpp und über Straßenplanken gekommen war. Es herrschte das übliche Ausflugstreiben, obwohl es regnete. Aber Sonntag war Sonntag und am Sonntag fuhr man im Ruhrgebiet irgendwohin, egal wie das Wetter ist. Ich sprach Leute an, die vom Bezahlen kamen, manche fragte ich noch an der Zapfsäule, ob sie mich ein Stück mitnehmen könnten. Alle schüttelten den Kopf oder sagten irgendetwas von Haftung bei Unfällen, keine Ahnung. Ich kaufte mir Snickers und Raider und dachte daran, wieder nach Hause zu gehen, als ich eine Frau mit kurzen blonden Haaren in ihren Corsa einsteigen sah. Ich stopfte den Snickers und den Raider jeweils in meine linke und rechte Jackentasche und lief winkend auf den Corsa zu, der gerade angefahren war und jetzt abrupt stoppte. Die Frau beugte sich über den Beifahrersitz und nickte ohne zu lächeln. Ich stieg ein, es lief klassische Musik, keine Ahnung, was, ich kenne mich damit nicht aus.

»Wohin willst du eigentlich?« Sie richtete erst nach fünf Minuten zum ersten Mal das Wort an mich – ich sagte »Nach Paris«, und sie schnaubte kurz und fein durch die Nase, als hätte ich einen mittelmäßigen Witz gemacht.

»Ich war ein einziges Mal in Paris«, sagte sie. Und dann schwieg sie wieder quälend lange, wahrscheinlich weil sie erwartete, dass ich die Frage stellte, was sie anlässlich ihres einzigen Besuches in Paris gemacht habe. Aber ich fragte nichts.

»Ich bin Kuratorin«, sagte sie. »Ich mache Ausstellungen, weißt du.«

Ich nickte und sah auf die Strecke vor uns, die Brücke, die gleich kommen würde.

»Ich habe damals in Paris eine Gerhard-Richter-Ausstellung organisiert.« Jetzt hätte ich wahrscheinlich ausflippen müssen vor Begeisterung. Aber ich hatte nur eine ungefähre Ahnung, wer Gerhard Richter ist.

»Das ist ja irre«, sagte ich und sah kurz zu ihr rüber. Sie hatte ein hübsches Gesicht, das war mir anfangs gar nicht aufgefallen, weil sie diesen kühlen Annie-Lennox-Style hatte. Sie war vermutlich nur drei oder vier Jahre älter als ich und hatte schon Ausstellungen mit weltberühmten Künstlern organisiert. Und ich war noch ganz am Anfang; alles, was ich bisher geschrieben hatte, war vorläufig, ungereift – Schreibereien, die in Serie gingen, weil ich mich auf nichts festlegen konnte.

»Was machst du eigentlich?«, fragte sie. Ehe ich antworten konnte, passierte es: die Vollbremsung. Sie trat ins Eisen, ich rutschte bis knapp an die Windschutzscheibe, wäre ich nicht angeschnallt gewesen, hätte es mich raketenartig durch das Glas geschleudert. Was war passiert? Das war passiert: Vor uns spazierte eine Entenfamilie über die Autobahn, hätte die Frau nicht gebremst, wären die Enten alle tot gewesen. Hinter uns Hupen, ein Auto geriet ins Schleudern. Die Frau schaute nicht in den Rückspiegel und konnte daher nicht sehen, was ich im Seitenspiegel beobachtete. Ein Mercedes hielt am Standstreifen, ein Volvo war mit einem waghalsigen Manöver knapp an dem Mercedes vorbeigeschrammt; der Fahrer machte Lichthupe wie irre. Beinahe wäre es zu einer Massenkarambolage gekommen.

»Das ist schrecklich«, sagte sie. »Die wissen nicht, wo sie hinsollen, weil wir ihnen den Lebensraum kaputt machen.« Ich sah betreten auf den Fahrstreifen und wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Es klang nach Zivilisationskritik, irgendetwas, an dem wir alle schuld waren, weil wir unsere Welt nur von irgendwem geliehen hatten, keine Ahnung, von wem genau. Man hörte das ja oft – wir Menschen beuten die Natur aus, die Wälder krachen unter dem sauren Regen zusammen wie Kartenhäuser und in der Dritten Welt starren uns die Kinder mit den Hungerbäuchen an. Aber warum diese Entenfamilie ausgerechnet über die A 61 bei Mönchengladbach latschen musste, wollte mir trotzdem nicht einleuchten. Wir fuhren am nächsten Rastplatz raus und setzten uns in die Cafeteria. »Willst du ’n Kaffee?«, fragte sie, ich nickte und wollte gerade aufstehen und Kaffee holen, aber sie machte eine Geste mit der Hand, dass ich sitzen bleiben soll. Sie ging an die Theke, holte zwei Tassen Kaffee und ich glaubte schon nicht mehr daran, dass ich heute noch nach Paris kommen würde. Sie hatte Milch in beide Tassen gegeben, ich mag keine Milch, aber das war jetzt auch egal.

»Ich heiße Elke«, sagte sie und ich sagte, dass ich Volker heiße, sie nickte.

»Was willst du eigentlich in Paris?«, fragte sie kurz bevor sie die Tasse an den Lippen hatte und einen Schluck nahm.

»Ich will noch ein bisschen was von der Welt sehen, bevor ich in der Altenpflege eingehe.« Ich erklärte Elke, dass ich demnächst meinen Zivildienst anfangen würde, von meinen Gedichten erzählte ich ihr nichts.

»Wie es aussieht, werde ich von morgens bis abends alte Leute in Windeln einwickeln, ihnen etwas zu essen geben und am Abend tot ins Bett fallen wie der letzte Spießer. Und bevor es so weit ist, möchte ich einmal nach Saint-Germain-des-Prés, wo Sartre mit Boris Vian im Café gesessen hat. Die hatten irre Ideen damals, weißt du? Und vor allem hatten sie sehr viel Spaß dabei, aus ihren Ideen Musik und Bücher zu machen.«

Elke sah mich amüsiert lächelnd an, dann sagte sie: »Vielleicht komme ich auch bald in dein Pflegeheim.« An den Lippenstiftspuren an der Tasse sah ich, dass sie geschminkte Lippen hatte – seltsam, dass mir an ihr nichts Besonderes auffiel, sie sah unscheinbar aus, trotz ihres Annie-Lennox-Styles.

»Wieso willst du in mein Altenheim kommen? Soweit ich weiß, müssen Frauen in diesem unserem Lande keinen Zivildienst machen.« Ich sprach das »In diesem unserem Lande« mit Helmut Kohls Pfälzer Akzent, es war eine berühmte Wendung des Bundeskanzlers, die damals jeder kannte, der im Fernsehen die Kabarettsendungen mit Thomas Freitag anschaute.

»Nicht als Zivi«, sagte Elke. Jetzt friemelte sie eine Packung Marlboro aus der Tasche ihrer Jeans, das gelbe Plastikfeuerzeug steckte drin. Sie hielt mir die Packung hin, ich lehnte ab, mir kratzt das Zeug zu sehr im Hals, obwohl ich eigentlich sehr gerne rauche.

»Sondern als was?«, fragte ich und sah ihr zu, wie sie sich ihre Kippe ansteckte und rasch und mit zusammengekniffenen Augen die erste Rauchwolke ausstieß, als sei die besonders schädlich.

»Als Pflegefall.«

»Du?« Ich lachte und gab mir Mühe, das Lachen so lange zu halten, bis auch ich die Kaffeetasse am Mund hatte.

»Ja, ich«, sagte sie, und dann fing sie an, ihre Bluse aufzuknöpfen, einen Knopf nach dem anderen mit der brennenden Zigarette zwischen den Fingern.

»Was gibt das, wenn es fertig ist?« fragte ich.

Elke antwortete nicht, knöpfte weiter und irgendwann sah ich ihre nackte rechte Brust und dann die Stelle, wo die linke Brust hätte sein müssen, aber da war nur nekrotisches Gewebe, wie weggebrannt sah es aus. Ich sah Elke an, weil sich jede Frage erübrigte. Sie war dran, sie war einfach dran, mir eine Erklärung zu geben.

»Ich hatte zuerst einen Knoten, kaum fühlbar«, sagte sie. Aber ich bin nicht zum Arzt gegangen, weil ich ….«

»Weil du was?«

»Keine Ahnung, ich bin jedenfalls nicht zum Arzt gegangen«, sagte sie und rauchte.

»Dann fing es an wehzutun und dann habe ich es untersuchen lassen; der Tumor war ziemlich groß und hatte schon gestreut«, sagte sie und knöpfte die Bluse wieder zu, weil jetzt schon die ersten Leute glotzten.

»Und die andere Brust?«, fragte ich.

»Ist auch befallen«, sagte Elke.

Ich nahm mir jetzt auch eine von ihren Marlboros, damit sie nicht so alleine dasaß mit ihrer Zigarette und ihrem Krebs.

»Wo willst du jetzt eigentlich hin?«

Sie erzählte, dass sie in eine Spezialklinik nach Eindhoven fahren würde. Bis dahin könnte sie mich mitnehmen. Eindhoven lag nicht gerade auf dem Weg nach Paris, und ich hatte auch keine große Lust, übermäßig Zeit mit Elke zu verbringen.

»Komm, lass uns weiterfahren«, sagte sie jetzt. Wahrscheinlich hatte sie gemerkt, dass mich ihre Geschichte überforderte. Ich konnte ihr nicht helfen, ich konnte sie nicht einmal trösten, weil man eine Frau, die nur noch eine Brust hat, nicht trösten kann; vor allem, wenn diese eine Brust auch noch krank ist.

»Meinst du, sie haben es geschafft?«, fragte sie, als wir kurz vor der holländischen Grenze waren.

»Was meinst du?«

»Die Enten«, sagte sie. »Meinst du, die Enten haben alle überlebt?«

Sie hielt an einem Rastplatz bei Roermond. Als ich ihr die Hand gab, hielt sie sie für eine Weile fest – so wie ganz alte Frauen die Hände von Kindern festhalten, weil sie hoffen, dass sie dadurch ein bisschen von deren Jungsein in sich aufnehmen können.

»Viel Glück in Paris«, sagte Elke, ich nickte und stieg aus.

Jetzt stand ich wieder auf einem verregneten Rastplatz, es war schon nach fünf und in zwei Stunden würde es dunkel werden. Ich aß den Raider und kramte in meiner kleinen Reisetasche nach meinem Notizbuch, in das ich manchmal Gedichte schrieb. Aber was sollte ich da jetzt reinschreiben, was für ein Gedicht ließ sich auf einem beschissenen Rastplatz bei Roermond schreiben? Ein Gedicht über die Begegnung mit einer Frau, die eine Brust an den Krebs verloren hat und gute Chancen hat, auch noch ihre zweite Brust zu verlieren und am Ende vielleicht sogar ihr Leben? Ich hatte einen Knoten im Magen, und eigentlich hatte ich auch keine Lust mehr, nach Paris zu fahren. Ich fühlte mich einsam und ich wusste, dass ich mich immer einsamer fühlen würde, je weiter ich von zu Hause wegfuhr, ganz alleine, nur mit meinem Notizblock und meiner Vorstellung vom alleinreisenden Dichter, der die Fremde sucht und aus der Fremde großartige Texte destilliert.

Nach einer halben Stunde nahm mich ein schweigsamer, etwas unheimlicher älterer Belgier mit. Er hörte die ganze Zeit volkstümliche Schlagermusik und sagte, dass er mich kurz vor Maastricht rausschmeißen würde. Bei dem Wort rausschmeißen bekam seine Stimme einen leicht metallenen Klang. Dann saß ich auf diesem riesigen Lkw-Rastplatz fest und sah zu, wie das Licht langsam aus der Welt ging. Nur der Regen blieb, der nasse schwarze Asphalt blieb und die Autos, die auf den Rastplatz fuhren und ihn bald wieder verließen. Je länger ich zusah, wie andere einfach weiterfuhren, desto schneller sank meine Hoffnung, ich könnte irgendwann zu ihnen gehören. Ich fragte mehrere Lkw-Fahrer, ob sie mich mitnehmen würden, aber alle winkten ab. Dürften sie nicht wegen der Versicherung. Als es dunkel war, ging ich in das Trucker-Restaurant und bestellte Kaffee und ein Sandwich, das mit Ei und Gurke belegt war. Ich saß an einem der Resopaltische und sah mein Gesicht in der dunklen Fensterscheibe gespiegelt. Das war ich also, der Lyriker Volker Winterberg, auf seiner Reise nach Paris. Später würden die Literaturwissenschaftler von der Pariser Phase in meinem Frühwerk sprechen; es seien schon erstaunlich reife Texte darunter, allerdings spüre man noch stark den Einfluss Rimbauds und der Symbolisten.

Im Augenblick spürte ich allerdings eher den Einfluss von Kälte und Müdigkeit. Was hatte ich mir da eigentlich vorgenommen? Auf Teufel komm raus die Illusion von Freiheit und Abenteuer aufrechterhalten, dabei war ich ein Gefangener des bundesdeutschen Systems, ein Gefreiter auf Abruf, ein Befehlsempfänger, nur dass ich für den Empfang der Befehle keine Uniform tragen müsste, sondern einen mit Kacke-Spritzern gemusterten weißen Anzug. Bald würde ich vermutlich nicht einmal mehr Zeit für meine Gedichte haben, weil ich von morgens bis abends damit beschäftigt sein werde, alten Leuten den Rest ihres Lebens so erträglich wie möglich zu machen. Im Fenster sah ich Lkw ankommen und Lkw abfahren. Scheinwerfer blendeten auf und drehten dann ab, Reifen rauschten durch die Nässe, ganz weit hinten baumelten die trockenen Äste irgendeines hässlichen Mörderwaldes hin und her. Was für eine trostlose Stunde das hier war; was für eine erbärmliche Parodie auf die Freiheit, die ich mir ersehnt hatte. Ich nahm meine Tasche und ging wieder nach draußen; der Regen war nicht sehr stark, eher wie nassgemachte Luft; ich sah, wie ein Trucker dabei war, in seinen Lkw zu steigen, und hatte wenig Hoffnung, dass es was werden könnte, aber ich sprach ihn trotzdem an.

»Nach Paris fahr ich nicht direkt«, sagte er, »aber ich komme an der Peripherie vorbei, kannst einsteigen, ich bin der Gerd«, sagte der Gerd und ich konnte es gar nicht fassen, dass es plötzlich ganz einfach war. Im Handumdrehen saß ich neben Gerd im Auto, der Sitz federte nach unten, und alles war sehr geräumig. Am unteren Rand der Windschutzscheibe war das Foto einer jungen Frau mit brünetter Denver-Clan-Frisur in die Gummilitze geschoben. Ich wollte Gerd gar nicht darauf ansprechen, aber wir hatten kaum den Rastplatz verlassen, da erzählte er mir, dass sie Sandra heiße und in dieser Nacht entbinden würde.

»Und du fährst in deinem Lkw nach Paris, statt bei ihr zu sein?«

»Ging nicht anders«, sagte Gerd. Er ließ seine Augenbrauen zusammenrücken, als koste ihn die Antwort viel Anstrengung. »Aber es macht nichts, wir haben gerade noch telefoniert, und bisher ist noch alles ruhig.«

»Ruhig?« Ich hatte ja keine Ahnung.

»Die Wehen haben noch nicht eingesetzt.«

Dann erzählte er eine halbe Stunde lang, wie er und Sandra sich kennengelernt hatten, nämlich in einer Disco in Michelbach bei Marburg. Sie war die beste Tänzerin im Dorf und alle sind hinter ihr her gewesen; aber zwischen ihr und Gerd war es sofort was ganz Ernstes. Und ein halbes Jahr später war sie auch zum ersten Mal schwanger, ein Mädchen, Kirsten, und jetzt kommt das zweite Kind. Er sah mich beim Erzählen immer an, aber ich versuchte, seinen Blick wieder zurück auf die Fahrbahn zu lenken. Auch aus Angst, dass wieder eine Entenfamilie unterwegs sein könnte.

»Sag mal, Gerd. Wollt ihr nicht mal eine normale Familie sein, wo der Vater nicht tagelang auf der Straße ist?«

Gerd lachte; der Mann zeigte keine Spur von Melancholie. Das würde nicht gehen, sagte er, weil das nun mal sein Job sei und Sandra eben auf die Kinder aufpassen musste. Irgendwann, kurz vor der französischen Grenze, fuhr Gerd noch einmal auf einen Rastplatz und wir tranken eine Cola.

»Und du«, fragte er. »Schon Pläne?«

»Ja, sagte ich, »ich will Gedichte schreiben und davon leben.«

Gerd überlegte kurz, justierte den Strohhalm in der Cola-Flasche mit dem Mund und sagte, bevor er daran zog: »Klingt ganz vernünftig.«

Dann redete er wieder von Sandra und dem Kind, das, wenn es ein Junge wird, Kevin heißen würde, und für ein eventuelles Mädchen hätten sie sich Melanie ausgesucht. Später bot Gerd mir an, mich hinten im Truck auf seine Liege zu hauen; sie roch nach sehr altem Schweiß, aber ich schlief sofort ein und träumte davon, wie ich zur Sitzung der Gruppe 47 nach Inzigkofen fahre und alle sich fragten, wer wohl der ärmste aller Teilnehmer sein würde, Volker Winterberg oder Wolfdietrich Schnurre. Ich komme auf einem leeren Heuwagen in das kleine Dorf gefahren, ein Bauer hat mich aufgegabelt – lustiges Wort in dem Zusammenhang! – und als ich in den Saal des alten Schlosses eintrete, sehe ich Walter Jens an einem kleinen Holztisch stehen und Papiere ordnen. Ich sage Grüß Gott, aber Walter Jens blickt nicht einmal auf. Erst als ich mich neben ihn stelle und räuspere, dreht er sein Professorengesicht zu mir und sieht mich fragend an. Ich sage, dass ich Volker Winterberg sei, der Lyriker aus dem Ruhrgebiet, das immer noch ziemlich in Trümmern liegt, und dass mich Hans Werner Richter wegen meiner Gedichte eingeladen hätte.

»Und Sie vermeinen, junger Mann, Sie seien eine lyrische Begabung?«, fragt Jens im affigen Thomas-Mann-Ton.

»Hätte mich andernfalls Herr Richter gebeten?«, frage ich ähnlich gestelzt zurück, und Jens widmet sich wieder seinen Papieren, ohne mich weiter zu beachten. Ich bestelle bei der Wirtin einen Kaffee und bekomme eine Art gefärbtes Wasser, es gibt ja nichts Richtiges in diesen kargen Zeiten.

»Wann kommt denn Herr Richter?«, frage ich noch einmal Herrn Jens. Aber Walter Jens antwortet nicht mehr, ich gefalle ihm irgendwie nicht, und ich muss ehrlich sagen: Er gefällt mir auch nicht besonders. Überhaupt finde ich die ganze Sache hier ziemlich unsympathisch, alle halbe Stunde geht die Tür auf und eine abgerissene Gestalt kommt herein. Wolfdietrich Schnurre wird von Walter Jens stürmisch begrüßt: »Jupiter!«, schreit Jens, »der große Wolfdietrich, herein zur großen Metaphernschlacht!« Schnurre lacht verlegen, ihm ist dieser Landsherren-Ton offenbar auch ein bisschen unangenehm. Er trägt einen dunkelgrauen Anzug, der an den Ärmeln sehr abgenutzt ist, und seine Schuhe scheinen notdürftig geflickt.

»Guten Tag, Walter«, sagt Schnurre sehr schüchtern. Ich kenne ein paar seiner Kurzgeschichten, die alle von kleinen Jungen handeln, die nur einen Vater, aber keine Mutter haben. Sie gefallen mir, und als ich Schnurre die Hand geben will, stellt sich Walter Jens zwischen uns, legt seine Arme um Schnurres schmale Schultern und führt ihn zu dem Tisch mit den Papieren. Ich habe genug und mache, dass ich hier wegkomme; ich laufe den Weg zum Bahnhof, der durch Ackerfurchen und über abschüssige Wiesenhänge führt, fluche vor mich hin und suche die erlesensten Schimpfwörter für Walter Jens aus.

»Warum so wütend, Kollege?« Das ist jetzt aber eine eher leise Stimme; sie gehört einem Studienrat oder einem Schalterbeamten, jedenfalls sieht der Mann, der auf dem Bahnsteig neben mir steht, so aus.

»Ich war bei der Gruppe 47 eingeladen«, sage ich. »Aber die mögen mich da nicht, jedenfalls mag mich Walter Jens nicht.«