Ökonomie der Großzügigkeit - Fred Luks - E-Book

Ökonomie der Großzügigkeit E-Book

Fred Luks

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Beschreibung

Lässt sich eine gute Zukunft durch Effizienz, Expansion und elaborierte Technik erreichen? Fred Luks kritisiert eine überzogene Orientierung an ökonomischen Leitbildern und veranschaulicht, wie sie im Gegenteil die Zukunftsfähigkeit westlicher Gesellschaften bedrohen. Stattdessen positioniert er die Großzügigkeit im Raum zwischen Technikeuphorie, Verzichtsmoralismus und Resignation und widmet sich ihren Auswirkungen auf verschiedene Themenfelder: Klima, Welthandel, Tierwohl, Digitalisierung und Selbstoptimierung. Diese Neuordnung des Diskurses zeigt, wie ein friedliches gesellschaftliches Zusammenleben möglich ist - auch über den Tellerrand der Nachhaltigkeit hinaus.

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Fred Luks

Ökonomie der Großzügigkeit

Wie Gesellschaften zukunftsfähig werden

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Umschlagabbildung: Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

Korrektorat: Laureen Schuhmann, Bielefeld

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

https://doi.org/10.14361/9783839470282

Print-ISBN: 978-3-8376-7028-8

PDF-ISBN: 978-3-8394-7028-2

EPUB-ISBN: 978-3-7328-7028-8

Buchreihen-ISSN: 2364-6616

Buchreihen-eISSN: 2747-3775

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

 

 

 

 

FÜR ENZO.

Inhalt

 

Vorwort

I.Grundsätzliches

1.Dismal Science, das Scheitern der Effizienz und der fundamentale Unterschied zwischen Schreibtisch und Geschichte

Von der tristen zur fröhlichen Wissenschaft

Knappheit in der Krise

Populismus, Planung und Patentrezepte

2.Endlich im Endlichen: Grenzen, Knappheit und Fülle

Am Ende der westlichen Lebensweise

Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit und die Offenheit der Zukunft

Der Ernst der Lage und die Qualität des Diskurses

Thinking like an Economist: Ökonomische Konstruktionen der (ökologischen) Wirklichkeit

Relative Knappheit: Orthodoxe Ökonomik als Effizienzmanagement

Absolute Knappheit: Grenzen (in) der heterodoxen Ökonomik

Absolute Verschwendung: Anti-Ökonomik

Grenzen, Freiheit und ökologisch-ökonomischer Spielraum: Großzügigkeit als Mittel gegen temporalen Kolonialismus

3.Großzügigkeit als rechtes Maß: Zwischen Geiz und Verschwendung

Gegenseitigkeit und Gleichgewicht: Über Reziprozität und darüber hinaus

Großzügigkeit als gute Mitte: Aristoteles über Geiz und Verschwendung

Das rechte Maß: Elemente einer zeitgemäßen Begrenzungsethik

Maßlose Mäßigung als Geiz und das Scheitern der Öko-Moral

Individueller Verzicht und kollektive Selbstbegrenzung

Fasten und Festivals: Verzicht und Verschwendung

Fülle und Güte als relevante Eigenschaften der Welt

II.Anwendungen

4.Schonung statt Steigerung: Spielraum für die Natur als Grundbedingung für Nachhaltigkeit

Effizienz und Effektivität

Technikinnovation, Konsumsuffizienz und unwirtschaftliches Wachstum in einer vollen Welt

Unendliches im Endlichen? Das Rumoren der Komparative und die Knappheits-Effizienz-Wachstums-Endlos-Schleife

Großzügigkeit als Weg aus der Knappheits-Effizienz-Wachstums-Endlos-Schleife: Eskalationsunterbrechung als gesellschaftliches Grund-Problem in einer endlichen Welt

Platz da! Tiere, Flächen, Schiffe

Frieden mit der Natur? Unsere brutale, blendende und dröhnende Welt

Knappheit, Effizienz und Wachstum als Ursachen für Tierquälerei

Großzügige Nachhaltigkeit: Schonung, Slack und Spiel-Raum

Effizienz, Konsistenz, Suffizienz und Opulenz: Eine Neuinterpretation von Verschwendung

5.Großzügigkeit und wirtschaftliche Rationalität

Resilienz, Fehlerfreundlichkeit und Überraschungsfähigkeit als »unökonomische« Zukunftstugenden

Großzügigkeit, betriebswirtschaftlich gedacht

Auf der Suche nach der richtigen Balance zwischen Effizienz und Resilienz

Internationaler Handel: Gibt es ein rechtes Maß?

Kulturlosigkeit, Dummheit und Krankheit als Kollateralschäden ökonomischen Denkens: Eine zugespitzte Mesoökonomik der Effizienzkritik

Dahin gehen, wo es wehtut: Makroökonomik der Verschwendung

Die missverstandene Digitalisierung

6.Jenseits von Selbstoptimierung und digitaler Kontingenzvernichtung

Die Krise der Achtsamkeit in der Aufmerksamkeitsökonomie

Effizienzkultur. Selbstoptimierung zwischen systemischem Imperativ und persönlichem Herzenswunsch

Das höchst irrige Dogma der Potenzialentfaltung

Unverfügbarkeit als Ingredienz guten Lebens?

Geburt, Tod und (fast) alles dazwischen

Die Grenzen der Resonanz. Über Augenleuchten und Transformationstheorie

Zeichen der Zeit: Keine Ferien im Funkloch?

Das Verschwinden des Zufalls oder: Macht Stadtluft noch frei?

Eine Kultur der Reversibilität in den sozialen Medien?

7.Vergeltung und Vergebung

Schulderlasse, Schuldenerlasse und Gegenseitigkeit: Vom Recht zur Ökonomie und zurück

Die Bitterkeit des Zorns und die Süße der Rache

Staatsschulden, Studentenkredite und Insolvenzrecht

Gerechtigkeit, Gnade, Großzügigkeit: Jenseits von Rache und Reziprozität?

Die Großzügigkeit von Gnade und Vergebung

Vergeben heißt nicht vergessen: Erinnerung, Strafe und Zeit

Vergebung im Recht: Juristische Großzügigkeit

Gefühle und Symbole

Spaltungen, Neuanfänge, Transformationen

III.Schlussbetrachtungen

8.Perspektiv-Wechsel

Auf der Suche nach Großzügigkeit

Sprache. Metaphern der Orientierung

Wirklichkeit. Der Realismus der Großzügigkeit und die Grenzen des Geschichtemachens

Technik. Ihre Perfektion, ihre Irrationalität und ihre Gestaltung

Freiheit. Über Demokratie, Großzügigkeit und Liberalität

Ordnung. Ein Rahmen für Großzügigkeit?

Normalität. Die Macht und der Wandel des Selbstverständlichen

Fortschritt. Neuerfindung durch Anpassung?

9.Brot und Spiele

Zwischen Plan und Wildnis: Im Garten der Nachhaltigkeit?

Einfache Großzügigkeit, transformative Großzügigkeit und die Verteidigung des freien Sonntags

Von der tristen zur fröhlichen Wissenschaft

Anhang

Literatur

Anmerkungen

Vorwort

 

Kann man sich eine größere Tragödie vorstellenals die, daß wir in dem Bestreben, unsere Zukunftbewußt nach hohen Idealen zu gestalten, in Wirklichkeitund ahnungslos das genaue Gegenteil dessen erreichen sollten, wofür wir gekämpft haben?(Friedrich August von Hayek)

Dieses Buch ist eine Kritik der Vorstellung, eine gute Zukunft und eine nachhaltige Entwicklung ließen sich durch Effizienz, Expansion und elaborierte Technik erreichen und sichern. Echte Zukunftsfähigkeit braucht auch Opulenz, Maß und Kultur. Der folgende Text ist ein Einspruch gegen eine normale, etablierte und oft institutionalisierte Art des Denkens und Handelns. Großzügigkeit als das rechte Maß im Umgang mit der Natur und uns selbst ist kein Patentrezept, aber unverzichtbares Element einer gelingenden Gesellschaft. Folglich analysiert und positioniert das Buch die Großzügigkeit als Voraussetzung für eine gute gesellschaftliche Zukunft. Dabei wird der Begriff der Großzügigkeit großzügig interpretiert und auf verschiedene Felder angewandt. Es geht um Klimawandel und Welthandel, um Tierwohl, um Digitalisierung und Selbstoptimierung und nicht zuletzt um die Relevanz des Vergebens für eine gelingende Gesellschaft. Was diese Felder gemeinsam haben: dass ein Übermaß an Striktheit, Effizienzorientierung und Rationalitätsfixierung uns selbst, anderen Geschöpfen und der Natur nicht guttut.

Wäre die Übung, diese Situation kritisch durchzudenken, nur l’art pour l’art – dann könnte die Reaktion darauf im Geiste dieses Buches nur lauten: so what? Denn dass wir Kunst um der Kunst willen brauchen – und darüber hinaus Sport um des Sports willen, Verschwendung um der Verschwendung willen und so weiter –, ist eine der Ideen, die hier stark gemacht werden sollen. Unsere Kultur ist in einem Maße an »vernünftigen« Zweck-Mittel-Relationen orientiert, das nicht guttut. Das »vernünftig« steht in Anführungsstrichen, weil zu viel Vernunft bekanntlich in Unvernunft umschlägt.

Das folgende gedankliche Unterfangen steht natürlich im Kontext einer Lage, die man als multiple Krise, Polykrise oder Zeitenwende bezeichnen kann. Corona, Krieg und Klimadesaster sind Stichworte einer gesellschaftlichen Situation, die von großen Problemen und trüben Aussichten geprägt ist, aber auch von großem Engagement und echter Hoffnung. Es wird immer deutlicher, dass die »normale« westliche Lebensweise an ihr Ende kommt und eine »große Transformation« notwendig ist, die einen ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Wandel in Richtung Zukunftsfähigkeit realisiert. Wie zu zeigen sein wird, heißt das mitnichten, sich von der Vorstellung gesellschaftlichen Fortschritts zu verabschieden. Im Gegenteil: Großzügigkeit versteht sich als Beitrag zum Fortschritt – und zwar einem, der nicht durch eine Orientierung an Effizienz und Expansion geprägt ist, sondern der Elemente wie die Schonung der Natur, Schönheit und Spielraum für Ideen, Lernprozesse und Experimente betont.

Nietzsches zu Tode zitierte Aussage, ohne Musik sei das Leben ein Irrtum, ließe sich anführen als Hinweis auf die Richtung, in die hier gedacht werden soll. Für die Gegenwart noch passender ist vielleicht folgende Äußerung des Schriftstellers Navid Kermani gegenüber dem WDR-Sinfonieorchester: »Das ist kein schönes Leben ohne Sie, ohne ein Orchester, ohne ein Theater, ohne all das Überflüssige. Wozu lebt man denn? Doch nicht für das, was zweckmäßig ist. Sondern für das, was darüber hinausgeht, für die Momente, die eben nicht aufgehen in irgend einem betriebswirtschaftlichen Nutzen.«1

Dass das Leben eben nicht im Nützlichen aufgeht und dass das Leben – auch das gesellschaftliche Leben und das Leben der Natur – sich wesentlich aus dem Unzweckmäßigen, Ineffizienten und, ja, Unvernünftigen nährt, ist eine wesentliche Begründung für die große Bedeutung von Großzügigkeit. Zu problematisieren ist dabei nicht wirtschaftliches Denken als solches. Platte Ökonomiekritik führt zu gar nichts, weil ökonomisches Denken an sich nicht das Problem ist – eine Auseinandersetzung mit der Dominanz des Wirtschaftlichen erscheint aber unverzichtbar. Dabei kann das Nachdenken über die Vorzüge des Unproduktiven paradoxerweise sehr produktiv sein. Denn wenn die eben skizzierten und im Folgenden noch ausführlich zu beschreibenden Verhältnisse verändert werden sollen, geht das zwar nicht ohne praktischen Wandel, aber wohl auch nicht ganz ohne theoretische Reflexion.

Englischsprachige Zitate habe ich selbst ins Deutsche übertragen und dabei in sehr vielen Fällen die Übersetzungsmaschine deepl konsultiert. Unendlich wichtiger war die Unterstützung durch Menschen – für kritische Anmerkungen zu Ideen und Textentwürfen geht mein sehr herzlicher Dank an Christoph Badelt, Ulrich Brand, Nastassja Cernko, Birgit Dalheimer, Michael Deflorian, Robert Dempfer, Klaus Gabriel, Daniel Hausknost, Heiko Kapels, Johannes Koll, Philipp Krohn, Beate Littig, Verena Madner, Michael Meyer, Bernd Siebenhüner und Gabriele Sonnberger. Wie immer gilt: Mängel, Meinungen und Merkwürdigkeiten gehen allein auf mein Konto.

Dieses Buch ist meinem Sohn Enzo gewidmet.

Purkersdorf bei Wien, Mai 2023

I.Grundsätzliches

1.Dismal Science, das Scheitern der Effizienz und der fundamentale Unterschied zwischen Schreibtisch und Geschichte

 

Von der tristen zur fröhlichen Wissenschaft

Das vorliegende Buch basiert auf der Einschätzung, dass Großzügigkeit ein zentraler Faktor für eine gesellschaftliche Entwicklung ist, die man als fortschrittlich, als nachhaltig oder auf andere Weise als positiv bewerten kann. Es basiert nicht auf der Einschätzung, dass man sich Dinge am Schreibtisch ausdenken kann, diese Ideen unter die Leute bringt und damit eine Lösung für die Probleme der Welt in diese Welt kommt. Großzügigkeit wird im Folgenden durchaus großzügig interpretiert, aber eben nicht als konzeptionelle Allzweckwaffe. Keine Idee allein wird uns dem Fortschritt näherbringen. Nur viele Ideen, die miteinander streiten, sich dadurch verändern und miteinander kombiniert werden, können das. Zu dieser Vielfalt soll das Folgende ein Beitrag sein.

Ein solcher Beitrag enthält beim Großthema Großzügigkeit zwangsläufig Grundlagen- und Begriffsarbeit. Wie wir noch sehen werden, betrifft die Großzügigkeit ebenso wie der Geiz fundamentale Eigenschaften des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Wer über Großzügigkeit reden will, kann über Dinge wie Endlichkeit und Grenzen, Knappheit und Fülle, Verschwendung und das rechte Maß nicht schweigen. Um diese Grundbegriffe geht es in den Kapiteln 2 und 3 (Teil I).

Das Plädoyer für Großzügigkeit basiert hier wesentlich auf der Kritik an einer Idee, genauer: der Kritik an der Dominanz einer Idee – der Effizienz. Ihr wird in gewisser Weise (viel) zu viel zugetraut. Darüber hinaus ist sehr grundsätzlich zu fragen, ob das Leitbild der Effizienz, das mittlerweile so viele Bereiche der Gesellschaft dominiert, überhaupt noch angemessen ist.1 Für unseren Zweck ist entscheidend, dass sie stets auf ein Mehr hinausläuft: Die Orientierung an Produktivität und Effizienz ist eine Orientierung an einem Leitbild der Steigerung, der Expansion, der Ausweitung. Effizienz, so formuliert es der Philosoph Ralf Konersmann, »ist ein Maß ohne Maß – ein Maß, das alles Handeln der Erwartung unterstellt, dass man die Schraube immer weiter drehen kann und die Optimierung keine Grenzen kennt. Die Welt der Effizienz ist eine Welt der Komparative.«2 Dass diese Komparative prinzipiell kein Maß kennen und dass dies in einer endlichen Welt zum existenziellen Problem wird, ist eine der Hauptbegründungen für die Großzügigkeit.

Mit Blick auf die Dominanz des Effizienzleitbildes ist auch zu fragen, inwieweit das, was die Ökonomik traditionell umtreibt, noch zeitgemäß ist. Dass Thomas Carlyles Wort von der tristen Wissenschaft (dismal science) sich zum zweifelhaften Ehrentitel der Ökonomik entwickeln konnte, hängt wesentlich mit dem Pessimismus der klassischen Politischen Ökonomie zusammen – und mit dem schlechthinnigen Gegenstand wirtschaftswissenschaftlichen Denkens: Knappheit. Wo Knappheit herrscht, schlägt die Stunde von Ökonomie und Effizienz. Das gilt heute als quasinatürliche Selbstverständlichkeit.

Die Probleme mit der Effizienz haben zwei Seiten: Sie leistet nicht, was sie zu leisten verspricht – und sie (erneut genauer gesagt: ihre Dominanz) hat erhebliche Nebenwirkungen, die es höchst notwendig erscheinen lassen, dieser Dominanz entgegenzutreten. Dass Effizienz gleichsam ein falsches Versprechen ist, zeigt sich an vielen sozialen, ökologischen und ökonomischen Themen. Für Ökonomie und Ökonomik ist die Effizienz natürlich ein klassisches Thema, aber auch bei Umweltthemen wird regelmäßig darauf gesetzt, dass ein effizienterer Umgang mit Ressourcen, mit Zeit, mit Menschen ein Gebot der Vernunft sei. Im Folgenden wird zu zeigen sein, dass durchaus nicht selten das Gegenteil der Fall ist. Die Kapitel 4 und 5 leuchten aus, wo und warum das so ist und was man dem entgegensetzen – oder dazusetzen – könnte.

Die Nebenwirkungen einer ubiquitären Effizienzorientierung betreffen wesentlich die Lebensqualität, die durch eine digital befeuerte Selbstoptimierung bedroht ist. Die Kritik an dieser Optimierung ist Legion und wird hier nur skizziert werden. Wichtiger ist das unterschätzte Antidot, das beim Beklagen der Selbstoptimierungsschäden kaum zur Sprache kommt: die Großzügigkeit. Kapitel 6 leuchtet diesen Zusammenhang ausführlich aus. Kapitel 7 behandelt ein Thema, das eher quer zu den eben skizzierten Überlegungen steht, für das Thema Großzügigkeit aber sehr wichtig ist. Relevant ist hier weniger die Effizienz und viel mehr das komplizierte Verhältnis von Reziprozität, Gerechtigkeit und Gnade – und die wichtige Rolle, die Vergebung in einer Gesellschaft spielen kann, die sich zukunftsfähig entwickeln will. Darin freilich liegt zumindest mittelbar eine Beziehung zum Effizienzproblem – denn bei beiden Themen geht es um die Unterbrechung unguter Dynamiken, die mit den heute üblichen Mitteln eben nicht zu leisten ist.

Was die ersten drei Kapitel dieses Teils II verbindet, ist eine Beschäftigung mit der – dramatisch formuliert – Verstrickung des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der gesellschaftlichen Naturverhältnisse mit dem Ökonomischen. Dabei geht es nicht um die Verteufelung eines vermeintlich herrschenden »Neoliberalismus«, sondern zunächst einmal um die Diagnose, dass das Ökonomische immer mehr Bereiche in einer Weise dominiert, die der Gesellschaft und der Natur nicht guttun. Großzügigkeit, wie sie hier verstanden wird, stellt dieser Dominanz – die mehr ist als »Neoliberalismus« – etwas entgegen. Die Befassung mit eher juristisch-politischen Themen in Kapitel 7 ist, wie sich zeigen wird, eine wichtige Ergänzung dieser Argumentation.

Teil III enthält Schlussbetrachtungen mit Blick auf die Wirkung, die Großzügigkeit entfalten kann. Kapitel 8 nimmt einen Perspektivwechsel vor und denkt anhand der Begriffe Sprache, Wirklichkeit, Technik, Freiheit, Ordnung, Normalität und Fortschritt die Möglichkeiten einer plausiblen, nicht-naiven Konzeption von Großzügigkeit durch. Im Zentrum stehen dabei die Bedingungen, die der Großzügigkeit im Wege stehen oder ihrer Verbreitung förderlich sind, und nicht zuletzt die Ausdrucksmittel einer »Sprache der Großzügigkeit«. Wie wir sehen werden, gibt es trotz der Dominanz von Knappheits- und Krisendiskursen handfeste Gründe für die Annahme, dass Großzügigkeit, wie sie im vorliegenden Buch verstanden wird, sich bereits verbreitet. Ganz am Schluss des Buches steht Kapitel 9, das den Titel Brot und Spiele trägt. Dort wird eine Unterscheidung zwischen einfacher und transformativer Großzügigkeit eingeführt. Das Buch schließt mit Überlegungen zur Frage, wie eine plausible und produktive Alternative zum tristen (wirtschafts-)wissenschaftlichen Denken aussehen kann.

Knappheit in der Krise

Der Begriff der fröhlichen Wissenschaft hat hier weniger mit einem Nietzsche-Bezug zu tun und mehr damit, dass eine gewisse Fröhlichkeit einem der Zukunft zugeneigten Denken gut ansteht. Es geht hier darum, eine unterschätzte Idee stark zu machen: ohne den Glauben, am Schreibtisch Geschichte machen zu können und ohne die Hoffnung, diese Idee wäre »die« Lösung – aber doch in dem Glauben, dass es politische Wunder geben kann und in der Hoffnung, dass sich unser derzeitiger gesellschaftlicher und ökologischer Ausnahmezustand zum Besseren wenden lässt.3 Der Weg zur Großzügigkeit kann zweifellos nur ein experimenteller Weg sein – ein Such- und ein Lernprozess. Soll dieser gelingen, ist das Management von Knappheit nicht unwichtig. Viel wichtiger aber ist eine Fülle von Ideen, von Phantasie und eine Aufwertung des Spielerischen.

Die Aufwertung von Begriffen wie Fülle, Spiel und Schönheit und die Umwertung von Begriffen wie Verschwendung, Geiz und Wohlstand erscheint mir angesichts unserer Lage unverzichtbar. Effizienz, das sei nochmals betont, läuft in ihrer gegenwärtigen Dominanz ins Leere – vor allem, wo sie ökologische Probleme lösen soll – und führt andererseits zu höchst unerfreulichen Nebenwirkungen – vor allem dort, wo sie soziale Probleme auslöst oder verstärkt. Auf die durch diese Lage dringlich gewordenen Fragen ist Großzügigkeit vor allem deshalb eine Antwort, weil sie einen Weg weisen kann aus der langfristig so destruktiven Knappheits-Effizienz-Wachstums-Endlos-Schleife und weil sie auch jenseits des Ökonomischen »wirkt«.

Wenn die generationenlange (letztlich: ewige) Entkopplung von Wirtschaftsleistung und Umweltverbrauch keine plausible Option ist, muss man aus der Schleife »Knappheit – Effizienz – Wachstum – mehr Knappheit – mehr Effizienz – mehr Wachstum – noch mehr Knappheit – undsoweiterundsoimmerfort« aussteigen. Das Fundamentalproblem vieler zukunftsuntauglicher Entwicklungen liegt in dieser Endlosschleife von Mehrproduktion und Mehrwollen, die kein Maß, keine Ziellinie, keinen Endpunkt kennt. Zukunftsfähigkeit erfordert den Ausstieg aus dieser Schleife – und genau dazu ist Großzügigkeit ein wichtiger Schlüssel. Dass man in der Architektur mit Großzügigkeit Begriffe wie Größe und Weite assoziiert, passt zur Zielsetzung des Folgenden. Großzügigkeit »lässt Platz«, fragt nicht (zumindest nicht prioritär) nach wirtschaftlichem Kalkül und ist am Guten mehr interessiert als am Optimalen. Großzügigkeit, wie sie hier verstanden wird, impliziert eine Aufwertung des Un-Ökonomischen und eine Abwertung (aber nicht Geringschätzung) des Ökonomischen.

In Zeiten von Fachkräftemangel, Materialknappheit, steigender Inflation, »Corona-Engpässen«, weltweiten Lieferschwierigkeiten, ökologisch motivierten Maßhalteappellen und kriegerischen Auseinandersetzungen mitten in Europa dafür zu plädieren, fröhlich, spielerisch und hoffnungsvoll Fülle, Verschwendung und Großzügigkeit in den Blick zu nehmen, mag kühn und naiv erscheinen. Dem ist in aller Deutlichkeit zu entgegnen, dass es gerade angesichts dieser Probleme, ganz besonders aber mit Blick auf die soziale und ökologische Lage höchst notwendig erscheint, sich auf die Suche nach Ideen und Konzepten zu machen, die nicht auf einem naiven Glauben an ein Weiter-so basieren, sondern auf der begründeten Hoffnung, dass es auch anders gehen kann. Die Normalität der westlichen Lebensweise ist an ihr Ende gekommen – darin liegt eine wesentliche Quelle der weit verbreiteten und tiefgehenden Verunsicherung.

Dass es anders gehen muss, ist Anfang der 2020er Jahre evident. Fest etablierte Normalitäten auf Feldern wie Energie, Ernährung, Gesundheit und Handel stehen in Frage. Das scheint den allermeisten Menschen klar zu sein – und gleichzeitig ist paradoxerweise der politische Diskurs davon geprägt, Normalität zu vermitteln. Krise ja, Umbau ja, Zeitenwende ja – aber das Wohlstandsmodell, das doch gerade jetzt eigentlich gründlich hinterfragt gehörte, wird nicht zur Disposition gestellt. Dass höhere Preise für Energie und tierische Nahrung kein temporäres Ärgernis sind, sondern Kennzeichen einer nachhaltigen Wirtschaftsweise; dass Seuchenprävention mit einem Rückbau invasiver Naturnutzung einhergehen muss; dass Resilienz auf Kosten von Effizienz gehen wird – all das wird der Öffentlichkeit zumindest von der Politik kaum vermittelt. Dass dem Menschen die Wahrheit zuzumuten sei – das wird zwar gerne als Zitat von Ingeborg Bachmann herumgereicht: Allein, es bleibt theoretisch. Praktisch wird sehr viel getan, zumindest den Schein von Normalität zu wahren. Das wird sich als nicht nachhaltig erweisen. Dass wieder über Knappheit geredet wird, sollte man produktiv nutzen.

Ein im Vergleich zur Renaissance der Knappheit viel grundsätzlicheres Problem für jedes Bestreben, Themen wie Fülle, Verschwendung und Großzügigkeit zur Sprache zu bringen, ist die buchstäblich fundamentale wirtschaftshistorische Bedeutung, die Produktivität und Effizienz seit der Industriellen Revolution für die Entwicklung der heute reichen Länder gehabt haben. Diese Bedeutung wird oft vergessen: Reiche Gesellschaften sind nicht zuletzt deshalb reich, weil kontinuierlich und erfolgreich daran gearbeitet wurde, aus vorhandenen »Ressourcen« – namentlich Rohstoffen und Arbeitskraft – immer mehr herauszuholen beziehungsweise bestimmte Mengen an Produkten und Dienstleistungen mit immer weniger Ressourcen herzustellen.4 Wachstumskritik in reichen Ländern, das wird bisweilen übersehen, basiert nicht zuletzt auf einem langen Wachstumsprozess. Die Hinwendung zu immateriellen Werten basiert regelmäßig auf einem erfolgreichen Umgang mit sehr materiellen Problemen. Postmaterialismus, hat einmal jemand formuliert, muss man sich auch leisten können. So ist es.

Populismus, Planung und Patentrezepte

Bei der Suche nach nicht-naiven Wegen zum Fortschritt, zur Nachhaltigkeit oder zu einer wie immer zu bezeichnenden »guten« gesellschaftlichen Entwicklung gibt es noch ein anderes relevantes Thema, das hier zu berücksichtigen ist – eines, das man als publizistischen Populismus bezeichnen könnte: Wenn es um den Erhalt oder den Wandel unserer Gesellschaft geht, gibt es zahlreiche Stimmen, die vor allem auf die leichte Zustimmung des Publikums aus sind. Wenn man deren Erfolg verstehen möchte, kann ein faszinierendes Werk aus dem Jahre 1937 helfen: Die Macht des Charlatans von Grete De Francesco. Gleich auf der ersten Seite spricht De Francesco vom »Jonglieren mit dem schillernden, undurchsichtigen und unverstandenen sprachlichen Ausdruck«.5 Dieser Ausdruck ist nicht nur für den Diskurs über die Corona-Krise charakteristisch, sondern auch für die simplen Lösungsangebote in Debatten über Nachhaltigkeit. Das Jonglieren, das Schillernde und den sprachlichen Nebel gilt es im Blick zu behalten, wenn man die Gegenwart verstehen und verändern will.6

Wer nichts weiß, muss bekanntlich alles glauben. Und wer wenig weiß, muss vieles glauben. Uninformiertheit und mangelnde Kritikfähigkeit sind unübersehbar Verbündete der Bequemlichkeit. Dass sich eine gewisse Art von komplexitätsreduziertem Denken und Schreiben so erfolgreich verbreiten konnte, hat einen wesentlichen Grund: Es gibt im Publikum ein geradezu unbändiges Bedürfnis nach Orientierung, Übersichtlichkeit, Sicherheit und Einfachheit. Der Scharlatan nutzt die Sehnsucht nach Wandel aus und, so formuliert es De Francesco, jongliert »mit dem Vertrauen der Hoffenden«.7 Die Bedienung der Hoffnung auf Wandel und die Behauptung, dass es jede und jeder in der Hand habe, die Welt zu verbessern, gehört zu den unverzichtbaren Ingredienzien zeitgenössischer Erbauungsliteratur mit gesellschaftspolitischem Anspruch. Es gibt heute, wie Carlo Strenger das einmal formuliert hat, eine Neigung, »auf Leute hereinzufallen, die uns versprechen, dass wir alles, was wir wollen, ganz einfach haben können, wenn wir es nur richtig machen würden.«8 Wunschkonzertliteratur, oder, mit Michel Houellebecq etwas drastischer formuliert, »läppische Philosophen der versöhnlichen Sorte«9, gibt es mehr als genug. Das ist nicht ohne Risiko: Billiger Gesinnungsapplaus könnte uns teuer zu stehen kommen.

Einem solchen Populismus der einfachen Lösungen sollte man also nicht auf den Leim gehen, wenn man an einer guten Zukunft interessiert ist. Das Gute ist auch eine Frage des Maßes – ein Begriff, der uns noch intensiv beschäftigen wird. In Diskursen über Zukunftsfähigkeit und Nachhaltigkeit gibt es zwei Extreme, die man zugespitzt als Ökonomie- und Ökologiepopulismus bezeichnen könnte.10 Der Ökonomiepopulismus setzt auf Effizienz, Innovation und Wachstum und damit letztlich maßlos auf fortgesetzte Expansion. Der Ökologiepopulismus setzt auf Suffizienz, Exnovation, Schrumpfung und sieht sich regelmäßig auf der moralisch richtigen Seite – und übersieht, dass die vorgebrachten Forderungen nach Mäßigung allzu oft selbst maßlos sind und strukturell ins Leere laufen. Miesepetrigkeit, ästhetische Achtlosigkeit und moralinsaure Appelle machen keine Lust auf Veränderung. Wir kommen darauf zurück.

So sehr man sich das angesichts wichtiger sozialer Herausforderungen, ernster wirtschaftlicher Schwierigkeiten und wahrlich dramatischer ökologischer Probleme wünschen mag – es gibt nicht die eine Lösung oder einen Zauber, der diese Dinge »lösen« könnte: Ganz egal, ob der vermeintliche Zauberstab Marktliberalisierung oder Planung heißt, grünes Wachstum oder Postwachstum, Gemeinwohlökonomie oder Windenergie, Entrepreneurship oder Bedingungsloses Grundeinkommen – oder eben Großzügigkeit. Der Kinderglaube zumal, was menschlich geschaffen sei, müsse sich doch auch durch Menschen wieder abschaffen lassen, ist geradezu kläglich angesichts der realen Welt: Denn aufgrund der Komplexität dieser Welt ist ein einfacher Rückbau des einmal Geschaffenen keine Option – die Veränderung der Welt trägt immer das Risiko der Irreversibilität: nicht nur thermodynamisch, sondern auch gesellschaftlich.

Dass Patentrezepte regelmäßig scheitern, hat viele Gründe. Ein wichtiger ist die nur sehr begrenzte Planbarkeit gesellschaftlicher Entwicklungen. Schon als Individuum scheitert man mit Gewissheit, wenn man Pläne in dem Glauben macht, punktgenau seine Ziele erreichen zu können. John Lennon hat das bekanntlich gut auf den Punkt gebracht: »Life is what happens while you’re busy making other plans.«11 Für das gesellschaftliche Leben gilt diese Einsicht ohne Zweifel. Man muss weder Benjamin Constant oder Friedrich August von Hayek noch Niklas Luhmann gelesen haben, um diesen Punkt und seine Relevanz zu sehen: Wirtschaft, Kultur, Technik, Gesellschaft, ihr Verhältnis zur Natur – all diese Dinge sind am Ende das Ergebnis menschlichen Handelns, aber eben nicht Resultat zielgenauer menschlicher Planung. Natürlich ist der menschliche Entwurf ein wichtiger Faktor für die Resultate der gesellschaftlichen Entwicklung – aber dass einmal gesetzte Ziele punktgenau erreicht werden, ist eben in den allermeisten Fällen dem Zufall zu verdanken, nicht der Planung. Auch deshalb tut man gut daran, sich stets des Unterschieds zwischen Schreibtisch und Geschichte bewusst zu sein.

Der Eindruck, ich hätte mich auf den letzten Seiten (zu) weit von meinem Thema wegbewegt – er trügt. Denn das vorliegende Plädoyer für Großzügigkeit ist ja, wie noch sehr deutlich werden wird, gegen eine erhebliche Persistenz von Ideen angeschrieben, die uns und unserer gesellschaftlichen und natürlichen Mitwelt nicht guttun. Wenn man sich mit Alternativen zum Herrschenden befasst, sollte man sich die Grenzen gesellschaftsverändernder Wunschphantasien vergegenwärtigen. Ohnehin ist die Tröstung, die diese Phantasien spenden, nicht von Dauer, niemals. Allzu viele Tröstungs-, Lösungs- und Orientierungsangebote aus dem Schriftenjargon »Weltrettung« sind soziologisch naiv, psychologisch unplausibel oder politisch gefährlich – oder alles gleichzeitig. Der Anspruch des Folgenden ist, genau das nicht zu sein.

Sollte man hier gnädiger und großzügiger sein? Ich denke nicht: Wo naiv-begeisterter Effizienzglaube herrscht oder als Alternative allen Ernstes die überbordende Forderung nach Einschränkung, Verzicht und Mäßigung in den Raum gestellt wird, da gehört auf einen groben Klotz ein grober Keil. Es kann wenig Zweifel geben, dass eine gute Zukunft sowohl Effizienz als auch Mäßigung erfordert. Dass eine solche Zukunft aber dringend erfordert, über diese Konzepte hinaus zu denken und hinaus zu handeln und ihren Machtbereich dabei einzugrenzen – darum geht es in diesem Buch.

2.Endlich im Endlichen: Grenzen, Knappheit und Fülle

 

Am Ende der westlichen Lebensweise

Die Corona-Krise und ihr politisches Management haben zu einer tiefen gesellschaftlichen Verunsicherung geführt. Das durch die Klimakrise und zivilgesellschaftliche Bewegungen wie Fridays for Future befeuerte Gefühl, dass es »so nicht weitergehen kann«, wurde durch Lockdowns, Lieferkettenprobleme und Lücken im Gesundheitssystem weiter befeuert. Endgültig hat sich diese Emotion wohl mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine durchgesetzt: Die westliche Lebensweise, wie wir sie kannten, ist an ihr Ende gelangt. Was regelmäßige Katastrophenberichte des Internationalen Klimarates und anderer Quellen nicht geschafft haben, wurde durch einen Krieg mitten in Europa geleistet: Die Erkenntnis, dass eine gute Zukunft einen grundlegenden Wandel braucht, ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Transformation ist sozusagen »Mainstream«. Fast.

»Fast« – weil natürlich sehr umstritten ist, was genau Transformation bedeuten soll und wie sie zu organisieren wäre. Klar ist aber, dass Transformation ein auf ein normativ erwünschtes Ziel hin gestalteter Wandel ist. Das meint nicht treffsicheren und geplanten Wandel – den gibt es nicht. Aber die Lage lässt sich doch zuspitzen auf eine Wahl zwischen Veränderung, die sich by design oder by desaster ergibt – oder auf die Differenz zwischen managed transition und forced transition. Etwas anders formuliert: Wandel passiert in jedem Fall – die Frage ist, ob er – zum Beispiel in Form einer ungebremst abrollenden Klimaerwärmung oder eines fortgesetzten Artensterbens – erlitten wird oder ob er – zum Beispiel in Form einer internationalen Zusammenarbeit zum wirkungsvollen Schutz der Umwelt – gestaltet wird. Wie gesagt: Mit Gestaltung ist hier nicht treffsichere Intervention durch staatliche Steuerungsmaßnahmen gemeint, sondern ernsthafte Anstrengungen von Akteuren wie Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, ein erkanntes Problem zu lösen. Wenn man es nicht auf demokratische Weise schafft, in diesem Sinne gestaltend an einer Verbesserung der Lage zu arbeiten, drohen allerschlimmste Folgen.

Diese prekäre Lage hat viele Ursachen, die alle mit unserem Thema der Großzügigkeit in Verbindung gebracht werden können. Ich will hier nur die ökologische Dimension skizzieren. Sie ist insoweit von besonderer Bedeutung, als die Umwelt buchstäblich Grund-Lage gesellschaftlichen Seins und Werdens ist. Daraus resultiert auch, dass die desaströsen Umweltfolgen des Wirtschaftens einerseits eben dieses Wirtschaften massiv »stören« und andererseits durchschlagende soziale Wirkung erzielen. Umwelt ist eben kein »Öko-Thema«, sondern ein wirtschaftliches und soziales Phänomen ersten Ranges. Das ökologische Scheitern der westlichen Lebensweise ist ein grundsätzliches Scheitern.

Unsere Art zu leben scheitert, weil sie an Schranken stößt. Dass der Expansionsdrang westlicher und nicht-westlicher Gesellschaften beginnt, an Grenzen zu stoßen und diese teilweise bereits überschritten hat, zeigt sich nicht nur in biophysikalischen Tatsachen wie Klimaerwärmung und Artensterben. Die Grenz-Erfahrung der Menschheit drückt sich auch in einem an Selbstzentrierung wohl unüberbietbaren Begriff für das aktuelle erdgeschichtliche Zeitalter aus: Anthropozän – das Zeitalter des Menschen.1 Ob dieser Begriff wissenschaftlich geadelt wird oder nicht, ist für seine Wirkung mittlerweile irrelevant: Mindestens als Metapher für die massiven Veränderungen, die menschliche Aktivitäten im globalen Maßstab auslösen, hat er sich durchgesetzt.

Das Anthropozän ist wesentlich ein Ergebnis dessen, was heute oft als »große Beschleunigung« (»great accelaration«) bezeichnet wird.2 Ein Blick auf nahezu alle ökologischen, ökonomischen und technische Statistiken (und auf die in diesem Zusammenhang oft zitierten Graphiken zu sozioökonomischen und ökologischen Trends) macht den Begriff plausibel: Allenthalben sieht man Steigerungsbewegungen, die sich ab den 1950er Jahren rapide beschleunigen. Ob Bevölkerung oder Wirtschaftsleistung, ob Energieverbrauch oder die Verwendung von Kunstdünger, ob Telekommunikation oder Tourismus, ob Kohlendioxidemissionen oder Fischfang – Wachstum, Verdichtung und Beschleunigung, wohin man auch blickt. Eben diese Prozesse überschreiten immer mehr die Grenzen des Durchhaltbaren – das ist Dreh- und Angelpunkt des ökologischen und damit auch wirtschaftlichen und sozialen Scheiterns unserer Lebensweise.

Mit gutem Grund lässt sich diese Lebensweise mit Ulrich Brand und Markus Wissen als »imperial« bezeichnen. Die imperiale Lebensweise ist elementar auf den massiven Zugriff auf Ressourcen angewiesen. Die Lebens- und Wirtschaftsweise der reichen Länder dieser Erde ist heute strukturell vom Import gigantischer Materialmengen abhängig, und ein Ende dieser Abhängigkeit ist nicht absehbar.3 Aktuelle Studien zeigen, wie weit die Welt vom Erreichen international unstrittiger Nachhaltigkeitsziele entfernt ist, dass die globale Effizienz der Nutzung von Materialströmen sogar abnimmt und dass das westliche Wohlstandsniveau mit den derzeitigen Produktions- und Konsummustern keinesfalls global verallgemeinerbar ist.4 Diese Lebensweise beruht darauf, »sich weltweit Natur und Arbeitskraft zunutze zu machen und die dabei anfallenden sozialen und ökologischen Kosten zu externalisieren.«5

Eine Gesellschaft, die auf diese Weise wirtschaftet, kann man mit Stephan Lessenich treffend als Externalisierungsgesellschaft bezeichnen.6 Ein halbes Jahrhundert nach der Veröffentlichung des berühmt-berüchtigten Club-of-Rome-Buches Die Grenzen des Wachstums kann man jedenfalls feststellen: Ja, es gibt diese Grenzen – und sie verdienen unsere Aufmerksamkeit.7 Wissenschaftlich wird das vor allem mit dem Konzept der Planetary Boundaries bearbeitet, das eng mit den eben skizzierten Begriffen Anthropozän und Beschleunigung verbunden ist.8 Diese und andere Konzepte – wie der Umweltraum, der Material- und Energiedurchsatz und der ökologische Fußabdruck – sind Gegenstand des Diskurses über eine nachhaltige Entwicklung.

Nachhaltige Entwicklung wird klassisch und bis heute als Entwicklung bezeichnet, die die Bedürfnisse aller heute lebenden Menschen befriedigt, ohne zu einer Verunmöglichung dieser Bedürfnisbefriedigung für kommende Generationen zu führen.9 Konkretisiert wird diese Vorstellung heute üblicherweise anhand der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen – den Sustainable Development Goals (SDGs).10 Diese 17 Ziele wurden 2015 unter der Überschrift »Transformation unserer Welt« verabschiedet. Der Transformationsbegriff wurde damit endgültig zum Schlüsselwort der Nachhaltigkeitsdebatte.

Der Transformationsbegriff geht gleichsam tiefer und weiter als Vorstellungen, nach denen »ökologische Modernisierung«, soziale Sicherung und eine moderate wirtschaftspolitische Anpassung für eine nachhaltige Entwicklung ausreichen.11 Dass dieser vor uns liegende Wandel grundlegend sein muss und auch begrifflich-konzeptionellen Wandel erfordert, ist auch die Grundannahme dieses Buches – und auch gleichsam ein Einfallstor für die Vorstellung, Großzügigkeit könne allen Ernstes ein Element der gesellschaftlichen Transformation zur Nachhaltigkeit sein.

Der Diskurs über diese Transformation und insbesondere über ihre ökologische Dimension ist wesentlich ökonomisch geprägt – und zwar in mehrfacher Hinsicht: Das gesellschaftliche Ringen um Nachhaltigkeit betrifft wirtschaftliche Zusammenhänge, wirtschaftliche Geschäftsmodelle, wirtschaftliche Interessen sowie ganz wesentlich wirtschaftliche Ideen und Leitbilder. Daraus resultieren drei Zusammenhänge, die für unser Thema zentral sind. Erstens: Die Relevanz des Wirtschaftlichen führt zu allen möglichen und unmöglichen Reform- und Revolutionsideen, die nicht selten von ökonomischem Sachverstand gänzlich unbeleckt sind. Zweitens: Ökonomie ist auch hier niemals »nur« Ökonomie, sondern eng verwoben mit sozialen, kulturellen und anderen gesellschaftlichen Phänomenen. Drittens: Alle Überlegungen, das Ökonomische grundlegend zu verändern, dürfen sozialwissenschaftlich nicht naiv sein – sonst zerschellt jede Transformationsidee an der harten Realität einer Gesellschaft, die aktuell eben gerade nicht auf Nachhaltigkeit eingestellt ist.

Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit und die Offenheit der Zukunft

Die Lage ist also sehr ernst, und es herrscht kein Mangel an vehementen Bekenntnissen zur Verantwortung, die diese Lage bedeutet. Wirklich jeder gesellschaftliche Bereich scheint sich in der Pflicht zu fühlen, an der Transformation zur Nachhaltigkeit mitzuwirken. Von politischen Bekenntnissen zu Nachhaltigkeitszielen über Scientists for Future bis hin zu Unternehmen und ihren Selbstverpflichtungen und Nachhaltigkeitsberichten: Kaum ein gesellschaftlicher Akteur verzichtet heute darauf, etwas zur Nachhaltigkeit zu sagen und seinen Willen zum Wandel zu kommunizieren. Nachhaltigkeit als Leitbild und Bekenntnis – sie ist überall.12 Nachhaltigkeit als wirksame Praxis ist dagegen weitaus seltener.

Besonders zugespitzt analysiert der Wiener Soziologe Ingolfur Blühdorn diese Lücke zwischen Rhetorik und Realität. Seine Theorie der »Nachhaltigen Nicht-Nachhaltigkeit« beansprucht, die Abwesenheit wirklich wirksamer Transformationsschritte zu erklären. Blühdorns bisweilen ätzend-pessimistischer Zugang zum Thema ist für unsere Auseinandersetzung mit Großzügigkeit auch deshalb so relevant, weil er gleichsam argumentativ keine Gefangenen macht und eine Analyse präsentiert, die durch keinerlei Zweckoptimismus gedämpft ist. »Pessimismus und Optimismus«, schreibt Blühdorn in seinem Buch Simulative Demokratie, »sind keine wissenschaftlichen Kategorien.« Worauf es bei sozialwissenschaftlichen Analysen einzig und allein ankomme: ob sie theoretisch und empirisch plausibel seien. Die »Produktion von Hoffnung«, so Blühdorn, gehöre nicht zu den Aufgaben der Gesellschaftstheorie.13

Das kann man für verkürzt halten.14 Aber der Ansatz der nachhaltigen Nicht-Nachhaltigkeit setzt sich wohltuend vom sozialwissenschaftlichen Wunschdenken im Nachhaltigkeitsdiskurs ab (das übrigens ökonomisches Wunschdenken einschließt). Für unsere Zwecke reicht es nicht, Großzügigkeit als notwendig zu skizzieren – es ist auch zu fragen, inwieweit sie möglich ist: Und dafür bietet Blühdorns soziologische Analyse der Nachhaltigkeit fruchtbare Ansatzpunkte. Denn: Die bislang zu beobachtende Perpetuierung der eigentlich allen bekannten Nicht-Nachhaltigkeit und Nicht-Durchhaltbarkeit des westlichen Wohlstands- und Wirtschaftsmodells hat keineswegs nur systemische Gründe, sondern entspricht ganz wesentlich den Vorstellungen von Glück und gutem Leben moderner Bürgerinnen und Bürger. Unsere Lebensweise ist eine LebensWeise – also nicht (nur) Systemimperativ, sondern für eine relevante Anzahl von Mitmenschen ein tiefer Herzenswunsch. Wie wir leben, hat mit etablierten, gewohnten und tiefsitzenden Vorstellungen von Wohlstand, gutem Leben und ganz wesentlich mit Normalität zu tun. Jeder Versuch, diese Lebensweise zu ändern, muss sich dieser Hartnäckigkeit stellen.

Das »normale« hier und heute dominante »Idealbild eines guten und erfüllten Lebens«, schreibt Blühdorn in Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit, wird »mit sicherem Berechtigungsbewusstein eingefordert oder verteidigt« – und steht doch eindeutig »in eklatantem Widerspruch zu dem, was bewegungsorientierte Diskurse als die große Transformation zur Nachhaltigkeit und als gutes Leben für Alle beschwören«.15 Zumal die Widersprüchlichkeit kosmopolitischer Lebensführung zeige sich deutlich bei der Ökologie: »Gerade als besonders fortschrittlich geltende, gut gebildete, flexible, technologie- und mobilitätsaffine, kosmopolitisch orientierte Teile der Gesellschaft entwickeln Lebensstile, deren soziale und ökologische Nicht-Nachhaltigkeit zwar unbestritten ist, die aber als rechtmäßige und unverhandelbare Freiheit der Persönlichkeit betrachtet und verteidigt werden.«16

Wenn aber, wie Blühdorn schreibt, »die stetig wachsenden Bedürfnisse moderner Bürger und Gesellschaften den Status der völligen Selbstverständlichkeit und Unverhandelbarkeit angenommen«17 haben – dann ist das ein fundamentales Problem jeglicher Transformationsbemühungen. Der »Kampf für unsere Werte, unsere Freiheit, unseren Lebensstil« steht heute auf der politischen Agenda nicht nur von populistischen Bewegungen, sondern beschäftigt praktisch alle politischen Kräfte, die bei Parlamentswahlen in westlichen Ländern eine relevante Rolle spielen.18 Hier liegt ein Widerspruch, der sich nicht einfach auflösen lässt – der aber zur Kenntnis zu nehmen ist, wenn man an einer guten Zukunft interessiert ist, die nicht nur Phantasie bleiben, sondern irgendwann Realität werden soll. Zugespitzt lautet Blühdorns Botschaft: Die Selbstverwirklichungsansprüche der Menschen sind dermaßen stark, dass noch so gut gemeinte Bekenntnisse zur Nachhaltigkeit daran scheitern müssen. Die Menschen wollen es nicht anders – das erklärt das Beharrungsvermögen der imperialen Lebensweise.

Dass Blühdorns starke Fokussierung auf das von ihm diagnostizierte Anspruchsdenken als Grundursache der nachhaltigen Nicht-Nachhaltigkeit zu Widerspruch reizt, kann nicht überraschen. So gilt der Soziologe manchen als Hauptvertreter einer »Responsibilisierung«, also einer (übermäßigen) Zuschreibung von Verantwortung für Nicht-Nachhaltigkeit an Konsumentinnen und Konsumenten. Besonders intensiv hat sich der Soziologe Karl-Werner Brand an Blühdorns Ansatz abgearbeitet. Wichtig und für unseren Zweck bemerkenswert ist der Hinweis Brands darauf, dass sich eben nicht nichts tut. Im Gegenteil: Es tut sich etwas, und zwar auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Die Pariser Klimakonvention, Ansätze zu ökologischen Finanzreformen, der Europäische Green Deal, zahllose unternehmerische Initiativen, die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen, eine Verbreitung vegetarischer Ernährungsweisen, ein Erdbeben im Finanzsektor mit dem Titel »Environmental, Social, Governance«, Joe Bidens Gesetzesinitiative mit dem (höchst irreführenden) Titel Inflation Reduction Act – es gibt zahllose Beispiele dafür, dass Wandel bereits stattfindet und die Welt nicht gleichsam in einem stationären Zustand der Unveränderlichkeit gefangen ist.

Genug ist all das freilich nicht, und hier kann man Blühdorns Diagnose, dass sich Nicht-Nachhaltigkeit als überaus lebendig erweist, kaum widersprechen. Nicht-Nachhaltigkeit ist aber eben nicht unhinterfragt und einheitlich – die gesellschaftliche Realität zeigt, wie Brand formuliert, »ein äußerst widersprüchliches Bild.«19 In der Tat ist die Debatte um die »Große Transformation« zur Nachhaltigkeit eine höchst heterogene und umkämpfte Angelegenheit, in der unterschiedliche Positionen, aber auch bereits reale Schritte des Wandels eine Rolle spielen.20 Auch ist zu berücksichtigen, dass die Nicht-Nachhaltigkeit sich im Nachhinein als optische Täuschung erweisen könnte: Manches, das sich heute theoretisch und praktisch tut, zeigt womöglich erst mit (großer) Zeitverzögerung »nachhaltige« Wirkung.

Die auch von Brand ins Treffen geführte Kontingenz jeder gesellschaftlichen und geschichtlichen Entwicklung kann auch dann als Fenster zur Hoffnung fungieren, wenn man Blühdorns Diagnosen für grundsätzlich plausibel hält.21 Sowohl systemisch als auch auf der Ebene der Individuen gibt es Spiel-Raum – wie wir noch sehen werden, liegt eine zentrale Funktion der Großzügigkeit in der Ausweitung derartiger Spiel-Räume. Politische Wunder wie der Fall der Mauer zeigen, dass noch so stabil aussehende Gebilde in kurzer Zeit einstürzen können. Und bei Lebensstilen ist klar, dass »kein einheitlicher, ›unverhandelbarer‹ politischer Imperativ« existiert, sondern dass es trotz der Dominanz nicht-nachhaltiger Lebensweisen eine Vielfalt von Konsum- und Lebensformen gibt.22 Es gibt hier und heute, darin ist Brand zuzustimmen, »Auseinandersetzungen und Kämpfe um die Restrukturierung eines neuen, nachhaltigeren gesellschaftlichen Ordnungsmodells.«23

Zu diesem Prozess beizutragen, ist ein Ziel des Durcharbeitens der Idee von Großzügigkeit, wie sie hier vorgelegt wird. Die Gegenüberstellung von Blühdorn und Brand zeigt, dass Normalität ein Schlüsselbegriff des Ringens um eine gute Zukunft ist: die Transformation einer nicht-nachhaltigen Normalität in eine, um den während der Finanz- und Corona-Krise vielstrapazierten Begriff zu zitieren, »neue Normalität« der Nachhaltigkeit. Bei der Analyse der Möglichkeiten und Grenzen der Chancen einer großzügigen Gesellschaft tut man gut daran, Blühdorns rasiermesserscharfe Diagnosen der herrschenden Normalität zu berücksichtigen. Gleichzeitig erlaubt die Kenntnis historischer Kontingenz und die fundamentale Offenheit der Zukunft die Hoffnung, dass diese Normalität veränderbar ist.

Der Ernst der Lage und die Qualität des Diskurses

Gleichzeitig wird es für aufmerksame Beobachter immer schwieriger, mit Hoffnung in die Zukunft zu blicken. In der Tat: Die Realität der imperialen Lebensweise und die offensichtliche Hartnäckigkeit einer nicht-nachhaltigen Externalisierungsgesellschaft machen einen guten Ausgang der Geschichte nicht eben wahrscheinlich. Wahrscheinlicher erscheint eine Zukunft, die von den sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen einer kaum gebremsten Klimaerwärmung, eines fortgesetzten Artensterbens und anderer ökologischer Entwicklungen geprägt sein wird. Das Gute ist: Wahrscheinlichkeit ist nicht Sicherheit. Wie eben gezeigt, bleibt die Zukunft offen, gestaltbar und voller Möglichkeiten. Auch wenn dieser Raum enger wird: Eine gute Zukunft bleibt möglich – und für sie zu arbeiten, ist nicht naiv und dumm, sondern realistisch und klug.

Echte Hoffnung freilich ist nur dann denkbar, wenn die Arbeit für eine gute Zukunft auf realitätstauglichen Analysen und plausiblen Annahmen basiert. »Die Hoffnung«, sagt René Girard, »ist nur dann möglich, wenn wir es wagen, die Gefahren der Stunde zu denken.«24 Darin liegt auch die Kraft von »pessimistischen« Analysen wie Blühdorns Theorie der nachhaltigen Nicht-Nachhaltigkeit. Man könnte diese Theorie zugespitzt als »aufgeklärten Katastrophismus« im Sinne Jean-Paul Dupuys interpretieren.25 Dieser Ansatz setzt darauf, sich eines tiefgreifenden Pessimismus zu bedienen, um zu einer gut begründeten Hoffnung zu kommen. Aufgeklärter Katastrophismus im Sinne Jean-Paul Dupuys heißt: Man stellt sich das denkmöglich Schlimmste vor, um eben dies zu verhindern. Aufgeklärter Katastrophismus ist dann erfolgreich, wenn seine Katastrophenszenarien nicht eintreten.

Bemerkenswert ist wohl, dass derlei Katastrophenszenarien heute nicht (nur) von Organisationen wie Greenpeace oder Bewegungen wie Extinction Rebellion kommen, sondern in hochoffiziellen Dokumenten von Gremien wie dem Internationalen Klimarat oder dem Internationalen Biodiversitätsrat nachzulesen sind. Vor diesem Hintergrund eröffnet sich die Perspektive einer Transformation, die nur dann problemangemessen erscheint, wenn sie umfassend, tiefgreifend und drastisch ausfällt. Am Ende seines Buches Geosoziologie formuliert Markus Schroer das wie folgt: »Nicht besser, noch besser und immer besser leben, sondern anders leben steht angesichts der massiven planetaren Gefährdungslagen als wirkliche Revolution auf dem Programm.« Bei dieser Revolution, so Schroer weiter, »wird man um die Einsicht nicht herumkommen, dass wir anders denken und handeln müssen, dass wir anders wirtschaften, uns anders ernähren und fortbewegen müssen – und zwar als Kollektive.«26 So oder ähnlich immer häufiger gehörte Beschreibungen der Notwendigkeiten prallen – siehe Blühdorn – regelmäßig auf die ernüchternde Wirklichkeit der real existierenden Möglichkeiten, genauer: auf das, was im Rahmen des Gegebenen möglich scheint.

Dass wir Zeugen einer »radikalen Destabilisierung des Lebens auf der Erde«27 werden, hat politische, aber auch theoretische und sozialpsychologische Implikationen. Karl-Werner Brand weist auf das Problem hin, dass eine »umfassende, in die Basisstrukturen gesellschaftlicher Organisationsprinzipien und Naturverhältnisse eingreifende Transformation historisch völlig präzedenzlos ist, die Sozialwissenschaften deshalb auch über keinen adäquaten Begriff eines solchen neuen Transformationstypus verfügen.«28 Das ist ein auch für die Befassung mit Großzügigkeit wichtiger Hinweis: Umfang und Qualität des Wandels sind eben nicht nur ein ingenieursmäßig zu bearbeitendes Problem, sondern stellen sozial- und wirtschaftswissenschaftliches Denken vor grundlegende theoretische, kategoriale und terminologische Probleme. Notwendig sind nicht zuletzt neue Begriffe, die im besten Fall Denkräume öffnen, die bisher verschlossen scheinen.

Dass die Lage nicht nur theoretisch ans Eingemachte geht, sondern auch individuell und gesellschaftlich starke Emotionen hervorruft, kann nicht überraschen. Wut, Angst und auch echte Verzweiflung spielen in Diskursen über Klimaerwärmung und Artensterben eine wichtige Rolle. Das ist verständlich, gebiert aber ein problematisches Phänomen, das zur Lösung der beklagten Probleme durchaus wenig beiträgt: Gemeint sind die »Händler der Hoffnung« (Händlerinnen natürlich auch), die in schweren Zeiten gute Geschäfte machen – wenn nicht immer ökonomisch, so doch aufmerksamkeitsökonomisch. Das mag daran liegen, dass – wie die bereits zitierte Grete De Francesco schon in den 1930er Jahren konstatierte – nicht nur einzelne Menschen, auch die Menschheit insgesamt »in den Krankheits- und Schwächeperioden ihrer Geschichte immer wieder zum Opfer von Charlatanen [wird], die sich als Ärzte für die Leiden ihrer Zeit anbieten.«29 Diese Art des nicht selten wissenschaftlich getarnten Publikationspopulismus von selbsternannten »Ärzten« (Ärztinnen natürlich auch) hat in einer freiheitlichen Gesellschaft glücklicherweise ihren Platz. Dass diese Gesellschaft mit einer gewissen Form publizistischer Quacksalberei der Lösung ihrer Probleme näherkommt, darf freilich füglich bezweifelt werden.30

Ein Problem ist, dass publizistische Interventionen oft von keinerlei (ökonomischer) Sachkenntnis getrübt sind und die Orientierungsleistung auf Emotion, Vermutung und Optimismus basiert und nicht auf Erkenntnis, Vernunft und Objektivität. Gerade weil die Ökonomie eine so ambivalente Rolle für die Nachhaltigkeit spielt, ist sie von eminenter Wichtigkeit. Wenn man die »herrschende Lehre« kritisiert, sollte man diese Lehre kennen. Was an hanebüchenem Blödsinn über das ökonomische Menschenbild (homo oeconomicus), Wachstum und andere Wirtschaftsthemen veröffentlicht wird, ist oft in einer Weise bemerkenswert, die einen alten Spruch aufruft: Der Laie staunt, und die Fachfrau wundert sich. Hier kommt es zu voller Kraft, das schon zitierte »Jonglieren mit dem schillernden, undurchsichtigen und unverstandenen sprachlichen Ausdruck« und das Spielen »mit dem Vertrauen der Hoffenden«.31

Wer sich damit beschäftigt, Diskurse (wie den ökonomischen) zu verändern und bestimmte Konzepte und Ideen (wie die Großzügigkeit und Effizienzkritik) voranbringen will, darf hier nicht naiv sein. Die Aufmerksamkeitsökonomie des frühen 21. Jahrhunderts goutiert Unterhaltungswert und fragt oft wenig nach theoretischer, empirischer oder sonst wie gearteter Belastbarkeit. Gewisse Texte sind in ihrer Wirkung deshalb ernst zu nehmen, weil hier oft Stimmen sprechen, auf die viele Menschen hören und die auf ein Publikum stoßen, das nach Orientierung, Übersicht und Einfachheit lechzt.32 Hier wird, wie bereits angedeutet, leider oft letztlich nur zu Gläubigen gepredigt, die nach Hoffnung gieren. Der beschriebene Ernst der Lage ist ein Faktor für die Begierde nach Orientierung, Trost und Hoffnung. Orientierung, Trost und Hoffnung sind freilich von begrenzter Haltbarkeit, wenn ihre Quelle dünne Grundlagen hat und sie allzu schnell an der sozioökonomischen und ökologischen Realität zerschellen. »Alternativökonomische« Texte in allen Ehren – wenn sie freilich von der Wirklichkeit hermetisch abgeriegelt sind, läuft ihre Kritik an der (ja tatsächlich oft) un-realistischen Ökonomik heftig ins Leere.

Thinking like an Economist:Ökonomische Konstruktionen der (ökologischen) Wirklichkeit

Es gilt aber zu verstehen, dass unsere Lage nicht nur wesentlich wirtschaftlich geprägt ist, sondern von einer sehr spezifischen »ökonomischen Konstruktion der ökologischen Wirklichkeit«.33 In einem buchstäblichen Sinne beherrscht diese Konstruktion nicht nur wirtschaftspolitische Debatten, sondern prägt – mal mehr, mal weniger subtil – den Diskurs über Nachhaltigkeit. Diese ökonomische Orthodoxie versteht sich durchaus selbst als Anti-Verschwendungs-Wissenschaft. Ihre Dominanz ist höchst relevant – und reicht viel weiter als das vermeintlich herrschende »neoliberale« Verständnis von Wirtschaft und Gesellschaft. Wer Großzügigkeit verstehen und in den Diskurs einbringen will, muss diesen Zusammenhang verstehen.

Das reicht aber nicht aus – wichtig für eine Analyse von (Nicht-)Nachhaltigkeit ist auch die ökonomische Heterodoxie, insbesondere die Ökologische Ökonomik (Ecological Economics). Diese Denkrichtung ist unverzichtbar für großzügiges Denken und Handeln, das sich jenseits von Knappheitsdiagnose und Effizienzglauben zu bewegen hat. Freilich ist noch ein weiterer Schritt notwendig, der über das Un-Ökonomische ökologieorientierten Wirtschaftsdenkens hinausgeht und den Mut aufbringt, anti-ökonomisch zu denken. Großzügigkeit schließt herrschende ökonomische Logik nicht aus – aber sie weist dieser Logik einen anderen Platz zu, als das gegenwärtig der Fall ist. Großzügigkeit heißt nicht zuletzt: eine Entmachtung der (herrschenden) Ökonomik.34

Elisabeth Popp Berman schildert in ihrem Buch Thinking like an Economist eindrücklich die Dominanz einer ökonomischen Sichtweise, deren Wirksamkeit weit über das Wirtschaftliche hinausweist. Ihre Studie trägt den sprechenden Untertitel How Efficiency Replaced Equality in U.S. Public Policy.35Sie legt dar, wie mikroökonomische und effizienzorientierte Denkweisen immer mehr den politischen Diskurs über Themen wie Gesundheit, Bildung und Umwelt dominieren. Ihrer Analyse wurde vorgeworfen, Erkenntnisfortschritte in der Ökonomik unterzubewerten.36 Um diesen Fortschritt geht es aber gar nicht – sondern um den Punkt, dass jenseits von theoretischen oder empirischen Entwicklungen eine bestimmte Art zu denken weiterhin das Denken politischer Akteure dominiert.

Auch der Einwand, hier werde der Einfluss von Ökonomen überschätzt, trifft nicht den Kern des Arguments. Gewiss wird (wirtschafts)wissenschaftliches Wissen häufig von politisch Handelnden nicht aus Erkenntnisinteresse, sondern zu Legitimationszwecken genutzt.37 Doch es geht hier nicht darum, dass Politiker beratenden Ökonomen aufs Wort gehorchen – sondern darum, dass eine ganz bestimmte Art zu denken – nämlich die effizienzorientiere Art zu denken – den ökonomischen Diskurs dominiert und dass dieses Denken eben nicht im ökonomischen Raum verbleibt, sondern profunde Wirkungen jenseits wirtschaftswissenschaftlicher Diskurse entfaltet. Das gilt für viele Politikfelder – und eben auch für die Klima-, Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik.

Bermans Analyse liest sich wie eine Bestätigung des berühmten Keynes-Zitats zum Einfluss der Wirtschaftswissenschaft auf die Politik: »Praktiker, die sich ganz frei von intellektuellen Einflüssen glauben, sind gewöhnlich die Sklaven irgendeines verblichenen Ökonomen.«38 In den letzten Jahrzehnten waren die ultimativen Kandidaten für diesen höchst lebendigen Status toter Ökonomen »Chicagoer« Figuren wie Milton Friedman, Gary Becker und Friedrich August von Hayek – also Denker, die als »neoliberal« gelten. »Neoliberalismus« ist ein (oft missverstandener) Begriff der Dogmengeschichte, den nicht nur ausgewiesene Linke als Kampfbegriff verwenden. (Wegen des verbreiteten Missverständnisses stand der Begriff bisher in Anführungsstrichen, auf die ich ab jetzt verzichte.) Das neoliberale Paradigma gilt vielen bis heute als wirkmächtigste ökonomische Denkschule der Gegenwart – nicht zuletzt auch im Nachhaltigkeitsdiskurs.39

Bemerkenswert und für unser Thema höchst relevant ist nun Bermans Diagnose, dass der Neoliberalismus (oder historisch früher der Keynesianismus) sehr oft gerade nicht die ökonomische Denkform ist, die politisches Handeln beherrscht. Laut Berman dominiert heute ein ökonomischer Denkstil, der weder an Ordnungspolitik noch Makroökonomie sonderlich interessiert ist, sondern dezidiert mikroökonomisch ausgerichtet ist – mit dem Leitbild der Effizienz im Zentrum. Gewiss spielt der Neoliberalismus in der »Chicagoer« Variante für die Verbreitung dieses Leitbilds eine Rolle – aber er ist eben bei weitem nicht der einzige Faktor für die Bedeutung eines effizienzfixierten Denkstils. Dieser Denkstil, so legt Berman überzeugend dar, gilt heute als alternativlos, ja geradezu als natürlich. Die Dominanz und Normalisierung dieses Zugangs bewirken, dass andere – nicht-ökonomische – Kriterien es in Diskursen zum Beispiel über Gesundheits-, Bildungs- oder Umweltpolitik schwer haben, überhaupt in Erwägung gezogen zu werden.

Natürlich kann Effizienz grundsätzlich zur verbesserten Erreichung anderer Ziele führen. Aber wo sie zum Selbstzweck wird und dominiert, kann sie andere Ziele wie soziale Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit, Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen oder die Begrenzung von Konzernmacht verdrängen. Für unsere Analyse der Großzügigkeit als Gegenbild zu einer überbordenden Effizienzfixiertheit ist das höchst relevant – nicht zuletzt deshalb, weil sich hier deutlich zeigt, dass Effizienz selbstverständlich ein legitimes Kriterium für die Bewertung von (politischen) Handlungen sein kann, aber eben nur eines unter vielen. Effizienz zum Gradmesser von Erfolg zu machen, ist kein Naturgesetz, sondern eine Wertentscheidung.40

Während in Debatten über die Dominanz der Ökonomie oft den Kuhnschen Begriff des Paradigmas verwendet wird, favorisiert Berman den Fleckschen Terminus »Denkstile« und spricht in ihrem Buch häufig vom »ökonomischen Stil« (»economic style«). Ludwig Fleck charakterisiert in seinem wissenschaftssoziologischen Klassiker über die Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache den Denkstil als »Bereitschaft für gerichtetes Wahrnehmen und entsprechendes Verarbeiten des Wahrgenommenen«.41 Diese folgenreiche Gerichtetheit zeigt sich trefflich, wenn man den ökonomischen Diskurs und seine gesellschaftlichen Konsequenzen in den Blick nimmt.

Ich selbst habe mit anderen Begrifflichkeiten die konstruktivistische Dimension des Themas hervorgehoben.42 Begriffe wie Knappheit, Effizienz und Wachstum sind soziale Konstruktionen und Elemente einer bestimmten wissenschaftlichen Rhetorik. »Dinge« wie Knappheit und Wachstum sind eben nicht einfach »da draußen«, ihre Relevanz hängt wesentlich mit gesellschaftlichen Diskursen zusammen. Ökonomische Tatsachen und ihre Bedeutung für Nicht-Nachhaltigkeit und Transformation basieren wesentlich auf der Konstruktion und Interpretation wirtschaftlicher Gegebenheiten durch die Wirtschaftswissenschaft: Es gibt so etwas wie eine ökonomische Konstruktion der (ökologischen) Wirklichkeit.

Die Rede von der »ökonomischen Konstruktion der ökologischen Wirklichkeit« liegt jenseits der Differenzierung zwischen der orthodoxen Umweltökonomik und der heterodoxen Ökologischen Ökonomik. Sie betrifft ganz grundsätzlich den Umstand, dass das Ökonomische das gesellschaftliche Reden über die Ökologie dominiert. »Ökonomische Konstruktion ökologischer Wirklichkeit« meint mithin zweierlei.43 Einerseits bezieht sich diese Formulierung auf den (theorieinternen) Umstand, dass die ökonomische Theorie die Umwelt auf eine ganz spezifische Weise »verarbeitet«, die Wirtschaftswissenschaft also eine charakteristische (gewordene und nicht irgendwie »gegebene«) Art und Weise der Abbildung und Analyse von ökologischen Problemen verwendet. Andererseits beschreibt diese Formulierung die außerhalb der Ökonomik wirksame Tatsache, dass die gesellschaftliche Perspektive auf ökologische Problemlagen wesentlich durch ökonomische Rhetorik geprägt ist, wie Autorinnen wie McCloskey und Berman in ihren Arbeiten zeigen.44

Beispiele hierfür sind neben dem strengen Fokus auf Effizienz das ungebrochene Denken in Termini des Wachstums, der »Bilanzierung« des Umweltverbrauchs oder verschiedener Kapitalarten, vom Human- über das Sozial- bis zum »Naturkapital«. Der Diskurs über nachhaltige Entwicklung ist auch dort von einer ökonomischen Konstruktion ökologischer Wirklichkeit geprägt, wo Ökonomie und Ökonomik gar nicht explizit zur Sprache kommen. Dass Knappheit ein allgegenwärtiges Problem und Effizienz die beste Lösung sei, ist eben nicht »natürlich«, sondern in einem nicht-trivialen Sinne »konstruiert«. Gewiss kann man Solidarität, Zusammenhalt oder Vernetzung als »Sozialkapital« bezeichnen – aber man sollte sich bewusst sein, dass die damit verbundene Interpretation der Welt Folgen hat für die gesellschaftliche Wirklichkeit. Auch wenn wir die Umwelt als »Naturkapital« bezeichnen, bleibt das nicht folgenlos für unseren Umgang mit ökologischen Fragen.45 »Human Resources« ist bei genauer Betrachtung ein brutaler Ausdruck, der den Umgang mit Menschen beeinflusst (oder auf den Punkt bringt).46 Die Verbindung ökonomischer Begrifflichkeiten mit ökologischen, sozialen und politischen Themen ist eine historisch entstandene Art und Weise der Konzeptualisierung von Gesellschaft und Natur, die auch für Nachhaltigkeitspolitik nicht ohne Wirkung bleibt.

Relative Knappheit: Orthodoxe Ökonomik als Effizienzmanagement

Ökonomik – die Wissenschaft von der Ökonomie – versteht sich als Knappheitswissenschaft. So wenig Astronomie ohne das All vorstellbar ist oder die Germanistik ohne Goethe, so denkunmöglich ist die Ökonomik ohne Knappheit. In einer Welt der Fülle gäbe es keine Ökonomik – oder nur eine ganz, ganz andere (wir kommen darauf zurück). Die Befassung mit der Knappheit – und der trübe Ausblick auf die Möglichkeit, ihr zu entkommen – ist der Grund für den Ruf der Ökonomik als triste Wissenschaft. Die Klassiker der Politischen Ökonomie sahen einen stationären Zustand voraus: eine ökonomische Lage, in der es kein Wachstum mehr gibt und in der es den Menschen – vor allem den armen Menschen – sehr schlecht geht. Von dieser düsteren Zukunftsaussicht setzte sich unter den Klassikern allein John Stuart Mill ab, der im Ende des Wachstums keine Katastrophe sah, sondern die Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft. In eine ganz ähnliche Richtung dachte der als Wachstumsökonom bekannte John Maynard Keynes, als der über Die ökonomischen Möglichkeiten unserer Enkelkinder und ein Ende der Knappheit philosophierte. Wir kommen darauf zurück.

Die herrschende Lehre freilich – die Orthodoxie der Ökonomik – sah und sieht das anders, ganz anders. Erwähnenswert ist hier besonders der häufig zitierte Essay on the nature and significance of economic science, den Lionel Robbins 1932 publiziert hat. In diesem programmatischen Aufsatz definiert Robbins Ökonomik als »die Wissenschaft, die menschliches Verhalten als eine Beziehung zwischen Zielen und knappen Mitteln mit alternativen Verwendungsmöglichkeiten untersucht.«47 Robbins bringt im selben Text grandios auf den Punkt, worum es der Ökonomik im Wesentlichen geht, wenn er das ökonomische Problem als Vertreibung aus dem Paradies beschreibt und formuliert: »Knappheit von Mitteln zur Befriedigung von Zielen unterschiedlicher Wichtigkeit ist eine fast allgegenwärtige Bedingung menschlichen Handelns.« Diese Aussage kann als Dogma der Wirtschaftswissenschaft bezeichnet werden – als falsches Dogma: Wie wir noch sehen werden, gibt es – selbst in Zeiten von Klimakrise, globalen Pandemien und Krieg – auch Fülle, also das Gegenteil von Mangel und Knappheit.

Die Befassung der Ökonomik mit Effizienz gilt es natürlich dennoch ernst zu nehmen. Nicht zuletzt in Zeiten von Krieg und Klimakrise muss man sich, wenn man die Effizienz kritisiert, ernsten Fragen stellen. Basiert die Perspektive der Großzügigkeit auf einem naiven Kinderglauben, ungetrübt vom Wissen um ökonomische Gesetzmäßigkeiten in einer von Knappheiten geprägten Welt? Ist es in Zeiten von Energieknappheit, Materialknappheit und anderen Krisenerscheinungen statthaft, eine ausdrücklich effizienzkritische Position zu beziehen und dabei sogar darauf hinzuweisen, dass auch Verschwendung durchaus gute Seiten haben kann? Fehlt hier nicht das fundamentale Konzept der Opportunitätskosten, das uns daran erinnert, dass man beim Erreichen des einen notwendigerweise auf ein anderes verzichtet? Muss man nicht zur Kenntnis nehmen, dass vieles, das als Fülle daherkommt oder das verschwendet werden soll, erst einmal produziert werden muss? Dass man dabei, wenn man das effizient tut, mehr herausbekommt? Dass man Vermögen verspielt, wenn man verschwendet – Mittel, die man für sehr viel Gutes einsetzen könnte? Die Fragen sind ohne Zweifel relevant. Problematisch ist, dass eine bestimmte Art der Beantwortung dieser Fragen und eine spezifische Rhetorik diesen Problemkomplex dominieren.

Ein instruktives Beispiel (das in gewisser Weise auch eine nachdrückliche Bestätigung von Bermans oben skizzierter These darstellt) ist ein Vierteiljahrhundert alt – aber es ist höchst aktuell und führt uns von Berman zum Kern unseres Themas. Der Ökonom Erik Gawel schreibt im Kontext einer Debatte über die Stoffstromökonomik, an der – gemeinsam mit Fritz Hinterberger und Marcus Stewen – auch ich selbst intensiv beteiligt war, schon im Jahre 1996 etwas, das paradigmatisch für den Diskurs ist: »Im Ringen um Nachhaltigkeit fahrlässig die Effizienzdividende zu versetzen bedeutet auch, den gesellschaftlichen Transformationsraum zu verkürzen, aus dem konkurrierende intra- und intertemporale Konsumwünsche befriedigt werden können.« Er schreibt auch: »Eine nachhaltige Wirtschaftsweise wird gewiß nur diejenige Gesellschaft realisieren und durchsetzen können, die beim Einsatz von Ressourcen zumindest keine Verschwendung zuläßt.«48

Dieses Argument gehört zu den etablierten Standards der herrschenden Wirtschaftswissenschaft: Es ist »Mainstream« – und, wie wir bei Berman gesehen haben, eine auch über den ökonomischen Diskurs hinaus sehr mächtige Denkungsart. Gawel argumentiert pointiert – und er bringt auch damit gewiss eine wirtschaftswissenschaftliche Mehrheitsmeinung zum Ausdruck –, es sollte »doch unter Ökonomen selbstverständlich sein, daß sich pauschaler Effizienzverzicht nicht als unneoklassisch, sondern schlicht als unökonomisch darstellt«.49 Diese Selbst-Verständlichkeit, diese Normalität mit ihrer intuitiven Plausibilität, die scheinbar offensichtliche Evidenz ökonomischen Denkens sind zentrale Faktoren im Ringen um Nachhaltigkeit. Problematisch ist, dass der charakteristische Fokus auf Knappheit zu kurz springt: In den Blick zu nehmen ist die Endlichkeit der Welt.

Absolute Knappheit: Grenzen (in) der heterodoxen Ökonomik

Die Erde ist begrenzt – und folglich auch ihre Fähigkeit, menschliche Eingriffe ohne Schaden abzupuffern und auszuhalten. Die Begrenztheit – also die Endlichkeit – der Natur limitiert die Möglichkeiten wirtschaftlichen Handelns. Dass es derlei Grenzen gibt, sagt zunächst gar nichts über Knappheit: Denn, ökonomisch formuliert, hat Endlichkeit ja nur angebotsseitige Auswirkungen. Solange es keine Nachfrage nach einer Ressource oder einem Gut gibt, kann es keine Knappheit dieser Ressource oder dieses Gutes geben.

Die Differenz zwischen »absoluter« und »relativer« Knappheit ist keine Wortspielerei, sondern ein Unterschied ums Ganze. Aktuelle Debatten leiden darunter, diesen Unterschied nicht mitzudenken. Problematisch ist das deshalb, weil eine nur halb richtige Problembeschreibung regelmäßig zu falschen Vorschlägen zur Problemlösung führt. Absolute Grenzen wirtschaftlichen Handelns erfordern ganz andere Handlungen und Unterlassungen als Knappheit – die immer ein relatives Phänomen ist, wie man bei Ökonomen wie Carl Menger oder eben Lionel Robbins nachlesen kann, aber auch bei Soziologen wie Niklas Luhmann.

Nochmals auf den Punkt gebracht: Knappheit ist insoweit ein relatives Phänomen (und ist nicht einfach nur »da«), weil sie sich auf die Differenz zwischen Zielen und Mitteln bezieht, oder anders formuliert: zwischen Bedürfnissen und den zur ihrer Befriedigung bereitstehenden Ressourcen. Wenn weniger Mittel zur Verfügung stehen als zur vollständigen Zielerreichung erforderlich sind, besteht Knappheit. Sie kennzeichnet also einen Mangel. Niklas Luhmann definiert Knappheit in Die Wirtschaft der Gesellschaft als »soziale Wahrnehmung von Beschränkungen« – und zwar solcher, »an die soziale Regulierungen anschließen können.«50 Knappheit setzt also das gesellschaftliche Zur-Kenntnis-Nehmen von Begrenzungen als Beschränkungen voraus: Begrenztheit (Endlichkeit) allein konstituiert mithin noch keine Knappheit – das Faktum der Begrenztheit muss auch als gesellschaftlich relevant erkannt werden.

Luhmann setzt den Unterschied zwischen Begrenztheit und Knappheit in Bezug zu Umweltfragen: »Nicht zuletzt die Diskussionen über ökologische Bedingungen der Fortführung gesellschaftlichen Lebens machen es notwendig, diesen Unterschied im Auge zu behalten; denn es versteht sich nicht von selbst, dass Endlichkeiten, welcher Art auch immer, als Knappheiten wahrgenommen werden.« Luhmann unterscheidet das Problem der Endlichkeit als Eigenschaft der Welt von der gesellschaftlich konstruierten Knappheit, die nur dann vorliege, »wenn die Problemlage durch Entscheidungen mitbestimmt ist, die innerhalb der Gesellschaft beobachtet und zur Diskussion gestellt werden können – seien es Zugriffsentscheidungen oder Verteilungsentscheidungen.«51

»Öl«, so Luhmanns nach wie vor höchst aktuelles Beispiel, »ist nicht schon deshalb knapp, weil es nur in begrenzten Mengen vorhanden ist.« In der Tat: Die begrenzten Ölvorkommen dieses Planeten sind deshalb knapp, weil sie Gegenstand von Nachfrage sind. Die Endlichkeit der Verfügbarkeit oder des »Angebotes« sagt, ökonomisch betrachtet, zunächst einmal gar nichts aus. Der Zugriff auf diese Ressource erfolgt eben deshalb, weil Öl gebraucht wird, und hierdurch erst entsteht Knappheit. Systemtheoretisch gesprochen ist der Zugriff die »Operation«, die Knappheit konstituiert, indem »der Zugriff die Möglichkeit weiterer Zugriffe beschränkt. Der Zugriff erzeugt mithin Knappheit, während zugleich Knappheit als Motiv für den Zugriff fungiert.«52 Das Öl-Beispiel macht bereits anschaulich, dass Knappheit eben nicht gleichsam natürlich gegeben, sondern historisch kontingent ist. Was knapp ist, verändert sich mit kulturellen, sozialen, politischen, technologischen, wirtschaftlichen und eben ökologischen Gegebenheiten. Wenn Öl nicht mehr für den Wirtschaftsprozess gebraucht wird, ist es nicht mehr knapp – sehr wohl aber immer noch begrenzt. Das bedeutet natürlich auch, dass Knappheit nicht nur durch eine Beschaffung von Mitteln reduziert werden kann, sondern auch durch eine Begrenzung der Ziele – wir kommen auf diesen gerade in den aktuellen Krisen (Klima, Energie, Artenvielfalt) fundamentalen Punkt zurück.

Harold Barnett und Chandler Morse unterscheiden in ihrer 1963 publizierten klassischen Studie Scarcity and Growth zwischen malthusianischer (»absoluter«, benannt nach Thomas Robert Malthus) und ricardianischer (»relativer«, benannt nach David Ricardo) Knappheit natürlicher Ressourcen.53 Der entscheidende Unterschied zwischen malthusianischer und ricardianischer Knappheit liegt darin, dass erstere eine definitive quantitative Grenze darstellt, während letztere lediglich impliziert, dass die Qualität der nutzbaren Ressourcen abnimmt, ohne dass eine absolute Grenze besteht. Im Laufe des Wachstumsprozesses werden bei ricardianischer Knappheit Ressourcen verwendet, die andere Eigenschaften aufweisen als die bereits verbrauchten. Heute werden zum Beispiel Öl- und Gasvorkommen genutzt, die (teilweise: weitaus) schwieriger zugänglich sind als diejenigen, auf die vor einigen Jahrzehnten zugegriffen wurde. Technische Innovationen können insoweit also Knappheiten verschieben. Dasselbe gilt, wenn Ressourcen durch andere Ressourcen ersetzt werden können, wenn also Substitutionsmöglichkeiten bestehen.

Während die herrschende Ökonomik üblicherweise mit Barnett und Morse davon ausgeht, dass es in diesem Sinne immer nur bestimmte, relative, »punktuelle« Knappheiten gibt, sieht die Ökologische Ökonomik »absolute Knappheit« im Hinblick auf die natürliche Umwelt. Paul Ehrlich spricht in einem viel zitierten Aufsatz aus dem Jahre 1989 von »meta-resource depletion« – und meint damit eine Reduzierung der abbaubaren Ressourcen durch die Ausrottung von Arten, die Zerstörung von Wäldern, Bodenerosion und andere Formen der anthropogenen Naturveränderungen.54 Ehrlich und andere ökologische Ökonomen radikalisieren gleichsam den Knappheitsbegriff – und riskieren durch dessen »Absolutsetzung«, Knappheit mit Begrenztheit zu verwechseln.

Von dieser terminologischen Verwirrung abgesehen ist der Hinweis auf die Relevanz von absoluten Begrenzungen gegenüber relativen Knappheiten zentral. Mit Blick auf Barnett und Morse kann man feststellen, dass deren Unterscheidung fundamental von Substitutionsmöglichkeiten abhängt – und die sind bei den »großen« Nachhaltigkeitsfaktoren wie Klimastabilität und Artenvielfalt eben nicht einmal begrenzt gegeben: Weder klimatische Bedingungen, unter denen Menschen gut leben können, noch Pflanzen- und Tierarten können »ersetzt« werden – ihre Erhaltung ist von existenzieller Bedeutung. Das zeigt auch, dass die Diagnose »Begrenztheit« zu anderen Notwendigkeiten führt als der Befund »Knappheit«. Wenden wir uns jetzt aber einer ganz anderen Perspektive zu, die für die Befassung mit Großzügigkeit unverzichtbar ist – einer Perspektive, die nicht Knappheit oder Begrenztheit ins Zentrum stellt, sondern Überfluss und Fülle.

Absolute Verschwendung: Anti-Ökonomik