Okaasan - Milena Michiko Flasar - E-Book

Okaasan E-Book

Milena Michiko Flasar

4,4

Beschreibung

Leicht und direkt erzählt Milena Michiko Flašar von der Liebe, der Angst und dem Sein. Franziskas Mutter liegt im Sterben. Es ist ein langsamer Prozess, der sich über die erste Verstörung, das erste Vergessen, den ersten Realitätsverlust vollzieht. Momente, die Franziska irritieren, da sie das Bild ihrer Mutter, einer von Disziplin und Kontrolle geleiteten japanischen Emigrantin, vollends zu verwischen drohen. Durch die Umkehrung der Rollen und ihre plötzliche Hilfsbedürftigkeit erscheint Franziskas Mutter als eine Unbekannte, eine Fremde. Vor den Augen ihrer Tochter verwandelt sie sich zurück in jene junge Frau, die sie einmal war - mit Sehnsüchten, Hoffnungen und Leidenschaften. Nach dem Tod ihrer Mutter öffnet sich für Franziska eine Lücke. Eine neue Art der Einsamkeit. Ein Spalt, durch den hindurch sie sich auf eine Reise begibt - oder auf die Suche nach einer anderen, ja nach der allumfassenden Mutter schlechthin. Milena Michiko Flašar zaubert mit stilistischer Souveränität eine Intensität der Gefühle herbei.

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Milena Michiko Flašar

Okaasan

Meine unbekannte Mutter

Milena Michiko Flašar

Okaasan

Meine unbekannte Mutter

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2010 Residenz Verlagim Niederösterreichischen PressehausDruck- und Verlagsgesellschaft mbHSt. Pölten – Salzburg

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.Keine unerlaubte Vervielfältigung!

Covergestaltung: www.boutiquebrutal.comUmschlagbild: plainpicture/Maciej Pokora

ISBN ePub:978-3-7017-4215-8

ISBN Printausgabe:978-3-7017-1533-6

Mit freundlicher Unterstützung des Landes Niederösterreichund der Kulturabteilung der Stadt Wien

Meiner MutterIn Liebe

Teil 1

Blackbird singing in the dead of nightTake these broken wings and learn to flyAll your lifeYou were only waiting for this moment to ariseThe Beatles, Blackbird

1.

Es lohnt sich nicht, über die Väter zu schreiben, sagt Richard. Zu vieles sei über sie schon gesagt worden und nur die Hälfte davon sei wahr. An ihren Kern ist kein Hinkommen. Und wenn doch, dann mit unzähligen Wunden. Sieh her, er habe sich beinahe daran verbrannt. Manchmal denke ich, es wäre besser, ein Geheimnis zu bewahren. Mit den Müttern solle man gar nicht erst anfangen. Es sei denn, du möchtest – aus freien Stücken – verbluten. Nur zu!, ruft er, ich verspreche, mich rauszuhalten und ohne Mitleid beiseitezutreten. Du wirst wissen, wann du mich brauchst, und einsehen, dass es ein Irrsinn gewesen ist.

Richard ist Schriftsteller. In seiner Jugend hat er ein zorniges Buch geschrieben und für sich selbst und alle andern mit den Vätern dieser Welt gebrochen. Seine Mutter hat ihm nur halb verziehen und ihre Kränkung über die Jahre hinweg verschleppt. So lässt sich nicht abrechnen, hörst du? Genauso gut hättest du ihn erschießen können. Es wäre – womöglich – für alle verträglich gewesen. Dabei hatte Richard vor allem an sie gedacht. Es war sie, die er beschützen wollte, und sie, die er befreien wollte. Bis zuletzt hat er ihr das nicht erklären können. Noch am Sterbebett nannte sie ihn einen erbärmlichen Sünder.

2.

Als Richard schon längst gegangen ist, nehme ich sein Buch in die Hand und suche nach einer versteckten Entschuldigung. Irgendwo, denke ich, muss er eine Lücke gelassen haben. Einen hauchdünnen Spalt zwischen den Wörtern. Ganz gewiss muss es ihm leid getan haben, sich derart maßlos über seine Kindheit zu entrüsten. Selbst in der Hölle gibt es ein Plätzchen, an das das Feuer nur hin und wieder einmal hinreicht. Aber – nein! – in jedem Satz wohnt ein Schmerz, der sich nur schwer wiedergutmachen lässt. Ich erkenne sein Gesicht zwischen den Zeilen und ich erkenne seine verhärteten Züge. Eine ganze Generation ist darin versammelt und fordert ihr junges Alter zurück.

Ich kann verstehen, dass Richard mich warnt. Er geht noch heute manchmal an das Grab seines verstorbenen Vaters, um ihm die eine oder andere Zeile vorzulesen. Er ist lebendiger, als er es auf Erden je war. Und: Mein Gott!, ich habe immer noch Angst, er hätte eine unsichtbare Macht über mich. Seinen Tod hat er vielleicht nur vorgetäuscht, um mir – am Ende – ein schlechtes Gefühl zu geben. Armer Richard! Ich hätte ihm gerne – an seiner Mutter statt – vergeben. Es war eine andere Zeit, in die er geboren wurde, und eine andere Landschaft. Nur selten fand eine Versöhnung statt.

Aber hat er sich nicht umgedreht? Sich – an der Türschwelle – nach mir umgewandt und mich über alle Zeiten hinweg mit einem geraden Blick angesehen? Wenn du schreibst, flüsterte er, schreib mit Vorsicht! Ich habe gelernt, dass es eine andere Sprache als die der Anklage geben muss. Eine Sprache, die jenseits aller Verletzungen steht und sie – trotzdem – präzise beschreibt. Eine Sprache, die gerecht ist, ohne zu beschuldigen, und die – trotzdem – die Dinge benennt. Mein Atem ist zu kurz, als dass ich sie heute noch fände, und mein Zorn ist noch immer zu groß.

3.

Das Sterben meiner Mutter begann mit einem silbrigen Lachen.

An einem kalten Dezembermorgen spazierte sie in einem dünnen Nachthemd die Straße entlang und schlug sich an einem spitzen Randstein die Knie auf. Maiglöckchen, lachte sie, ich dachte, es rieche nach Maiglöckchen. Ihr Lachen klang hoch wie das Lachen eines sehr jungen Mädchens. Eine Sekunde lang vergaß ich darüber das Blut, das über ihre nackten Füße lief und sich wie fremde Zeichen in den grauen Schnee vermengte.

Fast hätte ich schimpfen mögen. Mama, was machst du für Sachen? Aber da hatte sie sich schon wieder auf ihre Beine gestellt und war einen Kopf kürzer als ich. Mir fiel ein, dass sie meine Mutter war und dass es also nicht anging, mit ihr zu schimpfen wie mit einem ungezogenen Kind. Sie sah ein, dass es Winter war. Sie nahm es hin als eine unveränderliche Gegebenheit und ging mit kleinen Schritten in ihr vernünftiges Zimmer zurück, dessen Kargheit sie bald ernüchterte.

Ich habe schlecht geschlafen, erklärte sie später und wischte sich mit einem Tuch die Wunden sauber. Ich habe geträumt, es sei Frühling und in den Straßen gingen die Leute spazieren. Sie suchte ehrlich nach einer Entschuldigung. Es war ihr peinlich, von ihrer Tochter bei einem Irrtum ertappt worden zu sein. Ihr Lachen war jetzt nachdenklich und gar nicht mehr jung.

4.

Der Tod ihres Mannes hat meine Mutter zum zweiten Mal heimatlos gemacht. Dieses Haus ist zu groß, als dass ich in ihm leben könnte. Die Wände sind kalt und es wohnen die seltsamsten Geräusche darin. Es sei grausam für sie zu sehen, wie sich die Räume, in denen sie seit vierzig Jahren gewohnt hatte, nun allmählich verformten. Beinahe schutzlos stand sie inmitten der Dinge, die sie kannte. Sie ging fremd zwischen durchgesessenen Stühlen und zog sich immer mehr in eine unbelebte Gegenwart zurück, als ob sie sich vor langer, langer Zeit an irgendeiner unvorhergesehenen Kante eine Verletzung zugezogen hätte und es nicht wahrhaben wollte, dass selbst die harmlosesten Gegenstände zu ihren Feinden geworden waren.

Stück um Stück befreite sie ihr Zuhause von seiner schweren Vergangenheit. Das Ehebett wurde verkauft, der Lehnstuhl verschenkt. Die alte Uhr wurde weggeworfen, der Wandschrank verheizt. Es hallte, wenn man durch die Gänge rief, und es gab nichts, wonach sich in ihnen noch zu rufen lohnte. Am Ende hatte sich meine Mutter in der Küche eingerichtet. Die anderen Zimmer wollte sie nicht mehr betreten. Alles, was ich brauche, ist hier. Und: Mit dem Alter kommt die Einfachheit.

5.

Mutter, wo bist du?, möchte ich fragen. Du hast dich entblättert wie ein müder Baum. Eines Tages werde ich gestorben sein, sagtest du. Aber ohne den üblichen Krach. Der Tod hat dir kein Entsetzen bereitet. Er ist wie der Punkt am Ende eines Satzes. Man hört ihn kaum. So sehr mühelos geht es weiter. Man schreibt einen Satz nach dem anderen. Aber, Mutter! Ich stelle mir vor, der Tod ist von einer wilden Geräuschlosigkeit. In der Art, wie man einen Kieselstein in den Ozean wirft. Es schlagen die Wellen und es kreischen die Möwen. Doch das Aufschlagen des Steins ist für niemanden von Bedeutung. Selbst der Meeresgrund bleibt davon unberührt. Erst jetzt begreife ich, dass du das Haus für deinen eigenen Tod leer geräumt hast. Du hast ihm Platz gemacht, damit er sich breitmachen konnte. Keine Bedürftigkeit wolltest du zwischen ihm und dir stehen haben. Er sollte wissen, wo du zu finden seist. Du warst vorbereitet wie jemand, der auf eine Reise geht.

Und das Altern? Ach – – – An das Altern hast du nie glauben wollen. Der Atem wird kürzer. Das ist alles. Du hast nur selten über deinen Körper gesprochen. Aber meistens aus einer misstrauischen Entfernung. Einen Verfall hast du für dich nicht in Betracht gezogen. Die Schwierigkeiten, von denen im Allgemeinen die Rede ist, betrafen die anderen, nicht dich.

6.

Erst in der Stadt fiel mir auf, wie klein meine Mutter geworden war. Fast drohte sie zu verschwinden. Ihre Hände waren schmal und ihr Kopf saß zerbrechlich zwischen den Schultern. Die schwarzen Haare, auf die sie ihr Leben lang stolz gewesen war, hatte sie sich mit der Küchenschere zu einer jungenhaften Igelfrisur geschnitten.

Gegen ihren Umzug, den ich für sie entschieden hatte, sträubte sie sich nur schwach. Es war das erste Mal, dass ich sie willentlich überging. Noch glaubten wir beide, dass es lediglich um eine natürliche Veränderung ging und dass es für ihre Hilflosigkeit eine gar nicht verbrauchte Erklärung gab. Mein Vater war tot. Das Haus war zu groß. Irgendwo – zwischen beidem – hatte ich beschlossen, sie zu mir in die Stadt zu holen. Auf deine alten Tage wirst du noch ein richtiger Stadtmensch, Mutter!

7.

Franziska, wo bin ich?, fragte sie. In der Nacht wurde sie unruhig und rief laut meinen Namen. Ich erinnere mich an die Zärtlichkeit, mit der sie mich als Kind oft ihr Fränzchen nannte, und wundere mich, warum man Mütter nie mit ihrem Namen kennt.

Meine Mutter heißt Miyuki M. Sie wurde 1940 in einer kleinen japanischen Provinzstadt geboren. Ihre Geburt war einfach und brachte den Vater an den Rand seines Verstandes. Sechs Mädchen!, rief er, als die Hebamme ihm das kleine Bündel entgegenhielt. Sechs Mädchen!, rief er und verschwand für den Rest jener Nacht. Erst viel später hat er sich dazu überwunden, sie in den Arm zu nehmen.

Ich versuche mir vorzustellen, wie brüchig diese Welt einem neugeborenen Kind erscheinen muss. Ich bekomme ein Gefühl für die heimliche Finsternis des Mutterleibes, aus dem herauszukommen eine solche Beschwerlichkeit bedeutet. Ein fertiger Körper wächst aus einem anderen. Es ist ein widerständiger Kampf, an dessen Ende eine maßlose Erschöpfung liegt. Ich frage mich, mit welcher Gewalt der erste Atemzug passiert. Ganz gewiss schmeckt er fremd. [Unsere Luft ist so rau.] Ich empfinde einen Schmerz, den ich nur von der Liebe kenne, und bin nass von einer Anstrengung, die ich mir kaum ausdenken mag. Die Dinge müssen sich drehen, meine ich. Alles greift spitz an die Haut und ist dicht.

Ich kann nicht glauben, dass meine Mutter jemals geboren wurde. So, wie ich nicht glauben kann, dass sie morgen (oder schon heute) sterben wird.

8.

Judith war die erste, die einen Unterschied bemerkte. Ihre Aufmerksamkeit war von einer Art, wie sie nur einem Unbeteiligten möglich ist, da er sich abseits der Gravitation und der Schwere aufhält, die bestimmen, wie sich zwei Menschen zueinander bewegen. Ihre Augen sahen die Besonderheiten einer Normalität, die sich für mich seit dem Einzug meiner Mutter nur geringfügig verändert hatte.

Sie schaut einen nicht an, wenn sie spricht, sagte sie. Ihr Blick geht fremd und ohne Interesse. Es ist, als ob die Welt für sie in zwei Teile gefallen sei, und man kann sehen, wie sie ihr rücksichtslos entgleiten.

Ich suchte nach einem Protest. Was fällt dir ein?, wollte ich einwerfen. Aber da war die Verletzung schon tief unter das Fleisch gewandert. Es tat weh, eine dritte Stimme zu hören. Sie klang wie der verzerrte Widerhall meines eigenen Befremdens und drang in eine Wunde, die ich sorgsam vor mir selbst verschlossen hatte.

Du weißt, wie es läuft, fuhr sie fort. Es fängt an mit einer kleinen Vergesslichkeit und hört auf mit dem Verlust ganzer Lebensläufe. Bitte sei still! Ich wünschte, ich irrte mich.

Judith ist eine der wenigen Personen, die von sich behaupten können, keine Mutter zu haben. Ihre Mutter starb kurz vor ihrer Geburt und hinterließ eine Trauer, die – haargenau – aussah wie Schuld. Die ersten Bilder, die es von mir gibt, sind von einer gespenstischen Unschärfe. So, als ob es mich nie hätte geben sollen. Nur selten steht jemand dabei und lacht. Meine Kindheit war einsam und ohne die Tröstungen, die man – auch wenn man glücklich ist – braucht.

Hat deine Mutter für dich eine Gestalt?

Ja, in der Art einer Abwesenden. Verstehst du? 10 Stühle stehen in einem Kreis. Auf jedem sitzt ein Mensch. Außer auf einem. Man weiß genau, wer fehlt. Man kennt seinen Namen. Er ist da in der Form einer Lücke, die jeder sehen kann. (…) Erst kürzlich habe ich auf dem Dachboden eine Schachtel mit alter Kleidung von ihr gefunden. Der Geruch war mir auf seltsame Art und Weise vertraut.

Ich nahm Judiths Hand und war einen losen Augenblick lang ihre Mutter.

Meine Hände ähneln den ihren, heißt es.

9.

Mutter, ich frage mich, ob wir uns ähnlich sind. Es gab Leute, die meinten, wir sähen wie Schwestern aus. Dabei ist unsere Ähnlichkeit gar nicht äußerlich. Manchmal blicke ich in den Spiegel und versuche, dich in mir wiederzuerkennen. Es gelingt mir nur halb und es ist jedes Mal eine kleine Enttäuschung.

Du schläfst, ohne dich jemals zu bewegen. Um deinen Mund ist ein qualvoller Zug, der mir zuvor niemals aufgefallen ist. Sie hat Angst, sagte Schwester Beata. Sie glaubt, jemand wolle sie betrügen. Es hat lange gedauert, bis wir sie – endlich – beruhigen konnten. Ich schaue lange in dein verfolgtes Gesicht und bin erstaunt über unsere Verwandtschaft.

Das ist nicht meine Mutter! Ohne Entsetzen probiere ich den Klang dieser Worte. Sie stimmen genau so, wie ihr Gegenteil stimmt. Selbst dein Name, der in großen Lettern am Fußende deines Bettes steht, ist höchst ungewiss und verändert seine Form mit jedem Tag, an dem du ein Stück deiner Bewusstheit verlierst. Es ist, als ob er verwischt werden würde.

10.

Es war schwierig geworden, keinen Verdacht zu schöpfen. Nach Judith kamen andere, die mich warnten, und es gab nichts, was ich ihnen entgegenhalten konnte. Kein Aufschub hätte sie retten können. Die Auslöschung meiner Mutter war für jedermann deutlich erkennbar geworden. Sie ging durch meine Wohnung wie ein Tier, das nach Jahren im Zoo zu seiner ursprünglichen Wildheit zurückkehrt.

Es ist ein stetiger Abbau, sagte der Arzt. Ihn mit anzusehen ist für die meisten eine Überforderung. Mittendrin zu stehen – – – ist beinahe untragbar. Bitte schämen Sie sich nicht, wenn Sie das Gefühl haben, es zu zweit nicht bewältigen zu können. Gerade der Anfang ist schwierig und voller Angst. Man verliert einen Menschen, der noch gar nicht gestorben ist, fügte ich leiser hinzu. Und stumm: Er ist überaus lebendig. Er wandert durch Räume, die er kennt und die ihm dennoch wie fremde Landschaften erscheinen. Er gebraucht Wörter, die er einst für sichere Zeichen gehalten hat. Doch ihre Bedeutung zerbröselt in seinem Mund. Die Sätze werden kürzer und ragen wie Inseln aus trübem Gewässer. Sie haben nichts miteinander zu tun und stehen auf einem morastigen Grund. Die Wirklichkeit und ihre Wichtigkeiten tauchen ab. In eine unbestimmbare Unterwelt.

11.

Was geschieht mit mir?, fragte meine Mutter und blickte mich geradeaus an. Ihre eigene Unsicherheit war ihr nicht entgangen. Noch gab es in ihr eine Instanz, die Zeuge war, auch wenn sie nur selten durch die innersten Mauern brach. Wie das Aufblitzen eines Blitzlichtes erhellte sie für Sekunden die Dunkelheit und hinterließ eine noch größere Finsternis als zuvor.

Aber wie hätte ich es ihr erklären sollen? Mit welcher Unwahrheit wäre ihre Krankheit weniger schlimm gewesen? Mit welchem Schwindel hätte ich sie vor ihr bewahrt? – – – Ich schwieg, sooft sie mich fragte, und ließ zu, dass ihr Zorn sich an meinem Schweigen entbrannte. Es war eine böse Wut, die von ihr Besitz ergriff und die nach Jahren der Zurückhaltung nun endlich eine Stimme bekam.

Du lügst, wenn du schweigst!, rief sie. Und du lügst, weil du gegen mich bist! Diese Welt ist ein schlechter Ort. Ich hätte niemals hierherkommen sollen. Sie weinte. Nirgendwo ist ein Platz. Nirgendwo ist ein – – – Gott!, ich weiß nicht, was ich – – – ach. Sie schlug mit der Faust gegen die Wand. Es ist mir egal. Hörst du? Es ist mir egal. Ihr Gesicht erstarrte zur Maske.

12.

Wenn ich an meine Mutter denke, denke ich zuerst an ihre Zärtlichkeit. Ich will nicht vergessen, dass ihre Anwesenheit eine zärtliche war. Auch heute, wenn es ihr gut geht, kann sie mit einem Lächeln ein Stück unserer alten Welt wiederherstellen. Sie sagt: Mein Fränzchen, ich habe dich vermisst!, und ihre Hände umklammern die meinen, als ob sie nicht wollte, dass ich sie gehen ließe.

Miyuki M. war ein kränkliches Kind. Sie aß nur wenig und erbrach oft im Schwall, was sie an wenigem zu sich genommen hatte. Ihre Haut war bläulich und wurde schnell kalt. Zweimal wäre sie beinahe gestorben, weil ihre Mutter sie zu lange unter dem kotatsu, einem beheizten Tisch, vergessen hatte. Jedes Mal war es ein knappes Überleben und eine Rückkehr in eine Familie, deren Brüchigkeit parallel zu der wachsenden Zahl ihrer Kinder gestiegen war. Der Krieg hatte eine innere Verwahrlosung in Gang gesetzt. [Man kennt das Bild eines faulenden Apfels.] Nur wenige hatten den Mut zur Aufrichtigkeit.

An ihrem dritten Geburtstag hielt ihr Vater seinem Teufel nicht mehr stand und verließ die Stadt, ohne ein Wort zu hinterlassen. Er war ein alt gewordener Abenteurer, der seiner Verantwortung entgehen wollte. Eine Trauerfigur in einer Zeit der Not. Jemand, der sich nicht zu helfen wusste, sagte meine Mutter, und ich sage dies nicht in der Absicht, ihn zu entschuldigen. Sondern in der Absicht, ihm zu verzeihen. Sie war schon lange nicht mehr ansprechbar gewesen, als sie mir zum ersten Mal davon erzählte. Ihre Stimme aber klang frei und war ohne Erschütterung. Ihre Genauigkeit überraschte mich derart, dass ich ihr jedes Wort glaubte.

13.

Wie hältst du das aus?, fragte Georg. Ihre Ausbrüche? Ihren Wahnsinn? Ihre Wut? Ich weiß es nicht, sagte ich und ließ einen bedeutsamen Abstand zwischen den Wörtern: Vielleicht, weil danach für Minuten eine unendliche Stille aus ihr spricht. Sie weiß so vieles, von dem sie glaubt, es schon längst nicht mehr zu wissen. In der Stille wird es lebendig und überquert die Entfernung zwischen ihrer fest gefügten Vergangenheit und ihrer fragwürdigen Gegenwart. Fragwürdig? – Ja, lose! Wie die Blätter im Herbst! Du kannst sehen, wie sie einzeln zur Erde kreiseln und sich auf dem Boden zu einem neuartigen Muster formieren. Ich frage mich manchmal, wer sie ist. Es ist, als ob sie sich jetzt – da sie sich vergisst – die Freiheit nehme, zu einem vollkommen neuen Menschen zu werden.

Aber ihre Verrücktheit! Verletzt sie dich nicht? Ich spreche nur selten darüber. Es gibt Tage, an denen sie stundenlang an einer Schuld festhält. Du hast meine Uhr gestohlen. [Meine Zeit!] Du hast mein Essen vergiftet. [Mein Leben!] Du hast meine Briefe verbrannt. [Meine Erinnerung!] Ich übersetze ihren kleinmütigen Zorn in seine größeren Zusammenhänge und erkenne mit Erstaunen, dass er so seine Gewalt verliert. Es ist der Widerstand eines trotzigen Kindes. Weiter nichts. Wenigstens ringt sie um ihre Rechte.

Und sonst? Ich habe begonnen, ihre Sprache zu lernen. O-k-a-a-s-a-n. Das ist das japanische Wort für Mutter. Wenn ich es sage, bin ich ihr näher, als ich es vorher je war. Es ist, als ob es sie wie ein magischer Bann an die Oberfläche zurückriefe. Oder als ob ich ihr ein Stück weit in ihrer Gedächtnislosigkeit entgegenginge. Sie spricht jetzt oft ganze Absätze lang in ihrer Sprache. Ich vermute fast, sie will, dass sie niemand versteht. Fernab ihrer Gewohnheiten baut sie an einer Heimat, die niemandem zugänglich sein soll. Nur für mich legt sie manchmal eine vage Spur.

14.

Ich gebe zu, ich bin neidisch, flüsterte Georg nach einer nachdenklichen Pause. Bis zuletzt haben meine Mutter und ich nicht verstanden, was der eine vom anderen wollte. Dabei sprachen wir beide dieselbe Sprache. Es war ein Missverständnis. Von Anfang an! Ein Lärm, der alles übertönte, selbst wenn wir nichts sagten. Und ein Unbehagen, das sich bis zu ihrem Tod (und danach) in einen derart ungesunden Schatten verwuchs, dass ich mich wundere, überhaupt ein Mensch zu sein, der unter halbwegs normalen Bedingungen lebt. Die Umstände waren so grob, dass sie mich genauso gut hätten zerstören können.