Schirach - Oliver Rathkolb - E-Book

Schirach E-Book

Oliver Rathkolb

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Beschreibung

Das Angebot des „Führers“ an den 18-jährigen Baldur von Schirach ist verlockend: „Solche jungen Männer braucht die Partei, braucht Deutschland!“ Der angehende Student der Germanistik und Kunstgeschichte kann diesem Ruf Hitlers nicht widerstehen, es beginnt eine steile Karriere.1930 wird er zum Reichsjugendführer ernannt, als treuer Paladin seines Herrn schwört er die „Hitlerjugend“ auf die „braune Revolution“ ein. Er träumt von einem faschistischen Europa unter deutscher Führung und lässt als Gauleiter von Wien die jüdische Bevölkerung in die Todeslager deportieren.1946 wird Baldur von Schirach, inzwischen Vater von vier Kindern, in Nürnberg wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 20 Jahren Haft verurteilt. Seine Familie muss mit den düsteren Schatten der NS-Verstrickungen leben …

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Baldur von Schirach mit Tochter Angelika Benedikta und Sohn Klaus in Urfeld am Walchensee, um 1937. Foto: Heinrich Hoffmann.

Ein erfolgreiches Gespann: der »Führer« und sein Imagestratege Baldur von Schirach. Auftritt am Reichsparteitag 1933 in Nürnberg.

Inhalt

Cover

Titel

Einleitung

1.Von Bull Run zum großherzoglichen Hoftheater

Die Familie Schirach auf dem Weg nach Weimar

2.Prägungen und Brüche

Der Kampf gegen Kommunismus und Demokratie und die Suche nach dem »starken Mann«

3.High Tea mit Herrn Hitler

Von der »Knappenschaft« zur SA

4.Es geht vorwärts!

Der Aufstieg zum Studentenführer

5.Ein brauchbarer Junge, fähig und klug

Schirachs Kampf um die Vorherrschaft in der NS-Jugendbewegung und die Arbeit am Führermythos

6.Erziehung zur Revolution

Die Hitler-Jugend und der Griff nach der Schule

7.Mein Gau, mein Wien

Als Gauleiter und Reichsstatthalter in Wien 1940–1945

8.»Sonderaktion«

Deportation und Ermordung der jüdischen Bevölkerung Wiens

9.Sklavenarbeit

Besuch im KZ Mauthausen und wirtschaftspolitische Maßnahmen

10.Verwienert

Vom jungen »Kronprinzen« zum Ablösekandidaten

11.Kein Feldherr und kein Held

Kriegsende und Flucht aus Wien

12.Ein Cranach für den Reichsleiter

Kunstraub und »Arisierung«

13.Ich trage also auch allein die Schuld

Nürnberg 1946

14.Ich glaubte an Hitler

Der perfekte Mythos?

Anmerkungen

Auswahlbibliografie Baldur von Schirach

Ausgewählte Literatur

Namensregister

Bildnachweis

Impressum

Einleitung

Hitlers »Reichsjugendführer« Baldur von Schirach war wohl die größte Nachwuchshoffnung des NS-Terror-Regimes. Der »Führer« Adolf Hitler verdankte ihm viel, vor allem auch die medial geschickt inszenierte Massenmobilisierung der deutschen Jugend in der Hitler-Jugend und im Bund Deutscher Mädel. In kurzer Zeit brachte er das gesamte Jugendorganisationswesen im nationalsozialistischen Deutschland unter die ideologische Kontrolle des Regimes. Als Reichsleiter, Reichsstatthalter und Gauleiter in Wien forcierte er ab 1940 unter dem Schlagwort »Wiener Kultur« trotz des blutigen Aggressionskriegs und der Verfolgung von Juden und Jüdinnen und anderen Opfergruppen in ganz Europa einen überbordenden Hochkulturbetrieb, was ihm rasch die Sympathien der Eliten und vieler Künstler einbrachte. Die obrigkeitshörigen Wiener fanden schnell Gefallen an seinen antidemokratisch-völkischen Traditionen, die er aus Weimar mitgebracht hatte. Mit teilweise umstrittenen Veranstaltungen zur Gegenwartskunst kam er zwar in Konflikt mit den Berliner Zentralstellen und Adolf Hitler, aber die geplante Ablösung ließ sich doch nicht durchsetzen. Schirach war bereits einer der zentralen Satrapen des Nationalsozialismus geworden und verfügte über eine geschickte Propagandamaschinerie. Gleichzeitig steht aber Baldur von Schirach stellvertretend für eine adelig-bürgerliche Elite, die sich bereits um 1925 in Weimar, seiner Heimatstadt, mit dem Nationalsozialismus arrangierte und diesen sogar beförderte und letztlich – mit wenigen Ausnahmen im militärischen Widerstand – bis zum totalen Zusammenbruch unterstützte.

Schirachs Vater war als Intendant am Großherzoglichen Hoftheater in Weimar Teil einer bürgerlich-deutschnationalen Elite in der Stadt Goethes und Schillers, in der auch Nietzsche und Liszt verehrt wurden, die aber bereits vor dem Ersten Weltkrieg deutschnational, antidemokratisch und vielfach völkisch-antisemitisch eingestellt war. Für sie wurde die Weimarer Republik zum totalen Feindbild. Dass die Nationalversammlung seit Februar 1919 monatelang die neue demokratische Verfassung gerade in Weimar diskutierte und letztlich auch beschloss, steigerte noch die emotionale Ablehnung durch die traditionellen Eliten und prägte Baldur von Schirachs autoritäres und extrem nationalistisches Politikverständnis maßgebend. Die Sehnsucht nach der Rückkehr der Monarchie wurde rasch durch die Suche nach einer neuen starken völkischen Diktatur abgelöst – Hitler wurde ab 1925/26 zur Erlöser-Figur für die Schirachs.

Zwar lernte Baldur von Schirach Hitler 1925 zwei Mal nur flüchtig kennen, aber schon früh projizierte er eine besonders Ehrerbietung auf den ehemaligen »Gefreiten« Hitler, der zwar kein Offizier gewesen war, aber trotzdem das EKI erhalten hatte. In dieser Verehrung des Weltkriegsveteranen Hitler spiegeln sich deutlich seine Prägungen durch die Herkunft aus einer Offiziersfamilie. Schirach trat verschiedenen jugendlichen antidemokratischen und völkischen Wehrformationen bei, ehe er mit 18 Jahren Mitglied bei der NSDAP und SA wurde. Auch sein Vater, ehemals Rittmeister eines vornehmen Kaiserlichen Garde-Kürassier-Regiments in Berlin, folgte bald als NSDAP-Mitglied und Gründungsmitglied des antisemitischen »Kampfbundes für Deutsche Kultur«.

Nach einer Blitzkarriere ab 1927 im NS-Studentenbund wurde Baldur von Schirach Teil des engsten Umfelds des »Führers«. 1931 avancierte er zum Reichsjugendführer und wurde direkt der obersten SA-Führung unterstellt. Er heiratete Henriette, die Tochter des vermögenden Hitler-Leibfotografen Heinrich Hoffmann, und knüpfte dadurch das Band zum »Führer« noch enger. Geschickt brachte er seine propagandistischen Fähigkeiten ein und konnte mit dem Bildband Hitler wie ihn keiner kennt, den er zusammen mit seinem Schwiegervater herausgab, einen ersten großen Marketingerfolg landen: Schirach machte Hitler sowohl bei einem bürgerlichen als auch einfacheren Publikum bekannt. 1931 wurde er jüngster Reichstagsabgeordneter, wobei die NSDAP jene Fraktion mit dem höchsten Adeligen-Anteil darstellte, und verblüffte Hitler mit einem »Reichsjugendparteitag« in Potsdam mit 70.000 begeisterten Teilnehmern.

Schon 1936 hatte Schirach rund 6 Millionen Jugendliche in der Hitler-Jugend zusammengefasst – immer mit dem Trick der jugendlichen Selbstverwaltung, aber klaren ideologischen Zielen im nationalsozialistischen Sinn, die in teilweise spielerischer Form, aber immer in disziplinierten und kontrollierten Strukturen vermittelt wurden. Zunehmend wird die HJ durch entsprechende Rechte zu einem Überwachungsinstrument in den Schulen.

Doch Schirach wollte mehr und strebte nach der totalen Kontrolle des Jugenderziehungswesens und der Schule, verlor aber diesen Machtkampf mit der Unterrichtsbürokratie. Die Entsendung nach Wien war bereits der Beginn des politischen Abstiegs, aber Schirach baute zum steigenden Missfallen von Propagandaminister Goebbels, mit dem er sich ursprünglich gut verstanden hatte, ein Kulturimperium auf und hofierte Richard Strauss und dessen jüdische Schwiegertochter Alice ebenso wie Gerhart Hauptmann.

Inwieweit Schirach tatsächlich Hitler vor dem Angriff auf die Sowjetunion bzw. dem Krieg mit den USA gewarnt hat, wird ebenso diskutiert wie die Auseinandersetzung zwischen Hitler und Henriette von Schirach am Berghof wegen der brutalen Deportation der Juden aus den Niederlanden. Gleichzeitig brüstete sich Schirach zum Missfallen von Goebbels, der internationale negative Reaktionen fürchtete, mit der Deportation der Wiener Juden (»Ich habe Wien Judenfrei gemacht«) und kündigte an, Wien »tschechenfrei« zu machen –tatsächlich begann die Gestapo entsprechende Karteien anzulegen.

Schirach hatte durchaus politische Ambitionen, die weit über seinen Gau hinausgingen: So nützte er geschickt die Propaganda um den 150. Todestag von Wolfgang Amadeus Mozart 1941, um eine Art »Europäische Ideologie« unter deutscher Führung zu propagieren und damit die deutsche Besetzung weiter Teile Europas langfristig zu rechtfertigen und mit kultureller Hegemonie abzusichern. Hier intensivierte er seine alten Kontakte mit den faschistischen italienischen Jugendführern, organisierte europäische Jugendkongresse und Journalistentreffen. Letztlich wollte Hitler zwar Schirach ablösen lassen, da dieser Wien nicht als Festung verteidigen wollte, aber wagte diesen Schritt doch nicht, da Schirach die Stadt kulturpolitisch fest im Griff hatte und sehr rasch dann auch auf einen militärischen Verteidigungskurs umschwenkte.

In letzter Minute ist Schirach vor der Roten Armee aus Wien geflohen, nicht ohne ab 1944 seine Kunstschätze aus der »arisierten« Villa auf der Hohen Warte in Döbling – viele davon aus dem Vermögen von Juden und Jüdinnen geraubt – Richtung Westen verbringen zu lassen.

Mit einer geschickten Verteidigungsstrategie beim Kriegsverbrecherprozess in Nürnberg 1946 rettete er sich vor der drohenden Hinrichtung, wobei seine adelig-bürgerliche und teilweise amerikanische Herkunft ein Vorteil waren und auch seine Bereitschaft, für seine Rolle als Reichsjugendführer Verantwortung zu übernehmen, aber gleichzeitig deren Bedeutung als ideologische und militärische Vorfeldorganisation herunterzuspielen. Seine Erinnerungen und Reflexionen aus 1967 über Ursachen und Folgen des Nationalsozialismus, die Rolle von Hitler und anderen NS-Akteuren und die Shoa und Antisemitismus werden ebenso kritisch auf der Basis seiner Original-Interview-Transkripte mit neuem Quellenmaterial und umfassenden Forschungen – nicht zuletzt im einzig digitalisierten Gaupressearchiv in Wien – hinterfragt.

Die zentrale Frage bleibt: Inwieweit ist die meist verdrängte ideologische Vorgeschichte der deutschen Gesellschaft im Kaiserreich und seiner adelige-bürgerlichen Eliten vor 1914 ein wesentlicher Erklärungsansatz für die Wirkungsmacht und die lange Dauer des nationalsozialistischen Unrechtsregimes? Als Folge der ersten Turboglobalisierung, Industrialisierung und europäischen Binnenmigration boomten bei gleichzeitiger Innovation um die erste Moderne antisemitische Rassen- und Verschwörungstheorien, die seit Ende des Ersten Weltkrieges in aggressiver Weise explodierten. Ihre elitären Protagonisten, zu denen auch Carl von Schirach, sein intellektuelles und künstlerisches Umfeld und sein Sohn gehörten, bekämpften in weiterer Folge die parlamentarische Demokratie und die Weimarer Republik permanent mit allen Mitteln. Diese intensive Erosion aus bürgerlichen rechtskonservativen Netzwerken heraus war eine zentrale Voraussetzung für den Erfolg der NSDAP vor und nach 1933. Der Ungeist von Weimar, der Goethe und Schiller in politische Geiselhaft genommen und für seine menschenverachtenden Ideologien missbraucht hatte, ist eine wichtige Voraussetzung für die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler. Längst wurde er von Angehörigen der »alten« kaiserlichen und bürgerlichen Eliten umschwärmt, wie der frühe Besuch im Hause Schirachs 1925 dokumentiert. Die rasche Systemstabilisierung nach der Machtergreifung trotz vielfacher eindeutiger Gesetzesbrüche und Terrorakte ist ohne diese andere Kulturgeschichte des deutschen Kaiserreiches, die die Schirachs symbolisieren, nicht zu verstehen.

Die Rezeption und das Wissen über Baldur von Schirach ist zum Unterschied von der Auseinandersetzung mit zentralen Entscheidungsträgern des NS-Regimes und Satrapen von Hitlers Gnaden wie Heinrich Himmler, Joseph Goebbels, Hermann Göring und Albert Speer brüchig und durchwachsen. Die erste umfassende Biografie Baldur von Schirach, Hitlers Jugendführer von Michael Wortmann erschien bereits 1982 auf Basis einer Doktorarbeit, die revisionistische Gegenschrift von Schirachs ehemaligem Pressereferenten Günter Kaufmann 1993 wurde zu Recht kaum berücksichtigt. Die auf den Literaten und Poeten Schirach fokussierende Dissertation Writing the Nazi Movement. The Poetry of Baldur von Schirach von Stefanie Hundehege aus 2017 ist noch gesperrt, aber teilweise über Aufsätze zugänglich.

Trotzdem gibt es keine Studie über die NS-Zeit in Wien 1940–1945 – sei es nun über die Hitler-Jugend oder die »Kinderlandverschickungen« oder wie zuletzt über nationalsozialistischen Kunstraub –, in der Baldur von Schirach nicht gestreift wird. Zur »Arisierung« von Kunstwerken und der Rolle von Baldur und Henriette von Schirach gibt es eine aktuelle Vorstudie von Theresa Sepp im Rahmen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München.

Auf der Basis meiner eigenen langjährigen Arbeiten zur nationalsozialistischen Kultur- und Unkulturpolitik seit dem Buch Führertreu und gottbegnadet (1991) und jüngsten Forschungen im Zusammenhang mit der Volltext-Digitalisierung des gesamten NS-Gaupressearchivs Schirachs habe ich versucht, einen neuen kritischen Blick auf Baldur von Schirach, aber auch sein familiäres Umfeld seit der Weimarer Zeit zu werfen und die Zeit nach 1945 ebenso in den Blick zu nehmen.

Die letztlich für die Gegenwart und Zukunft zentrale Schuldfrage Baldur von Schirachs wird neu relativiert – mit bisher unbekannten Dokumenten und Erkenntnissen zum Umfang seines Wissens über die Shoa – und zwar bereits 1942 – und seine bisher nicht reflektierte Rolle bei der brutalen Verfolgung von sogenannten »Asozialen« in Wien ab 1940.

Einer der Enkel Schirachs, der ehemalige Strafverteidiger und weltbekannte Schriftsteller Ferdinand von Schirach, hat 2011 im Spiegel unmissverständlich seine Antwort gegeben:

»Das, was mein Großvater tat, ist etwas völlig anderes. Seine Verbrechen waren organisiert, sie waren systematisch, kalt und präzise. Sie wurden am Schreibtisch geplant, es gab Memoranden dazu, Besprechungen, und immer wieder traf er seine Entscheidung. Der Abtransport der Juden aus Wien sei sein Beitrag zur europäischen Kultur, sagte er damals. Nach solchen Sätzen ist jede weitere Frage, jede Psychologie überflüssig. Manchmal wird die Schuld eines Menschen so groß, dass alles andere keine Rolle mehr spielt. Natürlich, der Staat selbst war verbrecherisch, aber das entschuldigt Männer wie ihn nicht, weil sie diesen Staat erst erschufen. Mein Großvater brach nicht durch eine dünne Decke der Zivilisation, seine Entscheidungen waren kein Missgeschick, kein Zufall, keine Unachtsamkeit«.1

Zwei Menschen möchte ich besonders für ihre Unterstützung bei der Umsetzung dieses Buchprojekts danken. Herrn Dr. Johannes Sachslehner, der als erfolgreicher Zeitgeschichte-Sachbuchautor und erfahrener Lektor die Idee zu diesem Buch hatte und die Umsetzung und die Bildredaktion bis zum Finale begleitete, und Frau Mag.a Agnes Meisinger, die mit kritischem Blick Manuskript und Druckfahnen durchgesehen und korrigiert und viele wichtige Fragen gestellt hat.

Im Zuge der Recherchen haben mich viele Kolleginnen und Kollegen unterstützt, von denen ich Daniela Ebenbauer, Dr. Christoph Mentschl, Dr.in Linda Erker, Dr. Wolfgang Form, Mag.a Jutta Fuchshuber, Michael Hetz, Mag. Johann Kirchknopf, Dr. Andreas Kranebitter, Mag.a Petra Mayerhofer, Renate Moszkowicz, Univ.-Prof. Dr. Bertrand Perz, Dr. Hans Petschar, Oberstleutnant dG Dr. Markus Reisner, Univ.-Prof. Dr. Peter Roessler, Mag. Markus Stumpf, Univ.-Prof.in Sybille Steinbacher, Christine von Unruh und Univ.-Prof.in Kerstin von Lingen hervorheben möchte. Für ein wichtiges Hintergrundgespräch danke ich Rechtsanwalt i. R. Dr. Klaus von Schirach sowie Ferdinand von Schirach, der mir den Zugang zu der von ihm initiierten »Vorstudie zur Rekonstruktion des Kunst- und Kulturguts« von Baldur und Henriette von Schirach ermöglicht hat.

Ein schneidiger Gardeoffizier: Vater Carl Baily Norris von Schirach wechselte vom kaiserlichen Militär zum Hoftheater in Weimar.

1. VON BULL RUN ZUM GROSSHERZOGLICHEN HOFTHEATER

Die Familie Schirach auf dem Weg nach Weimar

Baldur von Schirach war im »Dritten Reich« allgegenwärtig. Die Jugendbewegung der »braunen Revolution« trug seine Handschrift. Er selbst sah sich tatsächlich als Revolutionär – als geschäftiger »Macher« im Braunhemd, zusammengeschweißt mit dem von ihm verehrten Adolf Hitler auf Gedeih und Verderb. Eine bemerkenswerte Blitzkarriere im Schatten des »Führers« hatte ihn an die politische Spitze gebracht: Baldur von Schirach, Jahrgang 1907, wurde 1925, im Alter von achtzehn Jahren, Mitglied der NSDAP. Seit 1927 trug er das Braunhemd der SA, der »Sturm Abteilung« der »Bewegung« im Zeichen des Hakenkreuzes. 1928 übernahm der junge Mann aus Weimar, der abseits des politischen Getriebes recht und schlecht Gedichte schrieb, das Amt des Reichsführers des NS-Studentenbundes, 1931 wurde er Reichsjugendführer, 1933 Jugendführer des Deutschen Reiches im Rang eines Staatssekretärs. Schirach gelang es, sich im inneren Kreis der Macht zu etablieren, obwohl er unter den gestandenen Parteigenossen, den »Eisenfressern« aus den Freikorps und Bierkellern, wie ein »entgleister Aristokrat«2 wirkte.

Hitler und auch Goebbels schätzten ihn lange Zeit, präsentierte Schirach den »Führer« doch so, wie man es gerne sah: »als Vater seines treuen und geliebten Volkes«.3 Hitlers Image war vor allem auch die Arbeit seines jungen Paladins Schirach. Nach kurzem Kriegsdienst an der Westfront wurde Baldur von Schirach im August 1940 von Hitler als Reichsstatthalter und Gauleiter nach Wien geschickt, blieb aber Reichsleiter der NSDAP für die Jugenderziehung und Beauftragter des Führers für die Inspektion der Hitler-Jugend sowie oberster Verantwortlicher für die NS-Jugendpolitik, auch wenn sein Stellvertreter Artur Axmann Reichsjugendführer wurde. Schirach, so das Kalkül des »Führers«, sollte die Sympathien der Wienerinnen und Wiener für sich gewinnen, er interpretierte diesen Auftrag jedoch auf sehr eigene Art und Weise: Während in den Konzertsälen und auf den Bühnen der Stadt die von ihm geförderte »Wiener Kultur« glanzvolle Erfolge feierte und er sich mit viel Aufwand in europäischer Diplomatie versuchte, rollten vom Aspangbahnhof die Todeszüge in die Vernichtungslager des Ostens und starben im Landesgericht jene Frauen und Männer auf dem Schafott, die den Widerstand gegen das NS-Terrorregime gewagt hatten. Schirach wollte zwar die blutige Arbeit der Henker nicht sehen, meinte aber verkünden zu müssen, dass die Stadt unter seiner Ägide »judenfrei« geworden wäre. Als er im Frühjahr 1945 Wien gegen die anrückende Rote Armee verteidigen sollte, zeigte sich rasch, dass er dieser Aufgabe nicht gewachsen war – »seinen« Hitlerjungen blieb es überlassen, sich den russischen Panzern entgegenzustellen. Die wenig heldenhafte Flucht aus dem umkämpften Wien führte über die Anklagebank von Nürnberg in die 20-jährige Düsterkeit und Isolation einer Gefängniszelle in Berlin-Spandau …

Ein Dreiviertelamerikaner

Betrachtet man die vorliegenden autobiografischen Quellen zu Baldur von Schirach, so sind deren Schnittmengen ebenso wichtig wie die Auslassungen und Unterschiede, die erwiesenermaßen den historischen Fakten nicht entsprechen. Ein umfassendes, von Schirach approbiertes autobiografisches Dokument ist die offizielle neun Seiten lange Selbstdarstellung anlässlich seiner Ernennung zum Reichsstatthalter und Gauleiter in Wien am 8. August 1940.4 Teilweise stimmt diese auch mit dem Datengerüst der Autobiografie Schirachs, Ich glaubte an Hitler (1967), die von zwei Journalisten als Interviewer und Ghostwriter verfasst wurde,5 überein. In dem Dokument von 1940 wurde aber kein Wort über die US-amerikanische Herkunft seiner Mutter verloren.

Sein Vater Carl Baily Norris von Schirach (1873–1948) war, bevor er in das Garde-Kürassier-Regiment in Berlin eintrat, Staatsbürger der USA gewesen. 1908 quittierte er den Dienst und wurde zum Generalintendanten des Großherzoglichen Hoftheaters in Weimar bestellt. Baldurs Urgroßvater Karl Benedikt von Schirach (1790–1864) war 1855 in die USA ausgewandert, sein Großvater Friedrich Karl von Schirach (1842–1917) brachte es bis zum Major der US-Army und heiratete die Amerikanerin Elizabeth Baily Norris (1833–1873) aus Baltimore (Maryland). Baldur von Schirachs Mutter Emma Middleton Lynah Tillou (1872–1944) stammte ebenfalls aus den USA, und zwar aus Chestnut Hill, einem Vorort von Philadelphia. In seinem tabellarischen Lebenslauf von 1940 verschwieg er auch, dass er bis zu seinem sechsten Lebensjahr in einem ausschließlich englischsprachigen Umfeld aufgewachsen war und ein Jahr später als vorgesehen in die Schule ging, um vorbereitend noch fließend Deutsch zu lernen.

1939 veröffentlichte Max von Schirach, ein Cousin Baldurs, eine umfangreiche Familiengeschichte6, in der auch die US-Verbindungen detailliert aufgeführt wurden. Offensichtlich passte dies jedoch nicht in die nationalsozialistische Propagandalinie, denn im offiziellen langen Lebenslauf aus der NS-Zeit wird auf die engen Verbindungen seiner Familie zu den USA nicht eingegangen. Erst in seinen Memoiren wagt es Schirach dann, ausführlicher von seinen amerikanischen Familienangehörigen zu erzählen.

Die durchaus aristokratisch-herrschaftlichen Lebensumstände seiner Eltern fanden da keine Erwähnung. Selbst innerhalb der Familie sorgte der luxuriöse Lebensstil der Schirachs für Aufregung, wie ein Brief aus 1897 zeigt: »Madame Filou, wie Hermann7 sie nennt – ihr Familienname ist Middleton Tillou –, hat dann auch keinen günstigen Eindruck hinterlassen, obschon sie ganz in duftigem Sommerkostüm, mit feinen Spitzen gekleidet und grande dame, comme il faut, war. Na Karl ist auch nicht besser und unter Herzögen, Prinzen, Grafen und Baronen thut ers schon nicht mehr, was seinen Umgang betrifft. Sport, Rennen und kostspielige Pferde ist außerdem so ziemlich Alles, wofür er Sinn hat, und obschon er ein schönes Vermögen hat, an 200.000 Dollar, wird er damit bald genug fertig werden.«8

Die Großeltern väterlicherseits: US-Bürgerkriegsveteran Karl Friedrich von Schirach, der Held vom Bull Run, und Elizabeth Baily von Schirach, geborene Norris.

Mutter Emma Middleton Lynah Tillou, genannt »Nam-Nam«, stammte aus der bedeutendsten Familien South Carolinas. 1944 kommt sie bei einem Luftangriff auf Wiesbaden auf tragische Weise ums Leben.

Baldur von Schirachs Vater Carl Baily trat nach dem Abitur in Lübeck als Offizier in das Regiment der Gardes du Corps No.1 ein, dessen Chef Kaiser und König Wilhelm II. war. Bei einem Besuch bei Verwandten in den USA lernte er seine spätere Ehefrau Emma Middleton Lynah Tillou kennen, die er 1896 in Chestnut Hill heiratete.

Sie stammte mütterlicherseits aus einer der reichsten Südstaatenfamilien, die im Besitz zahlreicher Plantagen war. Emmas Urgroßvater Henry Middleton (1717–1784) beispielsweise besaß zwanzig Plantagen auf rund 200 Quadratkilometern und ungefähr 800 Sklavinnen und Sklaven. Er war ein erfolgreicher Baumwoll- und Reispflanzer, der etwa 1770 83 Millionen Pfund Reis exportierte9), aber auch ein engagierter Politiker. Middleton bekleidete zahlreiche Ämter und stieg schließlich zu einem der wichtigsten Männer der antibritischen Politik in den Kolonien auf. Er wurde als Vertreter South Carolinas in den First Continental Congress gewählt, den er 1774/75 als Präsident leitete.

Henrys erstgeborener Sohn Arthur Middleton (1742–1787), der wie sein Vater dem ersten Continental Congress angehörte, erbte von seiner Mutter Mary Williams das Anwesen »Middleton Place« und unterzeichnete 1776 mit anderen Delegierten aus South Carolina im Kongress die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten. Während des Unabhängigkeitskrieges geriet er für einige Zeit in britische Gefangenschaft.

Henry Middleton, den man auch mit dem Beinamen Colonial Gentleman bedachte, ließ durch Sklavenarbeit ab 1741 in einer Biegung des Ashley Rivers, zwölf Meilen stromaufwärts von Charleston, eine beeindruckende Gartenanlage errichten, die heute zu den ältesten der USA zählt und Teil des National Heritage ist.10 Sein Enkel Henry Middleton (1770–1846) war von 1810 bis 1812 Gouverneur von South Carolina und amtierte von 1820 bis 1830 als US-Botschafter am Zarenhof in St. Petersburg.11

1865, gegen Ende des Bürgerkriegs, wurden die Herrschaftsgebäude der Familie Middleton, die Gartenanlage und die Baumwollplantagen von General Shermans Unionstruppen zerstört und alle Sklaven befreit. Weitere Zerstörungen der Besitzungen brachte ein Erdbeben 1886. Ein Flügel des dreistöckigen Haupthauses blieb erhalten und dient heute als Museum.

Ganz im Sinne dieser Familientraditionen führte Carl von Schirach in Weimar ein herrschaftliches Haus mit Wirtschafterin, Köchin, einem »Silberdiener« und weiteren Bediensteten.12 Im Gegensatz dazu war Baldurs Großvater Friedrich Karl, in der Familie nur »Fritz« gerufen, ein eher spartanisch lebender ehemaliger Offizier, der unter dem Namen Frederick C(harles) von Schirach im Amerikanischen Bürgerkrieg aufseiten der Nordstaaten gekämpft hatte. In der zweiten Schlacht am Bull Run in Virginia war er am 29. August 1862 als First Lieutenant schwer verwundet worden und hatte nur durch eine Teilamputation des rechten Beins überlebt.13 Er hielt 1865 an der Bahre des ermordeten US-Präsidenten Abraham Lincoln die Ehrenwache, wobei er alle Mühe hatte, Trauergäste abzuwehren, die versuchten, ein Stück des Leichentuches herauszuschneiden.14 Ein Jahr später trat er mit einem Bein aus Kork wieder in den aktiven Dienst, 1867 wurde er für seine Verdienste – for gallant and meritorious services during the war – zum Captain ernannt, 1870 ging er in Pension, 1904 erfolgte die Ernennung zum Major Retired U. S. Army. Der Kriegsheld der Nordstaaten, der zeitlebens amerikanischer Staatsbürger blieb, heiratete 1869 in der St. Paul Church von Chestnut Hill Elizabeth Baily Norris, die Tochter des erfolgreichen Eisenbahnpioniers Richard Norris, der mit seiner legendären Lokomotive »George Washington« berühmt geworden war. Im Februar 1871 kehrte Karl Friedrich von Schirach mit seiner Familie nach Deutschland zurück, seine Frau Elizabeth verstarb bereits 1873, kurz nach der Geburt von Sohn Carl, in Wiesbaden.

In seiner autobiografischen Skizze von 1940 beschreibt Baldur von Schirach seine Kindheit und Jugend in Weimar nur ganz knapp, in seiner Verteidigungsstrategie vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg 1946 sollte diese Zeit jedoch eine zentrale Rolle spielen. Die erfahrenen ideologischen Einflüsse deutete er allerdings völlig um.

Um zu verstehen, warum er so früh aktiv die Nähe zu Adolf Hitler und dem Nationalsozialismus suchte, ist es notwendig, vor allem die Widersprüche in seinen Darstellungen und Erinnerungen genauer in den Blick zu nehmen. Sie zeigen, dass die ideologischen Prägungen bereits vor dem persönlichen Treffen mit Adolf Hitler 1925 in der Persönlichkeit des heranwachsenden Gymnasiasten verankert waren. Daher wird im Folgenden sein persönliches Umfeld in Weimar genauer betrachtet.

Mächtiger Großgrundbesitzer und einflussreicher Politiker: Henry Middleton bestimmte die Geschicke South Carolinas mit. Ölgemälde von Benjamin West, um 1771.

Einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten: Arthur Middleton war 1776 Mitunterzeichner der Unabhängigkeitserklärung. Ölgemälde von Benjamin West, um 1771.

Der Urgroßvater baute Lokomotiven: Die Fabrik von William Norris in Philadelphia lieferte ihre Maschinen auch nach Europa.

Baldur von Schirach wurde noch vor dem Umzug der Familie nach Weimar am 9. Mai 1907 im Haus Blücherstraße 17 in Berlin-Kreuzberg geboren. Die Wohnung lag in der Nähe des väterlichen Arbeitsplatzes: der Kaserne des Garde-Kürassier-Regiments beim Tempelhofer Feld, in der Vater Carl Baily Norris als Oberleutnant und später als Schwadrons-Chef diente und als Rittmeister seinen Abschied nahm. Begonnen hatte er seine Militärkarriere beim 1. Badischen Leib-Dragoner-Regiment in Karlsruhe.

Mutter Emma fühlte sich in Berlin, wie Schirach in seinen Memoiren erzählt,15 sehr wohl, Kaiser Wilhelm II. pflegte sich auf Empfängen auf Englisch mit ihr zu unterhalten. Weimar habe sie später im Vergleich zu Berlin als »eng und provinziell« empfunden, vor allem aber hätte sie das steife Zeremoniell am großherzoglichen Hof gehasst, dem die Familie nicht entgehen konnte – war der Vater doch auch großherzoglicher Kammerherr. Als solcher musste er zu offiziellen Anlässen die traditionelle Hoftracht anlegen, bestehend aus dunkelgrünem Frack, Kniehosen, Degen und Zweispitz, eine »Maskerade«, die für die drei Kinder Rosalind, Karl und Baldur zu einem besonderen Vergnügen wurde.

Der Tagesablauf im herrschaftlichen Haushalt der Familie Schirach war streng geregelt – u. a. auch mit einem traditionellen High Tea um 17 Uhr. Auffallend ist, dass Baldur von Schirach in seinen Erinnerungen kaum Näheres über das Familienleben erzählt. Auch seine Ehefrau Henriette von Schirach überliefert nur fragmentarische Eindrücke vom Wohlstand im Haus in der Gartenstraße 37, der heutigen Abraham-Lincoln-Straße in Weimar. So erinnert sie sich in der US-Internierung an das Frackhemd ihres Schwiegervaters.16 Seinem Sohn Richard gelang es später, die wenigen Informationen über diesen fast hocharistokratischen Lebensstil in seinem Buch Der Schatten meines Vaters zu einem Bild zusammenzufügen.

Behütete Kindheit und Jugend im großbürgerlichen Elternhaus: der zehnjährige Baldur von Schirach mit seinem Hund.

Schwester Rosalind von Schirach war um neun Jahre älter und startete nach dem Ersten Weltkrieg eine Karriere als Opernsängerin.

Frack, Degen, Kniehosen, Zweispitz: Vater Carl von Schirach im »Kostüm« eines großherzoglichen Kammerherren. Zeichnung, Hauptstaatsarchiv Weimar, Landesarchiv Thüringen.

Ein genauer Blick auf die Aufführungspraxis des Intendanten Carl von Schirach bis zum Ende der Monarchie bzw. bis zur Abdankung von Großherzog Wilhelm Ernst sowie der Entlassung Schirachs im Jänner 1919 zeigt, dass er ein konservatives Programm umsetzte und für diesen Posten als Theateramateur mit Hauptberuf Offizier nicht wirklich geeignet war. Ein enger Kontakt entstand damals bereits zum rechtskonservativ-völkischen Literaturkritiker Adolf Bartels, der wie die Vorfahren der Schirachs aus Schleswig-Holstein stammte. Obwohl Bartels keine abgeschlossene akademische Ausbildung hatte, sondern nur ein verbummeltes Studium vorweisen konnte, wurde er 1905 durch Großherzog Wilhelm Ernst zum Professor h. c. ernannt. Er galt mit seiner erstmals 1897 und dann mehrfach aufgelegten Literaturgeschichte Die Deutsche Dichtung der Gegenwart. Die Alten und die Jungen als bedeutendster Vertreter der deutsch-völkischen und antisemitischen Literaturkritik, obwohl er in seiner Studienzeit eher philosemitisch eingestellt war. Eben dieses antisemitische Machwerk eines Dilettanten bezeichnete Baldur von Schirach im Rahmen der Nürnberger Prozesse als prägende Schlüsselliteratur seiner Jugend.

Bereits 1906 hatte Bartels eine »Feier des jüdischen Dichters«17 Heinrich Heine in Weimar verhindert. Er trat als Protagonist der »Heimatkunst« auf und nahm in seiner »Literaturgeschichte« eine »reinliche Scheidung« zwischen »Deutschen und Juden« vor, wobei er Thomas Mann unter die Juden und schlechten Literaten reihte – eine Einschätzung, die Baldur von Schirach im Übrigen nicht teilen sollte.18 Bartels vertrat im Ersten Weltkrieg deutsch-völkische Einstellungen, war im Beirat des einflussreichen antisemitischen »Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes« tätig und engagierte sich im Kreis um den Flensburger Pastor Friedrich Andersen und dem Bayreuther Laientheologen Hans von Wolzogen für das »Deutschchristentum«, das eine »Reinigung« von »volksfremden« jüdischen Einflüssen anstrebte.

Bartels Schüler und Sekretär in den Jahren 1922/23 war Hans Severus Ziegler (1893–1978), der als früher Nationalsozialist mit der Mitgliedsnummer 1317 von 1925 bis 1931 stellvertretender Gauleiter von Thüringen war und 1933 Generalintendant des Weimarer Nationaltheaters wurde. Bereits 1924 befürwortete Ziegler öffentlich nationalsozialistische Ideen und gründete die Wochenzeitung Der Völkische, aus der dann die Tageszeitung Der Nationalsozialist wurde. Für Carl von Schirach und seinen Sohn Baldur wurde der Nazi-Pionier und promovierte Germanist – Ziegler hatte seine Dissertation über »Friedrich Hebbel und Weimar« geschrieben – eine wichtige Kontaktperson.

Vorgänger Carl von Schirachs als Intendant in Weimar war der ebenfalls konservativ-national eingestellte Hippolyt von Vignau (1843–1926). Auch der um dreißig Jahre ältere Vignau war preußischer Offizier – im Rang eines Majors – gewesen und hatte in Berlin einen großen Salon19 geführt sowie das Dessauer Hoftheater geleitet. In der Diskussion um den möglichen Nachfolger fiel schließlich auch der Name von Schirach, der dann tatsächlich zum Intendanten bestellt wurde. Gerüchteweise soll ein Rittmeister von Stechow seinem Garde-Kürassier-Regimentskameraden die Stelle vermittelt haben.20 Bei der Präsentation des neuen Theaterchefs in der Presse wurde zur Unterstreichung der Musikalität auf Schirachs jüngeren Bruder Friedrich Wilhelm verwiesen, der in München als Komponist lebte, sowie auf Carls Tätigkeiten als Assistent am Kölner Stadttheater bei Direktor Max Martersteig.21 Was die Musikalität betraf, so lag man auch nicht ganz falsch – Carl von Schirach war ein passionierter Geigenspieler.

Schon vor Carl von Schirachs Amtseinführung im Oktober 1909 war die kulturpolitische Auseinandersetzung in Weimar im Sinne der antimodernen Richtung entschieden worden. Harry Graf Kessler, der von 1903 bis 1906 Direktor des Großherzoglichen Museums für Kunst und Kunstgewerbe war, und der belgische Architekt und Designer Henry Van de Velde, der seit 1908 die von ihm gebaute Kunstgewerbeschule leitete, hatten beispielsweise vor 1914 als Alternative zum rückwärtsgewandten Hoftheater einen modernen »Mustertheaterbau«22 gefordert. Hoftheaterintendant Vignau, der bereits 1900 dem kritischen Berichterstatter Professor Dr. Otto Francke amtlich die »unliebsame«23 Berichterstattung über die Neubaupläne untersagen wollte, gelang es, das moderne Baukonzept zu verhindern. Das neue, vom Architekten Max Littmann, dem Erbauer des Münchner Hofbräuhauses, entworfene Theatergebäude entsprach schließlich den ästhetischen und kulturpolitischen Vorstellungen der konservativen Kulturelite, die in dieser Architekturkontroverse offen die jüdische Herkunft des Museumdirektors Graf Kessler kritisierte. Das Verdienst Kesslers, die moderne Kunst und Architektur in das damals 33.000 Einwohner zählende, verschlafene Weimar gebracht zu haben, wusste man nicht zu würdigen.24

Schirachs Vater unterstützte bereits 1909 aktiv Bartels völkisches Projekt der »Nationalfestspiele für die deutsche Jugend«, die mit Friedrich Schillers Wilhelm Tell eröffnet wurden. Bartels schmiedete dazu Verse, die an der ideologischen Zielsetzung der »Nationalfestspiele«, die noch ganz in der Bismarckschen Tradition standen, keinen Zweifel ließen:

Ihr Söhne aller deutschen Stämme, hört!

Haltet des Deutschen Reiches heil’gen Bund!

Begraben sei die alte deutsche Schande,

Seid einig im geeinten Vaterlande! 25

Schirach senior blieb auch nach seiner Entlassung als Generalintendant des ehemals Großherzoglichen Hoftheaters im Jänner 1919 ein wichtiger Akteur im Weimarer Kunstverein sowie im Ausschuss und im Vorstand der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft.26 Wie andere Adelige und Großbürger gehörte er zu der von der Weimarer Republik und auch von der provisorischen Landesregierung des Freistaates Sachsen-Weimar-Eisenach enttäuschten Schicht selbsternannter Bildungsbürger, die bereits vor und im Ersten Weltkrieg konservativ-antidemokratische und nationalistische Ideen propagierten und die Moderne im Kunst- und Kulturbereich ablehnten und aggressiv bekämpften. So sind in weiterer Folge im April 1927 erste konkrete Beschlüsse auf Carl von Schirachs Initiative im Geschäftsführenden Ausschuss sowie im Vorstand der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft zurückzuführen, die das Verbot von politisch unliebsamen Theateraufführungen forderten.27 Eine wichtige Bühne der kulturpolitischen Tätigkeit war sein Vorsitz im Weimarer Kunstverein, dem überdies auch der schon erwähnte Germanist Hans Severus Ziegler angehörte, der mit seiner Zeitung Der Nationalsozialist eifrig die eigene Karriere förderte.28 Doch letztlich krachte es ziemlich – wohl aus persönlichen Gründen – zwischen Schirach senior und Ziegler: »Leider kann ich nun wegen der leidigen Partei-Rücksichten dem Dr. Ziegler nicht so beikommen, wie ich möchte. Denn erstens müßte man ihn eigentlich vor einen Ehrenrat zitieren und aus dem Künstlerverein werfen.«29 Ziegler sah sich als »ältesten Parteigenossen unter allen führenden Theatermenschen«.30

Carl von Schirach vertrat aber durchaus dieselbe »völkische« Linie wie Ziegler. So lehnte er im Mai 1929 die Einladung, Mitglied des neuen Franz-Liszt-Bundes zu werden, brüsk ab: »Aus grundsätzlichen Erwägungen möchte ich außer der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft nur dem ›Kampfbund für deutsche Kultur‹, zu dessen Vorstand ich gehöre, als Mitglied zugezählt werden. Die Erfahrung des Krieges- und namentlich der Nach-Kriegszeit lassen mir jede Entwicklung … auf irgend einer anderen als rein-völkischer Grundlage als aussichtslos erscheinen.«31 Schirach war dieser Verein zu international und noch dazu waren überdies, einige vorgeschlagene Vorstandsmitglieder jüdischer Herkunft. Der »Kampfbund für deutsche Kultur« verfolgte hingegen klar antisemitisch-rassistische Ziele.

»Lieb Vaterland erwache neu, auf dass Gott wieder mit uns sei!«: Die völkische Antimoderne mobilisierte die Jugend gegen die Weimarer Republik. Werbe-Ansichtskarte des Jungdeutschen Ordens, gestaltet von »Bruder Zickerow«.

2. PRÄGUNGEN UND BRÜCHE

Der Kampf gegen Kommunismus und Demokratie und die Suche nach dem »starken Mann«

Für ihren zweitgeborenen Sohn Baldur wählte das Ehepaar Schirach einen Ausbildungsweg, der als besonders modern und fortschrittlich galt: Sie schickten den Jungen, der von Ostern 1916 bis März 1917 das renommierte Wilhelm-Ernst-Gymnasium in seiner Heimatstadt32 besucht hatte, in das »Waldpädagogium« auf dem Hexenberg bei Bad Berka, etwa zehn Kilometer südlich von Weimar – für den Sohn aus adeliger Familie, der bisher liebevoll umsorgt worden war, tat sich eine neue Welt auf: ein spartanisch einfaches Leben, verbunden mit dem Erlebnis von Kameradschaft, Verantwortung, Pflichterfüllung und Unternehmungsgeist. Die Schultracht sah für die Buben »kurze Lederhosen, blaue Leinenjacken und scharlachrote Baskenmützen« vor, auf die die Dorfjugend von Bad Berka reagierte wie »der Stier auf das rote Tuch«: Bei Einkäufen im Dorf werden die Schüler regelmäßig mit einem Steinhagel empfangen – für Baldur ein »herrliches Abenteuer«.33

Eine Kurzbeschreibung des Waldpädagogiums am Hexenberg findet sich im Militär-Wochenblatt. Unabhängige Zeitschrift für die deutsche Wehrmacht, in dem 1917 eine Annonce geschaltet wurde, die insbesondere auf Kinder aus Offiziersfamilien abzielte: »Mit Einjährigenberechtigung, Realschule, Gymnasium, Realgymnasium, Erziehungsschule nach Godesberger Art: Lehrer und Hauseltern, Arzt und Erzieher arbeiten Hand in Hand zu allseitig tüchtiger Ausbildung der Jugend zur Förderung der Zurückgebliebenen, zur Pflege und Erstarkung der Starken. Eigene Landwirtschaft und Viehzucht sichern ausreichende Verpflegung.«34 Seinen Namen hatte der »Hexenberg« im Übrigen nach einer Frau erhalten, die hier 1673 als »Hexe« am Scheiterhaufen hingerichtet worden war.

Das Waldpädagogium Bad Berka, gegründet 1911 durch den Lehrer Dr. Emil Endemann, bestand aus mehreren Blockhäusern und existierte bis 1922. Es orientierte sich an den Ideen von Hermann Lietz zum Familienprinzip des Evangelischen Pädagogiums in Bad Godesberg.35 Das bedeutete, dass die Lehrer als »Hauseltern« mit den Schülern in eigenen Häusern untergebracht wurden. Durch das Einsetzen von »Präfekten«, d. h. älteren Schülern, die auch Strafen austeilen konnten, sollte ein letztlich streng autoritäres Unterrichtsregime umgesetzt werden. Lietz beschrieb 1910 das System folgendermaßen: »Wir führten streng die Einrichtung der Präfekten durch, welche uns Erzieher in unserer Arbeit zu unterstützen haben, so zur Selbständigkeit und Selbstbeherrschung heranwachsen und in der Pflichterfüllung und Sorge für Kleinere ernst und gewissenhaft werden; sie haben für Ordnung und Ruhe in den Schlaf-, den Arbeits-, Fahrrad-, Turngeräteräumen, der Werkstätte zu sorgen und sind für Befolgung der in Betracht kommenden Regeln verantwortlich. Durch letztere wird alles bis ins Kleinste bestimmt und Gewöhnung an feste, gut geordnete Lebensweise ermöglicht.«36

Hermann Lietz selbst scheute nicht vor Schlägen zurück, obwohl offiziell Körperstrafen als erzieherisches Mittel nicht vorgesehen waren. Lietz, ein deutscher Nationalist, der jeden Frieden im Ersten Weltkrieg ablehnte, vermeldete 1917 stolz, dass alle seine wehrfähigen Schüler der im September 1917 neu gegründeten Deutschen Vaterlandspartei (DVLP) beigetreten wären und einen militärisch kontrollierten Führerstaat anstreben würden. Im Konzept von Lietz zeigten sich durch die Einführung des »Arierprinzips« ab 1903 bereits früh klare Tendenzen zu einer rassistischen, deutsch-völkischen Eliteausbildung. Seine Schüler rekrutierten sich vor allem aus Kindern der Oberschicht, häufig waren Schüler dabei, die Probleme an anderen Schulen hatten und dort den Abschluss nicht schafften. Im Falle von Baldur von Schirach gibt es jedoch dazu keine Hinweise. In seiner Autobiografie verschweigt er konkrete Details zu seiner Schulbildung bzw. zu den Schulerfolgen.

Lehrer (»Hauseltern«) und Schüler leben zusammen in einer autoritär geordneten Gemeinschaft: Das Waldpädagogium Bad Berka, gegründet 1911, versuchte die Ideen des Reformpädagogen Hermann Lietz (oben) in die Tat umzusetzen.

Die Jugend soll für einen möglichen Krieg gerüstet sein: Generalfeldmarschall Wilhelm Leopold Colmar Freiherr von der Goltz gründete 1911 den Jungdeutschlandbund.

»Arbeitslager« des Kultur- und Rundfunkamtes der HJ in der Stadt Goethes und Schillers im Juni 1938: Der »alte Kämpfer« Hans Severus Ziegler spricht in der Weimarhalle zu den Teilnehmern.

Zwar fehlen Unterlagen oder Erinnerungen zur Situation im Waldpädagogium Bad Berka, die völkisch-nationalistische, antidemokratische und antisemitische Linie, die Lietz vorgab, ist jedoch bestens dokumentiert. Diese wurde aber von Schirach nie kritisch reflektiert, sondern höchst positiv dargestellt. Die Strategie von Hermann Lietz richtete sich gegen die drillartige Paukerschule in den Großstädten, seine Vorstellung blieb aber letztlich stark von einem evangelisch-christlichen, strengen und spartanischen Weltbild geprägt, das sowohl das wilhelminische Kaiserreich als auch den deutschen Nationalismus verherrlichte und von antisemitischen, antikapitalistischen und darwinistischen Vorstellungen beherrscht wurde.37

Ein kurzer Blick in seine Broschüre Des Vaterlandes Not und Hoffnung. Gedanken und Vorschläge zur Sozialpolitik und Volkserziehung, 1919 im Verlag des Waisenheims an der Ilse erschienen, reicht, um zu erkennen, dass Lietz bereits die »Rassenfrage« und den Antisemitismus vor dem Hintergrund einer Stärkung der deutschen Nation auch durch Maßnahmen im Bereich von »Rassenhygiene« thematisierte. Es ist daher kein Zufall, dass er auch in der NS-Zeit immer wieder zitiert wurde.

Alfred Andreesen, sein Nachfolger als Leiter der Lietz-Schulen, proklamierte 1934 etwas vollmundig, »daß alles, was Lietz in jahrelangem Kampfe anstrebte, im Nationalsozialismus zu einem großen politischen Wollen zusammengefasst« worden wäre.38 1935 schloss sich Baldur von Schirach im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der Lebenserinnerungen von Lietz, die Alfred Andreesen neu herausgegeben39 und durch Briefe und Berichte ergänzt hatte, dieser Meinung an: »Ich sehe in Lietz die reinste und fruchtbarste Erziehungsgestalt unseres Volkes.«40

Schirach selbst erwähnt diese ideologischen Hintergründe und Untiefen von Lietz zwar nicht in seiner Autobiografie, dokumentiert aber ganz offen das antidemokratische kaisertreue Umfeld im Waldpädagogium Bad Berka. Als er als Elfjähriger eine rasch von Näherinnen des Heimes gebastelte schwarz-rot-goldene Fahne, die eigentlich an die 1848er-Revolution erinnerte und die Fahne der Weimarer Republik werden sollte, am Dach eines der Holzhäuser hisste, wurde er von Direktor Emil Endemann gerügt, da ja auch Schirachs Vater von den »Roten« davongejagt worden sei. Schnell holte der junge Schirach dieses »revolutionäre« Fahnenstück wieder vom Dach, denn vorerst galten in diesem Umfeld noch die kaiserlichen Farben Schwarz-Weiß-Rot.41

Baldur von Schirach passte sich rasch an und bewarf mit Internatskollegen berittene Soldaten der vorläufigen Reichswehr mit Schneebällen. 6.000 Mann sollten die Weimarer Nationalversammlung schützen, d. h. die 423 Deputierten (darunter erstmals 37 Frauen), welche die neue Verfassung ausarbeiteten.42

Die Zeit im Bubeninternat auf dem Hexenberg wurde für Schirach zur zentralen Erzählung seiner Jugend. Das gilt sowohl für seine Autobiografie aus dem Jahr 1967 als auch für sein langes Eingangsstatement bei der Hauptverhandlung der Nürnberger Prozesse 1946. Geschickt wusste er die Prinzipien des Reformpädagogen mit den Grundsätzen seiner Amtsführung als Chef der Hitler-Jugend in Einklang zu bringen: »Das ist eigentlich der Ort, wo zuerst in mir (sic!), als ich ein kleiner Junge war, dieser Gedanke der Selbstführung der Jugend in sich bildete. Denn, als ich auf dieses Landerziehungsheim kam, war ich ein Kind von 11 Jahren. Da war ein kleiner Raum in diesem Haus, der hieß der Kükenstall. In diesem Raum wohnte noch ein ganz kleiner Junge namens v. Wolzogen und ein kleiner v. Herff. Und mir wurde gesagt, Du bist nun der Stubenälteste und hast dafür zu sorgen, daß die sich morgens richtig waschen und die Ohren sauber sind usw.

Selbstführung der Jugend, Selbstverwaltung einer Jugend innerhalb einer Schulgemeinde, Verhältnis von Jugendlichen und Erziehern, ein Du, kein Sie, dasselbe, was ich nachher in der ganzen Jugend eingeführt habe. Da liegt der Ursprung. Nicht im Wandervogel so sehr, obwohl wahrscheinlich der Wandervogel wieder auf die Landeserziehungsheime einmal eingewirkt hat. Aber ich habe gar nichts mit der bündischen Jugend zu tun gehabt eigentlich.«43

Bereits in seiner ersten Aussage in der Hauptverhandlung beim Nürnberger Prozess am 23. Mai 1946 betonte Schirach diese in der Kindheit und Jugend erfahrenen Prägungen:

»Ich war zehn Jahre alt, als ich in die erste Jugendorganisation eintrat. Ich war also gerade so alt, wie die Jungen und Mädel, die später in das Jungvolk aufgenommen wurden. Es war dies der sogenannte Jungdeutschlandbund, eine Organisation, die Graf (sic! Freiherr) von der Goltz geschaffen hatte, eine Pfadfinderorganisation. Graf von der Goltz und Haeseler hatten unter dem Eindruck der britischen Boy-Scout-Bewegung Pfadfinderbünde in Deutschland geschaffen, und eine dieser Pfadfinderorganisationen war der eben erwähnte Jungdeutschlandbund. Er spielte eine bedeutende Rolle in der deutschen Jugenderziehung etwa bis 1918/1919 hinein.

Am 6. Februar 1919 trat im ehemaligen großherzoglichen Hoftheater die verfassunggebende Deutsche Nationalversammlung zusammen. Den 12-jährigen Baldur von Schirach zog es zu den Soldaten, die zum Schutz der Abgeordneten aufgeboten wurden.

Viel wesentlicher für meine Entwicklung war aber eine Zeit, die ich in einem Waldpädagogium verbrachte. Es war dies ein Landerziehungsheim, das ein Mitarbeiter des bekannten Erziehers Hermann Lietz leitete.

Die Idee von Lietz war, der Jugend eine Erziehung zu geben, durch die sie in der Schule ein Abbild des Staates erhielt. Die Schulgemeinde war ein Miniaturstaat, und es entwickelte sich in dieser Schulgemeinde eine Selbstverwaltung der Jugend. Ich will nur kurz andeuten, daß er auch Ideen weiterführte, die lange vor ihm Pestalozzi und der große Jean Jacques entwickelt haben. Irgendwie geht ja alle moderne Erziehung auf Rousseau zurück, ob es sich nun um Hermann Lietz oder die Boy Scouts, die Pfadfinderbewegung, oder den deutschen Wandervogelbund handelt. Jedenfalls, aus dieser Idee der Selbstverwaltung der Jugend in einer Schulgemeinde habe ich meine Idee von der Selbstführung der Jugend.

Mein Gedanke war, in der Schule die junge Generation mit Ideen zu erfassen, die 80 Jahre vorher Fröbel begründet hatte. Lietz wollte von der Schule aus die junge Generation erfassen.

Ich darf vielleicht ganz kurz erwähnen, daß, als 1898 Lietz mit seiner Erziehungsarbeit begann, im selben Jahre in einer südafrikanischen Stadt der britische Major Baden-Powell durch Aufständische eingeschlossen wurde und dort die Jugend zu Spähern in Wäldern ausbildete und daraus den Grund legte zu seiner eigenen Boy-Scout-Bewegung, und daß im selben Jahre 1898 Karl Fischer aus Berlin-Steglitz die Wandervogelbewegung gründete.«44

Ganz offensichtlich versuchte Schirach in der Darstellung in der Hauptverhandlung all jene Jugendorganisationen, denen er angehörte, in die Nähe der Pfadfinder zu rücken, um den nationalsozialistischen Sonderweg in Richtung der Militarisierung von Kindern und Jugendlichen infrage zu stellen. Tatsächlich war aber der »Jungdeutschlandbund«, dem er im Alter von zehn Jahren beitrat, durchaus bereits seit seiner Gründung 1911 darauf angelegt, die städtische Jugend körperlich auf den Wehrdienst vorzubereiten. Dessen Gründer, Freiherr Colmar von der Goltz, plante einen »Volkskrieg«, d. h. einen Krieg, der von der Zivilbevölkerung selbst nach dem Ende der militärisch regulären kriegerischen Auseinandersetzungen und Kämpfe fortgeführt werden sollte.45 Zu diesem Zweck wurden gemeinsam mit Kommunen und Sportvereinen eine Vielzahl von Sportplätzen ausgebaut und Sport- und Geländespiele veranstaltet. Es ist davon auszugehen, dass Schirachs Mitgliedschaft in diesem rechtskonservativen Jugendverband, dem 1914 750.000 Mitglieder46 angehörten, durch seinen autoritären Vater organisiert wurde.

Subjektiv noch wirksamer wurde die von Baldur von Schirachs privatem Umfeld getragene, totale emotionale Ablehnung der Weimarer Republik durch den Selbstmord seines geliebten älteren Bruders Karl Benedikt, genannt »Buddabu«, der sich im evangelischen Internat Roßleben, einer Klosterschule, das Leben nahm. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Eltern Baldur von Schirachs versuchten, ihm in dieser schwierigen Situation persönlich beizustehen: Die furchtbare Nachricht vom Suizid Karls überbrachte die Wirtschafterin des Haushalts in der Gartenstraße, Frau Junghans, die »ganz in Schwarz gekleidet und mit verweinten Augen« Baldur aus Bad Berka nach Hause holte.47

So kann es nicht verwundern, dass Baldur von Schirach in der Retrospektive auf seine Jugend – er war damals erst zwölf Jahre alt – diesen Selbstmord des 19-jährigen Abiturienten am 28. Oktober 1919 als Reaktion auf das Ende der Monarchie und als Verzweiflungstat gegen die neuen demokratischen und für seine Familie sozial unsicheren Verhältnisse deutete. Angeblich hatte Karl, der vermutlich Offizier beim Badischen Leibdragoner-Regiment werden wollte und den Baldur in seinen Memoiren als »Universalgenie« mit »außergewöhnlicher naturwissenschaftlicher Begabung« beschreibt, einen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem er davon sprach, das »Unglück Deutschlands« nicht