Ohrfeigen zum Frühstück - Mady Host - E-Book

Ohrfeigen zum Frühstück E-Book

Mady Host

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Beschreibung

Die Autorin Mady Host reist zusammen mit Freundin Cornelia per Fahrrad durch Finnland. Ihre Route führt die Frauen auf 1.600 Kilometern vom nordischen Lappland bis in die Hauptstadt Helsinki im Süden. Treuer Gefährte: Ihr Zelt, mit dem sie wild campen. Aus dem Inhalt: Das Werkzeug bereits während der Anreise verloren, machen sich die Reisenden sorglos auf ihren Weg durch das Land der tausend Seen. In Kolari, wo sich der nördlichste Bahnhof Finnlands befindet, beginnt ihr Abenteuer … Bereits am vierten Tag stranden die beiden mit kaputtem Fahrrad bei strömendem Regen in einem verschlafenen Dorf, im Seengebiet werden sie von einem pensionierten Professor in die Geheimnisse der Flusskrebsjagd eingeweiht und dank eines glücklichen Zufalls landen sie nach einem kraftraubenden Tag in der Sauna eines ehemaligen Rennfahrers. Was es mit Ohrfeigen zum Frühstück auf sich hat, weshalb die finnischen Senioren immer „auf Speed“ sind und wie man sich ohne Werkzeug durchs Land schlägt – davon erzählt Mady Host in diesem Buch. Fazit: Ein witziger R(o)adtrip mit hohem Unterhaltungswert, gespickt mit Tipps, Länderinfos und Routenbeschreibungen!

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Seitenzahl: 238

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Bildnachweis:Die Bilder des Textteils: Mady Host, Cornelia ReinholdCoverfoto: Mady Host, Cornelia ReinholdCovergestaltung: Jens MattauschAutorenfoto: Candy Szengel Film & PhotographyIllustrationen: Jens MattauschVideos: Mady Host, Cornelia Reinhold, Candy Szengel Film & PhotographyKarte: Jens MattauschKartenicon: © Stepmap GmbH, Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschenNationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind imInternet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2017 traveldiary Verlagwww.reiseliteratur-verlag.dewww.traveldiary.de

Der Inhalt wurde sorgfältig recherchiert, ist jedoch teilweise derSubjektivität unterworfen und bleibt ohne Gewähr für Richtigkeit,Vollständigkeit und Aktualität. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mitschriftlicher Genehmigung des Verlages. Bei Interesse an Zusatzinformationen,Lesungen o.ä. nehmen Sie gerne Kontakt zu uns auf.

traveldiary Verlag, Mady Host und Cornelia Reinhold GbRBrauereistraße 4, 39104 Magdeburg

Umschlagentwurf und Layout: Jürgen Bold, Jens Freyler, Hintergrundfoto © Carola Vahldiek / FotoliaSatz: traveldiary Verlag, Mady Host und Cornelia Reinhold GbRDruck: „Standartu Spaustuve“ www.standart.lt, Tel. 37052167527

ISBN 978-3-942617-31-4eISBN 978-3-942617-42-0

Mady Host

Ohrfeigen zum Frühstück

Mit dem Fahrrad 1.600 Kilometer durch Finnland

Videoverzeichnis

S. 37: Rentier auf der Straße

S. 45: Mit der Helmkamera unterwegs

S. 48: Kochen im Wald

S. 51: Ohrfeigen-Frühstück

S. 57: Idylle am See

S. 97: Teppichpflege auf Finnisch

S. 106: Audio: Ich lese vor!

S. 116: So schmeckt Teerschnaps

S. 133: So sieht es aus: Das kleinste Restaurant der Welt

S. 145: Auf dem Aussichtsturm, Kuopio

S. 148: Kalakukko: Verkostung einer lokalen Besonderheit

S. 168: Kameraschwenk durchs Holzhausviertel, Jyväskylä

S. 172: Fahrt am Wasser entlang

S. 176: Berichterstattung aus dem Kanu

S. 194: Radfahrt durch Helsinki

S. 196: Im Riesenrad in Helsinki

S. 200: Mitschnitt einer Bandprobe in der Felsenkirche

S. 207: Interview mit der Autorin

S. 209: Witziger Werbespot Interrailtour „Europa in vollen Zügen“

S. 210: Buchtrailer Pilgerreise „Einfach los … Mein Küstenweg“

Hinweis: Wer sich im App Store oder im Play Store die kostenlose „MACHDEBURG – DIE APP“ herunterlädt, hat mit der Scan-Funktion die Möglichkeit, an verschiedenen Stellen des Buches noch mehr über die Reise zu erfahren. Hinter allen Seiten (Abbildungen/Fotos) mit diesem Logo verbirgt sich ein Video.

Also einfach die Machdeburg-App starten, Scan-Funktion aktivieren, die gesamte Abbildung einscannen und schon öffnen sich informative Filme.

Viel Spaß!

Inhalt

Anreise

Vogelspinne auf der Fähre

Viele Wege führen nach Finnland

Willkommen an Bord! Abfahrt von Travemünde

Seetag: Sauna & Sonnenuntergang

Ein sonniger Morgen im Juli: Ankunft in Helsinki

Nordische Frische

28. Juli: Einfahrt am Bahnhof in Kolari

Glutamat und Gewittersound

29. Juli: Kurtakko - Kittilä

Ohrfeige am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen

30. Juli: Kittilä - Sodankylä

Werkzeug schmerzlich vermisst

31. Juli: Sodankylä - Saunavaara

Knapp daneben ist auch vorbei

1. August: Saunavaara - Kemijärvi

Der ukrainische Kindergeburtstag

2. August: Kemijärvi - Rovaniemi

Geburtstag mit Überraschungsgast

3. August: Rovaniemi

Interview mit dem Weihnachtsmann

4. August: Vom Weihnachtsmann bis hinter Rovaniemi

Die Prinzessin auf der Erbse

5. August: Hinter Rovaniemi bis Kemi

Sturzbetrunken, aber nett

6. August: Kemi bis kurz vor Oulu

Teerschnaps und tanzende Omi

7. August: Nach Oulu

Die Rose des Trinkers

8. August: Oulu und weiter

Senioren „auf Speed“

9. August: Bis Vaala

Die finnische Sintflut

10. August: Vaala bis Jormua

Gänsehaut und steife Finger

11. August: Jormua - Sukeva

Jogginghose und ne Buddel Rum

12. August: Sukeva bis hinter Iisalmi

Kleider machen Leute

13. August: Hinter Iisalmi bis Kuopio

Kirchen, Museen und Quietschkäse

14. August: Kuopio

Pastete bis zum Platzen

15. August: Kuopio bis 40 Kilometer hinter Kuopio

Die Nacht bei einem finnischen Rennfahrer

16. August: Bis Myhinpää

Ist deine Körpertemperatur okay?

17. August: Myhinpää bis vor Jyväskylä

Rotweinbäckchen

18. August: Jyväskylä

Zeitreise ins Holzhausviertel

19. August: Bis 30 Kilometer hinter Jyväskylä

Flusskrebsdinner for one

20. August: Bis vor Sysmä

Die Freude am simplen Leben

21. August: Sysmä bis vor Lahti

Vom schweigsamen Finnen

22. August: Lahti bis 50 Kilometer vor Helsinki

Auf der Zielgeraden

23. August: Helsinki

Von Lebensmittelschlachten und verglasten Toiletten

24. bis 26. August: Helsinki

Rückreise

27. August: Zurück auf der Fähre …

Karte

Ausrüstungsliste

Quellenangaben/Literaturverzeichnis

Über die Reisende … Mady Host

Anreise

Vogelspinne auf der Fähre

Es ist unglaublich heiß, Schweiß rinnt mir unentwegt über Gesicht und Rücken, meine Haare sind nass und kleben am Nacken. Die Luft aber duftet gut, es riecht nach Nadelwald. Meine Umgebung ist gemütlich, ein wenig schummrig, aber schön. Ich reibe mir die Augen, denn darin brennt die Feuchtigkeit. Dann blinzele ich, einmal, zweimal, dreimal, sehe mich um. Wände aus Holz umgeben mich. Ein Ofen befindet sich in der Mitte des Raumes. Plötzlich erstarrt mein Blick und ruht auf dem behaarten Wesen neben mir. Ich reibe mir die Augen erneut, aber das ändert nichts an der Präsenz des Geschöpfes an meiner Seite.

„Willst du ein Bier?“, ein Rentier hält mir eine Dose „Lapin Kulta“ hin.

Schwach strecke ich meinen Arm aus und greife danach. Während ich benommen am Verschluss nestele, fliegt auf einmal die Tür auf und der Weihnachtsmann steht vor mir. Dem Himmel sei Dank: Er ist bekleidet! Laut ruft er sogleich: „Ho, ho, ho!“ Das Rentier nickt ihm wissend zu.

Dann, nur ganz langsam, aber dennoch spürbar, beginnt die Sauna zu schaukeln, sanft, von rechts nach links. Von links nach rechts …

„Hey, du verpasst noch den Sonnenuntergang, wach auf!“, vernehme ich eine vertraute Stimme. Sie gehört meiner Reisebegleiterin Cornelia. So allmählich beginne ich zu verstehen, was geschehen ist: Ich habe geträumt, und zwar so absurd, als hätte ich mir zuvor drei finnische Dosen Bier zu viel genehmigt. Verschlafen setze ich mich auf und sehe an mir hinab: Mein Körper ruht in einem warmen Daunenschlafsack auf einer Sonnenliege. Über mir prangt in großen Lettern der Schiffsname „Finnmaid“. Die kräftigen Motoren der Fähre brummen laut, der Himmel trägt ein feuerrotes Abendkleid.

Ganz offensichtlich hat der Saunabesuch meine Fantasie beflügelt. Ja, tatsächlich: Auf der Fähre, die uns von Travemünde nach Helsinki transportiert, gibt es eine Sauna. Die Finnen haben sie zwar nicht erfunden, aber nirgendwo sonst bestimmt sie das Leben so stark. Es soll über zwei Millionen Saunen geben – und das in einem Land, in dem gerade einmal fünf Komma vier Millionen Menschen leben. Man spricht von der größten Saunalandschaft der Welt. Eigentlich nicht verwunderlich, dass die Finnen selbst auf hoher See nicht darauf verzichten. Wir wollten dies auch nicht verpassen und verbrachten die zurückliegenden Stunden schwitzend und von Blubberbläschen umgeben – es gibt auch einen Whirlpool –, bevor wir mit Schlafsack und Reiselektüre aufs Sonnendeck umzogen. Ich hatte noch durch einige Seiten im Finnlandreiseführer geblättert, bis ich eingeschlafen war und mich in einem wirren Traum aus saunierenden Rentieren und fröhlichen Weihnachtsmännern wiederfand.

Glücklicherweise ist es hier in der Realität Cornelia, die neben mir sitzt und gerade eine Flasche Rotwein öffnet, und kein Paarhufer. Auch die Hinfahrt gehört zu einer Reise dazu und soll schön und gemütlich verlaufen. Aus diesem Grund wird es einen guten Tropfen geben, während wir den Sonnenuntergang bewundern wollen. Jetzt, da ich wach bin, kein Problem mehr. Wir prosten uns zu, stoßen auf die bevorstehenden Wochen an und verlieren uns mit unseren Blicken in der untergehenden Sonne, die einen gelblich-orangefarbenen Schimmer auf dem Wasser hinterlässt. Es duftet nach Meer, sanfter lauer Wind streichelt mein Gesicht. Andere Schaulustige tummeln sich auf dem Deck, ihre Kameras sind auf den weiten Ozean gerichtet, ein Pärchen steht an der Reling und küsst sich leidenschaftlich. Es ist so übertrieben romantisch hier, dass ich nicht anders kann, als mir vorzustellen, wie Leonardo DiCaprio seine Rose auf der Titanic liebevoll umschlingt. Ich seufze und greife nach meinem Rotweinglas, als urplötzlich und mit einem unüberhörbaren Rumsen die schwere Tür zum Sonnendeck auffliegt. Lallend betritt einer unserer Zimmergenossen, ein volltätowierter Glatzkopf in Motorradklamotten, den Schauplatz. Ich fahre ruckartig zusammen und gieße einen Schwall Rebensaft übers Deck. Er baut sich vor uns auf und will im alkoholgeschwängerten Englisch wissen: „Wo fahrt ihr eigentlich hin, was habt ihr vor?“

Meine Aufmerksamkeit verweilt für einen Augenblick an der fetten Spinne, die im eintätowierten Netz auf seiner nackten Kopfhaut wohnt, dann erst sehe ich mich in der Lage zu antworten: „Wir reisen mit Fahrrädern von Nordfinnland bis in den Süden und planen mehr als eineinhalbtausend Kilometer zurückzulegen.“

Warum? Wir beide sind verliebt in unsere Fahrräder, schätzen sie als Verkehrsmittel, die unsere Fitness fördern, ein Leben an der frischen Luft bieten. Sie tragen das Gepäck und ermöglichen Tagesetappen von etwa achtzig Kilometern, jede von uns ist mit rund achtzehn Kilogramm Ausrüstung beladen. Wir reisen mit unseren Drahteseln weder zu schnell noch zu langsam und kommen auf diese Weise immer wieder mit Menschen in Kontakt.

Auch für das gewählte Reiseziel Finnland spricht vieles: Es gilt das Jedermannsrecht, was uns wildes Campen, Feuermachen und Beerenpflücken erlaubt. Das Jedermannsrecht beinhaltet – wie der Name schon sagt – das Recht eines jeden Menschen, die Natur zu genießen und ihre Früchte zu nutzen, unabhängig von den Eigentumsverhältnissen am jeweiligen Grund und Boden. Dafür gehört es zur Pflicht, weder der Umwelt noch anderen Menschen Schaden, Störungen oder sonstige Nachteile zuzufügen. Wichtig für uns als Camperinnen ist zudem, den häuslichen Frieden von Landbesitzern zu respektieren und zu Wohnhäusern immer einen angemessenen Abstand einzuhalten. Aber das dürfte in einem Land, in dem sich etwa sechzehn Einwohner einen Quadratkilometer teilen, kein Problem sein. In Finnisch-Lappland ist die Bevölkerungsdichte sogar noch geringer und die zwei Einwohner, die dort pro Quadratkilometer zu finden sind, mögen einander wohl kaum zufällig begegnen. Bei uns in Deutschland geht es mit zweihundertdreißig Menschen auf gleicher Fläche deutlich kuschliger zu.

Da es im Sommer lange hell ist beziehungsweise mancherorts überhaupt nicht dunkel wird, müssen wir uns in Finnland weder nachts gruseln noch tagsüber abhetzen, wenn es einmal nicht gelingen sollte, zu früher Abendstunde ein Etappenziel zu erreichen. Steht das Zelt eben erst um elf Uhr, dann soll uns das nichts ausmachen. Als Langschläferinnen und passionierte Trödlerinnen kommen uns die weißen Nächte nur gelegen – auch wenn es jetzt, Ende Juli, dämmern wird. Dennoch: Für mögliche Schlafstörungen aufgrund der Helligkeit sind wir gewappnet. Wir haben Schlafmasken im Gepäck. Meine gefällt mir außerordentlich gut. Sie ist ein Werbegeschenk einer bekannten Tageszeitung und ihren dunkelblauen Stoff zieren die Worte „Dahinter steckt immer ein kluger Kopf “. Ob es stimmt, darf Cornelia im Laufe der Reise beurteilen.

Grundsätzlich sollte es uns gelingen, Strecken von siebzig bis achtzig Kilometern in einer reinen Fahrzeit von vier bis fünf Stunden zurückzulegen. Das entspricht einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von fünfzehn bis siebzehn Kilometern pro Stunde. Für ein Land mit einem moderaten Höhenprofil ist das ein realistisches Vorhaben. Finnlands höchste Erhebung heißt Haltitunturi mit einer Größe von tausenddreihundertvierundzwanzig Metern. Damit ist er nicht gerade ein Riese unter den Bergen dieser Welt.

Landschaftlich erwartet uns eine Mischung aus Seen und Wäldern. Rund achtzig Prozent des Landes bestehen aus Wald und zehn Prozent aus Wasser. Die Bezeichnung „Land der tausend Seen“ ist eine immense Untertreibung. Tatsächlich sind es 187.888 Seen, die kleinsten nicht einmal mitgezählt. Für uns bedeutet es, dass der Badespaß nicht zu kurz kommen wird. Hoffentlich … Wir freuen uns nämlich schon aufs Plantschen im kühlen Nass, was uns das finnische Klima erlauben sollte. Es wird stark vom östlichen Kontinentalklima bestimmt und beschert dem Land arktisch-kalte Winter, aber auch heiße Sommertage. Die durchschnittlichen Niederschlagsmengen liegen deutlich unter norwegischen, isländischen oder schottischen Werten. Aufgrund der beträchtlichen Nord-Süd-Ausdehnung existieren zwar auch große Unterschiede innerhalb des Landes, aber das soll uns nichts ausmachen, schließlich kommen wir ja (fast) überall einmal lang.

Wir haben uns bei der Streckenplanung am Verlauf des EuroVelo 11 orientiert. EuroVelo beschreibt ein Netzwerk mit fünfzehn Langstreckenradwegen in Europa. Das Strekkennetz ist noch nicht überall vollständig und lückenlos erschlossen, aber der Europäische Radfahrer-Verband ECF setzt sich für eine Fertigstellung in den nächsten Jahren ein. Unser Weg, der EV 11, wird als Osteuropa-Route bezeichnet und verbindet auf insgesamt knapp sechstausend Kilometern die Länder Norwegen, Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Ungarn, Serbien, Mazedonien und Griechenland. Auch in Finnland ist die Strecke zwar (bisher) nicht durchgehend als Radweg ausgebaut, aber viele Straßen sind wenig befahren, sodass ein entspanntes Radeln auf Landstraßen möglich sein sollte. Zur Vermeidung größerer Fernstraßen finden sich teilweise ruhige Alternativabschnitte. Die Finnen sind selbst ein sportliches Radlervölkchen, weshalb Bereiche in Städten und oftmals sogar viele Kilometer vor und hinter Orten hervorragend mit Fahrradwegen erschlossen sind. Angeblich nutzen die Finnen ihr Zweirad sogar so exzessiv, dass sie sich bei Schnee Spikereifen anschrauben, um sicher an Schule oder Arbeitsstelle anzukommen.

Unser Weg wird circa neunzig Kilometer nördlich des Polarkreises beginnen und uns von Kolari nach Sodankylä, Rovaniemi, Kemi, Oulu, Kuopio, Jyväskylä bis in den Süden des Landes nach Helsinki führen. Wir haben uns für diese Route entschieden, weil uns die Orte interessant erscheinen und wir uns eine sehenswerte Abwechslung von lappländischer Einsamkeit, touristischem Trubel beim ECHTEN Weihnachtsmann, Ozeanlandschaft am Bottnischen Meerbusen, Finnischer Seenplatte und lebendiger Hauptstadtstimmung in Helsinki erhoffen.

Einen weiteren Pluspunkt erhält Finnland dafür, dass es ein sehr sicheres Land ist. Wir werden selbst noch beobachten, wie Fahrräder über Stunden unangeschlossen stehen gelassen und Autos mit laufenden Motoren und steckendem Zündschlüssel für den Wochenendeinkauf vor dem Supermarkt abfahrbereit geparkt werden.

Und was die Verständigung angeht, können wir ganz unbesorgt sein, denn englischsprachige Filme werden nicht synchronisiert, sondern lediglich mit finnischen Untertiteln gezeigt. Auch aus diesem Grund sprechen viele Einwohner die Weltsprache außerordentlich gut. Darüber sind wir äußerst froh, denn die Landessprache ist sehr schwer zu erlernen, kein Wunder bei stolzen fünfzehn grammatischen Fällen. Amüsieren werden wir uns über das angehängte „i.“ So wird eine Perücke zur peruukki und ein Kiosk zum kioski.

Die Finnen gelten insgesamt als einfallsreiches, aber auch schweigsames Völkchen. Sie veranstalten Gummistiefel-Weitwurf-Wettbewerbe und führen diverse Statistiken an, wie zum Beispiel beim weltweiten Kaffeekonsum. Schon länger sind die Finnen an der Spitze des Rankings. 2015 konsumierten sie durchschnittlich gut zwölf Kilogramm pro Kopf. Je nachdem, von welcher Tassengröße man ausgeht, entspricht das zwischen dreieinhalb und viereinhalb Tassen täglich. Der Vorsprung zum Zweitplatzierten – Schweden – betrug etwa zwei Kilogramm. Deutschland landete im Jahr 2015 auf Platz sechs mit etwas mehr als sieben Kilogramm. Meistens wird der finnische Kaffee schwarz als hellgeröstete Bohne genossen. Letzteres soll uns vor allem zu Beginn der Reise zugutekommen – ohne ein kräftiges, dunkles koffeinhaltiges Heißgetränk werden auch wir wohl kaum einen Pedaltritt tun. Wir haben zwar einen Campingkocher dabei, aber warum wir ihn gleich am Anfang nicht nutzen können, dazu später mehr …

Ich bin davon überzeugt, dieses Land ist eine Reise wert, passt zu uns und wird uns knapp fünf spannende Wochen schenken. Was ich über die Mückenplage gelesen und gehört habe, enthalte ich meiner Reisebegleiterin lieber vor, denn sie ist allen Insekten stets ein willkommenes Opfer. Im Sommer, in gemütlicher Grillrunde in deutschen Gärten, wird ihre Haut zerstochen, während andere nicht einmal merken, dass überhaupt Mücken da sind. Cornelia muss nur an einer alten Wolldecke am Sperrmüll vorbeigehen, schon hat sie neue Freunde gewonnen. Ich schweige also besser zu diesem Thema, stecke stattdessen ein mörderisches Insektenspray ein, das uns Freunde aus Vietnam mitgebracht haben, und kaufe ein bite away®, ein elektronisches Gerät zur äußerlichen Behandlung von Insektenstichen. Das muss reichen …

Viele Wege führen nach Finnland

Eine Anreise auf dem Landweg ist möglich, entweder durch Skandinavien und rund um den Bottnischen Meerbusen oder durch Polen, die baltischen Staaten und Russland. Ein Ankommen mit eigenem Auto, aber auch per Bus ist machbar, über Kopenhagen nach Stockholm und weiter mit der Fähre über Turku nach Helsinki. Bahnfans können es mit der Vogelfluglinie von Hamburg über Kopenhagen nach Schweden probieren und gelangen ab Stockholm per Fähre ebenfalls nach Turku. Von dort aus kann es weitergehen in den Norden oder nach Helsinki. Am schnellsten lässt sich der Weg per Flugzeug zurücklegen. Auch wenn Finnair den Transport von Fahrrädern gegen Aufpreis anbietet, so wollen wir am liebsten aufs Wasser und über die Ostsee anreisen. Die Mitnahme unserer beiden Fahrräder kostet pro Strecke nur gut dreißig Euro, wir selbst schlagen mit einhundertsiebzig Euro pro Fahrt und Person zu Buche. Die Fährverbindung Travemünde-Helsinki ermöglicht eine Anreise innerhalb von rund dreißig Stunden – ein Klacks, dachten wir, als wir uns bei der Buchung gegen die teure Kabine und für einen Ruhesessel entschieden haben. Dieser ist im Ticket inbegriffen und soll uns – den erfahrenen Reiseschläferinnen – schon genügen. Unsere Ankunft in Helsinki ist für einen Sommermorgen im Juli vorgesehen. Am Abend des gleichen Tages gilt das Zugticket, das uns per Nachtzug von der Hauptstadt bis nach Kolari – zum nördlichsten Bahnhof des Landes – bringen soll. Diese Fahrt ist mit etwa fünfzehn Stunden vergleichsweise kurz. Überflüssig zu erwähnen, dass wir auch hier auf eine Liege im Schlafwagen verzichten und sitzend weiterreisen werden.

Willkommen an Bord! Abfahrt von Travemünde

Als wir mit den Rädern übers Hafengelände rollen, zeige ich mir selbst einen Vogel. „Sind wir denn vollkommen verrückt?“, rufe ich in die beginnende Nacht. „Wir werden ernsthaft die nächsten DREISSIG Stunden mit der Fähre fahren – ohne Schlafplatz, nur im Ruhesessel und unsere Reise am Abend des Ankunftstages gleich noch fortsetzen – weitere FÜNFZEHN Stunden und das nach einem Tag, den wir wahrscheinlich wie Zombies in Helsinki verbracht haben, weil wir von der Fährfahrt völlig übernächtigt gewesen sind?!“

Wir kommen in der Autoschlange am Check-in-Schalter zum Stehen. Cornelia blickt den bevorstehenden Stunden etwas optimistischer entgegen: „So schlimm wird das schon nicht. Wir können beide sehr gut sitzend schlafen. Denk doch einmal an den Nachtzug nach Cannes. Obwohl du eine Liege hattest, hast du kaum ein Auge zugetan. Unsere Entscheidung war schon die richtige …“, baut sie mich auf und fügt hinzu, „… außerdem sind es nur neunundzwanzig Stunden Fahrzeit.“

Nachdem wir unsere Tickets vorgelegt haben, werden wir an den Autos vorbei zum Motorrad-Sammelplatz geschickt. Weit und breit sind keine Fahrradfahrer zu sehen. Selbstbewusst rollen wir nah an die massigen Maschinen, vor denen harte Kerle in Leder warten, heran. So abgeklärt wie möglich, grüßen wir mit einem: „Hey, jetzt gehören wir mit zu euch.“ Unser Versuch, cool zu sein, scheitert kläglich. Niemand reagiert. Kleinlaut schieben wir unsere Räder zu einem Zaun und harren der Dinge, die da kommen mögen.

Die Motorräder erhalten irgendwann das Startsignal und knattern los, verschwinden im dicken Schiffsbauch. Uns signalisiert ein Hafenmitarbeiter, dass wir warten sollen, bis uns ein Sonderfahrzeug den Weg bereiten wird. Neugierig suchend sehen wir uns um. Es ist jetzt zwischen 22.00 und 23.00 Uhr und die Abfahrt des Schiffes für 3.00 Uhr vorgesehen. Bis zu zwei Stunden vor Abfahrt ist ein Einchecken möglich, aber da die Fahrt insgesamt so schrecklich kurz erscheint mit ihren neunundzwanzig Stunden, stehen wir natürlich längst abfahrbereit hier herum. Außerdem sind wir in dieser Hinsicht typisch deutsch und wollen pünktlich sein. Die meisten der Wartenden freuen sich bestimmt schon auf den Einzug in ihre Schlafkabinen, wir uns auf die Eroberung der besten Ruhesessel. In meiner Jugendzeit bin ich, zusammen mit meinen Eltern, oft nach Norwegen und Schweden gereist. Die Fähren habe ich als schwimmende Kolosse mit Kinoraum, Casino, Restaurants und gemütlichen Ruhezonen mit warmem Teppichboden und kuschligen Polstersesseln in Erinnerung. Letzteres ist einer der Gründe, weshalb wir uns gegen eine Kabine entschieden haben. Wie sehr ich mit meinen Mutmaßungen daneben liegen soll, werden wir schon bald am eigenen Leib spüren …

Zunächst aber rollt tatsächlich so etwas wie ein Safety Car heran. Wir erfahren, dass es sich um einen Spezialtransport für Menschen mit Behinderungen handelt, Personen, die Unterstützung beim Boarding benötigen. Der Fahrer bittet uns, ihm zu folgen, und rät, kurz vor der Fähre in den niedrigsten Gang herunterzuschalten. Dabei deutet er auf eine respektable Rampe, welche die Passagiere in das Schiff geleitet. Wir nicken und dann geht es auch schon los. Langsam, wirklich ganz langsam, rollt das Auto vorneweg, wir bleiben dicht dahinter. In gebührendem Abstand trödeln weitere PKW hinter uns her. Wie empfohlen betätigen wir rechtzeitig unsere Schaltung und keuchen mit flinken Beinchen die Schräge hinauf, Pedaltritt für Pedaltritt gelangen wir auf das Autodeck. An dessen Ende stoppt unser Geleitfahrzeug, der Fahrer steigt aus und zeigt auf ein paar Paletten an der Wand. „Hier dürfen Sie Ihre Räder anlehnen“, weist er uns ein und will wissen, „War das Tempo in Ordnung oder bin ich zu schnell gefahren?“

Wir schütteln die erröteten Köpfe und beteuern: „Alles in Ordnung, es war ein Klacks, Ihnen zu folgen.“ Leicht verschwitzt parken wir unsere Zweiräder, schnallen Proviant, warme Sachen sowie Wertgegenstände ab und machen uns auf den Weg zum Ausgang.

Wir kommen an einem Rezeptionstresen zum Stehen. „Welche Kabinennummer haben Sie denn?“, möchte ein freundlich lächelnder Mann in Uniform wissen.

„Gar keine, wir wollen in den Ruheraum“, erwidern wir beinahe synchron.

Ein mitleidiger Blick trifft uns. „Deck zwölf“, deutet er mit seinem ausgestreckten Zeigefinger nach oben.

Ahnungslos, was uns erwartet, machen wir uns auf den Weg. Schritt für Schritt gelangen wir höher, bis wir uns in einem offenen Bereich, der zu beiden Seiten von Sitzreihen gesäumt wird, wiederfinden. Es zieht, Lärm kann sich ungehindert ausbreiten und alles sieht wahnsinnig unbequem aus.

„Wir müssen falsch sein“, finde ich als Erste meine Sprache wieder. „Das ist doch kein RuheRAUM“, fahre ich fort und betone jeden einzelnen Buchstaben des Wortes sorgfältig, um meiner Einschätzung den nötigen Nachdruck zu verleihen. Mein Blick gleitet über das grell beleuchtete Areal. In der festen Annahme, uns verlaufen zu haben, steigen wir mit Sack und Pack wieder eine Schiffsetage hinab und sehen uns dort um. Es gibt einen Shop, Spielautomaten, Kinderspielplatz, Fitnessraum, alles Mögliche, nur kein Zimmer, das zum Schlafen vorgesehen sein könnte. Wir fangen eine Mitarbeiterin ab und erkundigen uns nach dem gesuchten Bereich. Sie deutet zur Treppe in die Richtung, aus der wir gerade gekommen sind.

„Wirklich?“, konsterniert blicken wir sie an. „Dort oben sollen wir schlafen?“

Mit einem knappen Nicken verschwindet sie und lässt uns zurück.

Kopfschüttelnd und betreten schweigend steigen wir erneut Stufe für Stufe hinauf.

Am Treppenabsatz angekommen, schweifen unsere Blicke erst nach rechts, dann nach links. Wo nur gibt es die besten Plätze? Einige wenige Passagiere haben es sich bereits „bequem“ gemacht. Wir entscheiden uns für die letzte Reihe auf der rechten Seite, bestehend aus drei Plätzen, direkt an der Ausgangstür zum Sonnendeck. Wir hoffen, dass wir diese Reihe ganz für uns allein haben, ohne Sitznachbar. In deutscher Sonnenliegen-Handtuch-Reservier-Manier bestücken wir also die drei Sitzflächen mit unserem Gepäck. Dann entdecken wir ein Schild, gut sichtbar angebracht: „EVENTUELLE ÜBRIG GEBLIEBENE KABINEN KÖNNEN SIE AN DER INFORMATION ZUR ABFAHRTSZEIT UND AM SEETAG WÄHREND DER ÖFFNUNGSZEITEN DER INFORMATION KAUFEN.“ Offensichtlich wissen die Betreiber der Fährgesellschaft sehr genau, was sie ihren Ruhesesselgästen antun. Wir sehen uns um, wollen herausfinden, wer ähnlich sparsam ist wie wir, und erwarten Jugendliche, Studenten, trinkfreudige Cliquen junger Menschen, ohne Geld auf dem Konto. Tatsächlich machen wir niemanden dieser vermeintlichen Zielgruppe aus. Stattdessen schauen wir in die Gesichter zweier Frauen um die dreißig, erblikken ein Pärchen in den Vierzigern, sogar eine Familie mit jugendlicher Tochter hat sich niedergelassen. Wir schieben unser Gepäck ein wenig zur Seite, nehmen auf der Sitzkante Platz. Die Rückenlehnen lassen sich kaum nennenswert verstellen. Von oben fällt grelles Licht, das sich nicht dimmen lässt, auf uns hinab. Hier sollen wir schlafen, mehr als dreißig Stunden verbringen? Ohne es laut aussprechen zu müssen, ist jeder von uns klar, was die andere denkt. Neugierig beobachten wir, wie tatsächlich weitere Fahrgäste ankommen. Ihre Gesichtszüge entgleisen beim Anblick unseres gemeinsamen Schlafzimmers. Offensichtlich sind wir nicht die einzigen, die sich unter dem Wort RUHEBEREICH etwas anderes vorgestellt haben. Vor uns hat ein deutsches Pärchen Platz genommen, wir kommen ins Gespräch, bauen uns gegenseitig auf. „Wir machen es uns schon gemütlich!“, kündigt der Mann, der sich als René vorstellt, entschlossen an. Sogleich erhebt er sich, dreht an der Abdeckung der Lichter über uns herum und hält bald eine kleine Milchglasscheibe in der Hand. Dann beginnt er damit, aus einer Zeitung kreisrunde Stücke herauszuschneiden – exakt in der Größe der Lampen, platziert sie an der Birne und befestigt die Abdeckung wieder. Gespannt warten wir, ob der Umbau zu übermäßiger Hitzeentwicklung führt und Feuer fängt. Nach einigen Minuten des Beobachtens befinden wir die Konstruktion einstimmig als sicher. René setzt seine Arbeit fort, bis die beiden hintersten Reihen in romantisches Dämmerlicht getaucht sind. Seine Frau Susan studiert das A4-Blatt, das uns allen beim Einchecken gereicht worden ist, und erhellt unsere Gemüter mit der frohen Botschaft, dass es an Bord eine Sauna gebe. Euphorisch setze ich mich auf. „Wirklich? Dann können wir uns ja sogar duschen“, bringe ich begeistert hervor. Denn wer weiß, wann sich in der finnischen Wildnis die nächste Gelegenheit dazu bietet. Da wir den heutigen Tag bereits in Travemünde mit einem Bad im Meer verbracht und vergessen haben, uns am Strand Salz und Sand von der Haut zu spülen, erreichten wir die Fähre bereits in einem recht klebrigen Zustand. Toll, dass wir das Schiff nun sauberer verlassen werden, als wir es betraten. Für ihre Saunakultur liebe ich die Finnen jetzt schon! Aber Moment mal, wenn wir saunieren wollen, benötigen wir Handtücher und die lagern auf dem Autodeck in unseren Radtaschen.

„Meint ihr, ich darf noch einmal hinunter?“, will ich von meinen Mitreisenden wissen.

„Klar, warum nicht, es dauert doch noch, bis wir ablegen“, entgegnet René.

Schnell springe ich auf und stürze in den Schiffsbauch hinab. An einer massigen Tür angekommen, betätige ich einen Knopf und tatsächlich, ich erhalte Zutritt. Zielstrebig steuere ich auf die Räder zu und fummele die Handtücher heraus. Zwei weitere Fahrräder mit Gepäck haben sich zu unseren gesellt. Nun sind wir schon vier Abenteuerlustige, die auf die Idee gekommen sind, Finnland per Fahrrad zu erkunden. Ich klemme mir die Mikrofaserhandtücher unter den Arm und schlendere zu Cornelia zurück. Kaum angekommen, glänzt sie mit einer hervorragenden Idee: „Was hältst du davon, wenn wir auch noch unsere Isomatten holen, um auf dem Fußboden zwischen und an den Sitzen ruhen zu können?“ Ich nicke, drücke ihr die Badetücher in die Hände und verschwinde sogleich wieder.

Nach einigen Gängen zum Autodeck haben wir irgendwann fast unser gesamtes Gepäck bei uns und sind bestens ausgerüstet für ein Leben ohne Kabine. Bei einem meiner Wege habe ich es mir dennoch nicht nehmen lassen, nach einer freien Koje zu fragen. Wir hätten unterkommen können, allerdings nicht zum Restposten-Preis, sondern für einen Betrag zwischen zwei-/dreihundert Euro. Vollkommen überflüssig, finden wir, nachdem das Lager errichtet und die Kameratasche sowie der Proviantbeutel in einem der geräumigen Schließfächer in unserer unmittelbaren Nähe verstaut sind.

Es muss gegen null Uhr sein, als ein weiterer Ruhesesselpassagier das Schlafterrain betritt. Er fällt sogleich auf, nicht nur, weil er Schultern wie ein Schwergewichtsboxer hat, sondern vor allem, da seine wohlpolierte Glatze mit einem ansehnlichen Spinnennetz inklusive Bewohnerin verziert ist. Solch ein hässliches Tattoo habe ich selten gesehen und aufgrund meiner heftigen Phobie ist mir die schwarze, dicke Achtbeinerin erst recht nicht geheuer. Der massige Biker mit Lederjacke, die den Schriftzug eines bekannten Rockerclubs trägt, lässt sich zwei Reihen vor uns in den Sessel fallen, stolpert aber bald wieder los, um sich ein Glas Rotwein zu holen – ganz stilecht Biker eben! Es dauert nicht lange, bis er sich Cornelia und mir vorstellt. Ich habe keine Ahnung, weshalb er gerade uns als Konversationspartnerinnen auserkoren hat. Jedenfalls kommen wir ins Gespräch und erfahren, dass der Finne auf dem Rückweg aus Nordspanien ist, wo ein großes Treffen seiner Gang stattgefunden hat. „War cool“, fasst er zusammen. Dann erzählt er über seine Heimat, berichtet, dass Finnland – aufs Wetter bezogen – in diesem Jahr einen besonders guten Sommer genießt. Irgendwann im Laufe unseres Plausches gelingt es mir dann auch, nicht mehr unentwegt auf sein Tattoo zu starren und mich vor der Vogelspinne zu ekeln. In kurzen Abständen verschwindet der Typ zur Schiffsbar und kehrt stets mit einem neuen randvoll gefüllten Rotweinglas zurück. Den Gesprächsfaden zu uns nimmt er gekonnt immer wieder auf. Irgendwann ploppen auch wir uns eine Flasche deutsches Bier auf. Wie gut, dass wir an derartigen Proviant gedacht haben. Eigentlich ist es gar nicht erlaubt, eigens mitgebrachte Leckereien zu sich zu nehmen, aber dem Rocker macht es nichts aus, uns auch nicht. Hier in unserem kleinen „Fähr-Ghetto“, wie wir es liebevoll getauft haben, herrschen sowieso eigene Regeln und Gesetze. Als unser Freund nach dem schätzungsweise fünften Glas mit Rotwein beachtlich schwankt, ziehen wir die Reißverschlüsse unserer Schlafsäcke bis oben hin zu und verabschieden uns in das Reich der Träume. Ganz beruhigt können wir in den Schlaf gleiten, denn wir sind sicher, heute die richtigen Freundschaften geschlossen zu haben, und genießen den Schutz des imposanten Hünen. Ja, man sollte sehr genau schauen, mit wem man sich gut stellt. Auf dem Rücken liegend, zwinkere ich Cornelia über den Spiegel, der die gesamte Decke ziert, zu und wünsche ihr eine gute Nacht. Ich glaube, auch unser motorradverliebter Meister Proper mit ausgeprägter Vorliebe für Gliederfüßer nickt ein …

Seetag: Sauna & Sonnenuntergang