Olof Palme - Vor uns liegen wunderbare Tage - Henrik Berggren - E-Book

Olof Palme - Vor uns liegen wunderbare Tage E-Book

Henrik Berggren

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Beschreibung

Visionär, Vollblutpolitiker, Mann der Widersprüche

Olof Palme war ein Mann der Widersprüche: Der Aristokrat, der Sozialist wurde. Der ehemalige Offizier, der zum Abrüster wurde. Der Klassenverräter, der stolz auf seine bürgerliche Familie war. Der Amerikafreund, der die Regierung der USA angriff. Der Antikommunist, der Fidel Castro umarmte. Er war damit auch ein Sinnbild für die Widersprüche seiner Zeit. Wer war Palme wirklich? Der brutale Mord auf dem Sveavägen in Stockholm in einer Februarnacht vor fast fünfundzwanzig Jahren überschattet sein Leben bis heute. Geblieben ist eine Mischung aus nostalgischen Träumen und finsteren Zerrbildern. Der Mordfall blieb unaufgeklärt, das Verhältnis der Nachwelt zu Palme ungeklärt.

In seinem Leben und Wirken begegnet man den großen Fragen dieser Zeit. Wie Willy Brandt war er Visionär und Vollblutpolitiker, ein Mann, der Bewunderung hervorrief und polarisierte. Ein Mann, der die internationale Geschichte weit über Schweden hinaus prägte und Reformen durchsetzte, die seine Heimat grundlegend veränderten. „Vor uns liegen wunderbare Tage” ist die ungewöhnliche Geschichte eines faszinierenden Menschen und Politikers, dessen schillerndes Leben sich im Spannungsfeld zwischen Macht und Moral abspielte und der auf die Anforderungen seiner Zeit ganz eigene Antworten fand.

Die erste große internationale Biographie über Olof Palme.

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Seitenzahl: 1092

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Henrik Berggren

Olof Palme

Vor uns liegen wunderbare Tage

Die Biographie

Aus dem Schwedischen von Paul Berf und Susanne Dahmann

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

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unter dem Titel »Underbara dagar framför oss.

En biografi över Olof Palme« bei Norstedts, Stockholm.

Die Übersetzung wurde von The Swedish Arts Council gefördert.

Der Verlag bedankt sich dafür.

Copyright © 2010 by Henrik Berggren und Norstedts, Stockholm

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile Coverfoto: Jonas Sjöberg

Lektorat: Dr. Martina Klüver

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-04500-5V003

www.penguin.de

»Les beaux jours sont devant nous.«

Französisches Sprichwort, 1968 von Olof Palme zitiert.

»Die Irrungen der Zeit und der Mangel

an zuverlässigen Quellen wird jedem Historiker,

der in seinem Bericht nach einer klaren und

ungebrochenen Linie sucht, Schwierigkeiten bereiten.

Von unvollkommenen Fragmenten umgeben,

die immer zu kurz gehalten, oft obskur und

manchmal auch widersprüchlich sind, ist er gezwungen,

zusammenzustellen, zu vergleichen und zu vermuten.

Und auch wenn er doch niemals seine Vermutungen

mit den Fakten vermischen darf, so kann es dennoch geschehen,

dass die Einsicht in die starken Leidenschaften

der menschlichen Natur in manchen Ausnahmefällen

den Mangel an historischem Material hat ausgleichen müssen.«

Edward Gibbon

Vorwort

AM 1. MÄRZ 1986, einem Samstagmorgen, wurde ich davon geweckt, dass sich der Radiowecker einschaltete. Graues Vormittagslicht sickerte zum Fenster herein, und im Hintergrund hörte man das ferne Rumpeln und Quietschen von Straßenbahnen. Meine Frau und ich waren nach einem zweijährigen Aufenthalt in Kalifornien erst kürzlich nach Schweden zurückgekehrt. Wir wohnten in einer riesigen Altbauwohnung mit dreieinhalb Meter hohen Decken am Järntorget in Göteborg, die von Grund auf renoviert werden musste. Schlaftrunken blickte ich zu dem rissigen, rosengemusterten Stuck an der Decke auf und lauschte zerstreut dem Radio. Nach einer Weile begriff ich, dass etwas nicht stimmte. Eine Reporterin würdigte das Leben des schwedischen Premierministers Olof Palme in jenem sachlichen, gemessenen Ton, der immer dann angeschlagen wird, wenn eine prominente Persönlichkeit unerwartet gestorben ist. Es war unfassbar. Am Abend zuvor war in Schweden noch alles ganz normal gewesen.

Als wir die Tageszeitung gelesen hatten, sahen wir allmählich klarer. Es hatte weder einen Putsch noch eine Revolution gegeben. Olof Palme war am Vorabend um zwanzig nach elf auf dem Heimweg von einem Kinobesuch in der Stockholmer Innenstadt erschossen worden. Der Mörder war noch nicht gefasst. Die Regierung war unverzüglich zusammengerufen und Ingvar Carlsson, der stellvertretende Premier, am Samstagmorgen zum neuen Regierungschef ernannt worden. Im Fernsehen wurden keine Unterhaltungssendungen ausgestrahlt. Aus aller Welt trafen Beileidsbekundungen ein, und Menschen strömten zum Tatort und legten Blumen nieder. Es war verwirrend. In den USA, wo wir auf der Grenze zwischen der idyllischen Universitätsstadt Berkeley und dem sozialen Brennpunkt Oakland gewohnt hatten, waren nachts gelegentlich Pistolenschüsse zu hören gewesen. Aber nun waren wir wieder daheim in Schweden, einem aufgeklärten Land, in dem niemand durch das soziale Netz fallen und dunkle Gassen nachts nicht gefährlich sein sollten.

Während der nächsten Tage wurde beklagt, dass die Regierung keine Staatstrauer angeordnet hatte. Laut schwedischer Verfassung war dies jedoch überhaupt nicht möglich. Dennoch lastete der Verlust schwer auf dem Land. In den Medien bekundeten Staatsmänner und Politiker aus aller Welt ihre große persönliche Trauer. Es hatte den Anschein, als würden die Schweden erst in diesem Moment Olof Palmes internationale Bedeutung verstehen. Am Sonntagabend – achtundvierzig Stunden nach dem Mord − wurde in der Göteborger Innenstadt eine Trauerfeier abgehalten. Vierzigtausend Menschen gingen mit Fackeln in den Händen auf der breiten Prachtstraße der Stadt, der Kungsportsavenyn, zum Götaplatz. Zum ersten Mal in meinem Leben erlebte ich die Kraft der nationalen Zusammengehörigkeit, das Gefühl, mit anderen Menschen in einer Schicksalsgemeinschaft verbunden zu sein. Ich betrachtete die Leute um mich herum − den Arbeiter mit Schirmmütze, die Punkerin, den jungen Einwanderer, das gut gekleidete Ehepaar mittleren Alters – und fühlte mich ihnen allen verbunden. Es spielte keine Rolle, woher wir kamen, zu welchen Göttern wir beteten oder welcher Ideologie wir anhingen. Wir hatten einen Verlust erlitten, der uns vereinte.

Worum trauerten wir? Wie immer bei Beerdigungen war die Trauer eine Mischung aus dem Verlust eines Menschen und der Erkenntnis der eigenen Vergänglichkeit. Olof Palme war immer ein Teil meines Lebens gewesen. Ich war ein Jahr alt, als er dreißigjährig 1958 Parlamentsabgeordneter wurde. Als er im Herbst 1969 zum sozialdemokratischen Parteivorsitzenden und Premierminister gewählt wurde, war ich zwölf und zeigte erste Ansätze eines politischen Bewusstseins. In den folgenden Jahren bewunderte ich ihn, weil er kritisch Stellung bezog gegen den Vietnamkrieg. Ich war stolz, wenn ich Ausschnitte aus amerikanischen Fernsehsendungen sah, in denen er in brillantem Englisch Schwedens Recht verteidigte, die USA zu kritisieren. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre orientierte ich mich wenig originell politisch nach links, aber als das abgehakt war, erschien Olof Palme mir erneut als die selbstverständliche Wahl. Ich gab ihm meine Stimme, als er 1982 die Macht zurückeroberte und dann auch in der Wahl 1985. Da gingen wir im Generalkonsulat in San Francisco zur Wahlurne, und weil wir wussten, dass wir bald darauf heimkehren würden, hatten wir das Gefühl, nicht nur Olof Palme, sondern auch Schweden zu wählen. Jetzt standen wir auf dem Götaplatz und trauerten um Palme – und meine Frau erwartete unser erstes Kind, obwohl wir das damals noch nicht wussten.

Viel zu schnell mündete die Trauer nach dem Mord in Verwirrung und Wut. Die schwedische Polizei erwies sich als inkompetenter, als man es sich jemals hätte vorstellen können. Statt alle Spuren am Tatort zu sichern und Zeugenaussagen auszuwerten, widmete sich die Einsatzleitung fantasievollen Verschwörungstheorien, die sich gegen Ausländer oder schwedische Staatsbürger ausländischer Herkunft richteten. Als im Sommer 1988 in den Medien enthüllt wurde, dass die sozialdemokratische Regierung private Ermittler engagiert hatte, die sich illegaler Methoden bedienten, schien es, als hätte sich der geordnete Staatsapparat Schweden in eine Bananenrepublik verwandelt. Schließlich fiel der Polizei Christer Pettersson ins Auge, ein krimineller Alkoholiker, der vermutlich der Mörder war. Er wurde in erster Instanz verurteilt, in zweiter Instanz freigesprochen und starb 2004. Der Wirbel um den bis heute unaufgeklärten Mord – mitsamt allen wahnsinnigen Verschwörungstheorien und selbsternannten Privatdetektiven – führte dazu, dass Olof Palmes Leben in den Schatten seines Todes geriet.

Wenn mir an jenem Märzabend 1986 auf dem Götaplatz jemand gesagt hätte, dass ich gut zwanzig Jahre später eine Biographie über Olof Palme schreiben würde, hätte ich es niemals geglaubt. Damals sah ich mich noch als angehenden, auf das 19. Jahrhundert spezialisierten Historiker. Aber manchmal kommt es anders, als man denkt. Ich bekam eine Stelle bei der großen Tageszeitung Dagens Nyheter, arbeitete dort zunächst in der Kulturredaktion und später als Leitartikler. Und eines Sonntags Ende Februar 2006 hatte ich Dienst. Ich hatte keine Ahnung, worüber ich schreiben sollte, bis mich jemand daran erinnerte, dass sich in dieser Woche der Mord an Olof Palme zum zwanzigsten Mal jährte. Ich war nicht sonderlich von dem Thema begeistert, da es dazu eigentlich nichts Neues zu sagen gab. Dennoch bestellte ich das Material zu Olof Palme aus dem Archiv und begann zu lesen.

Als ich in den spröden, vergilbten Zeitungsausschnitten blätterte, erkannte ich, dass Olof Palme zu einer anderen Zeit gehörte. In den zwei Jahrzehnten seit seiner Ermordung hatte sich die Welt unwiderruflich verändert. Palme war nunmehr Teil jener Epoche, die man »das kurze 20. Jahrhundert« nannte. Er wurde 1927, neun Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, geboren und starb drei Jahre vor dem Fall der Berliner Mauer. Seine Kindheit fiel in die ersten unbeholfenen Jahre des schwedischen Volksheims. Als die Schlacht um Stalingrad tobte, war er ein Teenager. Pünktlich zum Kriegsende wurde er erwachsen und reiste Anfang der fünfziger Jahre als Studentenführer kreuz und quer durch das zerstörte Europa. Als junger sozialdemokratischer Politiker formulierte er die Wohlfahrtsideologie der sechziger Jahre. In den siebziger Jahren stellte er sich an die Spitze jener Reformen, die die Gleichstellung von Frauen einleiteten und Schweden zu einem der fortschrittlichsten Länder der westlichen Welt machten. Anfang der achtziger Jahre, als die USA und die Sowjetunion sich erneut im Kalten Krieg befanden, setzte er sich für Abrüstung und kollektive Sicherheit ein. Palme, wollte mir scheinen, hatte wie kein anderer Schwede die wichtigsten Konflikte des 20. Jahrhunderts hautnah miterlebt: den Kalten Krieg, das Ende des Kolonialzeitalters, den Wohlfahrtsstaat, den Vietnamkrieg, die Bildungsexplosion, die Studentenrevolte, die Atomenergie, die Ölkrise der siebziger Jahre. Als ich an jenem Abend heimging, nachdem ich einen kurzen und einigermaßen uninteressanten Leitartikel geschrieben hatte, wusste ich, dass ich die Geschichte Olof Palmes und seiner Zeit erzählen wollte, mit all dem Wissen und der Gestaltungskraft, die mir zu Gebote standen.

1. Kalmar – Stockholm

»Ich bin bürgerlicher Herkunft.«

OLOF PALME

»Schon fühl’ ich meine Kräfte höher,

Schon glüh’ ich wie von neuem Wein.

Ich fühle Mut, mich in die Welt zu wagen,

Der Erde Weh, der Erde Glück zu tragen,

Mit Stürmen mich herumzuschlagen

Und in des Schiffbruchs Knirschen nicht zu zagen.«

JOHANN WOLFGANG VON GOETHE,

FAUST I

IN DEN MEISTEN EUROPÄISCHEN HAUPTSTÄDTEN gibt es einen Stadtteil, der anders ist als alle anderen. Er ist nicht nur wohlhabend und exklusiv, sondern stellt auch ein nationales Symbol für die Spitze der Klassenpyramide dar. In Paris ist es der Faubourg Saint-Germain, London hat sein Mayfair, und in Berlin gibt es Dahlem. Die Architektur kann variieren, aber die Atmosphäre ist dieselbe: Diese Viertel haben etwas Abgeschottetes an sich, was auf die Bewohner beruhigend wirken mag, dem zufälligen Besucher jedoch das Gefühl vermittelt, nicht so recht willkommen zu sein. Das Leben auf der Straße verläuft gedämpft und zurückhaltend. Das liegt einerseits daran, dass reiche Menschen große Wohnungen oder Häuser haben und nicht draußen nach Auslauf suchen müssen. Andererseits sind dort die Mieten so hoch, dass sich Cafés, Bars und kleine Läden nicht lohnen. Diese Gegenden sind wie alte Erbtanten, vielleicht etwas betagt, aber immer äußerst solide und respektabel.

In der schwedischen Hauptstadt Stockholm sind Wohlstand, politische Macht und kulturelles Kapital vor allem im Stadtteil Östermalm versammelt, der nordöstlich vom Zentrum liegt und Ende des 19. Jahrhunderts erbaut wurde. Als wichtigste Werkzeuge hierfür dienten, wie böse Zungen behaupten, das Lineal des Barons Haussmann und das Nitroglyzerin von Alfred Nobel. Von dem französischen Städteplaner, der große Teile des mittelalterlichen Paris abreißen ließ, lieh man sich die breiten Boulevards und die Straßenaufteilung im Schachbrettmuster. Das Dynamit des schwedischen Erfinders nahm man zur Hilfe, um Berge, Hügel und andere Unebenheiten der Topografie wegzusprengen. So wurde der Stadtteil nicht nur in vertikaler, sondern auch in horizontaler Richtung eben.

Heute mag diese Geradlinigkeit als ein Beispiel für eintönige Ingenieurskunst aufgefasst werden, doch um die Jahrhundertwende galt Östermalm als ein groß angelegtes Projekt, bei dem eine neue Form des Wohnungsbaus ausprobiert werden sollte, mit viel Licht und Luft. »Alles ist stattlich, prächtig und neu«, pries der Nationaldichter August Strindberg, der selbst einige Jahre auf Östermalm wohnte: »Die grünen Boulevards, die schwarzen Eisenbahnbrücken.« Strindberg war nicht der einzige Künstler, den der neue Stadtteil anzog. Das frühe Östermalm wurde keineswegs als langweilig vornehm und bürgerlich angesehen, sondern galt als modern und zukunftsweisend. Mit der Zeit jedoch wurde zunehmend der Vorwurf laut, dass alles zu düster sei und es zu wenig Leben auf den Straßen gebe. Man sehe ja gar keine Kinder, klagte der Schriftsteller Gustaf Adolf Lysholm. Das einzig Jugendliche, das man auf der Straße antreffen könne, seien rotbäckige junge Mädchen mit neckischen kleinen Muffs, die vom Schlittschuhlaufen im Stadion von Stockholm kamen und zur Klavierstunde in den »stillen und dunklen Wohnungen« nach Hause eilten.

In einer dieser stillen Wohnungen, im Herzen des »reichen Östermalm« an der Ecke Engelbrektsgatan und Östermalmsgatan, wuchs Olof Palme in der Zwischenkriegszeit auf. Die Familie hatte dort schon seit dem Ersten Weltkrieg gewohnt, zuerst als Besitzer des Gebäudes, dann als Mieter. Das Haus selbst, in dem sich heute die Rumänische Botschaft befindet, wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts errichtet, eine große, graue Stadtvilla, in der die Familie auf der dritten Etage in einem Mehrgenerationen-Arrangement zwei Wohnungen belegte. In der einen, neun Zimmer umfassenden Wohnung wohnte Olof mit seinen Eltern und zwei älteren Geschwistern. Schräg gegenüber verfügten seine Großeltern väterlicherseits über sieben Zimmer. In der zweiten Etage residierte eine weitere Familie, die einmal einen schwedischen Premierminister hervorbringen würde: Oberst Nils Bildt mit Frau und vier Söhnen, von denen einer der Vater von Carl Bildt werden sollte, dem späteren Parteiführer der Moderaten. In den neunziger Jahren war Bildt Premierminister, später dann Außenminister. Im Erdgeschoss lebten zwei ältere Damen, die Witwe eines Offiziers zur See und eine Malerin aus Hamburg, und dann gab es noch eine Concierge-Wohnung, in der zwei Frauen in Pariser Manier einen Schalter an der Innenseite der Tür besetzten und kontrollierten, wer das Haus betrat.

Wenn die Rede auf die Herkunft des späteren sozialdemokratischen Parteivorsitzenden kommt, dann werden für gewöhnlich zwei Umstände hervorgehoben: die privilegierte wirtschaftliche Stellung der Familie und ihre konservative Weltanschauung. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Olof Palme in äußerst wohlhabenden Verhältnissen groß wurde. Die weit verzweigte Familie Palme hatte Bedienstete und Gouvernanten, einen Herrensitz in Sörmland mit achtzehn Zimmern und Meerblick, ein Auto mit Chauffeur. Man reiste regelmäßig ins Ausland, und die Kinder besuchten Privatschulen. Alles in allem lebten sie durchaus auf großem Fuß. Selbst mit dem Maß der direkten vornehmen Umgebung gemessen, war das gesellschaftliche Leben in der Östermalmsgatan 36 grandios. Bei Abendeinladungen und Soirées war die Wohnung von Königlichen Hoheiten, Freiherren, Direktoren, Generälen, Professoren, Gutsbesitzern, Botschaftern und manchmal auch berühmten Künstlern bevölkert. Auf der Gästeliste für einen Musikabend im März 1927 standen neben anderen Kronprinz Gustav Adolf, Prinz Carl, Ivar Kreuger und dazu drei Staatsräte. Die Weine waren direkt aus Frankreich importiert, der Whiskey stammte vom eigenen Lieferanten in Schottland, und die Speisekarten waren auf Französisch abgefasst. Als Olof Palmes Großvater 1934 starb, hinterließ er kein astronomisch großes Vermögen – auf heutige Verhältnisse umgerechnet etwa acht Millionen Kronen –, doch die Familie war mehr als komfortabel an der Spitze einer Klassengesellschaft eingerichtet, in der eine Arbeiterfamilie sich oft zu fünft oder sechst ein Zimmer mit Küche teilen musste.

Ebenso unbestreitbar waren die meisten Mitglieder der Familie auf der politischen Skala eher rechts angesiedelt. In einem Schweden, das sich in der Zwischenkriegszeit immer sozialdemokratischer, amerikafreundlicher, friedfertiger und – im Gegensatz zu ehemaligen Großmachtideen – »lillsvensk«, also »kleinschwedisch«, gab, waren die Palmes antisozialistisch, auf Deutschland ausgerichtet, militärfreundlich und auf Seite derer, die für eine Anbindung Finnlands an Schweden eintraten. Gewiss waren nur wenige der Familienmitglieder politisch aktiv, doch wenn, dann unterstützten sie die Rechtspartei und bekämpften die Sozialdemokratie – so wie zum Beispiel 1928 bei der vom Klassenkampf geprägten sogenannten »Kosakenwahl«. Das Verhältnis zu Finnland rückte in den Mittelpunkt der Diskussion, doch die Vorstellung einer starken und festen Allianz zwischen einem nach Schweden hin orientierten Finnland und einem auf dem Baltikum Einfluss nehmenden Schweden war eine gern gehegte, aber unrealistische Vision. Über die Solidarität mit dem besiegten Deutschland und den Groll über die harten Bedingungen des Versailler Friedens tauschte man sich auf den Zusammenkünften der Schwedisch-Deutschen Vereinigung aus. Die führenden Rechtspolitiker Ernst Trygger und Gösta Bagge waren regelmäßig Gäste im Palme’schen Haus, ebenso wie der Bruder des finnischen Präsidenten, Freiherr Mannerheim, und der deutsche Diplomat Prinz zu Wied, der später als der entschiedenste Vormann des nationalsozialistischen Deutschlands in Schweden bekannt wurde.

Natürlich hat es eine gewisse Ironie, dass diese großbürgerlichen Kreise auf Östermalm einen der größten Politiker der schwedischen Arbeiterbewegung hervorbringen sollten. Für Olof Palmes Bewunderer ist sein Ausbrechen aus diesem Umfeld Beweis dafür, dass er ein freier und unabhängiger Geist war, ein selfmade man. Seine Kritiker hingegen haben ihn als einen Opportunisten bezeichnet, der in seiner Ideenwelt nicht wirklich verwurzelt war. Beide Sichtweisen enthalten ein Körnchen Wahrheit, doch sind sie beide auf die falsche Annahme gegründet, dass sowohl Palmes Wertesystem wie auch sein politisches Wirken einen Bruch mit seiner Herkunft bedeuteten. In Wirklichkeit war die Familie jedoch viel facettenreicher und vielseitiger, als die oben beschriebenen Momentaufnahmen aus den zwanziger Jahren es erscheinen lassen.

Geld und politische Ansichten sind ohne Frage wichtige Aspekte des gesellschaftlichen Erbes. Aber Parteiloyalitäten können wechseln, und Vermögen können verloren gehen, während bestimmte Verhaltensmuster in einer Familie bestehen bleiben. Aus einer längeren, historischen Perspektive betrachtet war Olof Palme weniger ein Abtrünniger, sondern vielmehr Repräsentant einer ganzen Reihe von Grundwerten und Charaktereigenschaften, die seine Familie seit jeher geprägt hatten: der starke Glaube an Wissenschaft und Moderne, Mehrsprachigkeit und Internationalismus, eine Mischung aus aristokratischer noblesse oblige und dem faustischen Willen zur Macht, ein Interesse an Literatur, Theater und Rhetorik sowie die felsenfeste Überzeugung, dass es notwendig ist, alle Willenskraft zu mobilisieren, wenn entscheidende Ziele erreicht werden sollen. Und nicht minder bedeutungsvoll: mit seinem familiären Hintergrund fiel es Olof Palme nicht schwer, den Konflikt zwischen einem kleinen, nationalistisch gesinnten Land und einer imperialistischen Großmacht zu verstehen.

*

Ahnvater der Palmes war der Seemann und Händler Palme Lyder, der 1609 aus Holland nach Ystad ausgewandert war. Er begründete ein respektables, wenn auch nicht sonderlich aufsehenerregendes Geschlecht aus Kaufleuten, Pfarrern und Beamten in Südschweden. Erst als Olof Palmes Großvater Sven Palme und sein Halbbruder Henrik Mitte des 19. Jahrhunderts das Elternhaus in der Seefahrerstadt Kalmar verließen und nach Stockholm zogen, entfaltete sich das ganze Potential der Familie.

Dieser Aufbruch war ein Phänomen jener Zeit. Das verschlafene und landwirtschaftlich geprägte Schweden war dabei, den Sprung zu machen, den die Entwicklungsökonomen take-off nennen, den ersten Schritt in Richtung auf eine dynamische, urbane Industriegesellschaft. Die wichtigsten Fortschritte hierbei wurden weit weg von den großen Städten gemacht. Immer rationeller betriebene Bauernhöfe versorgten die wachsende Bevölkerung mit Lebensmitteln. Die Dampfsägen in Norrland lieferten Holzwaren ins Ausland und bescherten ihren Besitzern zusätzliche Einkünfte. Der Ausbau des Eisenbahnnetzes sowie neue Technik verwandelten die abgekapselte, schwedische Agrargesellschaft in eine europäische Großindustrie. Stockholm jedoch konnte mit seinen unter äußerst schlechten sanitären Bedingungen zusammengepferchten knapp hunderttausend Einwohnern mit den meisten anderen europäischen Hauptstädten nicht mithalten. »Schwedens stolze Hauptstadt steht schon lange am Pranger, weil sie nichts mit der zivilisierten Welt gemein hat«, meinte ein empörter Stockholmer, der die Stadtverwaltung dazu bringen wollte, Wasser- und Abwasserleitungen einzurichten. In der nasskalten, nebligen Ostseestadt starben mehr Menschen, als geboren wurden, und unter allen Hauptstädten Europas wurde Stockholm in der Anzahl unehelicher Kinder nur von Wien übertroffen.

Doch hier wurden die politischen Entscheidungen getroffen, die eine neue Marktwirtschaft in Schweden schaffen sollten – von der Abschaffung der Zunftordnung bis zum Erlass neuer Gesetze über Aktiengesellschaften, das Versicherungswesen und die Bankwirtschaft. Der Kreditmarkt war immer noch kaum entwickelt. Das Kapital, nicht zuletzt für den Ausbau der Eisenbahn, befand sich hauptsächlich in Händen des Staates. Aber findige Unternehmer entdeckten nun, dass es noch ungenutzte Wege zu den kleinen Sparern gab. Man musste diese nur davon überzeugen, dass es sicher war, das Geld zur Bank zu bringen, Aktien zu kaufen oder Versicherungen abzuschließen. Auf diesem Gebiet machten sich die Brüder Palme aus Kalmar in der Hauptstadt einen Namen. Ihr Aufbruch geschah im Zuge der großen Volksbewegung, als die Schweden die alte Ständegesellschaft hinter sich ließen und sich in eine unsichere, aber vielversprechende Moderne begaben. Doch im Unterschied zu den Zehntausenden von verzweifelten Ackerbauern, Kätnern und Landproletariern, die ebenfalls ihre Dörfer verließen, hatten Sven und Henrik eine Ausbildung, die nötigen Kontakte und das solide Selbstvertrauen, das man, aus einer geachteten Bürgerfamilie kommend, ganz einfach besaß.

Das Kalmar, das die Brüder Palme verließen, war im Niedergang begriffen. Im Mittelalter war die Stadt eine der wichtigsten in Schweden gewesen, nicht zuletzt in ihrer Eigenschaft als Grenzposten zu Dänemark, dessen Reichsgebiet damals auch die südlichen Teile des heutigen Schwedens umfasste. Doch nach dem Frieden von Roskilde 1658, als Schweden die Regionen Blekinge, Skåne und Halland erhielt, war es mit Kalmar abwärts gegangen. Das prachtvolle Königsschloss aus dem 13. Jahrhundert, in dem zeitweilig auch die Vasa-Könige residiert hatten, verfiel und wurde im 19. Jahrhundert als Speicher und als Gefängnis genutzt. Die königliche Pracht war durch bürgerliche Großmut ersetzt worden. Die Einwohner der Stadt lebten, ohne viel von sich herzumachen, vor allem vom Handel und von der Seefahrt. Intrigante Hofschranzen und verwegene Offiziere gehörten der Vergangenheit an, im Zunfthaus der Stadt versammelten sich nun Kaufleute, die lange Pfeifen rauchten und Toddy tranken. Es war eine Umgebung, die Geselligkeit, Studium und Fleiß förderte. Kalmar besaß viele Schulen und ein reges Vereinsleben.

Adolph Palme, der Vater von Henrik und Sven, war Landessekretär, nach dem Landeshauptmann der höchste Beamte in der Region. Er war ein geachteter Bürger der Stadt, hatte viele Kinder und war eher geneigt, Verse zu schmieden, denn Geschäfte zu machen. Als der Sohn Henrik gerade alt genug geworden war, dass man ihn auf die Universität hätte schicken können, wurde die Familie vom Sog der Krimkrise erfasst und in die wirtschaftliche Katastrophe gestürzt. Im Februar 1859 konnten die Bewohner Kalmars in der neu gegründeten Zeitschrift Barometern lesen, dass der Besitz des Rechtsverwalters Palme zur Auktion kommen würde: ein Haus mit zwölf Zimmern in der Stadt, drei Holzhandlungen und fünf Schiffe.

Palme sollte sich davon erholen, doch der Konkurs beeinträchtigte den Start des Sohnes Henrik ins selbständige Leben. Wie sein Vater hegte der siebzehnjährige Henrik intellektuelle Neigungen. Er war ruhig, rauchte Pfeife und warf gern mit Sätzen von Platon oder Shakespeare um sich. Doch Adolph wünschte, vielleicht, um seine eigene wirtschaftlich unsichere Laufbahn nicht zu wiederholen, dass der Sohn Ingenieur würde. Henrik wurde als Lehrling bei einem Kanalbauer untergebracht, es zeigte sich aber, dass es ihm sowohl an Lust als auch an Begabung für technische Dinge fehlte. Nach diversen anderen Stellen landete er dann doch auf der Universität Uppsala, wo er in Rekordzeit ein Examen in Finanzwesen ablegte. Im Jahr 1860 zog er nach Stockholm und erhielt dort beim Königlichen Staatskontor und bei der Generalzollbehörde eine Anstellung als außerordentlicher Bediensteter. Die Arbeit war nicht sonderlich beschwerlich – »ein, zwei Stunden pro Vormittag« –, aber dafür auch jämmerlich bezahlt.

Er besserte seine Einkünfte durch wechselnde Aufträge als Theaterrezensent auf, unter anderem schrieb er für das Programmblatt des Dramatischen Theaters und für die konservative Tageszeitung Stockholms Dagblad. Er wohnte in einem einfachen, gemieteten Zimmer und aß in Kellerlokalen, nur auf Punsch und Zigarren wollte er nicht verzichten. Sie waren das, was einen Zeitungsmann zu jener Zeit auszeichnete. Im Jahre 1863 wurde er Notar im Bürgerstand des Reichstags, eine Position, die, wenn die Stände versammelt waren, zehn Reichstaler am Tag einbrachte. Das war eine wirtschaftliche Verbesserung, die eine Studienreise nach Orléans in Frankreich möglich machte, wo Henrik Palme die meisten Abende in den Theatern der Stadt verbrachte. Ehe er im Frühsommer 1864 nach Stockholm zurückkehrte, besuchte er noch Stratford-upon-Avon, um den dreihundertsten Geburtstag Shakespeares zu feiern.

Mit einem Fuß in der Zeitungswelt und einem im Reichstag konnte der junge Mann aus Kalmar die Entstehung eines neuen Schweden aus nächster Nähe verfolgen. Seine ersten Jahre in Stockholm fielen mit dem dramatischen Streit um den Reichstag zusammen, bei dem es darum ging, die mittelalterliche Ständeversammlung durch ein modernes Parlament mit Ober- und Unterhaus zu ersetzen. Im Riddarhuset wurden lange und eloquente Debatten geführt und die komplizierten Reformvorschläge dann in den Zeitungen gestützt oder zerrissen. Abordnungen aus dem ganzen Land suchten den widerwilligen und konservativen König Karl XV. auf.

Die Abschaffung des Ständereichstags sollte die Krönung des seit den 1840er-Jahren entwickelten bürgerlichen Reformwerks darstellen. Jetzt, fünfundsiebzig Jahre nach dem Versailler Ballhausschwur, schien der Dritte Stand selbst im trägen und zurückgebliebenen Schweden endlich bereit, die Macht zu übernehmen. Bürger und Bauern standen vereint hinter der Neuordnung, während der Priesterstand erklärt hatte, man werde sich nach dem Adel richten, so dass in der Praxis alles davon abhing, ob die schwedische Aristokratie ihr letztes wichtiges Privileg, nämlich ihre leitende Stellung in der schwedischen Volksvertretung, aufgeben würde. »Der wahre Adel weiß immer um seine Verpflichtung gegenüber dem Vaterland«, erklärte der Landmarschall Lagerbielke stoisch, nachdem im Riddarhuset der neue Vorschlag kurz vor Weihnachten 1865 mit 361 zu 294 Stimmen angenommen worden war.

Diese Parlamentsreform sollte, wie sich zeigte, für einige Jahrzehnte die letzte liberale Kraftanstrengung gewesen sein. Sie wurde nicht zum Startschuss einer neuen Ära, in der das Bürgertum das politische Leben beherrschen würde. Der wirkliche Gewinner war die wohlhabende Landbevölkerung und nicht die Mittelschicht der Städte. 1865 war »das Todesjahr der Hoffnungen«, schrieb August Strindberg in der Rückschau und nannte alles eine »unangenehme Reaktion, [die …] auf die neue heranwachsende Generation demoralisierend gewirkt hat«. Mitte des 19. Jahrhunderts war die schwedische Bourgeoisie, verglichen mit anderen europäischen Ländern, eine arme Verwandte, ein mageres Sahnehäubchen auf einer fetten Bauernsuppe. Die politischen Hoffnungen der städtischen Mittelschicht waren zweifellos enttäuscht worden. Doch gelang es ihr sehr wohl, im Parlament Hindernisse für eine Marktwirtschaft beiseite zu räumen und Raum für findige Unternehmer zu schaffen.

Henrik Palme gehörte zu dieser Kategorie tatkräftiger Geschäftsgründer. Von Vorbildern aus Österreich und Preußen angeregt, eröffnete er 1869 eine neue Art Bank, die auf Hypothekarkredite für Immobilieneigentümer spezialisiert war: die »Stockholm Inteckningsaktiebolag SIGAB« oder »Inteckningsbanken« (»Hypothekenbank«), wie sie genannt werden sollte. Der theaterbegeisterte Palme behauptete, kein Geringerer als Goethe habe ihm den entscheidenden Impuls gegeben, sich ins Geschäftsleben zu stürzen. Palme hatte ein Vers des deutschen Dichters beeindruckt, der »darauf zielte, dass sich das eifrig Verfolgte mit ausreichend starker Willenskraft immer erreichen lässt«. Wahrscheinlich bezog er sich auf die berühmte Schlussreplik aus Faust II. Dort verkündet der Engel dem im Pakt mit dem Teufel stehenden Doktor Faustus: »Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.« Oder wie Henrik Palmes Großneffe es dann in den 1960er-Jahren ausdrückte: Politik ist Wille.

Die SIGAB kam nur langsam in Gang, doch schon bald hatte sich Palme als einer der führenden Akteure in der Stockholmer Finanzwelt etabliert. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war eine dynamische Zeit für das schwedische Bankwesen. Die Wirtschaft expandierte kräftig, und der Bedarf an neuen Kredit- und Investitionsmöglichkeiten war groß. Im Jahre 1856, ein knappes Jahrzehnt vor Henrik Palmes Eintritt in die Bankenwelt, hatte der ehemalige Marineoffizier A. O. Wallenberg die »Stockholms Enskilda Bank SEB« gegründet. Sie sollte die Grundlage eines der erfolgreichsten und beständigsten Familienimperien der Welt bilden. Schon früh geriet Henrik Palme in Konflikt mit den Wallenbergs, als er sich in den 1870er-Jahren während einer kurzfristigen Krise weigerte, der Enskilda Bank beizuspringen. Dies war der Auftakt eines langwährenden und spannungsgeladenen Verhältnisses zwischen den Familien Palme und Wallenberg, zunächst als Konkurrenten innerhalb der Geschäftswelt und dann als Vertreter der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung auf der einen und des schwedischen Großkapitals auf der anderen Seite.

Henrik Palmes Erfolge machten den Weg für andere lukrative Projekte frei. Er gründete die Centraltryckeriet, die »Zentraldruckerei«, auf der Vasagatan, saß in verschiedenen Aufsichtsräten und gab umfassende Neubauprojekte in Auftrag – von Arbeiterwohnungen bis hin zu Gartenvorstädten für Stockholms Elite. Es ist bezeichnend für Henrik Palme, wie später auch für seinen Bruder Sven, dass sie keine scharfen Grenzen zwischen ihren sozialen Idealen und den Geschäften zogen. In Henriks Fall zeigt sich das vielleicht am deutlichsten bei seinem Lieblingskind, dem Villenviertel Djursholm, das in den 1890er-Jahren errichtet wurde. Er hatte 1883 Svalnäs gekauft, ein großes Stück Land im Schärengarten am Värtan, das direkt an das große Gut Djursholm angrenzte. Der Familie gefiel es dort außerordentlich gut, und der Bankdirektor Palme erkannte sogleich das Potential der naturschönen Gegend. Er und seine Ehefrau Anna waren von den prächtigen Vororten begeistert, die an den Außenrändern von London, Berlin und den nordamerikanischen Großstädten heranwuchsen. Diese Orientierung hin zur Kultur des Bürgertums, die sich in der westlichen Welt überall herauszubilden begann, war ebenfalls charakteristisch für die Palme-Brüder.

Henrik hatte eine Gartenstadt vor Augen, die sich vor den Toren Stockholms erstrecken sollte. 1889 gründete er eine Aktiengesellschaft, die das Nachbargrundstück Djursholm erwarb. Das Projekt lockte eine Mischung aus Künstlern, Intellektuellen, wohlhabenden Ärzten, Ingenieuren und Geschäftsleuten an. Doch gab es Streit zwischen Henrik und den anderen Investoren, weil nicht alle seine Vision von der neuen Vorortgemeinschaft teilten. Diese sah unter anderem ehrgeizige, kooperative Projekte sowie eine »Reformschule« mit Schwerpunkt auf den Fächern Werken und Sport vor. Aber Djursholm erhielt dennoch eine künstlerische und intellektuelle Prägung, vor allem im Vergleich mit Saltsjöbaden, dem anderen großbürgerlichen Villenvorort Stockholms, der zur gleichen Zeit errichtet wurde, und zwar von der Familie Wallenberg.

*

Als Sven Palme 1873 nach Stockholm kam, durfte er auf einem Feldbett in Henriks Fünfzimmerwohnung am Kungsträdgården schlafen – es war dies der erste von zahlreichen Gefallen, die der immer einflussreicher werdende Bankenmann seinem dreizehn Jahre jüngeren Halbbruder erweisen sollte. Während ihrer Kindheit hatten sich die beiden nicht sonderlich nahegestanden. Sven hatte den pfeiferauchenden Henrik mehr als einen Onkel betrachtet. Er hatte die langen »altklugen« Gespräche des Bruders mit dem Vater, in denen es um Literatur und Philosophie ging, noch gut in Erinnerung. Svens ungebrochene Bewunderung galt einem anderen Halbbruder: Axel. Dieser war mutig, schnittig und von elegantem Auftreten und hatte, so Sven, »das gewisse Etwas, das Jungenfantasien beflügeln konnte«. Der Heldenstatus von Axel hatte zudem mit zwei weiteren Dingen zu tun, die für Sven wichtig werden sollten: dem Militärleben und dem Skandinavismus. Axel war Leutnant bei den Leibgrenadieren und 1864 als Freiwilliger in den Dänisch-Deutschen Krieg gezogen. Daheim in Kalmar war der zehnjährige Sven bereits vom »skandinavischen« Rausch erfasst worden und hatte zugleich auch die Enttäuschung mitbekommen, als Schweden Dänemark nicht zu Hilfe eilte. Im folgenden Jahr war er mit der Familie nach Kopenhagen gereist, wo man den verwundeten Alex aus deutscher Gefangenschaft holte.

Nach dem Abitur schlug auch Sven eine militärische Laufbahn ein. Er war neunzehn Jahre alt, als er zum Svea-Artillerieregiment am Lill-Jansskogen nach Stockholm kam. Anfang der 1880er-Jahre war er zum Leutnant aufgestiegen und hatte darüber hinaus eine anspruchsvolle Tätigkeit in dem vom Bruder gegründeten Versicherungsunternehmen Victoria erhalten. Das war zwar Vetternwirtschaft, doch es erwies sich als ein kluger, taktischer Zug. Sven profitierte von den guten Mathematikkenntnissen, die er auf der Artillerieschule erworben hatte, und entwickelte sich rasch zu einem geschickten Versicherungsmann. Er arbeitete unter der Leitung des berühmten Mathematikprofessors Mittag-Leffler, der ebenfalls von Henrik Palme für Victoria angeheuert worden war. Das war ein lohnendes Zubrot für einen jungen Leutnant, der darüber nachdachte, eine Familie zu gründen.

Im Schweden des 19. Jahrhunderts genoss der Offiziersberuf immer noch hohes Ansehen. Als Sven Palme ins Militär eintrat, war fast die Hälfte des Korps adliger Herkunft. Das Gentleman-Ideal war ein wichtiger Teil der Berufsidentität. Ein Offizier verhielt sich wie ein Edelmann. Von einem jungen Leutnant erwartete man nicht nur, dass er den Drill des Kasernenhofs beherrschte, sondern auch die Tanzschritte des Ballsaals und die Konversationskunst des Salons. Die Adelskultur färbte auch auf die nichtadligen Offiziere ab. Später im Leben galt Sven Palmes Haltung zumindest bei den Bediensteten als aristokratischer als die seiner tatsächlich blaublütigen Ehefrau. Doch der Sold war, wie gesagt, relativ niedrig, und für viele bedeutete die Offizierslaufbahn das »glänzende Elend«, das die Schriftstellerin Agnes von Krusenstjärna in ihrem Roman Fattigadel (»Verarmter Adel«) beschreibt, wo auf einen glänzenden Ballabend lange trübe Monate mit Salzhering, ranziger Butter und Schuldscheinen folgten. Palme war ein strebsamer und sparsamer Offiziersanwärter, doch nach ein paar Jahren hatte auch er umfangreiche Schulden gemacht.

Der schlechte Sold sorgte vor allem in den technischen Truppengattungen wie der Artillerie für Missmut, denn auf dem expandierenden zivilen Arbeitsmarkt waren gute Ingenieurs- und Mathematikkenntnisse sehr gefragt. Zudem war man unzufrieden damit, dass Herkunft und mehr noch gute Verbindungen zum Hof wichtiger waren als persönliche Verdienste und Tauglichkeit. Als Sven im Jahre 1888 das Angebot erhielt, in der relativ neu gegründeten Versicherungsgesellschaft Thule geschäftsführender Direktor zu werden, zögerte er nicht lange. Der intellektuelle und wirtschaftlich erstaunlich erfolgreiche Bruder Henrik hatte Axel, den heldenmütigen Leutnantsbruder, als Vorbild ausgestochen. Obendrein war es eine günstige Zeit für das Unternehmertum. Während des kommenden Jahrzehnts, den 1890er-Jahren, erlebte Schweden einen einzigartigen Boom. Große Teile der bis heute erfolgreichen Exportindustrie des Landes wurden damals begründet.

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Ungefähr zur gleichen Zeit, als er in die Versicherungsbranche wechselte, heiratete Sven Palme die Finnlandschwedin Hanna von Born; er war neunundzwanzig Jahre alt, sie zweiundzwanzig. Auch hier hatte der Bruder den Weg bereitet. Sven begegnete seiner zukünftigen Frau zum ersten Mal 1882 im Haus von Henrik und dessen Ehefrau, die eine Cousine von Hanna war. Die richtige Romanze begann aber erst im folgenden Jahr, als Hanna auf dem Weg von Paris nach Hause in Schweden Station machte. Sven und sie trafen sich wieder – der Familienlegende zufolge ein absichtlich herbeigeführtes Zusammentreffen –, und zwar auf dem schönen Herrensitz Bjärka Säby in Östergötland, den Henrik für einen Sommeraufenthalt hatte mieten können.

Der Bürgersohn aus Kalmar wurde von dem wunderbaren Hauch der »Parisienne« völlig überwältigt. Die Romanze sprießte unter den Buchen im Schlosspark, ein Rahmen, der den gesellschaftlichen Ambitionen von Sven sicher entgegenkam. Hannas Klugheit, ihre Belesenheit und nicht zuletzt ihr Interesse an politischen Fragen beeindruckten ihn. »Von Literatur wusste ich ein wenig, aber ich war sehr unkundig in den Fragen der Zeit«, behauptete er. »Einer Frau gegenüber, die Spencer gelesen hatte, geriet ich unweigerlich ins Hintertreffen …« Vielleicht übertrieb er im Nachhinein ein wenig, um den hässlichen Gerüchten entgegenzuwirken, der mittellose junge Leutnant habe seine Frau ausschließlich wegen des Geldes geheiratet. Doch es besteht kein Zweifel, dass Hanna von Born sowohl schön als auch außerordentlich klug war. Und klein dazu. Einer ihrer Bewunderer dichtete gar: »Deine Seele kraftvoll, stark und groß mag sein/Dein Körper ist hingegen klein.«

Hanna war als das neunte von zehn Kindern auf dem Gut Gammelbacka vor Borgå aufgewachsen. Die finnlandschwedischen Herrensitze ähnelten sehr ihren Gegenstücken im schwedischen Reich: Sie wurden eng und patriarchal geführt. Man legte großen Wert auf das Brauchtum der Gegend und auf die klare Abgrenzung der Stände. Der Einfluss des autokratischen Russland sowie das Fehlen einer gemeinsamen Sprache vergrößerten die Kluft zwischen Herrschaft und Untergebenen noch mehr. Die Einstellung der Gutsbesitzer war konservativ, bisweilen sogar feudal. In einer Familienbiographie heißt es über die von Borns: Ihr Motto hätte ebenso gut mutare bonum, conservare melius lauten können, »Verändern ist gut, Bewahren ist besser«. Sie waren Adel vom alten Schlag: entschieden gegen die Befreiung der Kätner und die Einführung von Finnisch als offizieller Sprache, doch von einem altmodischen noblesse oblige durchdrungen, was patriarchale Verpflichtungen gegenüber Untergebenen anging. Bildung und Aufklärung waren in diesem Umfeld gewiss geschätzte Werte, doch wie bei Tolstois liberalen Gutsbesitzern schien man Zweifel zu haben, ob diese Ideale wirklich auch für die eigenen Untergebenen galten.

Die Familie von Born wurde zudem von einer Adelskultur geprägt, die sich über die neuen, im Zuge der Französischen Revolution gewachsenen nationalen Identitäten und Ideologien hinwegsetzte. Zu Hause sprach man Schwedisch, man beherrschte jedoch auch Deutsch, brillierte in Französisch, kommunizierte notdürftig mit Kätnern und Pächtern auf Finnisch und bediente sich des Russischen, wenn man mit dem Zarenreich Handel treiben oder dort Karriere machen wollte.

Hanna war eine interessante junge Dame, sprachkundig und weitgereist, nachdem sie sowohl in Frankreich wie in Russland gelebt hatte. Sie las nicht nur Bücher zu sozialphilosophischen Themen. Zu Hause in Borgå hatte sie ein Jahr lang als Lehrerin gearbeitet, und später betrieb sie zusammen mit dem zukünftigen linken Sozialdemokraten Carl Lindhagen sogar eine Rentenkasse für Hausmädchen. Zeitgenössische Beobachter beschreiben sie als offen und vom anderen Geschlecht sehr geschätzt, aber auch als hochmütig und scharfzüngig. In kleinen wie in großen Dingen konnte sie äußerst bestimmt sein. Wie die schöne, aber dominante Pastorenfrau in Väino Linnas Kätnertrilogie »Hier unter dem Polarstern« war sie eine moderne Frau und »verhöhnte mit Vorliebe die Herrschaftstöchter alten Stils«, die der Meinung waren, dass Frauen sich nicht mit wirtschaftlichen und politischen Fragen zu befassen hätten.

Ebenso wie Linnas Romanfigur – die übrigens nicht sonderlich schmeichelhaft gezeichnet ist –, war Hanna jedoch auch eine glühende finnlandschwedische Nationalistin. Es kursierten massenhaft Familienanekdoten über sie als bornierte grande dame. Sie soll aus ihren Vorurteilen kein Hehl gemacht und zum Beispiel ostentativ den linken Reichstagsabgeordneten Hjalmar Branting verunglimpft oder sich geweigert haben, Juden in ihrem Haus zu empfangen. Bedenkt man den feudalen Ballast der Familie von Born, dann sind diese Geschichten nicht unwahrscheinlich. Doch dies war kein Hinderungsgrund für den jungen Leutnant Palme, dessen Ambitionen eifrig von Hannas Mutter unterstützt wurden. Es war ein immer größer werdendes Problem für die Aristokratie, passende adlige Partner für ihre Kinder zu finden, und ein tüchtiger junger Offizier aus gutem bürgerlichen Hause war insgesamt gesehen eine gute Partie. Hanna wiederum war sich des sozialen Abstiegs ohne Frage bewusst – ihr ganzes Leben lang unterschrieb sie mit »Hanna Palme, geb. von Born«.

Sven und Hanna Palme waren ein charismatisches junges Paar in der Stockholmer Szene. Den »eleganten, urbanen, immer liebenswürdigen Leutnant-Direktor« und seine schöne, kraftvolle und aristokratische Ehefrau aus Finnland umgab eine Aura von schicker, aber maßvoller Radikalität. Hanna engagierte sich sowohl für das Frauenwahlrecht als auch für die Wehrpflicht für Frauen, widmete sich aber vor allem ganz praktischen Dingen. Sie führte die Geschirrspülmaschine Solator ein (»sie befreit uns von der anstrengenden, langwierigen und unzeitgemäßen Prozedur des Geschirrspülens«) und kämpfte für eine zweckmäßige »Reformkleidung« für Frauen, die die ausladenden Röcke ersetzen sollte.

Der junge Leutnant hegte Sympathien für die Linke, was in Zeiten des Zollstreits Werte wie Freihandel, allgemeines Wahlrecht, Parlamentarismus und allgemeinen Fortschrittsglauben bedeutete. Den Gegenpart bildete eine Rechte, die für Zölle, nationalen Chauvinismus, die erweiterte Macht des Königs und religiöse Untertänigkeit eintrat. Sven Palme war ein guter Liberaler des 19. Jahrhunderts. Er glaubte an Aufklärung und Wissenschaft, und seine Ideale fußten auf den Ideen der Französischen Revolution sowie auf den Schriften von Viktor Rydberg und John Stuart Mill, die er in Reden und Artikeln oft bemühte. Er saß in der Leitung des Arbeiterinstitutes, war Mitbegründer der Wahlrechtsbewegung, nahm an literarischen Salons teil und kämpfte für Religionsfreiheit. Und als August Strindberg von der Anklage der Gotteslästerung im Prozess um seinen Erzählungsband Giftas (»Heiraten«) freigesprochen wurde, war Sven einer von denen, die dies mit einem großen Festessen im Hotel Rydberg feierten.

Böse Zungen behaupteten, dass Sven im Grunde an Politik nicht interessiert gewesen sei, sondern von der »finnischen Hartnäckigkeit«, will sagen Hanna, angetrieben wurde. Der norwegische Dramatiker Henrik Ibsen soll einmal zu Hanna gesagt haben, sie erinnere ihn an seine Figur Hilde Wangel in Baumeister Solness, eine Frau, die ihren bewunderten Mann zu Großtaten antrieb. Vielleicht hatten diese Behauptungen einen wahren Kern, denn zweifellos erwachte Sven Palmes politisches und soziales Gewissen ungefähr zur selben Zeit, als er sich verheiratete. Als er in den 1870er-Jahren nach Stockholm gekommen war, war er so gut wie nicht an Politik interessiert gewesen. »Ich schwamm mit dem Strom«, schrieb er später selbstkritisch. Allerdings wandte er sich schon damals gegen die Schikanen der Armee und kritisierte die dünkelhafte Vorstellung, dass »Offiziere als Bürger höher stehen sollen als andere«.

Was seinen Horizont bestimmte, waren die Hoffnung auf eine Karriere im Versicherungswesen, die regelmäßigen Theaterbesuche und die fröhliche Gesellschaft im Offizierscafé »Kung Karls« am Brunkebergstorg. Zweifellos trug Hanna dazu bei, ein eher untergründig vorhandenes, politisches Bewusstsein in ihm zu wecken. Doch der ursächliche Zusammenhang kann durchaus auch andersherum gewesen sein: nämlich dass Sven, als er sich in Hanna verliebte, auf der Suche nach intellektueller Anregung gewesen war. Wie auch immer waren beide typische, wenn auch etwas oberflächliche Produkte des Zeitgeistes der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Sie waren gemäßigt »radikal« und »modern«, lasen Strindberg und ereiferten sich für Wissenschaft und soziale Verantwortung. Doch im Grunde genommen hatten sie kein tiefergehendes Verständnis für die aufkommenden gesellschaftlichen Bewegungen, die eher die bürgerliche Klasse denn die alte Aristokratie als eine Bedrohung für Gleichberechtigung und Demokratie ansah.

Im Privatleben waren Sven und Hanna dann auch alles andere als Bohémiens und unkonventionell. Sie ließen sich zunächst in der Nähe von Henriks Familie auf Djursholm nieder, in einem großen Holzhaus, das nach dem finnischen Wort für Klippe den Namen »Villa Kallio« erhielt. Nacheinander kamen vier Kinder zur Welt: Olof (geboren 1884), Gunnar, der Vater des zukünftigen Premierministers (1886), der jüngste Sohn Nils (1895) und schließlich die Tochter Birgitta (1897). Mit den Erfolgen von Thule im Rücken wurde 1899 das sörmländische Gut Ånga vor Nyköping erworben, und zwar komplett mit Mühle, Meierei, eigenem Hofladen und an die siebzig Untergebenen und Pächtern. Sven verbrachte viel von seiner Zeit entweder in seinem Stockholmer Büro, oder er war auf Reisen, während Hanna sich um die Kinder kümmerte und den mit den Jahren immer umfangreicher werdenden Haushalt führte. Manches Mal war sie verbittert darüber, dass sie die gesamte Verantwortung für Haus und Heim tragen musste, während Sven in der Öffentlichkeit Erfolge feierte. »Ich bin nur deine Haushälterin«, schrieb sie ihm 1907 wütend, als Sven sich auf einer Reise nach England befand, während sie sich um kranke Kinder kümmerte. Er habe die Versprechen, mit denen er sie zur Aufgabe ihrer Heimat und zum Umzug nach Schweden verlockt hatte, nicht gehalten, aber das werde er wohl kaum bereuen, meinte sie, »denn das würde nicht zu Sven Palme passen«.

Hanna verkörperte das, was ihre Freundin Ellen Key »missbrauchte Frauenkraft« nannte: eine begabte und willensstarke Frau, deren Einsatz für Kindererziehung und Haushalt nicht gewürdigt wurde. Die Eheleute waren allerdings auch vom Wesen her verschieden. Sven war immer geschäftig und unterwegs, aber nicht sonderlich nachdenklich. Hanna war dagegen die intellektuellere von beiden, jedoch zu Hause gefangen und frustriert. In jüngeren Jahren zog sie eine Reihe berühmter Bewunderer an, darunter den Dichter Oscar Levertin, der sich unglücklich in sie verliebte. »Alles kann ich nicht geben«, schrieb Hanna ihm. Der Salonflirt war ganz offensichtlich eine Kompensation für die Ehetristesse. Später dann ärgerte sie sich maßlos darüber, dass die Männer ihres Jahrgangs sie unbeachtet ließen, um jüngeren Frauen schöne Augen zu machen. Es war wohl das Gut Ånga, das sie rettete. Dort konnte sie das Kommando übernehmen – »ich bin mein eigener Inspekteur«, sagte sie in einem Zeitungsinterview – und sich als Verwalterin eines modernen, erfolgreichen Großagrarbetriebes beweisen. In den zwanziger Jahren wurde sie in den Landwirtschaftsverband von Sörmland gewählt – die zweite Frau überhaupt, die ihm angehörte.

Doch auch wenn Hanna zwischenzeitlich unzufrieden war, schufen sie und Sven in der Villa Kallio doch eine Atmosphäre, die intellektuell anregend und kosmopolitisch war. Strindberg, Selma Lagerlöf, Ellen Key und Verner von Heidenstam waren immer wieder bei ihnen zu Gast. Auch der Strom ausländischer Besucher riss nicht ab. In der Familie Palme stand es hoch im Kurs, Fremdsprachen zu beherrschen. Das war zum Teil auf die Internatsschule in der Nähe von Kalmar zurückzuführen, die Henrik einige Jahre besucht hatte und wo die meisten anderen Fächer zugunsten der modernen Fremdsprachen mehr oder weniger gestrichen worden waren. Auf die drei europäischen »Kultursprachen« Deutsch, Französisch und Englisch war es dort angekommen, wenngleich Sven Palmes Herz am meisten für Frankreich geschlagen hatte, das »seit der großen Revolution der vornehmste Träger des Fortschritts und der Ideen der Befreiung war«, wie er es ausdrückte. Er schrieb Beiträge für die Zeitschrift L’Européenne, die auf Französisch verfasst war und international verbreitet wurde, und stellte außerdem für die Kinder eine französische Gouvernante ein. Rose, so ihr Name, war so erfolgreich, dass ein Gast der Familie sich einmal darüber verwunderte, die Kinder auf Französisch streiten zu hören.

Auch das Deutsche hatte seinen Platz, zumal die schwedische Versicherungsbranche viele Impulse von den südlichen Nachbarn erhielt (Sven vertrat jedoch die Meinung, dass »Deutschland, und hier vor allem Preußen, der stärkste Vertreter des Konservatismus in Mitteleuropa« sei). Ingegerd wiederum, die Tante mütterlicherseits der Kinder, sorgte für einen starken englischen Einschlag. Sie war eine der ersten Frauen, die in Cambridge studiert hatten, und besaß sogar ein Magisterexamen vom Trinity College in Dublin. In England war noch eine Schwester, Anna, die mit einem Arzt indischer Herkunft verheiratet war, und deren Sohn Rajani Palme Dutt später Generalsekretär der britischen kommunistischen Partei wurde. Anna Dutt schildert ihre Begeisterung für Indien in einem nicht zu Unrecht vergessenen Roman mit dem Titel Det högsta idealet (»Das höchste Ideal«), der 1902 erschien.

Der elegante Leutnant wirkte mit den Jahren immer gesetzter und honoriger. Der wachsende wirtschaftliche Erfolg, seine immer bedeutendere öffentliche Rolle sowie eine wachsende Kinderschar trugen unweigerlich zu diesem Bild bei. Sven Palme, so witzelte man unter Freunden und Bekannten, war ein großer Mann, der ohne Orden 105 Kilo wog, voll angekleidet jedoch auf 110 Kilo kam. Er bewahrte sich einen rauen Kalmar-Akzent und trug am liebsten seine »Redingote« (eine Französisierung des englischen »riding coat«) – also den klassischen Gehrock, der sich zusammen mit Weste und schwarzer Rosette unter älteren Gentlemen der Jahrhundertwende großer Beliebtheit erfreute –, und dazu den Zylinder. Er saß in unzähligen Vorständen, im Reichstag und kommunalen Parlamenten, schrieb Zeitungsartikel für das Aftonbladet, hielt öffentliche Vorträge, empfing Minister, Leute aus dem Königshaus und bekannte Kulturpersönlichkeiten und war eine Zeitlang auch als Staatsratskandidat im Gespräch. Und natürlich war er eine dominante Persönlichkeit der Stockholmer Lokalpolitik. So wie Thomas Manns Romanfigur Thomas Buddenbrook war Sven Palme nicht nur Träger einer hundertjährigen bürgerlichen Tradition. Er besaß auch die Fähigkeit, diese Stellung auf beherrschende Weise zu repräsentieren und auszubauen – wenn auch vielleicht nicht ganz so behände und liebenswert wie der deutsche Kaufmann. Olof Palmes Großvater war ein willensstarker Mann, dessen Erfolg, Macht und Ansichten ihm zahlreiche Feindschaften einbrachten. In Erinnerungsschriften wird von einem streitbaren Geist gesprochen, der auch vor der unmittelbaren Umgebung nicht haltmachte: »Selbst mit Freunden hat er manche Klinge gekreuzt …«

Sven wurde ebenso wie später sein Enkel von unbekannten Absendern mit hasserfüllten Schmähschriften überzogen. Unter der unschuldigen Überschrift »Gesichter und Profile aus der schwedischen Versicherungswelt« behauptete ein anonymer Schreiber, Sven Palme sei ein untauglicher Soldat, der nur aufgrund der Intrigen seines Bruders in die Versicherungsbranche habe wechseln können. Zwar sei er ein kluger Kopf, aber zugleich auch »hochmütig und eingebildet«. Anstatt das Versicherungsunternehmen Thule mit ruhiger Hand und würdevoll zu führen, sei er ein Unruhestifter und mache sich mit seiner »allseits bekannten Geschwätzigkeit« wichtig. Ein großer Redner werde er allerdings nie werden, »selbst wenn er noch so oft den großen Kursus des Demosthenes besuchen würde«. Palme sagte, es habe sich bei diesem Artikel um einen Erpressungsversuch gehandelt. Der Schreiber habe mit ihm Kontakt aufgenommen und angeboten, gegen Bezahlung von der Veröffentlichung Abstand zu nehmen. Doch wie auch immer die genauen Umstände waren, in den Anklagepunkten spiegelt sich der verbissene Palmehass unserer Zeit wider: Hochmut und Arroganz, Überschätzung der eigenen rhetorischen Fähigkeiten und eine allzu »umstürzlerische« Gesinnung.

Offenbar waren die Vorwürfe nicht sämtlich von der Hand zu weisen, denn auch etwas differenziertere Beobachter meinten, dass Palmes Problem als öffentlicher Redner seine etwas piepsige Stimme und die Unfähigkeit zur Improvisation seien: »Er spricht stockend und mit kratziger Stimme und macht ständig ›äh … äh‹.« Doch in vieler Hinsicht waren die Beschuldigungen ungerechtfertigt. Palmes Erfolge mit Thule waren offenkundig, und bis heute ist seine Fähigkeit, seinen vielen verschiedenen Verpflichtungen nachzukommen, beeindruckend. Er war belesen, und seine schriftlichen Ausführungen sind in ihrer Argumentation stringent, wenn auch mit vielen Floskeln durchsetzt. Er hatte einen etwas selbstzufriedenen und pompösen Zug an sich, eine innere Überzeugung von der eigenen Vortrefflichkeit, die ihm in vielen kritischen Situationen sehr zupass kam, aber auch auf einen gewissen dogmatisch-starren Intellekt hinwies. Mit solchen Voraussetzungen war es mehr oder weniger unumgänglich, dass sich der erfolgreiche Versicherungsdirektor aufs politische Parkett wagen würde.

2. Eine große schwedische Familie

»Vernünftige ›Diplomatie‹ mag vorsichtig sein,

aber schwedisch ist das nicht, und es lässt sich kaum

mit dem Gewissen eines kultivierten Volks vereinbaren.«

Sven Palme

»Wir folgten der Uhr, die unsre stand auf zwölf,

Doch die russische Uhr zeigte eins.«

Johan Ludvig Runeberg

OLOF PALME, DER OFT mit den politischen Ansichten seiner Familie konfrontiert wurde, beschrieb seinen Großvater in einem Interview in den siebziger Jahren als »alten Offizier«. Zu Beginn seiner Laufbahn habe Sven Palme den Sozialisten nahegestanden, erklärte der Enkel, sei dann aber aufgrund seiner Befürwortung der Wehrhaftigkeit des Staates nach rechts geschwenkt. Das war nicht falsch, wenngleich äußerst vereinfacht dargestellt. Sven Palme war mehr als ein angestaubter alter Militarist.

Die Entwicklung, die Olof Palme hier skizzierte, war keineswegs ungewöhnlich für die damalige Zeit, als sich links und rechts in der vertrauten Landschaft des Volksheims noch nicht herauskristallisiert hatten. Das bekannteste Beispiel für solch einen Schwenk ist der Schriftsteller und Poet Verner von Heidenstam. Um die Jahrhundertwende war er der unbestrittene geistige Anführer im Kampf um das allgemeine Wahlrecht, später dann aber wurde er zur Geisel der nationalistischen Rechten. Er war innerhalb der Arbeiterklasse mindestens ebenso populär wie sein Freund und Rivale August Strindberg. In seinem Gedicht »Bürgerlied«, das sich gegen das eingeschränkte Wahlrecht richtete, brachte er die Sehnsucht der Schweden nach Demokratie zum Ausdruck: »frei wählen zu dürfen/wie früher mit Schild und Bogen/nicht wie Säcke auf Waagen/von Kaufleuten gewogen«.

Ihren Anfang hatte die politische Laufbahn von Sven Palme in der Wahlrechtsbewegung der 1890er-Jahre genommen, in der sich Liberale wie Sozialdemokraten versammelten. Im Jahre 1895 wurde er in den Reichstag gewählt und schloss sich der liberalen Folkpartiet, der »Volkspartei«, in der Zweiten Kammer an. Die Parteien waren zu jener Zeit keine Wahlorganisationen, sondern lose Reichstagsfraktionen. Sven Palme gehörte zu der Gruppe, die man »Stadtradikale« nannte. Mit wenigen konservativen Bauern und Freireligiösen gemeinsam betrieben sie Opposition gegen die Regierung des konservativen Gutsbesitzers E.G. Boström. Palme verließ den Reichstag nach einer Mandatsperiode, war aber weiterhin eine einflussreiche Stimme in der liberalen Bewegung Stockholms. Er feierte sein Comeback 1905 im neu gebauten Parlamentsgebäude auf Helgelandsholmen. Große Streiks, der Erste Weltkrieg sowie eine Verfassungsreform prägten die nun folgenden Jahre voller Unruhe. Palme tat sich als tonangebender Rechtsliberaler hervor, stemmte sich gegen eine Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten und trat für eine zunehmend deutschfreundliche und großschwedische Haltung in der Außenpolitik ein.

Palmes Aversion gegen die Arbeiterbewegung war Grund genug, ihn ins rechte Lager zu treiben, völlig unabhängig davon, was außerhalb von Schweden geschah. Doch mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs gingen auch große Teile des traditionellen Liberalismus zu Bruch, der Palmes Weltbild bis dahin bestimmt hatte. Er gehörte zu jener Richtung, die man nach der von Lars Johan Hierta gegründeten Stockholmer Zeitung »Aftonbladet-Liberalismus« nannte und die im Laufe des Ersten Weltkriegs immer konservativer, deutschfreundlicher und der Sozialdemokratie gegenüber feindseliger wurde. Von der ehedem frankophilen Haltung Sven Palmes blieb nicht viel übrig, stattdessen wuchsen die Sympathien für Deutschland. 1913 war er einer der Mitbegründer der Schwedisch-Deutschen Vereinigung, in der er bis zu seinem Tod eine aktive Rolle spielen sollte. Er machte seine Aufwartung bei Hindenburg und bot Hilfe für vom Krieg betroffene Deutsche an.

Das schwedische Bürgertum orientierte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts verstärkt an Deutschland. Deutsche Sprache und Kultur spielten damals eine ebenso wichtige Rolle wie das Englische nach dem Zweiten Weltkrieg. Der deutsche Sieg über Frankreich im Krieg von 1870–1871 hatte dazu geführt, dass das zuvor eher französisch orientierte Schweden seine Kompassnadel gen Süden drehte. Das 1905 fertiggestellte neue Reichstagsgebäude auf Helgelandsholmen war im Wilhelminischen Stil gehalten, an der Königlichen Oper in Stockholm spielte man Wagner, und was die Politik betraf, bewunderte man Bismarck ebenso wie die deutschen Kathedersozialisten.

Der Journalist Ivar Harrie, der beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs Gymnasiast war, erinnert sich an den übermächtigen deutschen Einfluss: »Der Ideentransfer auf der Strecke Berlin–Stockholm hatte sich zu einer Lawine ausgewachsen. Die schwedischen Universitäten waren wohlbestellte Filialen der deutschen Forschung. Die aus langer Ohnmacht erwachte schwedische Armee nahm das preußische Ideal zum Vorbild. Die schwedischen Tageszeitungen übersetzten, oft recht schlampig, deutsche Artikel. Deutsche Methoden, deutsche Organisation, deutsche Effektivität waren die Zielvorgaben für die Betriebe.« Deutschlands Ansehen in Schweden war im Sommer 1914, nur knapp einen Monat vor Ausbruch des Krieges, so groß wie noch nie. Auf der großen Baltischen Ausstellung in Malmö waren Schweden, Dänemark, Deutschland und Russland vertreten, doch da die Russen nur auf dem Papier wirklich dabei waren, dominierte Deutschland als einzige Großmacht. Auch Mitglieder der Familie Palme waren vor Ort: Birgitta und Olof besuchten die Ausstellung und trafen dort unter anderen Heidenstam.

Doch ließ die Bewunderung für Deutschland nicht zwangsläufig auf eine konservative Geisteshaltung schließen. Auch für einen Sozialdemokraten war Deutschland die Heimat des wissenschaftlichen Sozialismus. Die schwedische Arbeiterbewegung hegte unverhohlene Bewunderung für ihre deutschen Genossen, deren Parteischulen, Kulturveranstaltungen und geschickte Organisationsarbeit im provinziellen Schweden keinerlei Entsprechung hatten. Auch aus einer liberalen Perspektive betrachtet nahm Deutschland mit seiner modernen Verfassung, seiner effektiven Verwaltung und fortschrittlichen Sozialpolitik eine Vorreiterrolle ein. Letzteres imponierte auf jeden Fall Sven Palme, und so schickte er 1917 seinen Sohn Gunnar nach Deutschland, damit er aus nächster Nähe verfolgte, wie die Lebensversicherungsbranche auf die Folgen des Kriegs reagierte.

Die Entscheidung, im »europäischen Bürgerkrieg« 1914–1918 die eine oder die andere der streitenden Parteien zu unterstützen, war nicht zu vergleichen mit dem Zweiten Weltkrieg, wo es ein Gebot der Moral war, Stellung gegen den Faschismus zu beziehen. Das wilhelminische Deutschland war ein autokratischer, aber doch bürgerlicher Rechtsstaat. Familienbande, Sprachkenntnisse und andere Zufälligkeiten waren oft entscheidend. Vielen war es unangenehm, dass die führenden europäischen »Kulturnationen« in einen Konflikt miteinander geraten waren. So gesehen war die Neutralität ein Spiegelbild der Meinungslage. Der Schwede als solcher empfand wie Frida, das lyrische Ich in Birger Sjöbergs populärer Gedichtsammlung Fridas Weisen, die kurz nach dem Krieg erschien: »Ich will neutral sein bis in den Tod.«

Ob man sich auf die Seite Deutschlands oder der Westmächte schlug, verriet den ideologischen Standpunkt des Einzelnen. Der Erste Weltkrieg wuchs sich zu einem Kräftemessen zwischen den streitenden Parteien und den politischen Grundpositionen aus, die man ihnen zuschrieb. Großbritannien und Frankreich standen für Demokratie, eine freiere Gesellschaft sowie für kapitalistischen Materialismus, während Deutschland sich mit Bildungskultur, effektiver Organisation und autoritärer Disziplin hervortat. Die Westmächte waren allerdings auch mit Russland liiert, was aus geopolitischen wie aus historischen Gründen für Schweden eine Rolle spielte. Welche Seite man wählte, zeigte zugleich, wie man sich die Zukunft Schwedens vorstellte – zumindest bei den Palmes war es so.

*

Doch die wirklich entscheidenden Fragen, die das Schicksal der Familie bestimmen sollten, waren weder der Weltkrieg noch der Vormarsch der Arbeiterbewegung. Mit großer Leidenschaft, um nicht zu sagen Besessenheit, engagierte sie sich für die Wahrung schwedischer Interessen in Finnland – und geriet hier auf die Seite der Verlierer: einerseits durch den persönlichen Verlust des ältesten Sohnes, andererseits auf der öffentlichen Bühne, weil die offizielle schwedische Politik strikte Neutralität forderte. Hierin zeigte sich nämlich die entscheidende Kursveränderung der modernen schwedischen Außenpolitik: Man wollte sich nicht in die Angelegenheiten des Nachbarn einmischen.

Dass Sven Palme sich für die Finnlandfrage so sehr ereiferte, hatte zum Teil auch mit seiner Ehefrau zu tun. Die kosmopolitische und patriarchale Gutsherrenwelt, der Hanna entstammte, geriet nur wenige Jahre, nachdem sie Sven geheiratet hatte, heftig ins Wanken. Seit 1809 hatte das Großfürstentum Finnland eine autonome Stellung innerhalb des russischen Imperiums innegehabt. In vieler Hinsicht waren den Finnen mehr Freiheiten und Selbständigkeit zugesprochen worden als während der schwedischen Großmachtzeit. Doch im Laufe der 1880er-Jahre begann Zar Alexander III., die Daumenschrauben anzuziehen. Russisch sollte offizielle Sprache werden, es sollten russische Gesetze gelten und Zoll-, Post- und Münzwesen vereint werden. Ferner verschärfte die Jagd des Zarenregimes auf Anarchisten die polizeiliche Kontrolle. Zum aristokratischen Selbstverständnis der Familie von Born kam nun auch ein nationales Selbstbewusstsein hinzu – man war stolz darauf, Finne zu sein und die Freiheit des Landes gegen das zaristische Russland zu verteidigen. Hannas Bruder Viktor von Born, der gegen die Russifizierung kämpfte, wurde des Landes verwiesen. Er floh mit seiner Familie und ließ sich in Djursholm nieder, wo er zusammen mit anderen finnischen Exilanten eine Flüchtlingskolonie bildete, die von Schweden aus für Finnlands Sache aktiv war.

Diese Leute rannten offene Türen ein. Finnland war für die meisten Schweden niemals irgendeine baltische Provinz gewesen, sondern ein Teil der Kernnation selbst, gleichberechtigt mit den Reichen Svea oder Göta. So war es ein traumatischer Wendepunkt in der schwedischen Geschichte, als die Russen 1808 den Kymmene überschritten und man außerstande war, diesen Teil Schwedens, die östliche Reichshälfte, zu verteidigen. Die Niederlage führte zu einer existentiellen Krise für Schweden als Nation, das mit einem Mal ein Drittel seines Territoriums verloren hatte, und zu einer konstitutionellen Krise mit Staatsstreich und neuem Königshaus. Das schwedische Staatsschiff, so verkündete General von Döbeln 1809 im schwedischen Reichstag, dümpele ohne Mast, ohne Segel und ohne Kompass auf dem Weltmeer dahin. Aus ebenjener Krise sollte jedoch bald schon das moderne Schweden aufsteigen, »das bernadottische Kleinschweden«, wie der finnische Historiker Matti Klinge es genannt hat.

Das neue Schweden blieb allerdings nicht völlig ohne Großmachtanspruch – die Union mit Norwegen wurde zum Trostpflaster für den Verlust Finnlands. Die schwedische Elite gab ihr einstiges Ostseereich erstaunlich unsentimental auf und konzentrierte sich stattdessen auf eine vorsichtige, aber entschlossene Modernisierung des Landes. Auch wenn Oscar I. versuchte, den Krimkrieg zur Wiedererlangung verlorener Positionen auf der anderen Seite der Ostsee zu benutzen, wurde Finnland nunmehr als ein Teil der russischen Machtsphäre betrachtet. Die Interessen richteten sich jetzt mehr nach Westen, auf Dänemark und Norwegen, die Brudervölker, die sich – wie Idealisten hofften – in einem demokratischen und liberalen Großskandinavien versammeln würden. Viele empfanden dennoch ein starkes, wenn auch nicht immer in der Wirklichkeit verankertes Gefühl der Zusammengehörigkeit mit Finnland. Das kam nicht zuletzt in der ungeheuren Popularität zum Ausdruck, die Johan Ludvig Runebergs Mitte des 19. Jahrhunderts erschienene Gedichtsammlung Fähnrich Stahl in der schwedischen Mittelschicht genoss. Auf Ånga, dem Anwesen der Familie Palme, hing ein Gemälde, das Runeberg zeigte. Es war das einzige Portrait im Haus, das keinen Ahnen darstellte.

Fähnrich Stahl handelte von dem schwedisch-russischen Krieg 1808–1809, als Finnland verloren ging. Das Buch ist im Ton gutmütig heroisierend, jedoch nicht verbittert revanchistisch. Runeberg sprach eher den jungen finnischen Nationalismus an als das alte schwedische Ressentiment. Es sind Geschichten aus einer vergangenen, unwiederbringlich verloren geglaubten Zeit, die aber auch die starken Verbindungen zwischen den beiden Ländern unterstrichen, in denen Schwedisch die offizielle und kulturtragende Sprache war. Für Sven Palme lag besondere Würze noch darin, dass seine Frau die Enkelin ebenjenes jungen Leutnants aus Runebergs berühmtem Gedicht war, der vor der Schlacht an der Virta-Brücke zu General Sandels eilt und verlangt, er möge augenblicklich gegen die Russen ausrücken: »Den jungen Krieger ein Grimm durchrann/Sein Auge flammte vor Weh.« Doch Runebergs pathetische Dichtung stellte nicht nur ein pikantes Stück Ahnengeschichte dar. Sie sollte für das Engagement der Familie Palme in dem sich verhärtenden Konflikt zwischen Finnland und Russland zudem tragisch prophetisch sein. Auch wenn Runeberg frei von revanchistischen Träumen über eine Wiedereroberung Finnlands gelesen werden konnte, so war doch die Popularität der Gedichte ein Zeichen, dass die Finnlandfrage ein glimmendes Flämmchen war, das schnell zu einem lodernden Feuer aufflackern konnte, wenn man es nur mit dem richtigen Brennmittel versah.

Und davon gab es zu Hause bei den Palmes genug. Dank der zaristischen Politik, finnische Nationalisten des Landes zu verweisen, herrschte ein fröhliches Kommen und Gehen im Palme’schen Haus, zunächst in der großen Holzvilla in Djursholm und dann in den verschiedenen Wohnungen auf Östermalm. Überhaupt fielen die Exilfinnen nach der Jahrhundertwende in Stockholm auf. Sigfrid Siwertz beschrieb sie in dem Roman Eldens återsken (»Widerschein des Feuers«) von 1916 als »internationale, aber dennoch urfinnische Gestalten, die verwickelte Geschäfte, Alkohol, starken Tabak, französische Romane und das Kalevala-Epos« liebten. Es entstand eine gewisse Konkurrenz zwischen Sven und seinem Schwager Viktor darüber, wer innerhalb der Solidaritätsbewegung die führende Stellung innehaben würde. Außerdem lag Hanna seit dem Tod der Mutter 1907 mit ihrem Bruder in einer Fehde um das Erbe. Doch das beeinträchtigte Palmes Engagement in keinster Weise. Zeitweilig fungierten die Büroräume der Lebensversicherung Thule sogar als Zentrale für den Finnlandaktivismus. Hier wurden Materialien verteilt und Sympathisanten angeworben. Es hieß, die Anschrift des finnischen Außenministeriums sei die Kungsträdgårdsgatan 14 in Stockholm, mit anderen Worten: das Büro von Thule Leben. Der Aktivismus erreichte seinen Höhepunkt in den Jahren 1917 und 1918, als Sven Palme eine schwedische Freiwilligenbrigade zusammentrommelte, die sich im finnischen Bürgerkrieg Mannerheims Weißer Armee anschloss.

Einer der Ersten, der sich meldete, um freiwillig für Finnland zu kämpfen, war der älteste Sohn von Sven und Hanna, Olof. Zu dem Zeitpunkt war er dreiunddreißig Jahre alt, ein hitziger, etwas seltsamer Mensch mit übersteigerten Ansichten, die rechts von denen der Eltern angesiedelt waren. Er war 1884 in Hannas Heimatstadt Borgå in Finnland geboren und hatte 1908 bei dem berühmten konservativen Historiker Harald Hjärne in Uppsala Examen gemacht. Als Historiker war er einigermaßen gescheitert, doch trieb ihn ein starkes politisches Engagement zu der konservativen Studentenvereinigung »Heimdal«. Eines der ersten von ihm verfassten Werke ist ein agitatorisches Theaterstück. Es ist »ein Ruf gegen den alles verwüstenden Dämon unserer Zeit: den Sozialismus«, wie es im Vorwort des Stückes Förnyelse (»Erneuerung«) heißt, das 1908 herauskam.