Oberösterreich für Entdecker - Michael Schottenberg - E-Book

Oberösterreich für Entdecker E-Book

Michael Schottenberg

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Beschreibung

Abenteuerlich, skurril, einzigartig »Ich wollte ein Buch über ein Land schreiben, es wurde eines über Menschen.« Für Reisephilosoph Michael Schottenberg heißt es einmal mehr, Unbekanntes zu »erfahren«. Vom Inn bis zum Böhmerwald, vom Sengsengebirge bis ins Salzkammergut braust er auf seiner roten Vespa durch Oberösterreich und staunt über dessen Vielseitigkeit. Menschen vertrauen ihm ihre Lebensgeschichten an, die zur Biografie eines Landes werden: vom Pinsdorfer Tierpräparator Höller, in dessen Dachboden Thomas Bernhard einen Roman schrieb, über die Holzkünstlerin Annerose R., die mit ihrer Kettensäge Frauenfiguren schnitzt, oder die Titanic-Beauftragte Lisa Maria, die in ihrer Toilette ein Privatmuseum betreibt, bis hin zum Linzer Domeremiten, der sich als der Autor selbst entpuppt. Ein Buch voller Reiselust und Lebensweisheit: In »Schottis« Wunderwelt zu blicken, heißt ein Land, seine Bewohnerinnen und Bewohner verstehen und lieben zu lernen. Mit zahlreichen Extra-Tipps und Reisefotos in Farbe

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SCHOTTI TO GO

Michael Schottenberg

OberösterreichfürEntdecker

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Redaktioneller Hinweis:

In Fällen, in denen aus Gründen der Stilistik das generische Maskulinum verwendet wird, sind grundsätzlich immer alle Geschlechter gemeint.

© 2024 by Amalthea Signum Verlag GmbH, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung und Satz: Johanna Uhrmann nach einem Design von Valence/valencestudio.com

Umschlagfoto: © Ulrik Hölzel

Lektorat: Madeleine Pichler

Herstellung: VerlagsService Dietmar Schmitz, Erding

Gesetzt aus der Collier und der Ramona

Designed in Austria, printed in the EU

ISBN 978-3-99050-265-5

eISBN 978-3-903441-27-9

Für Claire

Inhalt

Die Entdeckung des Kontinents

Unterwegs durch das Land oberhalb und unterhalb der Enns

1 Eine kleine Geschichte über die Freiheit

Mariendom Linz, Domplatz 1, 4020 Linz

2 Die Neue Sachlichkeit

Tabakfabrik Linz, Peter-Behrens-Platz 7–8, 4020 Linz

3 Schule der Sinne

Wenschitz Pralinenwelt, Allhaming 47, 4511 Allhaming

4 Am stillen Ort

Titanic Museum, 4490 St. Florian titanicmuseum.at

5 Brot und Kunst

Paneum – Wunderkammer des Brotes, Kornspitzstraße 1, 4481 Asten

6 Ratgöbluckn oder die Angst vor kleinen Räumen

Erdstall Ratgöbluckn, Stephaniehain, 4320 Perg im Mühlviertel

7 Ein Haus für Dilettanten

Stadttheater Grein, Stadtplatz 7, 4360 Grein

8 In aller Munde

Knödelwerkstatt Dilly, Hauptstraße 12, 4581 Rosenau am Hengstpass

9 Ein schöner Laich

Alpenkaviar, Kniewas 26, 4571 Steyrling

10 Der Schwarze Graf

Oberösterreichisches Sensenschmiedemuseum, Gradenweg 9, 4563 Micheldorf

11 Vom Bestimmen der Welt

Sternwarte des Stifts Kremsmünster, 4550 Kremsmünster

12 Unter der Haube

Bezirksgoldhauben Vöcklabruck, 4690 Rüstorf

goldhauben-bezirk-voecklabruck.at

13 In der Pilzkist’n

Pilzothek Klaus Schnötzinger-Vorwahlner, Gerichtsbergstraße 20, 4840 Vöcklabruck

14 Beim Tierpräparator

Salzkammergut Tierweltmuseum Höller, Aurachtalstraße 61, 4812 Pinsdorf

15 Regeln, Riten, raue Nächte

Museum Ebensee, Kirchengasse 6, 4802 Ebensee

16 Das weiße Pferd

Romantikhotel Im Weissen Rössl, Markt 74, 5360 St. Wolfgang im Salzkammergut

17 Das Dirndlparadies

Gasthof zum Seewirt, Zellhofweg 1, 4893 Zell am Moos

18 Winkelmeier Franz, Riese

Riesenmuseum Lengau, Lengauer Hauptstraße 22, 5211 Lengau

19 Über die Muße

Ibmer Moor, Schutzgebiet Pfeiferanger, 5142 Eggelsberg

20 Mein Mostschädl

Mostobstbaumallee, Anton-Bruckner-Straße, 4710 Grieskirchen

21 Es mueß seyn

Stefan-Fadinger-Museum, Kirchenplatz 1, 4084 St. Agatha

22 Fährmann Witti

Boots- und Zillenbau Ing. Gerald Witti, Freizell 4, 4085 Wesenufer

23 Die vielen Welten der Annerose R.

Atelier Annerose Riedl, Dorfplatz 4, 4786 Brunnenthal

24 Traumland

Kubin-Haus, Zwickledt 7, 4783 Wernstein am Inn

25 Mit der Pferdebahn

Pferdeeisenbahn-Museum, Kerschbaum 61, 4261 Rainbach im Mühlkreis

26 Denken für die Zukunft

Green Belt Center, Markt 11, 4263 Windhaag bei Freistadt

27 Stifterwald

Pfarrkirche Kefermarkt, 4292 Kefermarkt – Ferienregion Böhmerwald – Oberplan

28 Der schnaderhüpfelnde Schulfuchs

Stowasser-Bankerl, Lest 23, 4212 Neumarkt im Mühlkreis

29 In Linz müsste man sein!

Die Linzer Museen: Nordico Stadtmuseum – Schlossmuseum – Ars Electronica Center – Lentos Kunstmuseum

30 Der Moloch

voestalpine AG, Voestalpine-Straße 1, 4020 Linz

Bildnachweis

Der Autor

Die Entdeckung des Kontinents

Unterwegs durch das Land oberhalb und unterhalb der Enns

Die Fragen, die ich Land und Leuten stelle, könnten nicht vielschichtiger sein. Liegt es an meiner unstillbaren Neugier, alles gleichzeitig „erfahren“ zu wollen? Marco Polo ließ sich ein halbes Leben lang Zeit. Vierundzwanzig beschwerliche Jahre lang dauerte es, als er von Venedig aus über die Seidenstraße bis ins Reich der Mitte reiste – und wieder retour. Ich bin meist nur ein paar Wochen unterwegs. Und doch kommt mir jeder Tag wie eine kleine Ewigkeit vor. Waren die Karawanen der ersten Orientfahrer bepackt mit Tausch- und Handelswaren, trage ich nicht mehr als einen Rucksack mit mir herum, eine Kamera in der Hand und eine große Portion Courage im Herzen. Das Abenteuer der Beschränkung kann beginnen – nur mit dem Nötigsten unterwegs zu sein, ist befreiend. Meine wichtigsten Requisiten sind Block und Bleistift. Mit ihnen halte ich meine Beutezüge fest: die Begegnungen mit Menschen und Kulturen.

Nicht nur in der Fremde lasse ich mich gerne überraschen. Auch in der Heimat. Besonders von einem Land, das ich zu kennen glaube, in dem ich aber auf Schritt und Tritt mit mir unbekannten, fantastischen Geschichten konfrontiert werde. Was gilt es da nicht alles zu entdecken! Welche Ereignisse prägten die Politik eines Landes, wo verbergen sich Tradition und vergessenes Handwerk, wo Innovation und Kreativität, welche kulinarischen Genüsse kommen auf den Tisch? Über die Antworten bin ich zumeist erstaunt. Aber: Wer gibt sie mir? Die Auswahl meiner Gesprächspartner ist mindestens so entscheidend wie meine Neugier.

Also durchstreife ich das Land oberhalb und unterhalb der Enns, aufmerksam und gründlich, nehme mir eine Region nach der anderen vor, fahre kreuz und quer, hügelauf, hügelab, mache halt, wenn mir danach ist, entdecke, staune und mache vor allem eines nicht: einen Plan. Neuland lässt sich am besten unvorbereitet erfahren.

Oberösterreich kombiniert Natur, Wirtschaft, Kultur und Lebensart auf eine einzigartige Weise – das ist es, was das Land für Bewohner und Besucher gleichermaßen attraktiv macht. Die Hauptstadt Linz ist ein Zentrum zeitgenössischer Kunst, eine einzigartige Kombination aus Anspruch und Improvisation, Industrie, Lebensfreude und jeder Menge Überraschungen. Kulturelle Vielfalt wird in den Gassen rund um den Mariendom großgeschrieben, die Musik-, Theater- und Museumsszene besticht durch ein überreiches Angebot, die Subkultur boomt. Nicht umsonst gilt der ewige Spruch: „In Linz beginnt’s.“ Er funktioniert auch als Imperativ: „In Linz beginnt’s!“ Das muss man den Hauptstädtern nicht zweimal sagen. Kreativität und Fortschritt sind im Übermaß vorhanden, dafür sorgen schon die fünf Universitäten: die Johannes Kepler Universität, Kunstuniversität, Anton Bruckner Privatuniversität, Katholische Privatuniversität und Sigmund Freud Privat-Universität, dazu kommen noch zwei Fachhochschulen und zwei Pädagogische Hochschulen sowie die neue Technische Universität. Bei einem Bevölkerungsanteil von knapp über dreißigtausend Einwohnern der Gruppe der Zwanzigbis Neunundzwanzigjährigen ist dies beachtlich.

Die vier Vierteln des Landes, Hausruck-, Inn-, Traun- und Mühlviertel, gleichen in ihrer Vielfalt einem Kaleidoskop, das sein Funkeln für denjenigen bereithält, der gewohnt ist zu sehen. Vom Ufer des mächtigen Inn bis zum märchenhaften Böhmerwald, vom Sengsengebirge bis ins Salzkammergut, von den Gestaden des Traunsees bis zur Schlögener Schlinge – auf meiner roten Vespa brauste ich durch alle Regionen Oberösterreichs – und kam aus dem Staunen nicht heraus. Die Schönheit der Landschaft ergibt sich aus der harmonischen Verbindung von majestätischen Berggipfeln und sanften Hügeln, von endlosen Ebenen bis hin zu ruhigen Gewässern – die Vielfalt der Natur und die Einzigartigkeit der Landschaft formten eine Kulisse, die staunen macht. Die Menschen, die ich unterwegs traf, vertrauten sich mir an. Aus den Geschichten setzt sich die Geschichte ihres Landes zusammen: Da ist der Tierpräparator, in dessen Dachboden Thomas Bernhard einen Roman schrieb, die kapriziöse Holzkünstlerin, die mit ihrer Kettensäge Puppen schnitzt, der Bäckermeister, dessen Unternehmen längst ein Global Player ist und der ein Museum voll mit Brotkunstwerken besitzt, der Riese, der so groß war, dass er die Welt zu seinen Füßen nicht mehr sah, und der Linzer Domeremit, der sich zu meiner großen Verwunderung als der Autor selbst entpuppte …

Oberösterreich hält vieles bereit: Handwerke wie das der „Schwarzen Grafen“ zu Füßen des Naturparks Kalkalpen, des Knödeldrehers, des Fischrogenabschöpfers, des Pilzologen oder des Zillenbauers. Landschaften wie das Seeparadies in Zell am Moos, der vergessene „Green Belt“ an der tschechischen Grenze, der „Stifterwald“ oder die furchteinflößende Kalksteinwelt der Ratgöbluckn in Perg. Das Land ist bis oben hin voll von Kultur – sei es die Kubin’sche Traumlandschaft, das liebliche Mühlviertel, in dem der „schnaderhüpfelnde“ Lateinprofessor arbeitete, das bemerkenswerte Wissensmuseum der Sternwarte Kremsmünster oder das von Dilettanten gegründete Stadttheater Grein bis hin zur grandiosen Kulturhauptstadt Linz.

Durch Oberösterreich zu reisen heißt auch, seine Bewohner verstehen und lieben zu lernen. Diesmal dauerte meine Reise ein ganzes Jahr lang: von den ersten wärmenden Strahlen der Frühlingssonne an bis tief in den Winter hinein. Marco Polos Reiselust werde ich in diesem Leben nicht mehr erreichen, aber ich nähere mich ihm an. Ich wollte ein Buch über ein Land schreiben. Es wurde eines über Menschen.

Eine kleine Geschichte über die Freiheit

Mariendom Linz, Domplatz 1, 4020 Linz

Der Weg beginnt hinter einer schmalen, unauffälligen Holztür am Beginn des Kirchenschiffes. Stufe um Stufe arbeite ich mich hoch, den Windungen der Treppe folgend, die kein Ende nehmen will. Als ob sich hier alles um sich selbst dreht. Es ist beschwerlich, in den Himmel hinaufzusteigen. Ich klettere durch eine senkrechte Röhre, von deren Ende schwacher Lichtschein zu mir dringt. Die Wahrheit ist, ich sehe gar kein Licht. Um mich abzulenken, denke ich mir das einfach so. Höhenangst und Klaustrophobie sind lange schon mein Thema. Der Turm des Linzer Mariendoms ist hoch, vor allem aber eng. Zumindest das Stiegenhaus. Es ist nicht die Anstrengung, die mir den Atem raubt, es ist meine innere Unruhe. Das Gefühl, festzustecken, macht mir Angst. Mein Rucksack füllt die komplette Breite der Steigleiter aus, sodass es schon rein physikalisch kein Zurück mehr gibt. Ich schließe die Augen. Wie oft habe ich diesen Traum schon geträumt. Düstere Geister, Schwarzalben, umgeben mich, eklige, kleine Biester, die den Menschen nichts Gutes wollen.

„Kommen Sie!“, sagt eine Stimme.

„Ich komme.“ Ich öffne die Augen und steige weiter. Stufe um Stufe.

„Ich möchte eine Geschichte über Eremiten schreiben“, sagte ich einer freundlichen Dame am Telefon.

„Wie schön!“

„Haben Sie einen Platz frei?“

„Sie wollen tatsächlich zu uns kommen?“

„Ja“, sagte ich, „tatsächlich.“

Ein paar Tage später bin ich da. Die Turmwächterin stapft unmittelbar vor mir. Auch sie kämpft mit ihrer Kondition, kein Wunder, sie trägt einen unförmigen Rucksack, in dem sich die Mahlzeiten befinden, die mich in den nächsten vierundzwanzig Stunden versorgen werden. Ich schleppe Leichteres: Bettzeug, Handtuch und ein paar persönliche Dinge, die mir das Überleben in achtundsechzig Metern Höhe erträglich machen. Für die nächsten Tage bin ich als Turmeremit in der Himmelsklause des zehnthöchsten Sakralbauwerkes der Welt engagiert. Die Rolle habe ich mir selbst ausgesucht, also kann ich sie auch nicht zurücklegen – obwohl ich kurz davor bin.

Die Idee des Turmeremiten, an der der Kunstkurator Hubert Nitsch federführend beteiligt war, wurde im Rahmen der Kulturhauptstadt Linz09 geboren – und sie war in jeder Beziehung atemberaubend. Nirgendwo gab es Vergleichbares. In der Türmerstube des Mariendomes wurde eine Eremitage eingerichtet, um sie Menschen zur Verfügung zu stellen, die die Einsamkeit suchen. Der „Raum der Stille“ liegt weit oberhalb der quirligen Altstadt und versteht sich als ein Ort, der unserer Beschleunigungsgesellschaft einen notwendigen Gegenentwurf anbietet. Mit dem Kopf oberhalb der Wolken hat man die Möglichkeit, in größtmöglicher Abgeschiedenheit über sich und sein Leben nachzudenken, über Sinn und Unsinn, Rückzug und Achtsamkeit, Bedürfnis und Orientierung. Jeder, der den Fluchtweg aus dem Schwungrad seiner Karriere sucht, findet hier das vielleicht Wichtigste vor – sich selbst. Das Bestechende an dem Gedanken ist: Man verbleibt inmitten des Alltags und könnte ihm doch ferner nicht sein. Die Oase der Ruhe liegt erhaben über allen Dächern, weit oberhalb des Kirchenschiffes, fern der Erde, nahe der Unendlichkeit. Die Idee sprach sich wie ein Lauffeuer herum. Entsprechend begehrt sind die Zeitfenster, die den Ruhesuchenden übers Jahr zur Verfügung stehen.

Die Schönheit des Himmels

Seit ich davon hörte, ließ mich die Idee dieses spirituellen Ortes nicht los. „Du bist verrückt“, sagten meine Freunde. „Bin ich nicht“, antwortete ich, wusste aber, dass sie recht hatten. Natürlich führte mich das Leben als Reiseautor oft schon an die Grenzen meiner Belastbarkeit. Vieles musste ich am eigenen Leib ausprobieren, um darüber zu berichten. Meine diesbezüglichen Abenteuer, Höhlenbegehungen wie Himmelsritte, waren Mutproben der besonderen Art: die Fahrt in einem Fesselballon über die Ebene von Bagan in Zentralburma, die Seilrutsche über das Dschungeldach bei Chiang Mai oder über die „Blaue Stadt“ Jodhpur in Rajasthan, die tief unter der Erde liegende Hang-Sung-Sot-Höhle am Chinesischen Meer. Nie aber hätte ich gedacht, dass ich mich freiwillig und im Vollbesitz meines Verstandes tagelang in eine neun Quadratmeter kleine Zelle knapp unterhalb des Himmels sperren lassen würde. Diese Entscheidung überfordert mich turmhoch.

Die Klause

„Geht’s?“, fragt mich die nette Dame.

„Klar“, röchle ich. Halbzeit. Die Lungenflügel brennen. Zu meiner Beruhigung rasselt auch der gegnerische Atem. Der Zwischenstopp ist mit Bedacht gewählt, denn der Aufstieg ist bei Weitem noch nicht geschafft. Wir stehen im riesigen Dachboden oberhalb des Kirchenschiffes, und ich betrete die Bodenbretter, von denen ich mir einbilde, dass sie etwas instabil sind – Höhenangst. Die nächste Pause legen wir unmittelbar neben der riesigen, acht Tonnen schweren Immaculata-Glocke ein. Im Stock darüber hängen weitere sechs Glocken. Ab jetzt geht es auf offenen Steigleitern weiter. Durch den Rost der Trittstufen habe ich einen prächtigen Ausblick nach unten. Ein letztes Mal schraube ich mich um mich selbst. Wir sind da.

„Die Stube ist für jeden geöffnet“, sagt die Bergführerin und schließt den Adlerhorst auf.

„Jederzeit?“, frage ich.

„Gegen Voranmeldung. Wir sind ja kein Hotel.“

Der Ausblick raubt mir den Atem. Linz von oben. Unmittelbar vor meiner Stube führt ein schmaler Gang um die Kirchturmspitze herum. Oh mein Gott, wie nahe bin ich dir. Die Welt erscheint von hier oben klein, als könnte ich sie mit der Hand umschließen. Ich bekomme den Schlüssel nebst ein paar Bibelsprüchen anvertraut, dann betrete ich die beiden letzten Stufen in Richtung Ewigkeit und lasse mich aufs Bett fallen. Das Einzige, was jetzt noch bleibt: Lachen. Aus vollem Hals. Wir beide sehen uns an und lachen.

Die Turmfrau instruiert mich, wie ich in den nächsten Tagen zu meinen Mahlzeiten komme – indem ich die Himmelstreppe hinunter und mit einem schwer bepackten Rucksack wieder hinaufsteige – und welche Sicherheitsvorschriften während meines Aufenthaltes zu beachten sind, immerhin bin ich nachts, wenn der Dom schließt, das einzig verbleibende Crew-Mitglied an Bord des Kirchenschiffes. Wer kann das schon von sich behaupten? Und ganz Linz weiß davon, verrät doch das beleuchtete Turmfenster meine Anwesenheit: Der Eremit wacht über die Ruhe seiner Schutzbefohlenen.

Dem nicht genug, überreicht mir meine Kommandantin jetzt auch noch das „Rote Telefon“. Mit einem geheimen Codewort lässt sich im Falle der feindlichen Übernahme des Flaggschiffes christlicher Nächstenliebe der heiße Draht zur Zentrale des Österreichischen Wachdienstes aktivieren. Und sollte ich der extremen Abgeschiedenheit wegen selbst Hilfe beanspruchen, darf ich ihn auch für mich in Anspruch nehmen – eine Steigleiter ist schnell ausgefahren, sie steht Tag und Nacht zur Verfügung.

Linz von oben

Augenblicke später fällt die Tür ins Schloss. Draußen verhallen ihre Schritte in dem gewaltigen, nach allen Seiten hin offenen Himmelstreppenhaus. Ich bin alleine. Ich wollte es so. Allerdings, so sicher bin ich mir gerade auch nicht mehr. Viele vor mir wagten das Abenteuer. Viele werden es nach mir wagen. Dennoch, irgendwie bin ich mir gerade selbst der Nächste. Ohrenbetäubender Lärm. Es ist zwölf. Die glorreichen Sieben tun ihr Bestes. In ihrem Klang vermeine ich so etwas wie Zärtlichkeit zu hören, als wollten mich die Glocken willkommen heißen.

In einem kleinen Buch lese ich, dass das Linzer Projekt an eine alte christliche Tradition anknüpft. Aber ist sie „nur“ christlich? In vielen Kulturkreisen und Religionen gab und gibt es Menschen, die eine Zeit lang, manchmal auch lebenslang, in völliger Abgeschiedenheit leben. Man nennt sie Wüstenväter oder Wüstenmütter. Ihre Erfahrung schenkt den Menschen Trost. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich in ein paar Tagen auch nur eine halbwegs intelligente Lebensweisheit parat haben werde.

Schon nach wenigen Stunden spüre ich es: Etwas fällt von mir ab. Hier oben erscheint manches leichter als ein paar Stockwerke darunter. Ich stehe auf dem schmalen Rundgang vor meinem Fenster, und es hat den Anschein, als wäre die Welt unter mir weiter entfernt als das strahlende Sonnendach über mir. Vielleicht muss man ja wirklich nur die Düsternis durchqueren, um die Helle zu finden. Mein Gang durch den engen Treppenschlauch hat mich der Unendlichkeit nähergebracht.

Es dämmert, und die Menschen machen sich bereit für die Nacht. Ein Meer aus tanzenden Sternen liegt unter mir, als sähe ich die Welt aus der Perspektive eines Düsenjets. Kurze Zeit später träume ich, wie sehr meine Seele an der Vergänglichkeit festklebt und wie gerne sie sich vermählen möchte – mit der Ewigkeit. Ich habe Angst und erwache schweißüberströmt. In meiner Kammer ist es kühl, ich habe vergessen, das Fenster zu schließen. Es ist tiefe Nacht. Ich entzünde eine kleine Lampe und schicke den Mitbürgern ein Zeichen des Lebens. All jene, die herübersehen zum Dom, erkennen jetzt mein Licht. Es leuchtet in die Nacht hinaus, vielleicht sogar bis dorthin, wo Hoffnung und Träume sich vereinen und ein Stück weit gemeinsam gehen.

„Wahrscheinlich leiden viele Menschen darunter, dass man ihnen zu wenig zuhört.“ Diesen Satz schenkt mir meine spirituelle Begleiterin am nächsten Tag, eine von fünfzehn Damen, die dem Eremiten auf seinem Weg in die Stille zur Seite stehen.

„Meist müssen wir gar nichts tun, die besondere Situation löst die Zunge. Menschen suchen die Einsamkeit, aber sie ist schwer zu ertragen. Wir hören ihnen zu. Was kann man mehr tun?“

Die Motive sind mannigfaltig: Mal ist es der Wunsch nach einem außergewöhnlichen Erlebnis anlässlich eines runden Geburtstages, mal die Lebensumstellung nach einem Arbeitsleben, oft nur der Wunsch nach Innehalten.

„Uns sind alle willkommen“, sagt die Zuhörerin, „alle, die sich Zeit nehmen, um etwas vielleicht Verlorenes wiederzufinden.“ Was man hier nicht will, ist, dass der außergewöhnliche Ort zum Pauschalpaket einer Touristenattraktion verkommt. Booking.com bleibt außen vor.

Am dritten Tag habe ich mich an den Gesang der Glocken gewöhnt, auch der Blick über die Häuser macht mir keine Angst mehr. Selbst den Abstieg hinunter in den Bauch des Kirchenschiffs begreife ich bald als Selbstverständlichkeit, genau wie den Aufstieg durch den längst schon „befreienden“ Treppentunnel. Die Anstrengung gehört zum Himmelsleben. Meine Seele hat sich der Zukunft versprochen. Kann ein Ort mehr können?

Und irgendwann ist es so weit. Der Abschied fällt mir schwerer, als ich dachte. Ich stehe im Rundgang vor der Türmerstube, begreife mein Dasein als eine befreiende Herausforderung und freue mich auf das Morgen. Ein letzter, furchtloser Blick über die Erdenwelt. Ich wollte eine Geschichte über die Einsamkeit schreiben – es wurde eine über Freiheit.

Die Neue Sachlichkeit

Tabakfabrik Linz, Peter-Behrens-Platz 7–8, 4020 Linz

In den 1920er- und 1930er-Jahren war Prof. Peter Behrens, Rektor der Akademie der bildenden Künste in Wien (als Nachfolger Otto Wagners leitete er die Architekturabteilung), bereits ein internationaler Star. Er galt als Pionier des modernen Industriebaues. In seinem Berliner Büro arbeiteten Kapazunder wie Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe oder Charles-Édouard Jeanneret-Gris, genannt Le Corbusier. Sein Durchbruch als Architekt war längst vollzogen, der eines seiner Studenten (meines Vaters) sollte sich aufgrund des nahenden Krieges nicht erfüllen.

Behrens betritt den gut gefüllten Hörsaal. Das Thema seiner Vorlesung lautet: „Die Neue Sachlichkeit“. Heute will er für seinen jüngsten Auftrag, die Planung und Errichtung eines riesigen Fabriksgebäudes für die Österreichische Tabakregie, einen seiner Studenten rekrutieren. Er beginnt seinen Vortrag mit: „Meine Herren, einer von Ihnen wird mich bei meiner neuen Arbeit in Linz unterstützen. Ich bitte um Handzeichen.“ Er blickt in den Hörsaal. Hände schnellen in die Höhe, ein paar Studenten erheben sich von ihren Plätzen. In diesem Moment öffnet sich die Türe. Behrens blickt auf: „Einen schönen guten Morgen, Herr Kollege“, sagt er süffisant. Unzählige Augenpaare starren den Neuankömmling an. Die letzte Nacht hat doch länger gedauert als gedacht. Manche Kommilitonen lachen. Wortlos nimmt mein zu spät gekommener Herr Vater Platz und verstaut seine Aktentasche im Bankfach. Einige Reihen vor ihm hält der Student Alexander „Sascha“ Popp die Hand in die Höhe. Behrens deutet auf ihn: „Sie, bitte!“ Popp geht nach vorne. „Herzlich willkommen“, sagt der Stararchitekt und reicht dem jungen Kollegen die Hand. Ein Sitznachbar beugt sich zu seinem Kollegen: „Mach dir nix draus, Schotti. Wannst was werden willst, musst halt früher aufstehen.“

Tabakfabrik Linz

Stahl, Glas, Beton. Funktionalität verbunden mit ästhetischem Anspruch galt schon früh in Behrens’ Karriere als herausstechendes Merkmal seiner viel beachteten Arbeiten. Immer häufiger verfolgte er den Anspruch der Monumentalität. Das Vorbild dafür fand er in der Bauweise der Antike. Die Fassaden seiner Gebäude erinnern an den Klassizismus von Karl Friedrich Schinkel: Pfeilerreihen als Säulenwände. Behrens galt als einer der Pioniere der Corporate Identity. Für die AEG Berlin schuf er ein einheitliches Erscheinungsbild: vom Kantinenbesteck bis zur Turbinenhalle, von der Türschnalle bis zur Fassade. Ähnliches tat er in Linz. Die Formschönheit des neuen Werkes sollte Trends und Moden überdauern. Die Tabakfabrik gilt als eines der herausragendsten Beispiele modernen Bauens des frühen 20. Jahrhunderts. Behrens wurde zu einer Ikone der modernen Industriearchitektur.

Bis ins Jahr 2009 wurden am Linzer Peter-Behrens-Platz Glimmstengel produziert. Rauchen war lange Zeit in, so lange, bis sich ein neues Bewusstsein durchsetzte – die Ökobewegung. Die leichte Sucht wurde zur „schweren“ erklärt, und die Zigaretten landeten im Müll. So auch die Tabakregie. Ein zündender Gedanke für eine Nachnutzung des riesigen Gebäudekomplexes fehlte. Der kam schließlich in Person eines Mannes, der in Linz als einer der führenden Köpfe im Planungs- und Bauwesen gilt: Stadtentwickler und Architekt Andreas Kleboth. Gemeinsam mit seinen Partnern richtete er sein Büro in der Fabrik ein und setzte es sich zum Ziel, dem Industriejuwel neues Leben einzuhauchen.