Ohne Lüge leben - Christian J. Th. Koch - E-Book

Ohne Lüge leben E-Book

Christian J. Th. Koch

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Beschreibung

Eisenach, 18. Mai 1976. Aufgewachsen in direkter Nähe zum unüberwindbaren Stacheldraht, bleibt einem jungen Mann mit seiner Erziehung keine andere Wahl, als diesen Zaun zu überwinden, um in Freiheit leben zu können.Bei der Republikflucht wird er gefasst. 18 Monate Zuchthaus. In der Abgeschiedenheit und Einsamkeit der Stasi-Zelle lernt er seine Sinne genauer wahrzunehmen. Das Riechen, Schmecken, Fühlen - das Lesen eines Buches, das Hören der Außengeräusche.Im Nachdenken über sich verliert er die Angst. Die Zeit in der Zelle wird seine Zeit des Erwachens, des Erwachsen Werdens, sein Loslösen von Elternhaus und Staat. Er übernimmt die Verantwortung für sein Leben, das seines größeren Bruders, der ihn einst hat sitzen lassen und das seines kleinen Bruders, den er in diese schreckliche Situation mit hineingezogen hat.Das Buch erzählt in einfachen, klaren Worten den Weg in die Freiheit, an dessen Ende die Ankunft in der äußeren Freiheit steht, mit der Kraft des Wissens um die innere Freiheit. Das Wissens um: Ich bin Ich!Ein Leben, wach und klar.

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© Verlag KOMPLETT-MEDIA GmbH

2014, München/Grünwald

www.komplett-media.de

ISBN 978-3-8312-5739-3

Satz: Tim Schulz, Mainz

Design Cover: Heike Collip, Pfronten

Dieses Werk sowie alle darin enthaltenen einzelnen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung.

eBook-Auslieferung:

HEROLD Auslieferung Service GmbH

www.herold-va.de

Christian J.Th. Koch

Ohne Lüge Leben

Flucht § 213
Erfurt
Mähren
Košice
Verhör Anfang
Armee Erinnerung
Großer Bruder
Zigarettenerpressung
Entschluß
Die Bibel
Laufen
Vor Gericht
Grotewohlexpress
Cottbus
Sprela

Flucht § 213

Eisenach / Thüringen 19. Mai 1977

„Hey Bruder, trink aus, dann gehen wir.“

Gestern Abend schenkte ich mit diesen Worten meinem jüngeren Bruder Maximilian ein 50-Liter Fäßchen Wartburg-Bier zu seinem 18. Geburtstag.

Er wußte sofort, was gemeint war.

Und bis zum Morgen hatten er und seine Kumpels es auf seiner Geburtstagsfete geleert.

Zu zweit fliehen galt bereits als Gruppe, und das bedeutet, eine deutlich höhere Haftstrafe zu bekommen. Da man mindestens zwei Drittel absitzen mußte, bevor man einen der Plätze in den Geisterbussen ins Aufnahmelager Gießen bekam, waren wir besonders darauf bedacht, nicht als Gruppe zu gelten.

Wir vereinbarten: jeder geht für sich allein! und wir wissen nichts (absolut NICHTS!) von der Flucht des anderen. Weiterhin werden wir auf unterschiedlichen Wegen versuchen, zur westdeutschen Botschaft in Belgrad durchzukommen.

Diese Botschaft, als einzige im Ostblock, war berechtigt, ostdeutschen Flüchtlingen einen westdeutschen Paß auszustellen.

Das Gelingen der Flucht, das heißt in Belgrad diese Botschaft zu erreichen und von da an keine Angst mehr vor Verhaftung haben zu müssen. Geschützt durch den neuen Paß, wie ein westdeutscher Reisender einfach über Wien nach München weiterzureisen, wagte ich mir nicht vorzustellen.

Dagegen sperrte sich meine Phantasie.

Ich schätzte, meine Chance es zu schaffen lag bei 5%, dagegen standen 95%, gefaßt zu werden und dann den schweren Weg über Knast und den Häftlingsfreikauf gehen zu müssen, bei dem man obendrein Gefahr lief, aus Stasi-Rache oder sonstigen Gründen, aus dem Knast zurück nach Ostdeutschland entlassen zu werden.

Da uns das klar war, hatten wir während eines unserer deutsch-deutschen Familientreffen in Prag, zu unserer Absicherung und um schon früh auf die Freikaufslisten zu kommen, bereits die Übernahme unserer Verteidigung durch Dr. h.c. Wolfgang Vogel, an dessen Westberliner Büro, in Auftrag gegeben.

Zwei leicht zu überwindende Grenzen: die in die ČSSR und von dort weiter nach Ungarn. Und dann die schwierige Grenze bei Szegedin durch die scharf bewachte und mit Schwermetallen verseuchte Tisa, nach Jugoslawien. Dort zum Schluß noch der Weg durchs Land nach Belgrad, auf dem man auch nicht erwischt werden durfte, da auch die Jugos Ostdeutsche nach Ost-Berlin auslieferten.

Wir hatten keine Ahnung, wo in Belgrad die westdeutsche Botschaft war. Aber so genau hatten wir das auch nicht geplant. Wir versuchten erst einmal, nur bis Budapest zu denken.

Wer bis dorthin durchkommen würde, hinterlegt für den Bruder einen Zettel in der uns sehr gut bekannten Pension in der Lacymanios Utca 18. Und nicht vergessen: Karte schreiben an Friedrich-Ernst nach Westdeutschland, damit es über diesen Umweg eine verschlüsselte Zwischenmeldung an die Eltern gibt.

Dann sehen wir weiter.

Mein Zimmer hatte ich aufgeräumt, meine Schätze (unsere Helden) an Freunde verteilt: George Orwell, Alexander Soltschenizyn, Reiner Kunze, Albert Schweitzer uva.. Denn dort, wo ich hinging, konnte man das im Laden nachkaufen. Ich sagte mir das, konnte es mir aber nicht wirklich vorstellen.

Mein Heiligtum, die Schreibmaschine vom Großvater, auf der nach dem Krieg der gesamte Schriftverkehr zum Neuanfang der Pfarrer Autoversicherung Bruderhilfe geschrieben worden war (nachdem meine Großmutter die Mitgliederkartei in Schuhkartons von Ost- nach Westdeutschland geschmuggelt und dadurch gerettet hatte), übergab ich meinen Eltern mit der Bitte, sie aufzubewahren.

Soweit die Vorbereitungen.

18 Monate Armee – geschafft!

Die Wartezeit auf Maximilians 18. Geburtstag – geschafft!

Das Leben fing jetzt endlich an.

Es war eine lange Quälerei gewesen, bis ich an diesen Punkt kam:

Ursprünglich wollte ich nach meiner Lehrzeit im VEB Automobilwerk Eisenach mit meinem älteren Bruder gehen.

Er nach seinem Abitur, ich nach der Lehrzeit, wurden wir zeitgleich gemustert, und wir erwarteten beide unmittelbar die Einberufung zur Armee.

Wir hatten vereinbart, wir hauen vorher ab, er nimmt mich mit – er ruft mich an, wir gehen zusammen.

Ich war reisefertig – bereits in Wartestellung. Abmarschbereit!

Er wollte nur noch kurz in Ost-Berlin Freunde besuchen.

Wie hatte ich damals gewartet, im vollen, tiefen Vertrauen, daß er endlich anrief, aber er rief nicht mehr an.

Ich verstand nicht, warum er sich nicht meldete. Unfähig, so ohne ihn loszugehen, allein loszugehen, blieb ich erstarrt zurück.

Er hatte mir nicht einmal Bescheid gesagt, daß er lieber allein gehen wollte.

Er war einfach so gegangen.

Er war doch mein großer Bruder?!

In dieses ohnmächtige Verharren kam, wie befürchtet, der Einberufungsbefehl.

Würde ich jetzt noch zur Flucht aufbrechen, wäre es Desertion. Ungleich härter bestraft und ohne Chance, gen Westen entlassen zu werden.

Ich wurde eingezogen: 18 Monate zur Nationalen Volksarmee NVA – Standort: Eggesin am Stettiner Haff.

Stettiner Haff: das war ein Sandmeer, ein Kiefernmeer und dann gar nichts mehr …

In den ersten Wochen meiner Dienstzeit die Nachricht meiner Eltern: keine Lebenszeichen von ihm. Vier Wochen später die Nachricht: Seine Flucht war gescheitert, die Stasi hatte ihn. Vier Monate später die Nachricht: er war zu 22 Monaten Gefängnis verurteilt worden.

Über ihn, meinen großen Bruder, wußte ich damals noch nicht, daß er zu einem niemals fähig wäre: Verantwortung zu übernehmen.

Wegen meiner häufigen Rekonvaleszenzen (ich hatte 2 OPs im Lazarett Ückermünde, bei denen ich Fenster in meine Nasennebenhöhlen bekam), wurde ich oft im Innendienst eingesetzt.

Ich hatte wieder einen der 24-Stunden Dienste „GvD“ („Gefreiter vom Dienst“ – obwohl ich nur Soldat war), saß in der Telephonzentrale. Ich war schon im letzten Drittel meiner Armeezeit, war schon EK, es waren sogar schon die letzten 150 Tage, an denen wir Entlassungskandidaten pro Tag einen Zentimeter an unserem Maßband abschneiden konnten und uns so an dem immer kürzer werdenden Band erfreuten. Die Schnipsel wurden gesammelt und am Entlassungstag wie Konfetti vor dem Kasernentor verstreut.

Bisher hatte meine Mutter mich nie hier angerufen. Umso überraschter war ich, als ich ihre Stimme hörte. Sie teilte mir durch die Blume mit, daß mein großer Bruder gestern in Gießen im Notaufnahmelager angekommen war.

Ich konnte mich daraufhin nicht mehr bewegen, auch nicht freuen, nicht toben oder schreien … nur zittern – schweigendes hilfloses bebendes tränenloses Zittern.

Es wollte nicht aufhören. Meine Zähne schlugen aufeinander. Jetzt erschien auch noch der Leutnant.

Er sah aus, als wüßte er, was ich gerade erfahren hatte. Er stellte keine Frage und ließ mich von einem Stubenkameraden ablösen.

Zum zweiten Mal in meinem Leben bekam ich das ohnmächtige Gefühl, daß sich ein Eisenring eng um meinem Brustkorb legt.

Unter dem wütenden Schmerz dieser Erfahrung entschloß ich mich, auf jeden Fall mit meiner Flucht zu warten bis mein kleiner Bruder 18 Jahre alt geworden war, um ihn dann unter meiner Obhut mitzunehmen.

Ihm sollte nicht widerfahren, was mir passiert war.

Das ist jetzt alles geschafft und vorüber. Alles Schnee von Gestern!

Aufregung – irre Vorfreude – keinerlei Angst.

Der Abschied von den Eltern nur kurz. Ich nahm beide in den Arm, dann wich ich dem drohenden Gefühlsdusel aus und schaute schnell zu meinem kleinen Bruder ins Zimmer. Der lag noch im Bett, weil er von der Fete einen Kater hatte.

Noch ganz verschlafen sagte er: „Ich breche erst heute Nachmittag auf, bin noch total müde.“ Dann drückten wir uns ganz fest die Hand, wünschten uns mit einem Toitoitoi viel Glück, und ich machte mich auf den Weg, meinen Zug zu erreichen.

Um rechtzeitig am Zug zu sein, war ich viel zu früh dran, aber ich wollte los, um den ganzen Weg zum Bahnhof in aller Ruhe, extra langsam gehen zu können, um mir alles noch einmal bewußt anzusehen, einzuprägen; denn ich wußte, es ist ein Abschied für immer.

Davor hatte ich ein wenig Angst gehabt, ich befürchtete, es würde sehr sentimental werden. Aber: Ehrensteig, Geschwister-Scholl Schule, Katharinenstraße, am Schwarzen Brunnen vorbei zum Markt. Durch die Karlsstraße zum Platz der Deutsch-Sowjetischen- Freundschaft DSF, der eigentlich Karlsplatz hieß und von uns auch nur so genannt wurde, zum Bahnhof – ich blieb völlig unberührt und ohne Wehmut.

Tschüß Heimatstadt!

Jetzt stehe ich endlich hier, auf dem Bahnsteig, und das ist der Moment, den ich nie vergessen will!

Ich atme langsam, spüre mein Blut in den Schläfen pochen.

Dann sauge ich den Moment richtig in mich auf und präge mir das „JETZT-HIER-STEHEN“ für immer ein.

Dabei verändert sich mein Gefühl für diese Stadt.

Eisenach ist nicht mehr mein Zuhause, meine Heimat. Ich bin gegangen – noch nicht weg, doch schon ein Fremder.

Noch zehn Minuten bis zur Abfahrt meines Zuges.

Um keinen Verdacht zu erregen, habe ich mir erst eine Fahrkarte nur bis Erfurt gekauft und nehme besser den Personenzug.

Die kleine Reisetasche hängt über meiner Schulter – nur kein großes Gepäck, auch das könnte auffallen.

Da sehe ich meinen Vater im langen wehenden Mantel die Treppe zum Bahnsteig emporhetzen. Es ist doch alles gesagt worden. Wir hatten uns schon verabschiedet.

Was will er noch?

Er kommt auf mich zu, umarmt mich heftig, verlangt, daß ich ihm noch einmal verspreche, nicht auf die Minenfelder zuzulaufen.

Dann steckt er mir DM 70,– zu. „Für alle Fälle – mehr habe ich leider nicht. Im Ostblock mit Ostgeld, da kommst du nicht weit.“

Im Zug setze ich mich ans Fenster. Der typische Geruch in den Waggons löst Fernweh aus. Ich freue mich über jede Haltestelle, die mich vorwärts bringt. Schon kommt Gotha, danach Erfurt.

Erfurt

In Erfurt laufe ich durch die Altstadt. Bin vorsichtig, achte darauf, ob mir jemand folgt.

Zwei Stunden später fahre ich, nun mit einem D-Zug, weiter in Richtung Dresden.

Der Zug hält in Weimar. Gudrun lebt hier.

Meine Gedanken schweifen weit zurück zu ihr.

Wir hatten eine Liebe ohnegleichen. Groß, mächtig, unvergleichbar, einmalig.

Dann kam meine Armeezeit.

Und während meiner Grundausbildungszeit schrieb sie mir einen Brief aus dem Krankenhaus. Darin stand, daß es ihr sehr schlecht gehe, daß sie habe sterben wollen, daß das nichts mit mir zu tun habe und daß wir uns nicht mehr wiedersehen dürfen.

Ich lief in der Kaserne fast Amok und konnte doch nichts machen. Damals fühlte ich das erste Mal, wie sich ein Eisenring um meinen Brustkorb schloß.

Bis vor Kurzem hatte ich mich daran gehalten, ihren Wunsch geachtet, dann aber mußte ich zu ihr hinfahren.

Ich hätte nicht für immer fortgehen können, ohne sie wenigstens noch ein einziges Mal wiedergesehen zu haben.

Vor vier Wochen war ich also noch einmal nach Weimar gefahren, den vertrauten Weg vom Bahnhof zur Thomas-Müntzer-Straße gelaufen.

Unverändert, der große schwarze schmiedeeiserne Gartenzaun, die ausgetretenen Steinstufen. Dann stand ich vor der riesigen Wohnungstür.

Mir war mulmig im Magen und ich war gespannt, was mich erwarten würde.

Ich klingelte, sie öffnete und schaute überhaupt nicht erstaunt. Aus ihren Augen leuchtete mir unsere Vertrautheit und Liebe entgegen.

Sie trat auf mich zu, nahm meine Hände: „Du willst dich verabschieden. Du gehst?“

Ich konnte nur „Ja“ brummen.

Wir standen in der Tür und küßten uns lange und sehr zärtlich.

In Zeitlupe – immer und immer wieder, verabschiedeten sich unsere Lippen, Augen und Hände voneinander.

Schließlich löste sie sich von mir. „Schick mir eine Karte, wenn du angekommen bist!“

Sie schloß die Tür.

Auf der Heimfahrt nach Eisenach war mir kotzelend.

Der Schaffner pfeift – die Waggontüren schließen – mein Zug fährt weiter.

Weimar Ade – Thüringen Ade.

In Dresden wieder aussteigen,

wieder Gang durch die Altstadt,

wieder auf Verfolger achten.

Weiter geht es: auch von Dresden nach Prag mit dem Zug.

Vor mir liegt die 1. Grenze.

Diese Grenze ist noch ein Kinderspiel. Nach Prag kann ich mit meinem Personalausweis reisen, brauche keine Zusatzstempel, wie für Ungarn.

Im Zug suche ich mir günstige Sitznachbarn und finde eine Reisegruppe Gleichaltriger, manche im blauen FDJ-Hemd. Ich setze mich mitten unter sie.

Wir nähern uns der Grenze. Mir wird bang und mulmig im Magen. Grenzort Aussig (Ústi nad Labem). Dann die Grenzkontrolle.

Die Grenzer kontrollieren mich nur flüchtig.

Sie glauben, ich gehöre zu den Blauhemden der FDJ-Reisegruppe.

Nach der Grenze überkommen mich riesige Glücksgefühle. Es ging so leicht.

Sachsen Ade.

In mir keimt die Hoffnung auf, es wäre zu schaffen, es könnte gelingen.

Jetzt sehe ich mich zum ersten Mal, auch ohne Gefängnisaufenthalt, in München ankommen.

Schlafen kann ich nicht, starre in die dunkle Nacht.

Böhmen.

Mit beschwingten Gefühlen komme ich frühmorgens in Prag an. Es ist 5:00 Uhr, als ich aus dem Bahnhof herauskomme und in Richtung Wenzelsplatz gehe.

Um einen möglicherweise mich doch noch verfolgenden Stasi-Schatten abzuschütteln, laufe ich durch die Arkaden und Passagen, schlage Haken, ziehe große Bögen zurück auf meine Spur, um zu prüfen, ob er mir noch folgt und falls ja, um ihn endgültig loszuwerden.

Als ich nach vielem Zickzack absolut sicher bin, fühle ich mich erleichtert und auch ein wenig stolz.

Am Wenzelsplatz kommt mir plötzlich Jan Palach in den Sinn. Am 16. Januar 1969 hatte er sich hier selbst angezündete.

Was wäre passiert, hätte es in Eisenach einen Volksaufstand gegeben. Mit meiner Erziehung hätte ich wohl ähnlich gehandelt.

Wir sind Brüder im Geiste. Der Gedanke erschreckt mich, denn dann wäre ich heute tot.

An einem schon geöffneten Kiosk trinke ich einen Kaffee und esse dazu ein Stück semmelartiges Gebäck.

Dabei stelle ich mir vor: hier auf dem Wenzelsplatz, Prager Frühling … der Platz voller Menschen, dazwischen die russischen Panzer … wie die Menschen Angst, Wut, Mut und alles zugleich haben …

… und denke sofort auch immer an Reiner Kunze. Seine „Die Wunderbaren Jahre“ waren uns fast heilig und gingen im Freundeskreis von Hand zu Hand.

Vater hat uns Kinder zweimal nachts geweckt und zum Fernsehen geholt. Das eine Mal war es die Mondlandung, das andere Mal, der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag (mit dabei deutsche Soldaten der NVA) zur Niederschlagung des Prager Frühlings.

Bin schon fast 24 Stunden unterwegs.

Übernächtigt, aufgekratzt fühle ich, daß ich ich bin.

Es geht mir sehr gut. Das macht mich unheimlich stark!

Bahnfahrkarten sind teuer, deswegen entschließe ich mich, die Reise per Anhalter fortzusetzen.

Besser Geld sparen, wer weiß …

Mit der Straßenbahn fahre ich zum Stadtrand und finde dort an einer Autobahnauffahrt einen guten Standplatz zum Trampen in Richtung Brünn.

Schon nach kurzer Zeit hält ein blauer 750ger Mercedes LKW und nimmt mich mit. Der Fahrer, ein alter Mann, erzählt in gebrochenem Deutsch, daß er aus West-Berlin unterwegs in die Türkei sei.

Sein Laster hat ovale weiße Kennzeichen. Auf der Ladefläche liegt gebrauchter Hausrat.

Die Autobahn ist noch im Bau und die Strecke deshalb häufig von schmalen, alten Landstraßenabschnitten unterbrochen.

Ich schlafe ein wenig. Der Motor zieht nicht richtig. An Steigungen werden wir jedesmal sehr langsam. Schließlich bleiben wir ganz stehen.

Ich kenne das. Da ist entweder ein Leck in der Dieselleitung, oder der Dieselfilter im Sichtglöckchen ist verdreckt. Der alte Mann ist ratlos. Ich sage ihm, daß ich weiß was los ist. Als ich nach meiner Armeezeit auf Maximilians 18. Geburtstag wartete, war ich lange genug als Kieskutscher mit einem alten W50-Kipper, auf den Baustellen rund um Erfurt für den VEB Kraftverkehr Eisenach unterwegs gewesen. Da hatten wir ständig diese Pannen mit verdrecktem Diesel und verstopften Filtern. Ich mache mich an die Arbeit. Unter dem Beifahrersitz finde ich die notwendigen Schraubenschlüssel.

Für mich ist der Westen so unvorstellbar fern, daß ich mir nicht wirklich vorstellen kann, daß die Wiesen dort auch grün sind.

Alles ist dort bestimmt ganz anders.

Jetzt bin ich richtig stolz, habe mit meinen Kenntnissen sogar einen westdeutschen LKW reparieren können.

Ein gutes Gefühl.

Es geht weiter.

Der Diesel hat wieder volle Leistung und zieht gut durch. Der alte Mann ist überglücklich. Da er meine Kenntnisse im Umgang mit LKWs sieht, ergibt es sich, daß ich weiterfahre, Er gönnt sich auf dem Beifahrersitz eine Pause.

Zum Unterhalten ist es zu laut, auch spricht der Mann zuwenig Deutsch und ich kein Türkisch.

So sitzen wir einfach nebeneinander.

Ich fahre. Der alte Mann, der seit West-Berlin durchgefahren ist, schläft dankbar.

Ich genieße das Fahren durch die Nacht. Meine Hände riechen nach Diesel. Das stört mich nicht. Ganz im Gegenteil, es gibt mir so etwas wie Normalität in der doch außerordentlichen Situation meiner Flucht.

Der Motor brummt jetzt gleichmäßig und angenehm ruhig; und ist zudem deutlich leiser als seinerzeit „mein“ W50.

Wir verlassen Böhmen.

Mähren

Kurz vor Brünn (Brno) der Abzweig nach Preßburg (Bratislava). Hier steige ich aus.

An dieser Kreuzung trennt sich nicht nur mein Weg von dem des alten Türken, sondern auch mein Fluchtweg von dem meines kleinen Bruders.

Wir hatten vereinbart, daß er via Preßburg und ich via Košice, nahe der sowjetischen Grenze, versuchen werden, nach Ungarn, nach Budapest durchzukommen.

Bis Brünn sind es nur noch ein paar Kilometer.

Nach erneut nur kurzer Wartezeit nimmt mich ein kleiner Lieferwagen mit in die Stadt.

Brünn

Über Brünn weiß ich nichts. Mir fallen nur die Motorradrennen ein, von denen uns unser Eisenacher Nachbar vom Ehrensteig immer erzählt hat, er hieß Alfred S. war Europameister im Seitenwagenrennen und fuhr das Gespann zusammen mit seiner Frau.

Da ab Brünn die Autobahn Richtung Osten auch noch nicht fertiggestellt ist, entscheide ich mich erneut für den Zug.

Der Bahnhof, ein heruntergekommenes Gebäude mit gelber Fassade. Ich löse eine Fahrkarte nach Košice.

Ein Zug geht in 2 Stunden.

Müdigkeit überkommt mich und Hunger. Auf dem Bahnhofsvorplatz finde ich ein einfaches Restaurant.

Am Nachbartisch werden gerade Böhmische Knödel mit Fleisch serviert.

Das gönne ich mir auch. Winke dem Kellner und bestelle mir Knödel mit Kraut und dazu ein Bier.

Mit dem ersten Schluck durchströmt mich, ähnlich einer Narkose, eine dunkle warme Welle und macht meine Muskeln wunderbar schwer.

Ich lehne mich zurück, genieße es zu sitzen und nicht von meiner eigenen Unruhe getrieben zu werden.

Noch ist alles möglich.

Noch bin ich auf dem Weg.

Noch haben sie mich nicht.

Brünn hat viele Sehenswürdigkeiten, doch auf einen Stadtrundgang, in der mir noch verbleibenden Zeit bis zur Abfahrt des Zuges, habe ich keine Lust. Nehme lieber erst noch einen Kaffee und bummele dann etwas durch das Viertel.

An einem Kiosk kaufe ich eine Landkarte von Mähren. Meine Karte der ČSSR ist eine reine Straßenkarte und zeigt nicht die für mich wichtigen Details.

Im Zug suche ich mir ein leeres Abteil. Ich finde eines, bei dem man sogar die Sitze in Liegesitze verwandeln kann. Da ich allein bin, mache ich es mir bequem und ziehe unten an der Schlaufe des Sitzpolsters, bis ich die Sitze in der ersten Rasterung habe. So kann ich gut sitzen, die Füße hochlegen und trotzdem aus dem Fenster schauen.

Ich nehme meine neue Karte heraus und suche in der Gegend um Košice nach einer guten Stelle, an der ich nach Ungarn hinüber könnte. Ich markiere mir auf der Karte die Orte: Sečovce, Trebišov, und direkt an der Grenze, Čerhov. Von Košice sind das noch ca. 30 Km.

Darüber bin ich wohl eingeschlafen.

Ich erwache davon, daß sich drei junge Männer in mein Abteil drängen. Sie unterhalten sich lautstark auf Tschechisch. Ich verstehe kein Wort. Bin abweisend und versuche weiterzuschlafen. Ich fühle mich unbehaglich, weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Es ist nicht normal, daß ein junger Mann wie ich, weitab aller Touristenwege, allein unterwegs ist.

Sie sprechen mich an: „Německý“ antworte ich. Das ist fast schon mein ganzer tschechischer Wortschatz und auch das nur, weil es dem russischen Wort für „deutsch“ gleicht.

„Wie heißt du?“ fragt mich daraufhin einer auf Deutsch.

„Theodor“ antworte ich.

„Woher kommst du?“

„Německu“

„Ost oder West?“

Wir konnten einen Westdeutschen von einem Ostdeutschen auf 100 Meter gegen den Wind unterscheiden.

Es war einfach zu deutlich zu erkennen. Nicht nur unsere blassere Haut wegen der schlechteren Ernährung, nein, auch unsere Körperhaltung war ein Merkmal.

Ostdeutsche waren immer etwas unsicherer, vorsichtiger.

Auch wenn ich zu Weihnachten von Oma aus München die heiß ersehnte Levis 501 bekam. Ich war und blieb erkennbar ein Ostdeutscher.

Als ich im Staatsbürgerkundeunterricht unsere Lehrerin Frau Held fragte, warum bei einem Schutzwall vor äußeren Feinden die Minen innen liegen, hat sie nur wieder von vorne angefangen, mit ihren Fingerknöcheln auf dem Lehrertisch den Rhythmus vorgebend, uns die Parolen einzutrichtern.

„Der imperialistische Klassenfeind lauert überall!“, und dabei fixierte sie mich genau.

Diese Art der Entwürdigung, Lügen wiederholen zu müssen, das traf mich nicht. Mein kirchliches Elternhaus schützte mich vor diesem Kniefall, der von vielen meiner Klassenkameraden nicht mal bemerkt wurde.

Ich durfte in der Schule nicht frei reden, aber zu Hause war eine Insel, auf der ich mit Freunden und der Familie frei denken und offen reden konnte.

Wenn Sonntags Vater von der Kanzel offene Worte sprach und in der letzten Reihe der Stasi-Typ rote Ohren bekam, waren wir stolz, nicht zu kuschen, waren wir stolz, anders zu sein – und freier zu sein als unsere Kameraden.

Welch ein Irrtum – welcher Hochmut!

Denn ich war auch nur einer von denen mit Manko und Stigma. Einer von denen, die innerhalb des Stacheldrahts bleiben müssen.

Nicht die Parolen, sondern daß ich vor dem Stacheldraht stehe und ihn als unüberwindbare Grenze meiner Welt hinnehmen muß, sind der wahre Grund für Manko und Stigma. Die mir erlaubte Welt ist am Stacheldraht zu Ende.

Punktum – basta – und das bis ans unvorstellbare Ende der Zeit.

Ich darf da nicht durch. STOP. ICH NICHT!

Oft stand ich oben auf dem Turm der Wartburg, schaute hinüber nach Hessen und bekam so ein häßliches Würgen im Hals. WARUM?

Ich bin ein Mensch 2. Klasse – trage ein Brandzeichen auf meiner Seele – bin nur ein Mensch 2. Klasse, eingesperrt.

„Westdeutschland“ antworte ich fest und spüre, wie ich rot werde. Gebe mir innerlich einen Ruck, selbstbewußt zu wirken. Meine Levis und dazu die Jeansjacke sind mein Kostüm. Unauffällig schiebe ich meine heruntergelatschten Schuhe unter den Sitz.

„Wo?“

„Erlangen, Student“

Damit lassen sie wieder von mir ab. Ich versuche erneut zu schlafen. Noch drei Stunden bis Košice.

Bitter stößt mir auf, daß mich meine Körpersprache verraten könnte.

Košice

Es ist wieder sehr früher Morgen, als ich in Košice aus dem Bahnhofsgebäude komme. Die Architektur ähnlich jener der K. und K. geprägten Städte Prag und Brünn. Ich lasse mich im Strom der Menge treiben und komme zu einem Marktplatz.

Ein großes Durcheinander und Gedränge herrscht zwischen den Marktständen.

Fast alle Frauen tragen schwarze Kopftücher und lange schwarze Röcke. An einer Ecke ein kleines Café. Ich setze mich hinein und bestelle einen Tschai. Am Nachbartisch habe ich Tschai, das russische Wort für Tee aufgeschnappt und daraus geschlossen, daß es auch im Tschechischen diese Bedeutung hat. Ich habe richtig kombiniert, denn nach kurzer Zeit bringt mir der Kellner ein Glas Tee.

So habe ich mir orientalisches Treiben immer vorgestellt.

Meine Gedanken drehen sich um mein Weiterkommen. Wie kann ich das Grenzgebiet sondieren?

Wenn ich zu lange bleibe, könnte ich auffallen und kontrolliert werden.

Agiere ich übereilt, könnte mir ein Fehler unterlaufen.

Ich trinke meinen Tee aus und mache mich auf den Weg zurück zum Bahnhof. Suche nach einer Nahverkehrsübersicht und darauf meine auf der Karte markierten Orte heraus.

Von Košice nach Borsa gibt es eine Busverbindung. Der Bus hält auch in Čerhov. Das ist ein winziger Ort, direkt an der Grenze, weitab von größeren Orten, mit einem kleinen Fluß – der, laut Karte die Grenze markiert.

Ideal!

Mit meinem großen Bruder hatte ich vereinbart, mich zu meinem Schutz schon unterwegs als Friedrich-Ernst auszugeben.

Denn würde ich gefaßt werden, müßte sich die Polizei erst an die Westdeutsche Botschaft wenden. So könnte ich eventuell einen Westdeutschen Paß bekommen.

Er hatte versichert, daß er während der Zeit meiner Flucht, auf mögliche Nachfragen der westdeutschen Polizei durch seine Mitbewohner ausrichten ließe, er befände sich in der ČSSR und Ungarn auf Urlaubstour.

Jetzt ist ein guter Zeitpunkt, mich endgültig von meiner ostdeutschen Identität zu verabschieden.

Meine Fahrerlaubnis hatte ich, um sie nicht auch wegwerfen zu müssen, schon bei meinen Eltern zurückgelassen. Von der Straße hebe ich eine alte Zeitung auf, stecke den verhaßten blauen Personalausweis hinein und zerknülle das Ganze. Dann lasse ich es in einem Papierkorb verschwinden

Ade, ostdeutscher Theodor.

Hallo, westdeutscher Friedrich-Ernst

Das fühlt sich richtig gut an.

Auf Russisch „Gde Avtobusnaya Stanciya?“ traue ich mich hier niemanden zu fragen, auf die sind sie hier nicht gut zu sprechen.

Ich suche im Bahnhof nach einem Stadtplan, finde einen und darauf eingezeichnet den autobusové nádraží.

Eine halbe Stunde Fußweg.

Der Busbahnhof ist eine große Teerfläche voller Schlaglöcher. Am Rand des Platzes einige Hinweisschilder.

Mein Bus nach Borsa via Čerhov steht schon bereit. Ich gehe noch etwas einkaufen, ein paar Stück Kuchen und eine Flasche Limo. Dann steige ich vorne beim Fahrer ein und sage „Čerhov“. Er erwidert irgendwas, was sich wie eine Zahl anhört.

Ich halte ihm einen großen Kronen-Schein hin und stecke wortlos das Wechselgeld ein. Nur wenige Passagiere sind im Bus. Ich setze mich ganz hinten hin. Es sind noch 20 Minuten bis zur Abfahrt.

Niemand beachtet mich. Ich esse ein Stück Kuchen.

Čerhov – eigentlich nur ein Platz mit Häusern drumherum. Eine Stadt ohne Stadt.

Ich steige aus und verschwinde so schnell es geht. Eine Straßenecke weiter stehe ich auch schon auf einem Feldweg.

Soweit ich schauen kann, Felder. Auf den Feldern das Getreide erst halb hoch und noch grün. Ich orientiere mich an der Sonne gen Süden.

Meine Limo ist längst alle. Ich ärgere mich, daß ich so unbedacht einfach draufloslaufe. Warum habe ich nicht in Košice richtig eingekauft?

Eine Reserve, etwas zu essen für den Abend, daran hätte ich doch denken können.

Jetzt, da es Ernst wird, tue ich so, als ob ich auf einem x-beliebigen harmlosen Hundespaziergang wäre. Laufe wie ein Wanderer durch die Felder. Ich reiße mich zusammen, verscheuche die Gedanken um Essenkauf und den Ärger über meine Gedankenlosigkeit und konzentriere mich.

Ich muß herausfinden, wo der Fluß ist.

Ich muß herausfinden, wie die Grenzanlagen sind.

Ich muß einen günstigen Zeitpunkt zum Hinüberlaufen entdecken.

Die Felder sind riesengroß und endlos, wie bei den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften. Die Feldwege haben tiefe Furchen. Alles ist sehr trocken und staubig.

Auf meiner Karte sah es so nah aus, vom Ort bis zum Fluß – jetzt bin ich schon fast 2 Stunden unterwegs. Endlich sehe ich einen Waldstreifen. Endlich!

Der Waldstreifen ist nicht sehr breit, ein nur cirka 30 Meter breiter Streifen. Ich steuere schnurstracks darauf zu. Im Wald fließt auch der kleine Fluß. Erschöpft mache ich Rast. Ziehe die Schuhe aus und halte die Füße ins Wasser. Welch eine Wohltat!

Der Fluß ist nicht sehr breit und auch nicht tief. Ich kremple meine Jeans hoch und wate hinüber ans andere Ufer. Bin ich schon in Ungarn? Aus dem Fluß zu trinken traue ich mich nicht. Zu viele Felder ringsum, wer weiß, was da an Düngemitteln schon im Wasser ist.

Jetzt heißt es besonders vorsichtig zu sein.

Gebückt schleiche ich durch die Bäume zum anderen Waldrand und lege mich auf die Lauer. Irgendwo müssen Wachtürme sein und Soldaten, die Streife laufen. Das hier ist zwar nicht der Eiserne Vorhang mit Stacheldraht und Minen, aber eine bewachte Grenze.

Die Sonne steht hoch. Ich klettere auf einen Baum und entdecke ca. 150 Meter östlich von mir einen Wachturm. Weitere Wachtürme kann ich nicht ausmachen.

Vor mir breiten sich wieder endlos große Felder aus. Nach einer Stunde aufmerksamen Beobachtens habe ich nicht einen Wachsoldaten auf Streife gesehen.

Daraufhin klettere ich von meinem Baum herunter, nehme meine Tasche und schleiche mich am Waldrand, immer tief geduckt, weiter weg vom Wachturm. Am Feld verläuft ein Weg parallel zum Wald. Ich bleibe aber im Wald und laufe weiter, bis ich in dem benachbarten Feld einen Weg finde, der nicht mehr parallel zum Waldrand, sondern ins offene Land führt. Dort schleiche ich mich über den kleinen Feldweg, springe hinüber ins Feld, lege ich mich sofort auf die Erde und warte, ob etwas geschieht.

Nichts passiert, alles bleibt ruhig.

Nach einer Weile traue ich mich vorsichtig, immer noch tief gebückt, den Feldweg entlangzulaufen, weg von der Grenze, hinein nach Ungarn. Auch von hier aus kann ich keinen Wachturm sehen. Die beständige geduckte Haltung beschert mir zunehmende Rückenschmerzen. Das läßt mich sorgloser werden. Schritt um Schritt richte ich mich immer etwas mehr auf, bis ich zum Schluß ganz normal laufe.

Ich fühle mich sicher. Geschafft!

Da hatte ich solche Sorgen, diese Grenze wäre schon richtig scharf bewacht.

Ich entspanne mich und erfreue mich an dem Spaziergang und sehe auf einmal, wie schön diese hügelige Landschaft ist.

Das nächste und übernächste Dorf will ich noch weit umgehen. Dann irgendwie weitersehen.

Ich schreite beschwingt aus, wie auf einem Spaziergang und schlendere.

„Klack Klick-klackckck…klick-schnappppp“.

noch einmal

„Klack Klick-klackckck–klick-schnappppp“.

Diese kleine Melodie mit ihrem metallischen Rhythmus, ich kenne sie, sie ist mir als völlig harmlos vertraut, aber jetzt fährt sie mir wie eine Schockwelle blitzartig durch alle Knochen.

In meinen Knien nur noch Pudding.

„Stop!“ ertönt ein Kommando.

Mit verbundenen Augen konnte ich meine Kalaschnikow auseinandernehmen und wieder zusammensetzen. Tausendmal gehört: „Klack Klick-klackckck…klick-schnappppp“, wenn der Schlagbolzen beim Spannen der Abzugsvorrichtung umgelenkt wurde und dann einrastete. Fertig zum scharfen Schuß.

Wir hatten viele Schießübungen. Ich war ein guter Schütze. Stehend schießen, mit Einzelschuß und auch als Salve, war ich sogar besser als unser Zugführer Leutnant Rudi Gerbler. Wir nahmen das aber nicht ernst. Wir wußten, es ist ein völlig dämliches Sandkastenspiel. Wozu diese Ernsthaftigkeit? Wir lachten alle heimlich, wenn uns der Politoffizier die Notwendigkeit des wachsamen Soldaten einprägte.

Wir wußten, sollte es zum Krieg kommen, würde der an einem roten Knopf ausgelöst, und dann ist sowieso alles egal.