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Radikalisierung, Autoritarismus, Kriegstreiberei, Xenophobie und Kontrollverlust: Wir alle spüren das nervöse Fieber und es erinnert uns an längst vergangen geglaubte Zeiten. Oliver Rathkolb macht die Ursache an der »ersten und zweiten Turboglobalisierung« fest. Politische Umwälzungen, ökonomische Krisen und technologische Innovationen überfordern im Vorfeld des Ersten Weltkriegs wie auch heute die nationalen Gesellschaften und ihre politischen Eliten – und rufen die Raubritter der Wirtschaft auf den Plan. Irrationale Fehlentscheidungen in der Politik, eine Polarisierung der Bevölkerung und das Gefühl der Marginalisierung des Einzelnen wecken eine Sehnsucht nach dem »starken Mann« und einfachen, oft gewaltvollen Lösungen für komplexe Probleme. Steht uns ein neues autoritäres Zeitalter bevor?
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Seitenzahl: 278
Veröffentlichungsjahr: 2025
OLIVER RATHKOLB
ÖKONOMIE DER ANGST
DIE RÜCKKEHR DES NERVÖSEN ZEITALTERS
1 DER AUSGANGSPUNKT: ÜBERFORDERUNG
2 ÜBERALL ANGST, ANGST, ANGST: GLOBAPHOBIA
3 GLEICHZEITIGKEIT DER EXTREME: VON DER ERSTEN ZUR ZWEITEN MODERNE
4 FULTONS MONSTER, DAS IPHONE UND DIE KI
5 VON ROBBER BARONS UND CYBER BARONS
6 BRINGT BILDUNG INNOVATION?
7 INNOVATIONSTURBOS VOR 1900
8 PUTIN, XI UND DIE POLITIK DER AGGRESSION
9 WEGBEREITER UND PIONIERE DER DIGITALEN REVOLUTION
10 EUROPA HINKT HINTERHER
11 EIN PERPETUUM MOBILE: DIE TRIGGERPUNKTE DER NERVÖSEN ZEITALTER
12 RUFE NACH DEM STARKEN FÜHRER: SYMPTOME DER GLOBALEN ÜBERFORDERUNG
13 WERTEMUSEUM ODER AUTORITÄR GEPRÄGTE WIRTSCHAFTSGEMEINSCHAFT: UNTERGANGSSZENARIEN UND ZUKUNFTSOPTIONEN EUROPAS
BILDNACHWEIS
ANMERKUNGEN
PERSONENREGISTER
Für Lydia,die dieses Buch mit Inspiration und Recherche mitgetragen hat
1
Als ich mich mit den ersten Plänen für dieses Buch trug, dachte ich noch, dass wir im Vergleich zur Zeit vor 1914 in einer vernünftigen und politisch kontrollierbaren neuen Welt leben. Sie schien sich trotz der Wirtschafts- und Finanzkrise 2007/2008 in Richtung einer friedlichen und vielleicht auch sozial gerechteren Zukunft zu entwickeln. Zwar gab es Naturkatastrophen wie das verheerende Erdbeben in Haiti und folgenreiche Unglücksfälle wie die Explosion der Bohrinsel Deepwater Horizon, aber der Arabische Frühling schien die Demokratie auch in den nordafrikanischen Raum zu verbreiten. Diktaturen wie jene in Tunesien wurden durch Massenproteste zerstört, die ab 2011 an Intensität zunahmen. Wir alle hatten das Gefühl, jetzt wird auch Nordafrika, getragen von einer jungen Generation, die die digitalen Medien zu nutzen versteht, Teil einer globalen Demokratiebewegung. Das galt auch für die ehemals kommunistische Sowjetunion und die Länder Ost- und Südosteuropas.
Ich befürchtete damals, dass der angedachte Vergleich nicht wirklich interessante Ergebnisse liefern kann. In den USA blühten zahlreiche politische Hoffnungen um den ersten afro-amerikanischen Präsidenten Barack Hussein Obama, obwohl ihn ein New Yorker Immobilienunternehmer namens Donald J. Trump im Februar 2011 beschuldigt hatte, gar nicht in den USA geboren worden zu sein.1 Nachdem im April 2011 die Langfassung der Geburtsurkunde aus Hawaii publiziert worden war, machte sich Präsident Obama drei Monate später beim traditionellen White House Correspondents` Dinner über den Baulöwen Trump lustig.2
Aber genau das Gegenteil ist passiert. Es kam noch schlimmer, als von Pessimisten prognostiziert: Russland verwandelte sich endgültig in eine brutale, aggressive Diktatur. China blieb am turbokapitalistischen Weg, intensivierte aber mit Hochtechnologie die totalitäre Überwachung der gesamten Bevölkerung und verfolgte mit skrupelloser Brutalität immer intensiver potenzielle Regimegegner. In Syrien tobte seit dem März 2011 ein furchtbarer Bürgerkrieg mit zumindest über 600.000 Toten und zwölf Millionen Flüchtlingen.3
Und Trump hatte 2011 erkannt, wie leicht er die Medien und die Öffentlichkeit mit einer eindeutigen Lüge unterhalten konnte. Sogar der US-Präsident selbst reagierte auf seine dreiste Anschuldigung. Trump sollte mit einer Unterbrechung zwei Mal Präsident der USA werden; in seinem second term versucht er, nicht nur den traditionellen Staat zu zerstören, sondern auch die Rechtsstaatlichkeit und jede Form von Gewaltenteilung und rechtlicher Kontrolle aufzulösen. Kein Mensch hätte dies 2011 vorausgesagt.
Die politische und ökonomische globale Bühne ist heute ebenso wie vor 1914 extrem unsicher, kaum kontrollierbar und in Bewegung. Der Ausgang ist völlig ungewiss. Tiefgreifende technologische Innovationen und deren rasche Umsetzung in völlig neuartigen industriellen Produktionsweisen sowie wesentlich schnellere Transport- und Vertriebsmöglichkeiten, verbunden mit globaler Ressourcen-Ausbeutung, führten und führen zu gravierenden persönlichen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen. Diese rasante Transformation überforderte die jeweiligen nationalen Gesellschaften und ihre politischen Eliten bereits in der Vergangenheit, selbst wenn heute das Gefühl vorherrscht, dass die Menschheit zum ersten Mal von derartig radikalen Veränderungen betroffen ist.
Auch die politischen Entscheidungsträger waren total überfordert von diesem „Turboglobalisierungstsunami“ und trafen in der Vergangenheit völlig irrationale Fehlentscheidungen, die dann im Ersten Weltkrieg explodierten. Diese Überforderung in den persönlichen Entwicklungen, geprägt von neuartigen psychischen Belastungen, führte auch zu neuartigen Erkrankungen. Das erste „nervöse Zeitalter“ war geboren, Angstgefühle wurden durch die autoritären gesellschaftlichen und politischen Strukturen unterdrückt.
Die Schule der Psychoanalyse um Sigmund Freud oder die Romane von Franz Kafka liefern anschauliche Auseinandersetzungen mit diesen Entwicklungen. Extreme Lärmpegel in den rasant boomenden urbanen Zentren, exzessive Arbeits- und Wohnbedingungen sind weitere Rahmenbedingungen für das nervöse Zeitalter 1.0 und verschärfen den psychischen Druck auf die Menschen aller Gesellschaftsschichten.
So kann der Erste Weltkrieg als Befreiungsschlag interpretiert werden, um diesem permanenten rasanten Veränderungsdruck zu entgehen und durch einen vermeintlich kurzen Krieg eine endgültige Entscheidung zwischen den gleichzeitig wirkungsmächtigen traditionellen, rückwärtsgewandten Trends und der Moderne und Avantgarde zu suchen.
Die längst vorhandenen, durchaus ambitionierten Anstrengungen der Friedensbewegung zur Verhinderung eines künftigen blutigen und lang andauernden Weltkriegs, des ersten mechanisierten Krieges, wurden einfach ignoriert. Überdies betrafen die Folgen der Schlachtfelder und Stellungskriege erstmals die gesamte Heimatfront; extreme Lebensmittelknappheit und die „Spanische Grippe“, eine Pandemie, sorgten für Hunger, Mangel und Tod.
Die von empirischen Erkenntnissen getragene Friedensbewegung wurde in der Öffentlichkeit nur am Rande wahrgenommen. Ihre Ängste und Befürchtungen wurden nicht ernsthaft thematisiert, sondern durch die Heldenparolen zum angeblich kurzen Krieg zurückgedrängt.
Ein ähnliches Phänomen finden wir übrigens in den letzten Jahren wieder: Mit Schlagworten wie „Ökokommunismus“ wird die Realität eines vielfach evidenzbasierten globalen Klimawandels nicht nur ignoriert, sondern Gegenstrategien werden bewusst bekämpft oder verhindert.
Ebenso paradox ist 1914 das völlige Negieren realer militärischer Kapazitäten und Strukturen. Nicht einmal die klare militärische Unterlegenheit Österreich-Ungarns konnte den Irrsinn der Entscheidung für den Angriff auf Serbien verhindern. Das Deutsche Reich war zwar hochgerüstet, an Menschen und Waffenmaterial aber gegenüber den alliierten Bündnispartnern England mit seinen Kolonien, Frankreich und Russland quantitativ beschränkt. Dazu kam der drohende Kriegseintritt der neuen wirtschaftlichen Großmacht USA.
Viele Protagonisten der Moderne in Europa sahen den Krieg sogar als eine Art Katharsis an. Rationales strategisches Handeln, wie es dies im 19. Jahrhundert zumindest auf politischer Ebene am Wiener Kongress 1814/1815 oder in der Bismarck`schen Einigungspolitik gegeben hatte, war längst nicht mehr vorhanden.
Die zentrale Grundthese des vorliegenden Buches ist, dass wir uns heute in einer durchaus vergleichbaren Situation befinden. Seit Mitte der 1980er Jahre hat vor allem die Wirkungsmacht der digitalen Revolution um 2000 bis herauf in die Gegenwart qualitativ noch intensivere und wesentlich schnellere globale Entwicklungsschübe in allen Lebensbereichen und Politikfeldern hervorgerufen. Die Irritationen und die Ängste der Menschen sind gleich geblieben, die Überforderung der Politik ist ebenso groß. Gleichzeitig werden reale zentrale ökologische und ökonomische Entwicklungen entweder ignoriert, verdrängt oder sogar gegen jede Evidenz massiv politisch bekämpft.
Wenn ich versuche, diese internationalen Vergleiche 1915/2025 auf meine eigene private Familiengeschichte umzulegen, so ergibt sich folgendes Bild: Mein Großvater Hans Rathkolb, der aus einer armen Kleinhäuslerfamilie in der Oststeiermark stammte, war bereits das Produkt dieser Entwicklung. Selbst in einer der ärmsten Gegenden Cisleithaniens konnte sein Vater, der Schneider Anton Rathkolb in Gnas, durch die kleingewerbliche Massenproduktion von Anzügen genügend Wohlstand erwerben, um seinem Sohn das Medizinstudium in Graz zu ermöglichen. Ein anderer Sohn, Dominikus, war ein erfolgreicher Gastwirt und Fleischhauer sowie Rennstall-Besitzer, der 1926 sogar ein Schloss, Poppendorf bei Gnas, erwarb. Andere Brüder reisten bereits vor 1914 zu den Pyramiden in Ägypten. Innerhalb einer Generation waren sie Globalisierungsgewinner.
Der junge Mediziner Dr. Hans Rathkolb wiederum erlebte den Ersten Weltkrieg vom ersten Tag an als Militärarzt – zuerst den blutigen und langwierigen Angriffskrieg gegen Serbien und dann die Stellungskriege in Südtirol und Italien bis 1917. Er wurde aufgrund dieser Erfahrungen zum Monarchie-Hasser und Großdeutschen.
Was hat die Generation meines Urgroßvaters und dann die Generation meines Großvaters verändert: Eisenbahn, Telegrafie, Reisemöglichkeiten, später auch zusätzliche Mobilität durch Autos, umfassend informierte Printmedien, Filme, Schallplatten und Migration. Einer der Brüder von Hans, Franz Rathkolb, ist vor 1900 schon in die USA ausgewandert, um dort 1911 als Söldner in Südkalifornien in den Frog Wars zu kämpfen und dann später als Pelzhändler in Milwaukee zu leben. Meine Großmutter mütterlicherseits, eine geborene Josefine Mrakava, stammte aus Runarz (Runárov) in Mähren und wurde als Krankenschwester nach Gmünd ins Waldviertel verschlagen, wo sich von 1914 bis 1918 ein riesiges Lager für Kriegsflüchtlinge aus Galizien und der Bukowina befand.
Wenn ich mich selbst jetzt im Vergleich zu dieser Generation des ersten nervösen Zeitalters einfüge: Ich bin 1955 nach Ende der alliierten Administration Österreichs geboren und habe um 1980 noch sehr konventionell meine Dissertation auf Schreibmaschine getippt. Immer wieder musste ich mit Lack korrigieren und neue Stellen hineinkleben, dann wurde der Text reingeschrieben.
Im Rahmen meines Fulbright-Stipendiums in den USA war ich ganz glücklich, dass ich in die kilometerlangen Tiefenspeicher der Library of Congress in Washington, D. C. hineingehen konnte, um vor Ort selbst Bücher auszuheben oder zu lesen. In Wien erhielt man Bücher nur unter strikten Auflagen, mit strengen Mahngebühren am Counter, eine Speichererlaubnis war fast nicht zu bekommen.
LAGER GMÜNDDas riesige Lager für Kriegsflüchtlinge aus Galizien und der Bukowina in Gmünd im Waldviertel im Jahr 1916. Lager aller Art wurden zur Signatur des von zwei Weltkriegen erschütterten Europa.SZENE AUS DER ZEIT DER SPANISCHEN GRIPPEDer Vater ist im Krieg, die Mutter schwer krank, zwei Mädchen müssen den Sarg ihrer verstorbenen Schwester selbst zum Friedhof schleppen. Titelbild der „Illustrierten Kronen-Zeitung“ vom 2. Dezember 1918.Volltextdatenbanken gab es noch um 2000 nur in den USA, und ich wurde von einem Vizerektor gerüffelt, weil ich dieses Manko, dass es derartige Volltextdatenbanken für die Geisteswissenschaften an der Universität Wien nicht gab, öffentlich gemacht hatte.
Heute habe ich selbst einige archivalische Volltextdatenbanken initiiert, die Universität Wien verfügt nunmehr über Onlinezugänge zu vielen Zeitungs- und Zeitschriften-Volltextdatenbanken. Die Österreichische Nationalbibliothek bietet mit ANNO einen riesigen, durchsuchbaren Printmedienspeicher mit 27 Millionen Seiten und 1600 Zeitungstiteln an, der Jahr für Jahr erweitert wird. Auch international nehmen historische Volltext-Zeitungs- und -Zeitschriftenarchive zu, jedoch sehr oft mit einer Bezahl-Barriere.
Modelle künstlicher Intelligenz werden das wissenschaftliche Recherchieren und Forschen sowie Publizieren noch tiefgreifender beeinflussen, wobei die Übersetzungsprogramme inzwischen schon alle öffentlich zugänglichen Wissensspeicher erschlossen haben.
Beschleunigt durch die Covid-19-Pandemie verändern digitale Entwicklungen die Rahmenbedingungen für politische Gestaltungsund Aushandlungsprozesse sowie Partizipations- und Kommunikationsmöglichkeiten. Offen wird darüber diskutiert, ob – global gesehen – demokratische Wahlen überhaupt noch möglich sind, oder soziale Medien und zuletzt die KI den demokratischen Diskussionsprozess so manipulieren, dass wir vor einem neuen autoritären Zeitalter stehen – vergleichbar mit dem ersten nervösen Zeitalter vor 1914, aber unter anderen Vorzeichen.
Der erste Blick dieses Buches richtet sich auf die Gegenwart und versucht, durch den historischen Vergleich mit der Zeit vor 1914 einen Trend für die künftige Entwicklung Europas im globalen Kontext präziser festzumachen. Gleichzeitig soll dieses historische Orientierungswissen helfen, Strategien zu entwickeln, um den zuletzt von dem rechtsgerichteten französischen Historiker und EU-Hasser Emmanuel Todd prognostizierten Niedergang Europas und des Westens4 doch kritisch zu hinterfragen. Todd, der prorussisch eingestellt ist und im Ukrainekrieg einen „Defensivkrieg“ (!) Russlands sieht, spricht von einem „assistierten Suizid Europas“.5 Sein Fazit, das hier nicht unwidersprochen bleiben soll: „Das Projekt Europa ist tot. Ein Gefühl soziologischer und historischer Leere hat unsere Elite und unsere Mittelschicht beschlichen.“6
Richtig ist, dass wir heute in einer extrem turbulenten Zeit leben, in der alle scheinbar vorhersehbaren Entwicklungen in dem langen Nachkriegswachstum nach 1945 auf den Kopf gestellt werden und sich immer mehr Verunsicherung und Ängste bei den Menschen und politischen Akteuren und Akteurinnen breitmachen. Wohin diese Entwicklung seit der Digitalen Revolution letztlich führen wird, bleibt offen – das Szenario aus 1914, in eine total sinnlose militärische Konfrontation oder ein anderes globales Vernichtungsszenario zu taumeln, ist durchaus eine realistische Option.
2025 stehen wir wohl an einer tiefgreifenden Wegkreuzung: Die Trump-Administration versucht nicht nur die demokratischen Strukturen der USA aus den Angeln zu heben, sie will auch die Weltpolitik neu im Sinne einer Aufteilung in Einflusssphären wie 1945 die Konferenz von Jalta verändern. Als ich nach 2000 als Schumpeter-Professor am Center for European Studies der Harvard University forschte und als Gastprofessor an der University of Chicago unterrichtete, waren die US-amerikanischen Universitäten wirkungsmächtige Institutionen, die erfolgreich und mit allen Mitteln die universalen Menschenrechte und die politischen Grundrechte verteidigten und auch lehrten. Besonders beeindruckte mich immer die Bedeutung der freien akademischen Rede und der Lehre. Und heute, kaum 25 Jahre später, versucht ein US-Präsident die Unabhängigkeit der Universitäten mit erpresserischen Methoden durch Zurückhaltung von staatlichen Forschungsgeldern infrage zu stellen. Die großen Universitäten wie Harvard wehren sich noch – auch mit juristischen Mitteln –, aber kleinere Universitäten wie beispielsweise die University of Minnesota, wo es ein reges Center for Austrian Studies gibt, gehen im vorauseilenden Gehorsam in die Knie: Der Direktor, Professor Howard Louthan, trat zurück, nachdem ihn die Universitätsleitung gezwungen hatte, ein Statement von der Website des Instituts zu nehmen, in dem die Invasion der Ukraine durch Russland verurteilt wurde.7
Zerschlägt die Zweite Turboglobalisierung die Grundprinzipien der parlamentarischen Demokratie? Ist das Erbe des Liberalismus des 19. Jahrhunderts vergessen? Sind die Lehren der Europäer aus zwei furchtbaren Weltkriegen und dem Holocaust im 20. Jahrhundert vergeblich gewesen? Antworten und Einschätzungen zu diesen Fragen werden in den nachfolgenden Kapiteln zur Diskussion gestellt.
Oliver Rathkolb
Wien und Millstatt im Frühjahr–Sommer 2025
2
Die Zuversicht ist heute wieder der Angst gewichen. Selbst Deutschland, die stärkste Wirtschaftsmacht der EU, kämpft seit den 1990er Jahren mit Zukunftsängsten.8 2024 blickten 10 % der Deutschen mit sehr großer Angst und 53 % eher sorgenvoll in die Zukunft.9 In den USA stellte die American Psychological Association in ihren Umfragen über „Stress in America“ kurz vor den Wahlen 2024 fest, dass sich 77 % um die Zukunft der USA sorgen und 69 % die Wahlen fürchten, wobei 56 % bereits das Ende der Demokratie herannahen sahen.10 Im Juli 2025 stieg dieser Anteil in einer anderen Meinungsumfrage auf 76 % der Befragten an!11
Angst ist ein wesentlicher Faktor in der europäischen und US-amerikanischen Politik geworden. Globale Studien zum Klimawandel zeigen, dass 60 % der jungen Befragten (zwischen 16 und 25 Jahre alt) persönlich betroffen sind über die Folgen des Klimawandels.12 Zukunftsangst ist inzwischen auch global gesehen zu einem bedeutenden Phänomen geworden.
In beiden Zeitabschnitten, die wir vergleichen, die Epoche vor 1914 und die Jahrzehnte seit den späten 1980er Jahren, waren und sind die jeweiligen Gesellschaften – so meine Ausgangsthese – vollkommen überfordert und mit tiefgreifenden, in rasanter Geschwindigkeit ablaufenden Veränderungen im privaten Alltag, in der Arbeitswelt, aber auch im politischen, sozialen und kulturellen Gefüge konfrontiert. Da die Menschen Angst haben, ökonomisch, kulturell und sozial von dieser Entwicklung überrollt zu werden, entwerfen sie eine Gegenstrategie und suchen einen starken „Führer“, einen Mann, der sie aus dieser misslichen Situation wie ein Messias in eine bessere Zukunft geleitet. Die parlamentarische Demokratie scheint zu kompliziert und zu langsam zu sein, um eine nachhaltig wirkende Beruhigungspille anbieten zu können. Zunehmend folgen daher viele Menschen klar autoritären Botschaften, die sie zwar von ihren Ängsten und der politischen Apathie erlösen, nichts aber an der aus ihrer Sicht negativen Situation ändern.
Im öffentlichen Diskurs um den Begriff „Angst“ vor 1914 und seit den 1980er Jahren bestanden jedoch, wie die Auswertung der deutschsprachigen Begriffssuche in Google Books zeigt, deutliche Unterschiede.13
In der Ersten Turboglobalisierung während des „Gusseisernen Zeitalters“ ab etwa 1850 sinkt das Interesse, über Angst in Publikationen zu schreiben. Meine Interpretation dazu ist, dass gerade in den gesellschaftlichen Eliten und in der Literatur die Hoffnung bestand, dass die wirtschaftlichen Innovationen und die sozialen und politischen Umbrüche letztlich doch eine bessere Zukunft schaffen könnten. Einzelstudien im Kunst- und Kulturbereich zeigen aber, dass durchaus Ängste vor einem großen Krieg und dessen tiefgreifenden negativen Folgen vorhanden waren, die aber ins Unterbewusstsein verdrängt wurden.14
Auch die Kriegsbegeisterung hatte – wie inzwischen zahlreiche Studien belegen – eine unterdrückte Angstkomponente, die dann nach Ausbruch des Krieges naturgemäß stärker wurde. Um 1920 stieg dann die Angst-Publizistik an, blieb aber in der Folge trotz der katastrophalen Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1940 stabil. Bis 1933 wird die Angst vor der Zukunft wieder verdrängt und dann von der nationalsozialistischen Propaganda geschickt durch Zukunftsoptimismus und schließlich durch den Aggressionskrieg ab 1939 überlagert.
Ab 1948 sinkt die Angst-Kurve, die Wiederaufbaustimmung ist auch publizistisch durch die Marshallplan-Propaganda positiv besetzt oder in der späteren DDR durch die sozialistische Industrialisierungspropaganda positiv geprägt. Die reale Gefahr eines Atomkriegs wird meist verdrängt. Während der ersten Ölpreiskrise in den 1970er Jahren und mit dem Ende des Nachkriegswachstums steigt sie langsam wieder an. Mit dem Ende des Kalten Krieges 1989/1990 verflacht die Kurve kurz und begleitet dann in einem stetigen Anstieg die digitalen Technologieschübe.
ANGST Gemälde von Edvard Munch, 1894. Munch-Museum, Oslo.Präziser werden diese Wort-Diagramme aber erst mit der Verknüpfung mit anderen Begriffen – wie beispielsweise „Zukunft“15:
Überraschend ist dabei die Tatsache, dass in deutschsprachigen Publikationen die Erste Turboglobalisierung nicht wirklich mit Zukunft gleichgesetzt wird, außer 1918 nach Ende des Ersten Weltkrieges. Der höchste Wert mit Zukunftsthemen wird 1945 erreicht, sinkt dann, und steigt erst langsam ab 1951 wieder in die Höhe. Ähnliches ist für den Angst-Begriff 1990 am Ende des Kalten Krieges zu beobachten – er bleibt dann stabil und sinkt ab 2010 mit einer konstanten Fortschreibung.
Zusammenfassend formuliert lautet das Zwischenergebnis: In der Zweiten Turboglobalisierung beschäftigt sich die Publizistik im deutschsprachigen Bereich intensiv und nach der Weltfinanzkrise 2008 immer weiter steigend mit Angst. Gleichzeitig besteht weiterhin die Tendenz zur Zukunftsreflexion auf hohem Niveau.
Wie sieht es nun im englischsprachigen Bereich bezüglich der Begriffe fear bzw. future aus?
Hier zeigt sich eine völlig andere Kurve, die Erste Turboglobalisierung wirkt ganz anders als im deutschsprachigen Bereich: Sie senkt eindeutig die Angst-Debatte in der Öffentlichkeit, selbst der Erste und der Zweite Weltkrieg führen zu keinen Schwankungen.16 Erst in den 1980er und 1990er Jahren steigt die Häufigkeit des Angst-Begriffs langsam an; ab den 2000er Jahren wird das Thema fear noch intensiver in der Publizistik behandelt – aber auf einem niedrigen Niveau, vergleichbar mit Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Noch interessanter sind die Unterschiede beim Begriffspaar fear and future. Die englischsprachige Welt ist wesentlich zukunftsinteressierter, sie weist zwar auch einen Angst-Anstieg ab den 1980er Jahren auf, aber Zukunftsthemen sind wesentlich relevanter als Angst-Reflexionen.17
Die französischen Veröffentlichungen wiederum sind den deutschsprachigen eindeutig ähnlicher und sogar 2020 noch stärker Angst-fixiert. Ein ähnlicher Befund ergibt sich aus dem Begriffsvergleich peur und avenir18:
Es ist klar, dass derartige quantitative Vergleiche nur Trends ohne konkrete qualitative Aussagen oder Wechselwirkungen mit politischen Einstellungen abbilden. Aber diese Begriffsdiagramme helfen bei der Analyse und Interpretation von Umfrageergebnissen zum autoritären Potenzial in Europa.
Neben Angst vor künftigen Entwicklungen und drohender totaler Überforderung durch die Turboglobalisierung und ihrem digitalen Supertreibstoff spielt überdies auch politische Apathie eine wichtige Rolle in der Suche autoritärer Regime nach formaler Wählerzustimmung. In Europa ist das Orbán-Regime in Ungarn ein gutes Beispiel: 2010 konnte der einst liberale Politiker Viktor Orbán mit nationalistisch-autoritären Botschaften die apathischen Wähler und Wählerinnen für sich gewinnen.
Hinter diesen tief sitzenden Ängsten steht als auslösender Faktor das Zusammenspiel zwischen technologischen Entwicklungen und Innovationen sowie deren rasche internationale Kommerzialisierung und Verbreitung. Heute ist es die Digitale Revolution, damals ab ungefähr 1850 war es die „Gusseiserne Revolution“, die erste tiefgreifende Industrialisierung, die die gesamte Arbeitswelt auf den Kopf gestellt und die Agrargesellschaft verändert hat. Um 1870 war die Turboglobalisierung voll in Schwung und wurde als bahnbrechender Fortschritt empfunden, wie die Eröffnung der First Transcontinental Railroad am 10. Mai 1869 am Promontory Summit in Utah oder die mit Pomp und 6.000 internationalen und 25.000 inländischen Gästen am 17. November 1869 gefeierte erste Durchfahrt durch den Suezkanal zeigen.19
Natürlich gab es bereits in den Jahrhunderten zuvor wechselseitige internationale Handelsbeziehungen, aber die Intensität und Schnelligkeit sowie der Umfang dieser beiden Globalisierungsschübe ist unvergleichlich – beide haben absolut tiefgreifende Auswirkungen auf die Gesellschaften als Ganzes und nicht nur auf einzelne Eliten und Schichten.
Daher verwende ich den Begriff „Turboglobalisierung“, den ich wie folgt definiere: Turboglobalisierung ist geprägt durch eine rasante Veränderung der Geschwindigkeiten und Mengen von Nachrichten mit neuartigen Kommunikationssystemen sowie viel schnelleren und bedeutend umfangreicheren Transportmöglichkeiten von Gütern und Menschen. Kennzeichnend ist weiters eine Intensivierung des Kapital- und Devisenverkehrs. Die globale Ausdehnung der Wirtschaftsbeziehungen ist mit tiefgreifenden Kostensenkungen und globalen Verbindungslinien verbunden.
Diese globalen Austauschbeziehungen führen zu Migrationsströmen und intensivieren die koloniale bzw. postkoloniale Ausbeutung. Begünstigt durch totale Überforderung von politischen, ökonomischen und kulturellen Akteuren und den jeweiligen nationalen Gesellschaften führt der Kampf um Machtinteressen zu blutigen kriegerischen Auseinandersetzungen, selbst wenn dadurch der ökonomische Fortschritt gefährdet bzw. zerstört wird.
Es entstehen globale Akteure, Organisationen und Märkte, die vorhandene politische und wirtschaftliche Ordnungssysteme infrage stellen.
Bereits 1998 stellte der deutsche Historiker Joachim Radkau für das späte 19. Jahrhundert die kaum rezipierte These vom „nervösen Zeitalter“ in der wilhelminischen Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs auf.20 Dazu ein aussagekräftiges Zitat aus einer alldeutschen Propagandaschrift kurz vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs, in dem die vorherrschende psychische Ausnahmesituation der Gesellschaft auf den Punkt gebracht wird: „Überall Unsicherheit, überall Schwäche, überall Angst, Angst, Angst.“ Und der Autor präzisiert dann, was ihm Angst macht: „Unser Volk geht mit Riesenschritten zurück, die geistige Leistung wird nicht mehr gewertet, wie sie es verdient, das Männliche findet keine Schätzung mehr, das Weib reißt uns die Herrschaft aus den Händen, die Kinder verlieren die Achtung vor uns, unreife Sozialdemokraten triumphieren in unseren Parlamenten.“21 Diese „Alarmrufe“, so folgerte Radkau, „erzeugten fast automatisch eine Sehnsucht nach ‚starken Nerven‘, die zu einem Freibrief für Brutalität werden konnte“, genau deshalb konnte man 1914 auch einen Krieg bejahen, der zur „Selbstvergessenheit und Sammlung aller Energien“ führte – „auf diese Weise würde der Nervendiskurs zu einem Ursprung der deutschen Katastrophe.“22
„EAST AND WEST SHAKING HANDS AT LAYING LAST RAIL“Am 10. Mai 1869 wird am Promontory Summit in Utah die Vollendung der ersten transkontinentalen Eisenbahnlinie zwischen Atlantik und Pazifik gefeiert. Foto von Andrew J. Russell, Yale University Libraries.DAS GRÖSSTE BAUPROJEKT DER ZEIT Die Errichtung des Suezkanals. Speziell entwickelte Schwimmbagger kamen zum Einsatz. Zeichnung von M. Mallert, um 1868.Für das Habsburgerimperium genügt ein Blick auf die Geschichte der Psychoanalyse Sigmund Freuds und seiner Schule, aber auch auf die therapeutische Arbeit der Individualpsychologen wie Alfred Adler, um zu erkennen, wie massiv die Folgen der Turboglobalisierung die Psyche der neuen und alten Eliten veränderten. In den USA wiederum erschienen Publikationen wie jene des Arztes Silas Weir Mitchell aus Philadelphia, die auf die negativen gesundheitlichen Auswirkungen der neuen schnellen Lebensweise, bedingt durch „den grausamen Wettlauf um den Dollar“ (the cruel competition for the dollar), hinwiesen und auch das Krankheitsbild der Überlastung, später als Burnout-Syndrom klassifiziert, erstmals deutlich beschrieben.23 Sogar der spätere 26. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Theodore Roosevelt, eigentlich ein furchtloser Jäger, musste sich einer Spezialkur gegen seine „Neurasthenia“ (Nervenstörung) unterziehen – eine Krankheit, die damals seit 1869 nach einer Beschreibung des Psychologen William James als „Americanitis“ bezeichnet wurde. Ähnliche Forschungen und Therapien finden wir in London, dem Zentrum der Turboglobalisierung. Als Behandlung wurden Männern wie Theodore Roosevelt oder dem Dichter und Journalisten Walt Whitman Kuren und Wanderungen in der freien Natur verordnet, „nervösen“ Frauen verschrieben die Ärzte Schlaf- und Milchkuren.24
Doch leben wir seit Mitte der 1980er Jahre nicht wieder in einem neuen, vielleicht noch intensiver ablaufenden nervösen Zeitalter? Es ist wohl unbestritten, dass die aktuelle Turboglobalisierung – geprägt durch den Neoliberalismus und begleitet von den Konsequenzen der Digitalen Revolution – die Welt in allen Bereichen noch radikaler und schneller auf den Kopf stellt, als dies die Generationen vor 1914 erfuhren.
Schon wenige Jahre nach dem Beginn der Zweiten Turboglobalisierung, ausgelöst durch die Deregulierung der internationalen Devisen- und Finanzmärkte 1985, waren ebenfalls starke Ängste auszumachen, für die der Begriff „Globaphobia“ geprägt wurde. Die New York Times berichtete am 7. Oktober 1997 über eine Studie von Ökonomen der Brookings Institution, eines einflussreichen unabhängigen Think-Tanks in Washington, D. C., unter dem Titel: „THINKING AHEAD: Prescribing Facts to Cure ‚Globaphobia‘“.25 Im Zentrum der Ängste stand schon damals der Verlust des Arbeitsplatzes durch die Verlagerung industrieller Produktionen in asiatische Billiglohnländer. Doch die Auswirkungen dieser Entwicklung gehen noch viel weiter und betreffen letztendlich die Zukunft der parlamentarischen Demokratie: Dem Ende eines relativ solidarisch verteilten Wirtschaftswachstums nach 1945 folgte eine Periode der massiven Verteilungskämpfe, die in einem autoritären Zeitalter enden könnte.
ES IST WOHL UNBESTRITTEN, DASS DIE AKTUELLE TURBOGLOBALISIERUNG — GEPRÄGT DURCH DEN NEOLIBERALISMUS UND BEGLEITET VON DEN KONSEQUENZEN DER DIGITALEN REVOLUTION — DIE WELT IN ALLEN BEREICHEN NOCH RADIKALER UND SCHNELLER AUF DEN KOPF STELLT, ALS DIES DIE GENERATIONEN VOR 1914 ERFUHREN.
1980, während meiner Forschungen in Washington, D. C., und selbst noch zu Beginn der Arbeit an diesem Buch waren die USA trotz aller Widersprüche, einer extrem gespaltenen Gesellschaft und einem militärischen Expansionismus immer noch das Land, das letztlich nach 1945 in Westeuropa die parlamentarische Demokratie ermöglicht und im Kalten Krieg gesichert hatte. Und heute befürchten viele internationale Beobachter, dass der Trumpismus und die postliberalen religiösen Bewegungen die Demokratie in den USA endgültig zerstören werden. Damit, so ihre Besorgnis, könnte auch die europäische Entwicklung wieder in das Zeitalter der Diktaturen in der Zwischenkriegszeit zurückgedreht werden.
SILAS WEIR MITCHELLDer amerikanische Neurologe beschrieb erstmals das Krankheitsbild des Burnout-Syndroms und warnte vor dem „grausamen Wettlauf um den Dollar“. Stahlstich nach einem Foto, 1881.Alle Prognosen nach dem Ende des Kalten Krieges, die den endgültigen friedlichen, weil ökonomischen Sieg der Demokratie prophezeiten, gingen letztlich völlig ins Leere. Nicht nur der US-Politikwissenschaftler Francis Fukuyama irrte, als er 1992 in seinem Weltbestseller The End of History and the Last Man den Erfolg des Universalismus und vor allem der Wirkungsmacht der von westlichen Vorstellungen geprägten liberalen parlamentarischen Demokratie verkündete.
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Mit etwas Zeitverzögerung ist die Zeit der Turboglobalisierungen von einem kulturellen Innovationsschub begleitet, der ästhetische Formen der Vergangenheit radikal infrage stellt und durch eine völlig neue Kunst- und Kulturform ersetzen möchte. Begriffe wie „Moderne“ und „Avantgarde“ sowie zahllose Theorien versuchen, diese tiefgreifende und stärker international vernetzte Kunst- und Kulturbewegung der „Ersten Moderne“, die eigentlich aus unterschiedlichen nationalen Formen und Kunstrichtungen besteht, zu erklären und zu definieren.
Der Begriff „Avantgarde“ entstammt eigentlich der französischen Militärsprache und stand für eine „Vorhut“, die als Erstes auf den Feind treffen sollte; er wurde für besonders radikale künstlerische Tabubrüche, die aber gleichzeitig nachhaltig wirken sollten, verwendet. Die Palette ist breit gefächert und reicht vom Kubismus, Dadaismus, Surrealismus, Expressionismus bis zur Pop Art oder dem Wiener Aktionismus der 1960er Jahre und der Konzeptkunst.
Während sich avantgardistische Kunstrichtungen meist nicht von staatlicher und politischer Macht instrumentalisieren ließen und für Pazifismus eintraten, stand der italienische Futurismus sowohl im Ersten Weltkrieg als auch später in der Ära des Faschismus immer auf der Seite der politischen Machthaber. Nicht untypisch ist, dass totalitäre Regime wie der Nationalsozialismus mit allen Mitteln die Avantgarde bekämpften und als „entartet“ stigmatisierten. Aber auch die russischen Kommunisten wandten sich bald nach der Anfangsphase, in der sie nicht nur avantgardistische Kunst förderten, sondern sich selbst als politische Avantgardisten empfanden, gegen die staatlich schwer kontrollierbare künstlerische Bewegung.
In den letzten Jahrzehnten gibt es eine umfassende globale Debatte, in der die Zweite Moderne und die Postmoderne als Konstrukte des Kolonialismus diskutiert werden. Aufgrund internationaler Wechselwirkungen und Entwicklungsprozesse im Globalen Süden wird daher gefordert, von „Modernen“ zu sprechen. Der Begriff „modern“ selbst, der vom lateinischen Wort modernus abstammt, hat eine lange Geschichte und taucht bereits bei Papst Gelasius I. Ende des 5. Jahrhunderts auf – im Sinne von gegenwärtig, neu, progressiv und zukunftsbezogen, immer dialektisch konstruiert im Gegensatz zu vergangen, konservativ und rückwärtsbezogen.
Ich selbst versuche, die Moderne als Entwicklungsschub zeitgleich mit der Ersten Turboglobalisierung zu reflektieren, mit einem besonderen Blick auf ihren neuzeitlichen und aufklärerischen Hintergrund, wie dies Jörg Schönert 1986 präzise formulierte: „Denkgeschichtlich beginnt die Moderne zwischen 1450 und 1600 (Neuzeit), mit den Wirkungen von Montaigne, Descartes und Pascal lassen sich wichtige Konturen dieses Prozesses entwickeln.“26 Schönert lässt jedoch in seiner Sozialgeschichte die Moderne mit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beginnen, verschiebt aber den Beginn für die Kunst und Literatur in das spätere 19. Jahrhundert.
Hinter dem gemeinsamen Streben, das Vergangene hinter sich zu lassen, zeigen sich jedoch große nationale Unterschiede, wie beispielsweise ein Vergleich der Entwicklung der Städte in der Phase der ersten Turboglobalisierung zeigt. London hatte zwar zwischen 1875 und 1900 das erste flächendeckende U-Bahn-Netz errichtet und galt als technologisch fortschrittlich, kam aber nicht annähernd an den ästhetischen Moderne-Schub von Paris oder Berlin heran, wo breite Boulevards, Cafés, Parkanlagen und zahlreiche kulturelle Einrichtungen das Stadtbild prägten. Wesentlich in diesem Zusammenhang sind die Interaktion und die Netzwerkstruktur der verschiedenen Akteure und Akteurinnen der Moderne, die erst diese radikalen Änderungen ermöglichten. Immer steht aber die Erste Moderne in heftiger Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Traditionen und Konventionen und wird durchaus bekämpft. Bestrebungen und Ideale der Moderne bleiben häufig im Hintergrund und dominieren keineswegs in dem Maße, wie es die Wiederentdecker der Moderne und diverse Ausstellungen und Museen in der Gegenwart suggerieren.
Trotz dieser Ansätze zur Interaktion und Internationalisierung bleibt die Moderne um 1900 letzten Endes ein höchst nationalistisches Projekt, wie an der Euphorie der Protagonisten zu sehen ist, die den jeweiligen nationalen Kriegszielen mit großer Begeisterung und teilweise auch mit unverhohlenem Chauvinismus zujubelten.
Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch der maßlose Eifer, mit dem man innerhalb der rechtskonservativen Strömungen der Moderne einer Frühform von rassistischem Antisemitismus anhing. So setzte sich Richard Wagners Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain nicht nur für die „nordisch-arische Rasse“ ein, die zur Führung der Welt bestimmt sei, sondern attackierte – wie auch Wagner selbst – Juden und Jüdinnen als „minderwertig“. Mit seinem 1899 erschienenen Bestseller Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts heizte er den Rassenantisemitismus weiter entscheidend an.27
Viele Wagnerianer huldigten auch dem Antivivisektionismus, der Opposition gegen Tierversuche, und – ganz nach dem Vorbild des Meisters, der eine Abkehr vom Fleischverzehr forderte – dem Vegetarismus. Dieses Gedankengut setzte sich in der Zweiten Moderne eher bei der Linken fort, findet aber in den letzten Jahren auch wieder vermehrt Anhänger bei völkischen Gruppierungen. Eine spektakuläre vegetarische Lebensgemeinschaft, die „Landkommune Himmelhof“, führte der Maler und Kulturreformer Karl Wilhelm Diefenbach von 1897 bis 1899 in Wien–Ober-Sankt-Veit.28 Das „Treiben des wunderlichen Heiligen in St. Veit“ wurde in den Wiener Blättern als „öffentliches Ärgernis“ bezeichnet.29 Gustav (auch: Gusto) Gräser (1879–1958), einer von Diefenbachs Schülern, wurde zum Mitbegründer der Reformsiedlung Monte Verità bei Ascona und zu einer wichtigen Figur der deutschen Jugendbewegung.
HOUSTON STEWART CHAMBERLAINDer Pangermane und Antisemit schuf mit seinem in Wien verfassten Bestseller „Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts“ (1899) das Standardwerk des theoretischen Rassenantisemitismus. Foto, um 1926.FELICE BAUER UND FRANZ KAFKAZweimal verlobt, dann wieder entlobt: Felice Bauer und Franz Kafka vor ihrer endgültigen Trennung 1917. Angst, von Kafka als sein „reines Ich“ beschrieben, bestimmte das Verhältnis des Schriftstellers zu den Frauen.Sowohl Florian Illies in seinem Buch 1913. Der Sommer des Jahrhunderts als auch Wolfgang Martynkewicz in Das Zeitalter der Erschöpfung30 haben anhand zahlreicher Beispiele aufgezeigt, dass auch die Repräsentanten der Moderne von der Turboglobalisierung in ihrem Alltag tiefgreifend beeinflusst und lange vor dem Ersten Weltkrieg massiv überfordert waren und als hypernervös bezeichnet werden können. Illies beschreibt nüchtern die aufgeladene mentale Stimmung zu Silvester 1913 am Beispiel der Tagebucheintragung von Arthur Schnitzler: „,Vormittags die Wahnsinnsnovelle zu Ende dictiert.‘ Nachmittags liest er: Ricarda Huchs ,Der große Krieg in Deutschland‘. Ansonsten: ,Sehr nervös tagsüber.‘ Dann Abendgesellschaft. ,Es wurde Roulette gespielt.‘ Um Mitternacht stoßen sie an auf das Jahr 1914.“ 31
Kurorte und Naturheilanstalten wurden immer mehr zu Rückzugsorten, um psychische und auch physische Stabilität zurückzugewinnen. Für viele Schriftsteller und Schriftstellerinnen wurde beispielsweise die Naturheilanstalt Jungborn ein „Ort des Schreibens und der selbst-Reform“.32 Franz Kafka berichtet 1912 begeistert von dieser intensiven Naturbehandlung und auch dem Gymnastikprogramm: „Alles bis auf mich ohne Schwimmhosen. Schöne Freiheit. Im Park, Lesezimmer usw. bekommt man hübsche, fette Füßchen zu sehen.“33 Thomas Mann wiederum reist 1909 nach Zürich, um im Rohkost-Sanatorium „Lebendige Kraft“ von Ernährungsreformer Max Bircher-Benner – dem Vater des „Birchermüesli – seine Verdauungsprobleme in den Griff zu bekommen. Und er ist nicht allein: Viele Künstler, Politiker und Großindustrielle sind ebenfalls auf der Suche nach der neuen Gesundheit.
Gleichzeitig gibt es neben dieser Sehnsucht nach Ruhe und Erholung eine fast magische Sucht nach Katharsis, nach Reinigung durch eine blutige Entscheidung. Der Krieg und die Entwicklung der Zukunft aus der Turboglobalisierung heraus waren so kein Widerspruch. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatte der italienische Autor und Millionärssohn Filippo Tommaso Marinetti am 20. Februar 1909 auf der Titelseite von Le Figaro in Paris sein Futuristisches Manifest veröffentlicht und unter Punkt 9 dekretiert: „Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt –, den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.“
„HERREN-LUFTPARK“„Alles bis auf mich ohne Schwimmhosen“ (Franz Kafka): der „Herren-Luftpark“ in der Kuranstalt Jungborn im Harz. Ansichtskarte, 1925.I MANIFESTI DEL FUTURISMOFilippo Tommaso Marinetti und seine Mitstreiter traten offen für eine Verherrlichung des Krieges – die „einzige Hygiene der Welt“ – ein. Titelseite der 1914 in Florenz publizierten „Manifeste des Futurismus“.Ein Jahr später präzisierte Marinetti das Kriegsziel der Futuristen: Abbasso l’Austria! (Nieder mit Österreich!).34 Viele innovative Künstler und Intellektuelle glaubten, im Krieg einen Befreiungsschlag zu sehen, der eine neue Welt und einen neuen Menschen schaffen würde und die Blockaden der „Friedenszeit“ lösen könnte. Der Krieg sollte eine „reinigende bis befreiende Wirkung“ ausüben, der Moderne zum Durchbruch verhelfen und die alten, erstarrten Konventionen überwinden und zerstören. Deutsche Kriegstreiber wie der Orientalist Albrecht Wirth sprachen vom „stärkenden Stahlbad“, das in Gestalt des Krieges das deutsche Volkstum „verjüngen“ und den „Bestand deutschen Wesens“ für Jahrtausende sichern werde.35
Bemerkenswert ist, dass die positiv interpretierte Apokalypse gerade in der Literatur und der bildenden Kunst schon vor 1914 spürbar war. In der cisleithanischen Reichshälfte der Habsburgermonarchie kam noch ein weiteres Spezifikum dazu: Mit dem Krieg sollten die komplexe Identitätsfrage und der Nationalitätenkonflikt gelöst werden. Auch hier gibt es bereits Indikatoren vor 1914: So schrieb der Komponist Arnold Schönberg, dass er seine Vaterlandsliebe bereits während des Russisch-Japanischen Krieges 1904 entdeckt habe. Dahinter steckte, wie Peter Gay feststellte, eine Art Urangst der Zerstörung der deutsch-österreichischen „Zivilisation“, und der Krieg hatte demgemäß fast etwas von einem „religiösen Erweckungserlebnis“.36
