Once upon a K-Prom - Ein K-Pop-Märchen - Kat Cho - E-Book

Once upon a K-Prom - Ein K-Pop-Märchen E-Book

Kat Cho

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Beschreibung

Was, wenn dich das größte K-Pop-Idol der Welt bittet, mit ihm zum Abschlussball zu gehen? Dieser witzige und herzergreifende Roman bringt den Glamour und das Drama der K-Pop-Welt direkt in die Highschool. Elena Soo hat immer das Gefühl gehabt, im Schatten aller anderen zu stehen. Ihre älteren Schwestern sind erfolgreicher als sie, ihr Zwillingsbruder ist beliebter, ihre beste Freundin extrovertierter – alle außer Elena scheinen genau zu wissen, wer sie sind und was sie wollen. Sie jedoch ist sich nur einer Sache ganz gewiss: Sie will nicht zum Abschlussball gehen. Anstecksträußchen und Ballkleider sind das Schulgespräch, aber Elena würde lieber das örtliche Gemeindezentrum retten – der einzige Ort, an dem sie sich immer gefühlt hat, als gehörte sie dazu. Um so verwirrter ist sie, als eines Tages der internationale K-Pop-Superstar Robbie Choi vor ihrer Haustür steht und sie fragt, ob sie ihn zum Abschlussball begleitet. Denn wenn je ein Mensch sie so akzeptiert hat, wie sie ist, dann war es ihr liebster Kindheitsfreund Robbie Choi. Und vielleicht hegt sie ja doch einen stillen Wunsch … Als Kinder haben sie einander versprochen, gemeinsam zum Abschlussball zu gehen. Doch das ist sieben Jahren her! K-Pop-Star-Robbie hat rosafarbene Haare, ist von Kopf bis Fuß stylish gekleidet und gleicht dem reizenden, lustigen Jungen aus ihrer Erinnerung gar nicht. Dem Jungen, mit dem sie alle ihre Geheimnisse geteilt hat. In den sie bis über beide Ohren verliebt gewesen ist. Außerdem kann sich Elena kaum etwas Schlimmeres vorstellen, als mit einem Typen zum Ball zu gehen, den Horden schreiender Fans, Online-Hater und skrupellose Paparazzi verfolgen! Auch wenn sie nicht aufhören kann, an Robbies Lächeln zu denken …

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Seitenzahl: 452

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Für Axie, die in mir die Liebe zuK-Pop geweckt und mich ermutigt hat,meine eigenen Geschichten zu schreibenund zu veröffentlichen.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

EPILOG

DANKSAGUNGEN

1

Bei dem Wort Prom – Abschlussball – denken die meisten Menschen wahrscheinlich an Kleider und Limousinen und daran, mit dem Partner ihrer Träume die Nacht durchzutanzen. Wenn ich hingegen an einen Abschlussball denke, stelle ich mir Fußschmerzen, überteuerte Dekorationen und unrealistische Erwartungen vor.

Damit war ich aber offensichtlich in der Minderheit. Das bewies die lange Schlange von Schülern der Abschlussklassen, die ihre gesamte Mittagspause damit zubrachten, für Karten anzustehen.

Es war der dritte Tag des Vorverkaufs und damit auch der dritte Tag der Alterna-Prom-Aktion der Awareness-AG.

Es … lief nicht besonders toll.

Genau genommen war es eine Riesenpleite.

Wir hatten einen Tisch aufgestellt, wo die Schüler ihr Wechselgeld vom Kartenkauf dem Gemeinschaftszentrum von West Pinebrook spenden konnten.

»Irgendwelche Spenden?«, fragte ich und lehnte mich über den Tisch.

Max Cohen schüttelte den Kopf. »Sorry, Elena.«

Ich guckte zum Spendenglas. Es war fast leer. Der Dollarschein, den ich selbst hineingeworfen hatte, war immer noch unsere einzige Spende. Ich hatte gedacht, dass es uns vielleicht weniger erbärmlich aussehen lassen würde, wenn schon etwas Geld drin wäre, doch irgendwie wirkte es noch trostloser.

Ich betrachtete meine sorgfältig geschriebene Tabelle. Ich hatte sie angefertigt, um potenzielle Spenden zu berechnen. Wir lagen gewaltig hinter dem, was ich veranschlagt hatte. Aber wahrscheinlich hatte ich den Faktor Teenager-Apathie unterschätzt.

»Hat sich schon jemand einen Flyer mitgenommen?« Ich schaute zu dem noch immer verdächtig hohen Stapel.

»Dafür müssten sie aufhören, unseren Tisch zu meiden, als hätten wir die Pest.« Meine beste Freundin Josie Flores verdrehte die Augen.

Tagelang hatte ich an diesen Flyern gearbeitet, Fotos der Kinder aus dem Gemeinschaftszentrum bei der letzten Weihnachtsfeier eingefügt und die Spendenwebsite erstellt. Dort rieten wir den Leuten nicht, sie sollen den Abschlussball boykottieren, sondern genauer darüber nachdenken, wie sie ihr Geld ausgeben.

Darum hatte sich Josie den Begriff »Alterna-Prom-Aktion« ausgedacht. Doch er hatte nicht geholfen. Alle dachten, wir würden gegen den Ball protestieren.

»Komm, El, wenn sie sich nicht selbst Flyer nehmen, verteilen wir sie einfach«, sagte Josie und kam hinter dem Tisch hervor. Sie war gertenschlank, hatte dunkle Haut und ein hübsches schmales Gesicht, das von dunklen Locken umrahmt wurde. Sie hatte alles, was ich als kleines Mädchen gewollt hatte, nämlich nicht mein rundes koreanisches Gesicht, die kurzen Beine und die aalglatten schwarzen Haare.

»Ich kann helfen!« Max sprang auf.

»Nein, du musst am Tisch bleiben und den … Dollar bewachen«, sagte Josie mit Blick auf das traurige Spendenglas.

Ich zuckte mit den Schultern, um ihm zu bedeuten, dass es mir leidtat. Aber pflichtbewusst setzte er sich wieder hin. Er würde alles für Josie tun.

Er schwärmte schon lange für sie und auch jetzt warf er ihr durch seine Nickelbrille verliebte Blicke zu. Seltsamerweise stand sie ihm. Zusammen mit seinen Locken, die er früher immer sehr kurz getragen hatte, ihm aber inzwischen in die Augen fielen, hatte er etwas von einem nerdigen Shawn Mendes.

Josie begann die Warteschlange entlangzugehen, verteilte die Flyer und achtete darauf, dass alle wenigstens einen Blick hineinwarfen, ehe sie weiterging. Dabei ließ sie sich weder von genervten Blicken noch von fiesen Kommentaren entmutigen. Ich wünschte, ich wäre auch so selbstbewusst, dass es mir egal wäre, was andere von mir denken.

»Sie verlieren vielleicht ihre Finanzierung«, sagte ich zu ein paar Leuten, denen ich gerade Flyer in die Hand gedrückt hatte. Keiner von ihnen guckte hinein. Also blätterte ich selbst einen auf und las die Liste der Möglichkeiten vor, Ausgaben für den Ball zu reduzieren. »Statt Hunderte Dollar für Limousinen, Kleider und Smokings auszugeben, könntet ihr einfach etwas tragen, das ihr schon im Schrank habt, oder etwas leihen. Und fahren könntet ihr selbst. Und was ihr damit spart, spendet ihr dem Zentrum.«

»Hey, du bist doch Ethan Soos Schwester, oder?« Einer von ihnen musterte mich, als ob er versuchen würde, eine Familienähnlichkeit zu erkennen.

Ich seufzte. Es kam öfter vor, dass anderen Schülern mein Bruder einfiel, bevor sie sich an so was Lästiges wie meinen richtigen Namen erinnerten. Er war schließlich mein beliebter Zwillingsbruder. Und er machte nie so etwas Nerviges, wie andere zu bitten, ihr Geld für den Abschlussball zu spenden.

»Ich bin Elena«, murmelte ich. »Also, zurück zum Gemeinschaftszentrum – wenn ihr gerade kein Kleingeld dabeihabt, könnt ihr auch online spenden.«

Die Leute in der Gruppe starrten mich nur einen Moment lang an und redeten gleich wieder über einen neuen Film. Hatten sie denn gar kein Herz? Hatten sie nicht die bezaubernden Kinder gesehen, die sie vom Flyer aus anlächelten?

»Tut mir leid.« Ich versuchte ihre Aufmerksamkeit zurückzubekommen, aber sie ignorierten mich.

»El, du musst aufhören, dich die ganze Zeit zu entschuldigen«, sagte Josie, als sie zu mir kam. Sie war bereits fast alle Flyer losgeworden. Ich dagegen fühlte mich schuldig, weil ich noch einen ganzen Stapel in der Hand hielt.

»Ich kann einfach nicht anders.« Ich runzelte die Stirn, denn sie hatte recht. Es war so ein Reflex von mir, mich jedes Mal sofort zu entschuldigen, wenn ich auch nur ansatzweise spürte, dass sich jemand in meiner Gegenwart unwohl fühlte.

»Ich glaube, das funktioniert einfach nicht«, sagte Josie mit kritischem Blick auf die Schüler in der Warteschlange, die ihr Bestes taten, um uns zu übersehen. »Ich glaube, wir müssen zu radikaleren Methoden greifen.«

»Tja, wenn du keinen auf Robin Hood machen willst, bleibt uns außer Faltblättern und friedlichem Protest wohl nicht viel«, seufzte ich.

»Mir fällt schon was ein, um unserer Sache zu helfen«, sagte Josie und ging zum Ausgang.

»Solange es keine Unordnung macht!«, rief ich ihr hinterher, war mir aber nicht sicher, ob sie mich auf dem Weg raus aus der Cafeteria noch hören konnte.

Während ich auf Josies Rückkehr wartete, bewegte sich die Warteschlange weiter und ein Mädchen rammte mir ihre Tasche in den Rücken, weil es so tief in das Gespräch mit ihrer Freundin vertieft war.

»Kannst du nicht woanders stehen?«, fragte sie genervt.

»Tut mir leid«, murmelte ich, bevor ich mich bremsen konnte.

»Hast du ihre bescheuerten Flyer gesehen?«, sagte ihre Freundin ungeachtet der Tatsache, dass ich direkt vor ihr stand. »Die hat echt nichts Besseres zu tun, als den Abschlussball zu ruinieren.«

Ich seufzte und wandte mich von den Wartenden und ihren wütenden Blicken ab. Ich wollte den Abschlussball doch gar nicht ruinieren. Ich hatte nur gedacht, das wäre eine gute Gelegenheit, um eine gute Sache zu unterstützen. Und ich fand diese Veranstaltung wohl einfach nicht so toll wie alle anderen. Schließlich hatte ich erlebt, wie sich meine drei älteren Schwestern allesamt zuerst auf den Ball gefreut hatten und am Ende des Abends auf die eine oder andere Weise enttäuscht waren. So was rückt alles ins rechte Licht, sogar bei einer Zehnjährigen wie damals mir.

Ich lehnte mich gegen einen Tisch und wartete, dass Josie zurückkam. Dort quetschten sich jüngere Schülerinnen aneinander und schmachteten auf einem ihrer Handys ein Musikvideo an. Es war so laut in der Cafeteria, dass ich es kaum hören konnte, doch ich erkannte die Band: WDB.

WDB hatte geschafft, was in einem Jahrzehnt keiner anderen K-Pop-Gruppe gelungen war: weltweit Teenie-Herzen zu erobern. Sie hatte als erste koreanische Band sowohl einen MTV Music Award als auch einen American Music Award gewonnen. Sogar bei Saturday Night Live war sie aufgetreten. Es war echt beeindruckend, aber für mich war das alles noch ein bisschen surrealer, wenn das Gesicht ihres Main Rappers Robbie Choi zu sehen war. Denn sein Gesicht kannte ich ziemlich gut, selbst ohne seine Pausbacken, die er mit zehn noch hatte. Wir waren einmal beste Freunde. Ich wusste Dinge über ihn, die nicht in seiner offiziellen Biografie standen.

Ich wusste, woher er diese kleine Narbe in seiner Augenbraue hatte. (Er war während einer krassen Runde Verstecken spielen aus dem Schrank gefallen und auf der Kante eines Couchtischs gelandet.

Ich wusste, dass ich Robbie, inzwischen bekannt für seine coolen Haare, die er irgendwann in seiner Musikkarriere in allen Farben des Regenbogens gefärbt hatte, einmal einen Streifen reingeschoren hatte, weil wir herausfinden wollten, ob wir ihm würden seinen Namen reinrasieren können. (Spoiler: Konnten wir nicht. Und ja, wir bekamen dafür tierisch Ärger mit unseren Eltern.)

Jetzt waren die Mädchen in ihn verliebt und kicherten, wann immer sein Gesicht auf einem Bildschirm erschien.

Aber Robbie war nur ein weiterer Grund, aus dem ich wusste, dass der Abschlussball für mich eine Enttäuschung werden würde. Einst war ich wie alle anderen gewesen und hatte mich auf einen magischen Abend gefreut, voller langsamer Tänze und perfekt gestellter Fotos. Aber ich hatte ihn mir immer mit einem bestimmten Menschen vorgestellt. Und da er nicht mehr im gleichen Land lebte, geschweige denn in der gleichen Stadt … wozu also die Umstände? Wenn man wusste, dass etwas nicht passieren würde, war es am besten, es hinter sich zu lassen.

»Robbie ist mein Bias!«, rief eines der Mädchen und am liebsten hätte ich ihr erzählt, wie Robbie bei unserem Schulausflug in der dritten Klasse in eine Schlammpfütze gefallen war. Ich musste damals für den Rest des Tages hinter ihm gehen, damit niemand dachte, er hätte sich in die Hose gemacht.

Oder vielleicht könnte ich auch erzählen, wie er all seine alten Freunde vergessen hatte, als er berühmt wurde …

»JD ist mein Bias. Er ist einfach so … geheimnisvoll.«

Ich sah zu, wie ein weiteres Mitglied von WDB in die Kamera zwinkerte. Ich hatte Jongdae nie getroffen, obwohl er Robbies älterer Cousin war. Ich musste zugeben, dass das hier ein ziemlicher Ohrwurm war. Und vielleicht hatte ich auch schon ein paar Singles von WDB heruntergeladen. Aber es war immer noch ein total seltsamer Gedanke, dass mein bester Kindheitsfreund nun ein internationaler Mädchenschwarm war.

Ich erinnerte mich noch gut an das letzte Mal, als ich Robbie gesehen hatte. Wir waren zehn und standen vor seinem leeren Haus. Alle seine Sachen waren bereits nach Seoul geschickt worden. Er war nicht der erste meiner Freunde, der wegging. Becca Kuss war in der ersten Klasse nach Ohio umgezogen. Und Emily B. lebte seit letztem Jahr in der Nachbarstadt. Robbie hingegen war mein bester Freund und zog keine dreißig Kilometer weiter, sondern ans andere Ende der Welt. Wir umarmten uns laut schluchzend. Robbies Nase war so rot wie eine Kirsche. Das sagte ich ihm auch und er entgegnete, dass meine wie Rudolphs aussah. Und dann umarmten wir uns weiter.

»Ich schreib dir jeden Tag eine Mail«, versprach ich.

»Ich schick dir auch jeden Tag eine Nachricht«, erwiderte Robbie. »Du hast doch KakaoTalk runtergeladen, oder?«

Ich nickte. Zwar hatte ich die koreanische Nachrichten-App noch nie benutzt, aber Robbie hatte gesagt, dass sie überall auf der Welt funktionierte, also würden wir miteinander reden können, egal wohin es ihn verschlug.

»Und ich komme zurück, wenn wir in der Highschool sind, und dann gehen wir zusammen zum Abschlussball«, hatte er breit grinsend gesagt. »Und wir machen genau solche Fotos wie Sarah mit diesen albernen Blumenarmbändern.«

»Die bekommen nur Mädchen«, erklärte ich.

»Sagt wer?«, schmollte Robbie.

Ich lachte. »Keine Ahnung. Meinetwegen, wir holen uns zueinanderpassende Armbänder.«

»Aber ich will eine aus Legos«, sagte Robbie.

»Dann soll meine aus Schmetterlingen sein!«, erwiderte ich.

»Igitt! Aus toten Käfern?«

»Was?«, quietschte ich entsetzt. »Nein! Aus falschen!«

»Nein. Du willst tote Käfer tragen. Du bist eine Tote-Käfer-Trägerin!«, zog mich Robbie auf und trotz unserer Tränen und bevorstehenden Trennung brachte er mich zum Lachen. Er rannte los und ich jagte ihm durch den ganzen Garten hinterher, bis ihn seine Mutter zum Auto rief.

»Dann bis zum Abschlussball«, sagte Robbie und stieg ein.

Ich sah ihm nach, bis ihr Wagen aus meinem Blickfeld verschwunden war.

Das war sieben Jahre her und er inzwischen ein Mitglied der größten K-Pop-Band aller Zeiten. Und ich würde eher sterben, als mich auf dem Abschlussball blicken zu lassen.

»Hab’s gefunden!«, riss mich Josie aus meinen Erinnerungen, als sie zurückkehrte. In der Hand hielt sie ein Megafon.

»Was soll ich damit?«, fragte ich. »Und wo hast du das her?«

»Aus meinem Spind. Es lag noch von unserer Rettet-die-Wale-Rally drin«, sagte Josie. Plötzlich fiel mir mit Schrecken wieder ein, wie Josie als Wal verkleidet mit ihrem Megafon über den Schulhof stolziert war. »Misch die Menge auf.« Josie hielt es mir hin. »Halt eine Rede. Begeistere die Leute.«

»Bin echt keine gute Rednerin.« Ich verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Den Debattierklub hatte ich aufgeben müssen, weil ich es nicht aushalten konnte, vor zwölf anderen Schülern zu stehen und meine Meinung zu vertreten, ohne knallrot zu werden.

»El, ich sag dir immer wieder, dass du niemals eine gute Aktivistin wirst, wenn du nicht deine Angst loswirst, vor Leuten zu reden«, sagte Josie. Ich brachte es nicht über mich, ihr zu sagen, dass ich mich nicht unbedingt als künftige Aktivistin sah. Eigentlich war ich nur noch wegen ihr in dem Klub.

»Komm schon«, sagte Josie und zog mich zum Kartenverkaufstisch des Abschlussballs.

Dort saßen Caroline Anderson und Felicity Fitzgerald und nahmen das Geld für die fancy aussehenden Tickets entgegen. Sie waren beide hübsche weiße Cheerleader und besaßen genau den richtigen Stil, um in einer Fernsehserie oder einem Teenie-Film mitzuspielen. Obwohl heute kein Spieltag war, trugen beide ihre Cheerleader-Uniformen. Vielleicht dachten sie, der Geist der Schule würde sie und die Kartenkäufer durchströmen, die kolossale sechzig Dollar pro Ticket hinlegten.

»Elena, sei ehrlich«, sagte Caroline und stützte ihr Kinn auf die Fäuste. »Du findest den Abschlussball furchtbar, weil du weißt, dass dich kein Junge fragen wird.«

Ich erstarrte und mir blieb vor Überraschung der Mund offen stehen. »Was? Nein, mir ist er nur egal.«

»Na komm schon, Elena. Du warst total neidisch, als ich in der siebten Klasse meinen ersten Freund hatte«, mischte sich Felicity ein.

»Wirklich?«, fragte Caroline und ihre Augen funkelten vor Schadenfreude.

»Ja, sie hat eine ganze Woche geschmollt und ist aus Protest nicht mal zu meiner Geburtstagsparty gekommen.« Felicity lachte auf.

Ich war in der Woche krank gewesen und deshalb hatte mich meine Mom nicht zu ihrer Party gehen lassen. Aber ich wusste, wenn ich das jetzt sagte, würde es nur wie eine nichtssagende Entschuldigung klingen und noch mehr Öl ins Feuer gießen.

Felicity und ich waren mal gut befreundet gewesen. Nachdem Robbie weggezogen war, hatte ich niemanden gehabt, mit dem ich Zeit verbringen konnte. Doch dann landete ich irgendwie bei Felicity und ihrer Clique, bis ich durch meine Entscheidung gegen das Cheerleading in der Neunten wieder zu einer Ausgestoßenen wurde. Ich erinnerte mich noch gut an den Tag nach den Cheerleader-Prüfungen, als mir Felicity in der Cafeteria zurief: »Du darfst nicht hier bei uns sitzen.« Wie Gretchen Wieners, nur nicht ganz so pink.

Josie stieß mich an. »Komm, El. Lass dich nicht von ihnen provozieren.«

Sie zog einen Stuhl heran, stellte sich darauf und rief in ihr Megafon. »Achtung, Achtung! Wir haben etwas zu verkünden.«

Dann stieg sie wieder herunter und drückte mir das Megafon in die Hand.

»Ich will nicht da drauf«, flüsterte ich und versuchte, es ihr zurückzugeben.

»Denk nur ans Gemeinschaftszentrum. Sag einfach, wie’s dir geht.«

»Wollt ihr verkünden, dass euch klar geworden ist, wie erbärmlich euer alberner Protest ist?«, rief Caroline und Felicity lachte.

Ich musste wieder an diesen Tag denken, an dem sie mir vor der ganzen Schule die Freundschaft gekündigt hatte. Und das machte mich so wütend, dass ich auf den Stuhl stieg und das Megafon hob.

Aber als ich in all die erwartungsvollen Gesichter starrte, wurde plötzlich mein Mund ganz trocken. Ich bekam nicht mal ein Piepsen heraus und hatte das Gefühl zu schwitzen. Doch als ich mir mit dem Handrücken über die Stirn wischte, blieb er trocken. Ich sah zu Josie, die mir einen Daumen nach oben zeigte, und drückte auf den Knopf. Dann räusperte ich mich und verzog bei einer schrillen Rückkopplung das Gesicht. Aber zumindest hatte ich jetzt die Aufmerksamkeit der ganzen Cafeteria. Alle Augen waren auf mich gerichtet. Na großartig. Ich atmete tief ein und dachte an Josies Rat: Sag einfach, wie’s dir geht.

»Ähm, hi«, murmelte ich und wieder quietschte das Megafon. »Sorry.«

Josie zwickte mich ins Bein und formte lautlos mit den Lippen: Entschuldige dich nicht.

Ich nickte und räusperte mich.

Denk an das Gemeinschaftszentrum, rief ich mir ins Gedächtnis.

»Ähm, also, ich möchte über einen Ort sprechen, der mir viel bedeutet.« Ich schaute nervös zu Josie und formte abermals mit den Lippen Wie’s dir geht. »Und nicht nur mir, sondern dieser ganzen Gemeinschaft.« Einige der Frischlinge an Tischen direkt vor mir sahen mich interessiert an. Weder lachten sie noch verzogen sie das Gesicht. So weit, so gut. Mit klopfendem Herzen sprach ich weiter. »Ich weiß nicht, ob sich einer von euch noch daran erinnern kann, wie die West Side in unserer Kindheit war. Aber noch vor zehn Jahren gab es da nicht viel. Nur die alte geschlossene Fabrik und überhaupt keine Parks.«

Ein paar Schüler nickten. Auf die Pinebrook High gingen Kinder der ganzen Gegend, darunter auch welche von der West Side. Zu sehen, dass meine Worte anerkannt wurden, machte mir Mut, und ich sprach flüssiger. »Das Gemeinschaftszentrum von West Pinebrook hat die Fabrik saniert, um einen sicheren Ort zu schaffen, an den die Kinder nach der Schule gehen können. Die Leiterin Miss Cora sagt, dass ein Haus mehr als Ziegelsteine und Fenster sein kann, wenn es mit Leidenschaft und Liebe erfüllt ist. Sollte ein solcher Ort es nicht wert sein, dafür zu kämpfen? Seid ihr es nicht leid, dass die Erwachsenen immer sagen, wir würden unsere Zeit verschwenden, wenn wir immer nur auf unsere Handys gucken?«

Ich sah, dass Josie mit dem Kopf schüttelte, und bemerkte, dass einige der Schüler die Stirn runzelten und sich abwandten. Oh Mist, ich verlor mein Publikum. Die Mädchen, die sich das WDB-Video angesehen hatten, wirkten ziemlich sauer. Ich wollte nur noch so schnell wie möglich fertig werden, um mich verkriechen zu können. »A… Also«, stotterte ich, »wenn ihr zeigen wollt, wie engagiert unsere Generation sein kann, spendet einfach, was ihr sonst für Kleider oder Limos ausgeben würdet, um eine wichtige Einrichtung unseres Viertels zu bewahren!« Ich gab mein Bestes, um so mitreißend wie Josie zu wirken, und hob eine Hand in die Höhe. »Zusammen können wir etwas verändern!«

Es folgte ein bedrückendes Schweigen. Max begann langsam zu klatschen, was unheimlich traurig und erbärmlich wirkte, denn niemand stimmte ein. Josie stieß ein begeistertes Johlen aus, das durch die Cafeteria hallte. Doch leider wandten sich die meisten Schüler wieder ihrem Mittagessen zu.

Caroline stürmte hinter dem Kartenverkaufstisch hervor. Ihr blonder Pferdeschwanz schwang wütend hin und her. »Das kann doch nicht erlaubt sein«, beschwerte sie sich. »Dass du uns hier die ganze Mittagspause lang ins Ohr brüllst.«

Josie trat vor und verschränkte die Arme. Die beiden waren zwar etwa gleich groß und würden also auch ungefähr gleich starke Gegnerinnen abgeben, doch bei einer Wette würde ich mein Geld auf Josie setzen. »Tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber die Schulregeln erlauben Demonstrationen, solange wir damit den Unterricht nicht stören oder vulgäre Sprache verwenden«, sagte Josie achselzuckend.

Felicity stellte sich zu ihrer Freundin und verdrehte die Augen. »Elena, wenn ich meinen Dad bitte, deinem dämlichen Gemeinschaftszentrum tausend Dollar zu spenden, hältst du dann die Klappe?«

Ich stieg vom Stuhl herunter. »Klar«, sagte ich. Felicity verschränkte die Arme und auf ihrem hübschen Gesicht erschien ein triumphierendes Lächeln. »Zumindest fürs Erste. Jede Kleinigkeit hilft, Felicity. Aber das wird nicht reichen. Wenn du spendest, was du für deine Nägel, deine Frisur, dein Kleid, die Limo, das Ticket und die Getränke ausgegeben hast, und auch deine Freunde dazu bringst, stell dir nur mal vor, wie viel Geld das wäre. Willst du deine Beliebtheit nicht mal für was Gutes einsetzen?«

Felicity starrte mich an und für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich, sie würde es erwägen. Dann verzog sie höhnisch die Lippen. »Du hast echt Wahnvorstellungen, Soo. Wie kannst du dir einbilden, dass irgendjemand seine Meinung wegen dir ändern könnte, wenn nicht mal dein eigener Zwillingsbruder auf dich hört?«

Ich drehte mich um und sah in der Schlange Ethan.

»Ethan«, stöhnte ich. Es sah wirklich nicht gut aus, wenn mein eigen Fleisch und Blut mich verriet.

Ethan und ich waren der schlagende Beweis, dass alle Theorien über Zwillinge mit einer angeborenen Verbindung völliger Blödsinn waren. Wir waren nämlich das genaue Gegenteil voneinander. Ethan war charismatisch und süß, was nervig war, da meine Klassenkameradinnen immer versuchten, mir Informationen über ihn zu entlocken. Ich hingegen war schüchtern und leicht zu übersehen. Er gehörte zum Lacrosse-Team und saß mittags bei den beliebten Schülern, während ich die Pause meistens mit Josie im Raum der Schülerzeitung verbrachte. Und jetzt sah es so aus, als stünden wir auch noch beim Thema Abschlussball auf unterschiedlichen Seiten.

Ethan zuckte nur mit den Schultern und lächelte. »Sorry, Zwilling, aber in der ersten Woche sind die Tickets am günstigsten.«

Normalerweise musste ich lächeln, wenn er mich Zwilling nannte. Doch diesmal war ich nur genervt.

»Du weißt genau, wie wichtig mir das Gemeinschaftszentrum ist, Ethan.«

»Ja, aber … ich will doch einfach nur den günstigen Vorverkaufspreis.«

Ethan kapierte es nicht. Wie immer war ihm völlig egal, was ich tat. Als ich mich wieder umdrehte, riss mir Caroline das Megafon aus der Hand.

»Hey!« Ich versuchte, es mir zurückzuholen, aber sie tänzelte davon.

Sie hob es an die Lippen. »Achtung, Achtung! Ich habe entschieden, vor dem Abschlussball eine Party zu schmeißen. Warum den Spaß nur auf einen Abend begrenzen? Aber ihr müsst ein Ticket für den Ball haben, um eingeladen zu werden!«

Die Schüler begannen zu johlen und eilten zur Schlange, als wären die Karten plötzlich ein knappes Gut.

Es war wie die Szene in Der König der Löwen, als Simba mit großen Augen auf die rasenden Gnus starrt. Nur dass es keinen Mufasa gab, der mich rettete, als ich versuchte, der wogenden Menge auszuweichen.

Denn natürlich vergaß ich bei meinem Pech den Stuhl hinter mir. Und statt mich unauffällig zurückzuziehen, stolperte ich gegen seine Metallbeine. Ich hörte Josie meinen Namen rufen, während ich verzweifelt versuchte, das Gleichgewicht zu behalten, doch der Stuhl gewann die Oberhand und fiel rückwärts. Ich wedelte mit den Armen wie eine Zeichentrickfigur und landete auf dem klebrigen Boden.

An den Händen hatte ich irgendwas Schleimiges und vom Zusammenstoß mit einer Tischecke pochte meine Hüfte. Ich sah zu, wie die Menge über meine Flyer trampelte und sich um eine jubelnde Caroline scharte.

2

Mittwochs ging ich nach der Schule immer ins Gemeinschaftszentrum. Normalerweise freute ich mich darauf, die Kinder zu sehen. Doch heute lastete das Gewicht meiner Niederlage schwer auf meinen Schultern.

Auf dem Weg zum Parkplatz sah ich Ethan und seine Freunde vor ihrem Lacrosse-Training auf dem Schulhof herumlungern. Sie lachten, zerrissen Papier und warfen es wie Konfetti in die Luft. Wäre Josie hier gewesen, hätte sie ihnen aber ganz schön was zum Thema Müll geflüstert. Als sie mal versucht hatte, der Gruppe einen Vortrag über Recycling zu halten, hatten die Jungs sie angesehen, als würde sie Französisch sprechen, und dann hatte Tim Breslow seine Colaflasche ganz bewusst in den nächsten Abfalleimer geworfen.

Ich glaubte zwar an das, wofür die Awareness-AG kämpfte (so ziemlich alles, was mit Umweltschutz und sozialer Gerechtigkeit zu tun hatte), aber es war doch mehr Josies Ding. Ohne meine beste Freundin war ich weder mutig noch selbstbewusst genug, um irgendjemanden davon zu überzeugen, für eine Veränderung einzutreten. Ich hatte einfach nicht das Zeug dazu, jemanden allein anzusprechen, selbst wenn es um so etwas Kleines ging wie Müll rumwerfen. Also wollte ich einen großen Bogen um die Gruppe machen.

Eine sanfte Brise wirbelte einen der Papierschnipsel genau in meine Richtung. Ich konnte praktisch hören, wie mir Josie einen Vortrag hielt. Also beugte ich mich vor, um ihn aufzuheben. Und ich erstarrte, als ich ein vertrautes Gesicht mit einem halb abgerissenen Lächeln sah. Eines der Kinder vom Gemeinschaftszentrum. Es war einer meiner Flyer.

Sie rissen sie in Fetzen! Das konnte ich ihnen doch nicht so einfach durchgehen lassen, oder? Ich musste etwas sagen, das gebot mir allein schon mein Stolz. Aber als ich auf sie zuging, hörte ich Ethan laut auflachen. Er lachte über meinen Flyer? Er sagte seinen Freunden nicht mal, dass sie aufhören sollten, sie zu zerreißen. Stattdessen saß er einfach da und blödelte mit ihnen herum.

Zornschnaubend stürmte ich an ihnen vorbei. Als sie mich sahen, erstarb das Gelächter. Ich würdigte sie keines Blickes. Ich hatte keine Lust auf Ethans arrogantes Gesicht, während er etwas runtermachte, das mir wichtig war.

Es hätte mich nicht überraschen sollen. Ethan stand nie zu mir, sondern immer auf der Seite seiner Freunde. Ich hatte schon lange aufgehört, etwas anderes von ihm zu erwarten.

Als ich im Westteil der Stadt ankam, war meine Wut einem dumpfen Kopfschmerz gewichen. Mich über Ethan zu ärgern, war sinnlos. Er würde sich ja sowieso nie ändern und auch unsere Eltern würden sich nie auf meine Seite schlagen, wenn ich mich beschwerte. Also atmete ich wie immer in solchen Situationen zehnmal langsam ein und aus und sagte mir, dass es einfacher wäre, die Sache zu vergessen.

Der Seiteneingang des Gemeinschaftszentrums führte zu einzelnen Räumen, in denen manchmal Kurse gegeben wurden. Aber jetzt gerade waren sie voller Kinder, die herumalberten und so taten, als würden sie Hausaufgaben machen. Jeder Raum hatte ein Thema, wie der Marienkäferraum, in dem gerade fünf Jungs aus der fünften Klasse darüber diskutierten, wer der Spielleiter ihrer nächsten Dungeons-&-Dragons-Runde sein sollte. Ich erkannte den dicken Ordner wieder, den ich selbst für das Spiel geschrieben hatte.

Einer der Jungs bemerkte mich. »Hey! Elena ist hier. Sie kann Spielleiterin sein!«

Ich muss zugeben, dass mir bei diesem freundlichen Empfang ganz warm ums Herz wurde. Jedes Kind im Gemeinschaftszentrum kannte mich mit Namen. Hier war ich nicht »Ethans Schwester« oder »Soo-Kind Nummer fünf«.

»Na klar«, setzte ich schon an, doch dann fiel mir ein, dass ich zuerst noch etwas zu erledigen hatte. »Sucht euch schon mal eure Charaktere aus. Ich bin gleich zurück. Vorher muss ich noch mit Miss Cora reden.«

Sie nickten und setzten sich fröhlich zusammen. Ich war ziemlich stolz, dass ich den D&D-Klub des Gemeinschaftszentrums gegründet hatte. Anfangs machte ich mir Sorgen, dass die Kinder es als nerdiges Verliererding abtun würden. Aber ein paar fanden so richtig Gefallen daran. Es erinnerte mich an die Abenteuerspiele von Robbie und mir, als wir noch klein waren.

Ich musste daran denken, wie ich damals in meinem ersten Highschooljahr hergekommen war. Ich wollte damals nur meine Freiwilligen-Stunden absitzen und dann nach Hause gehen. Aber jedes Mal wollte ich länger und länger hierbleiben. Ich dachte mir neue Angebote aus, über die ich mich selbst als Kind gefreut hätte. Und ich erinnerte mich an meinen Stolz, als ich das erste Mal den Mut aufbrachte, etwas vorzuschlagen, und Cora die Idee genial fand. Ich liebte die Kinder hier einfach, genauso wie ich Cora Nelson bewunderte, die das Gemeinschaftszentrum ganz allein leitete.

Ich kam zu dem großen offenen Spielzimmer, in dem wir die jüngeren Kinder beaufsichtigten. In einer Ecke lief der Fernseher, aber keiner sah wirklich hin. Doch vor einem kleinen Bücherregal entdeckte ich Tia und Jackson, zwei meiner Lieblinge hier im Zentrum.

»Elena!«, rief Jackson, als er mich sah. Der Vierjährige winkte so stürmisch, dass ich befürchtete, er würde von Tias Schoß herunterfallen. Seine braunen Haare fielen ihm in die hellblauen Augen, die er von seiner Mutter hatte. »Elena Elena ElenaElenaElena! Rat mal!«

Tia strich sich abwesend die blonden Strähnen hinters Ohr, die sich aus ihrem Pferdeschwanz lösten. Sie war groß und schmal (die Art von schmal, auf die meine Mutter mit einem Schnalzen und einer Schale Essen reagierte), und sah so jung wie eine Studentin aus.

»Gott sei Dank bist du hier. Ich muss schon aufs Klo, seit wir angekommen sind«, sagte Tia und setzte Jackson mir auf den Schoß, sobald ich saß.

»Was denn, Jack-Jack?«, fragte ich fröhlich.

»Ich kann schon lesen!«, rief er.

»Oh, wirklich?« Ich sah zu Tia, die aufgestanden war.

Sie lachte nur und zuckte mit den Schultern. »Was soll ich sagen? Ich hab ein Wunderkind erwischt.«

»Guck!«, sagte Jackson und klappte ein Buch auf.

Ich hörte genau zu, als er mit der Geschichte begann und die Seite an der richtigen Stelle umblätterte. Es war eine wortwörtliche Nacherzählung. Ich wäre darauf reingefallen, wenn er nicht aus Versehen mit dem Impressum angefangen hätte und dadurch die ganze Zeit eine Seite zu früh war. Trotzdem war der Junge ziemlich clever, weil er das ganze Buch auswendig gelernt hatte, und als er fertig war, klatschte ich ihm Beifall.

Jackson lachte. Dann machte er plötzlich große Augen und sprang auf. »Mama?«, rief er und drehte sich um. »Mamaaaa!«

»Hey Jack-Jack, schon gut. Sie ist nur kurz auf die Toilette gegangen«, sagte ich, während ich versuchte, seine Hand zu nehmen. Doch mit Tränen in den Augen drehte er sich weg.

Tia kam wieder hereingestürmt und nahm Jackson in die Arme. »Oh, Baby, alles in Ordnung. Mama ist ja hier.«

Jackson stieß kleine traurige Hickser aus, während mich Tia schulterzuckend ansah. »Er hat Trennungsängste, seit ich letzten Monat die Abendschicht übernommen habe. Seine Vorschullehrerin sagt, das kann bei Änderungen des Zeitplans schon mal vorkommen.«

Ich nickte. Der Anblick von Jacksons tränenüberströmtem Gesicht tat mir in der Seele weh. »Hey«, sagte ich fröhlich, um ihn abzulenken. »Ich habe gehört, dass bald jemand Geburtstag feiert.«

Jackson grinste über beide Backen. »Ja!«

»Ich frage mich, wer das sein könnte«, sagte ich und strich mir nachdenklich übers Kinn.

»Ich«, rief Jackson und streckte die Hand in die Höhe. »Das bin ich.«

»Oh, wirklich?« Seine Begeisterung war ansteckend. »Und was wünschst du dir zum Geburtstag? Gekitzelt werden?« Ich pikste ihn in die Seite. Er lachte und strampelte, bis er auf dem Boden landete.

»Nicht?«, fragte ich und tat, als würde ich weiter nachdenken. Dann kam mir eine Idee. »Weißt du, als ich noch klein war, haben mein bester Freund und ich uns immer Wünsche geschenkt. Willst du auch einen?«

Jackson riss die Augen auf. »Ja«, hauchte er. »Was darf ich mir denn wünschen?«

»Was immer du willst.« Ich zuckte mit den Schultern. »Such dir was aus.«

»Okay.« Er lächelte. »Ich will ein Buch!«

»Wirklich?« Ich fühlte ein stolzes Glühen, dass der Junge auch zu so einem Lesenerd wie ich zu werden schien.

»Ja! Ein großes Buch.« Er streckte die Arme so weit aus, wie er konnte.

»Einverstanden. Und jetzt such dir doch mal direkt ein anderes Buch aus, das du mir vorlesen kannst, ja?«, sagte ich.

Jackson kam wieder auf die Beine und ging zum Bücherregal, um dort mit feierlicher Miene seine Auswahl zu treffen.

»Du kannst so gut mit ihm umgehen.« Tia lächelte. »Ich hab solches Glück, dass du auf ihn aufpasst. Diese Spätschichten wären die Hölle, wenn ich keinen sicheren Ort hätte, wo ich ihn lassen kann.«

Jede Freude, die mir das Kompliment normalerweise gemacht hätte, verflog, denn ich stellte mir vor, was passieren würde, wenn das Gemeinschaftszentrum schließen müsste. Die Kinderbetreuung am Nachmittag und Abend war nicht nur für die Kinder, sondern auch für Eltern wie Tia gedacht, die sich keinen Babysitter leisten konnten, wenn sie bis spät arbeiten mussten. Bei so vielen Familien hier galt das normale Nine-to-Five nicht, was viele andere für so selbstverständlich hielten.

»Kannst du bald wieder früher aufhören?«, fragte ich.

Tia zuckte mit den Schultern. »Ich habe mich auf einen Abteilungsleiterposten beworben und wurde zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Mal abwarten, was dabei rauskommt.«

»Ich drück dir auf jeden Fall die Daumen.« Ich drückte meine Daumen und hielt beide an mein Herz.

Tia lächelte. »Apropos Daumendrücken, wie läuft euer Kreuzzug?«

»Tja, wenn meine neuen Schätzungen stimmen, haben wir in sechsundzwanzig Jahren genug Spenden beisammen, um dem Zentrum zu helfen«, sagte ich mit einem schweren Seufzen. Tia schenkte mir ein mitfühlendes Lächeln. »Ich bin einfach keine geborene Aktivistin.«

»Vielleicht braucht es nur seine Zeit«, sagte Tia. »Und die Awareness-AG ist die erste, die du nicht nach nur einem Halbjahr wieder verlassen hast.«

»Das liegt daran, dass mich Josie finden würde, egal wo ich mich verstecke.« Ich lachte. Aber Tia hatte recht. Alle anderen außerschulischen Aktivitäten hatten nie wirklich zu mir gepasst. Und ich hatte echt viele ausprobiert.

Tia lächelte. »Hattest du schon das Probetraining bei den Gewichtheberinnen?«

Ich verzog mein Gesicht. Ich hatte gedacht, dass eine Sportart gut auf meiner Collegebewerbung aussehen würde und der Verein nahm jeden auf, der sich dafür interessierte, allerdings … »Ich hab das Gewicht fast auf den Fuß des Trainers fallen lassen. In die Geschichte der Pinebrook Highschool werde ich als die einzige Person eingehen, die es nicht ins Team geschafft hat.«

Tia lachte. »Ich wollt dir deine Träume nicht kaputt machen, aber ich dachte von Anfang an, dass das nichts für dich ist.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Das hab ich jetzt auf die harte Tour gelernt. Jetzt halte ich mich erst mal weiter ran, ausgegrenzt zu werden, weil ich angeblich den Abschlussball ruiniere.«

»Ich war übrigens auch nicht auf meinem Abschlussball, weißt du?«, fragte Tia.

»Wirklich? Warum nicht?«, fragte ich mit aufrichtiger Neugier. Denn anscheinend fanden es alle albern von mir, dass ich nicht zum Ball gehen wollte.

»Ich war hochschwanger.« Sie zuckte wieder mit den Schultern. »Ich kam mir wie ein Wal vor und war nicht in der Stimmung, auf Stöckelschuhen zu tanzen.«

Ich biss mir auf die Zunge und nickte. Wieder einmal hatte ich vergessen, dass Tia jünger als meine Schwestern war. Aber ich wusste, dass sie bereits als Schülerin schwanger geworden war und ihre Eltern sie rausgeworfen hatten.

»Hey, was ist denn da passiert?«, fragte Tia, hob meinen Arm und deutet auf das Pflaster an meinem Handgelenk. Ich hatte mir bei der Auseinandersetzung in der Cafeteria eine Schramme zugezogen. Aber die tat längst nicht so weh wie mein verletzter Stolz. »War das diese Felicity, von der du mir erzählt hast?«

»Warum? Willst du ihr die Leviten lesen?«, fragte ich und verkniff mir ein Schmunzeln.

Tia seufzte und ließ meine Hand sinken. »Als ob das was nützen würde. Jugendliche, die andere schubsen, sind entweder unsicher oder fiese Soziopathen. Und es ist sinnlos, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was von beidem.«

Ich nickte. Tia riet mir immer darüberzustehen. Sie sagte, auf diese Art bewahre man bis nach dem Abschluss seinen Stolz. Josie verfolgte hingegen die Strategie zurückzuschlagen, was für sie auch funktionierte. Ich ging lieber jedem Konflikt aus dem Weg, koste es, was es wolle. Endlich nutzte es mir mal, dass ich ziemlich gut darin war, mich unsichtbar zu machen.

»Wo ist Cora?«, fragte ich und sah mich im Gemeinschaftsraum um.

»Vorhin war sie in ihrem Büro und hat ein paar Anrufe gemacht, um vor dem Haushaltstreffen des Stadtrats im Juni mehr Leute auf unsere Seite zu ziehen.«

»Und bringt es was?«, fragte ich, fürchtete aber bereits die Antwort.

Tia schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Mrs. Lewis musste diese Woche entlassen werden.«

»Was? Mrs. Lewis hat hier seit der Eröffnung gearbeitet!«, sagte ich. Sie war Lehrerin in Teilzeitrente und leitete alle Kurse über gesunde Ernährung und Kochen. »Das dürfen wir doch nicht zulassen.«

Im Fernseher in der Ecke dröhnte laut die Werbung. Ich sah eigentlich kein Privatfernsehen mehr, aber die Werbung wirkte immer lauter als das eigentliche Programm. Das war hundertpro eine Art böser Konsumtrick. Und diese Werbung war noch mal besonders laut, weil sie die musikalischen Gäste der heutigen Late-Night-Show ankündigte: WDB.

»Hey, hast du mir nicht mal erzählt, dass du einen von denen früher kanntest?«, fragte Tia.

»Ja, ist aber schon ewig lange her«, sagte ich genau in dem Moment, als Robbie erschien und die ganze Gruppe gezeigt wurde.

Schalten Sie um elf Uhr ein, damit Sie sich im Vergleich zu Ihrem früheren besten Freund völlig unzulänglich fühlen!

Okay, okay, das hatte die Stimme im Fernseher nicht wirklich gesagt, aber das hätte sie sagen können.

»Wir haben keinen Kontakt mehr«, sagte ich. Wir hatten zuletzt mit dreizehn kommuniziert und seitdem war er zu berühmt, um sich an meine Nummer zu erinnern. Ich holte meine Tasche. »Ich muss mal kurz mit Cora reden.«

»Aber das Buch!«, protestierte Jackson, der nicht mit einem, sondern gleich mit fünf Büchern zurückgeflitzt kam, die er in seinen kleinen Ärmchen balancierte.

»Ich bin gleich wieder da und lese die alle mit dir.«

»Schwörst du?« Er streckte seinen kleinen Finger aus und ich musste lachen. Ich hatte ihm letzten Monat gezeigt, wie man sich etwas schwor, und seitdem wollte er nichts anderes mehr machen.

»Ich schwöre.« Ich hakte meinen kleinen Finger bei seinem ein. »Versiegeln.« Wir pressten unsere Daumen zusammen. »Briefmarke drauf.« Wir ließen los und drückten unsere Daumen an die Stirn. »Und losschicken!« Wir schoben unsere Handflächen zusammen.

»Noch mal!«, rief Jackson lachend.

Am liebsten wäre ich geblieben und hätte ewig lange mit ihm weitergespielt. Sein Lächeln war so was von ansteckend. Aber ich musste mit Cora reden.

Um zu ihrem Büro zu kommen, musste ich quer durch die große Halle, dem Herz des Gemeinschaftszentrums. Hier hingen die meisten Kinder und Jugendlichen ab, spielten Basketball oder in der Ecke Handball. Es gab sogar eine kleine Laufbahn. Die frühere Fabrik bot uns viele Vorteile. Genau darum war das Zentrum so sinnvoll. Außerdem lag es direkt gegenüber der Grundschule und fußläufig von der weiterführenden Schule entfernt.

Als ich an Coras Tür klopfte, schwang sie ganz leicht von allein auf. Das Büro war nicht größer als eine Besenkammer (und insgeheim vermutete ich, dass es mal genau das gewesen war), aber sie selbst hatte auf diesem Zimmer bestanden. Sie sagte, die größeren Räumlichkeiten sollten für Kurse oder als Spielzimmer dienen.

Wie ich es mir gedacht hatte, saß Cora an ihrem Schreibtisch. Sie war eine große, schlanke schwarze Frau und über zehn Jahre lang Sozialarbeiterin bei der Stadt gewesen, bevor sie die Rolle der Leiterin des Gemeinschaftszentrums von Pine Brook übernommen hatte. Mir wurde klar, dass das, was ich zuerst für die schlechteste Playlist aller Zeiten hielt, eigentlich schreckliche Wartemusik war, die aus ihrem Telefonlautsprecher drang.

»Oh, ich wollte nicht stören …«, setzte ich an, aber sie winkte mich herein und tippte weiter eifrig auf ihrer Computertastatur.

»Du störst nicht, sondern rettest mich davor, das Telefon an die Wand zu klatschen. Ich höre diese Musik jetzt schon seit zwanzig Minuten. Die wird mich noch bis in meine Albträume verfolgen.«

»Das heißt, heute läuft es mit den Anrufen auch nicht so toll?«, fragte ich und setzte mich auf den einzigen anderen Stuhl im Raum, der zwischen dem Schreibtisch und einem überfüllten Aktenschrank eingekeilt war.

»Nö«, sagte Cora, gerade als jemand ranging. Flugs schnappte sie sich den Hörer. »Hallo? Herr Stadtrat?« Sie seufzte. »Nein, mir wurde gesagt, dass man mich direkt mit dem Stadtrat verbinden würde. Ja, aber es hieß, dass er jetzt gerade einen Moment zum Reden hat … ich habe es schon später versucht. Das hier ist mein späterer Versuch.« Cora begann sich den Nasenrücken zu massieren. »Ja, ich kann noch mal zurückrufen. Wann hat er denn Zeit für ein Gespräch?« Sie tippte den Termin in ihren Kalender ein. »Okay, dann richten Sie dem Herrn Stadtrat doch bitte aus, dass ich mich schon sehr darauf freue, am Freitag um sechzehn Uhr mit ihm zu reden.«

Sie legte auf und ließ ihren Kopf mit einem dumpfen Geräusch auf den Schreibtisch sinken.

Ich fragte mich, ob ich nicht vielleicht lieber gehen sollte, doch Cora stieß ein tiefes Seufzen aus. Es klang so verzweifelt, dass ich sie nicht allein lassen konnte.

»Cora, es tut mir so leid für dich«, sagte ich.

»Schon gut. Das heißt nur, dass ich am Freitag noch eine Verabredung mit dem Telefon habe.« Sie tippte wieder auf ihrer Tastatur herum und fuhr auf einmal zusammen. »Oh, das hab ich ganz vergessen.«

»Ich bin am Freitagabend die Babysitterin. Vielleicht kann ich Dee fragen, ob sie den Dienst übernehmen kann.«

»Ich kann das machen«, bot ich an.

»Wirklich? Bist du dir sicher? Gehen Highschoolschüler freitagabends sonst nicht aus?«

»Willst du damit sagen, dass ich langweilig bin, weil ich an einem Freitagabend nicht auf eine Party gehe?«

»Nein, damit will ich sagen, dass du eine Heilige bist und ich nie auch nur ein schlechtes Wort über dich verlieren oder für selbstverständlich halten würde, dass du hier bist.«

Ich lachte, doch insgeheim freute ich mich. Es fühlte sich immer wunderbar an, wenn mich Cora lobte.

»Apropos«, sagte ich und rief die Spendenseite des Gemeinschaftszentrums auf, die ich vor zwei Monaten mit Cora erstellt hatte. »Diese Woche kam nicht viel rein. Nur hundertfünfzig Dollar. Aber bestimmt bekommen wir bald mehr Spenden.« Ich zeigte ihr die neue Gesamtsumme: 371 US-Dollar.

Wie erbärmlich es sich anfühlte, das überhaupt auszusprechen. Wie ein Kind, das den Inhalt seines Sparschweins anbietet, um bei der Hypothek zu helfen. Aber mehr hatte ich nicht.

»Elena, das ist unglaublich! Danke für all deine harte Arbeit«, sagte Cora. Und die Sache war: Sie meinte es wirklich ernst. Cora sagte nie etwas, nur um jemandem zu schmeicheln. Darum vertraute ich immer auf ihre Meinung.

»Jedes kleine bisschen hilft. Und wir müssen genug Geld sammeln, um das Gemeinschaftszentrum am Laufen zu halten, bis du von der Stadt oder neuen Sponsoren mehr Finanzmittel bekommst, richtig?«

»Genau«, sagte Cora. »Und wenn wir ein paar Monate schließen müssen, werden wir weiterkämpfen, um wieder aufzumachen.«

»Schließen?«, platzte ich heraus. »Nein, so weit darf es nicht kommen. Wo sollen denn die Kinder hin?«

»Keine Ahnung, aber selbst wenn der Stadtrat im Juni beschließt, uns mehr Geld zu geben, werden wir es bis dahin nicht schaffen. Nächsten Monat gehen uns die Lichter aus.«

»Wir müssen doch noch was anderes tun können«, beharrte ich.

Im Mai war der Abschlussball. Wenn wir bis dahin genug Leute dazu bringen könnten, einen Teil ihres Budgets dem Gemeinschaftszentrum zu spenden, war es zu schaffen. Einige meiner Mitschüler gaben fast tausend Dollar für den Abend aus. Felicity bestimmt auch. Wir brauchten nur einen neuen Plan, um sie dazu zu bringen, mir zuzuhören!

»Gib die Hoffnung nicht auf. Ich werd’s auch nicht«, sagte ich. »Versprochen, ich lass mir was einfallen.« Ich nahm mein Handy heraus und notierte mir eifrig Ideen, die ich Josie beim nächsten Treffen der Awareness-AG vorschlagen wollte.

Cora lächelte sanft. »Du hast recht. Es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist. Das schulden wir unseren Kindern.«

Das liebte ich so an Cora. Dieser Ort war für sie nicht nur ein Job, sondern eine Familie.

Auch für mich war das Gemeinschaftszentrum nicht nur irgendein Ort.

Ich hatte Jackson und die anderen Kinder aufwachsen sehen. Ich hatte Deena Romero geholfen, sich für ihre erste Aufführung die Haare zu flechten. Ich war wichtig für den Betrieb des Zentrums. Drei meiner Programmideen für Kinder waren umgesetzt worden und die Rollenspielgruppe war die erfolgreichste.

Auf keinen Fall würde ich zulassen, dass dieser Ort geschlossen wurde, nicht mal für zwei Monate. Es war an der Zeit, unsere Strategie zu ändern. Wenn es sein musste, würde ich meine Schüchternheit überwinden und jedem meiner Mitschüler auf dem Gang einen Flyer in die Hand drücken. Die Leute mussten einfach verstehen, warum das Gemeinschaftszentrum so wichtig war. Ich würde sie dazu bringen.

3

Ich parkte in der Einfahrt neben Ethans glänzendem Infiniti, dem Auto, das er zum sechzehnten Geburtstag bekommen hatte. Mir hingegen hatten unsere Eltern nur ein neues Handy geschenkt. Alles andere als fair. Aber schließlich war er der einzige Sohn der Familie und ich nur das Anhängsel, das mit ihm auf die Welt gekommen war.

Meine Eltern überließen mir den alten Nissan Sedra, einen Gebrauchtwagen, der vor etlichen Jahren für meine älteste Schwester Esther angeschafft wurde. Inzwischen hatte er fast zweihundertfünfzigtausend Kilometer drauf und blieb immer öfter liegen.

Ich war ein bisschen später daheim als üblich und gleich würde es Abendessen geben. Also würde meine Mom wahrscheinlich eine Bemerkung machen, wie spät ich dran war. Im Haus der Soos war das Abendessen Familienzeit. Selbst wenn wir inzwischen nur noch zu viert statt zu siebt waren.

Ich entschied, durch die Vordertür zu gehen, um meine Mutter auf die falsche Fährte zu locken. Ich öffnete sie so leise wie möglich und schlüpfte sofort aus meinen Schuhen. Als Erstes fiel mein Blick auf die polierte koreanische Holztruhe mit unseren Familienfotos. Es gab mindestens zehn Bilder von Ethan bei verschiedenen Aktivitäten: Lacrosse, Basketball, vor einem Aquarium. Und die Abschlussfotos meiner Schwestern. Ich war nur durch ein schäbiges Bild aus der dritten Klasse vertreten. Ich sah fürchterlich darauf aus, weil Robbie mein hübsches Kleid mit Saft bekleckert hatte und ich eines seiner alten Sweatshirts tragen musste. Es war viel zu groß und ich stinksauer, was man meinem gezwungenen Lächeln auch ansehen konnte. Keine Ahnung, warum Mom von all meinen Klassenfotos ausgerechnet dieses hingestellt hatte. Aber es schien seltsam passend. Warum sollte man sich Mühe geben, sein Add-on-Kind zu präsentieren?

Ich erreichte die Treppe und das Ziel, mein Zimmer, war fast schon in Reichweite. Doch wie alle Mütter besaß Mom dieses Supergehör, das wahrscheinlich zusammen mit ihrem ersten Kind im Krankenhaus auf die Welt kommt. Denn kaum setzte ich meinen Fuß auf die unterste Stufe, rief Mom: »Allie, bist du das? Komm mal kurz her.«

Ich seufzte, denn es hatte keinen Zweck, meine Mom zu verbessern, wenn sie mich mit dem Namen einer meiner Schwestern anredete. Also trottete ich in die Küche, wo Mom eine Zucchini in dünne Streifen schnitt. Auf dem Herd brutzelte bereits marinierter Tofu und der Raum war von einem klebrigen Duft erfüllt, der nur von frisch gekochtem Reis stammen konnte.

»Warum kommst du so spät?«, fragte Mom, ohne sich umzudrehen.

War ja klar. »Mittwochs bin ich doch immer im Gemeinschaftszentrum, schon vergessen?«, sagte ich, obwohl ich wusste, dass sie sich nicht erinnerte.

»Ach ja. Und wie war dein Tag sonst so?« Da war etwas in ihrem Tonfall, das weniger wie eine Frage und mehr nach einem Verhör klang. Ihre schwarzen Haare, die sie sich jeden Monat akkurat färben ließ und einer Dauerwelle unterzog, hielt sie sich mit einem uralten zerfransten Haargummi aus dem Gesicht. Ein paar Strähnen hatten sich gelöst und ich konnte den grauen Ansatz sehen, was bedeutete, dass sie schon bald wieder ihren koreanischen Schönheitssalon ansteuern würde.

»Bestens«, sagte ich und zuckte sinnloserweise mit den Achseln, denn sie konnte mich sowieso nicht sehen.

»Ein kleines Vögelchen hat mir gezwitschert, dass in der großen Pause viel los war.«

»Reimt sich der Name dieses kleinen Vögelchens zufällig auf Bethan, der sich lieber um seinen eigenen Kram kümmern sollte?«, murmelte ich und schielte zur Treppe. Wenn ich meinen Zwillingsbruder nur in die Finger bekam …

»Es ist nicht seine Schuld. Ich habe es ihm aus der Nase gezogen.«

»Natürlich.« Nichts war jemals Ethans Schuld. Er war der Prinz der Familie Soo.

»Ich verstehe einfach nicht, warum du den Abschlussball so schrecklich findest. Du tanzt doch so gern. Du warst richtig gut in deinem Jazz-Dance-Kurs.«

»Das war Esther«, berichtigte ich Mom. Ständig verwechselte sie mich mit meinen Schwestern. So ganz konnte ich ihr das nicht mal verübeln. Ethan und ich waren nicht geplant gewesen und als wir klein waren, musste sich Mom einen Job suchen, um finanziell über die Runden zu kommen. In meinen ersten sieben Lebensjahren erzogen mich eher meine Schwestern als meine Eltern.

»Aber der Abschlussball sollte dir trotzdem nicht so zuwider sein«, sagte Mom und drehte sich zu mir um. In der erhobenen Hand hielt sie das Messer, was man als Drohung hätte verstehen können, wenn sie mir dabei nicht gleichzeitig ihr schmeichlerisches Mom-Lächeln geschenkt hätte.

Ich zuckte mit den Schultern. »Der Abschlussball ist ein Abend wie jeder andere im Jahr. Ich brauche so was nicht, wenn ich weiß, dass ich mit meinem Geld auch helfen kann, das Gemeinschaftszentrum offen zu halten.«

»Es freut mich, dass dir etwas so sehr am Herzen liegt.« Nur sagte sie das leider so, als wäre sie genervt, dass ich immer wieder davon anfing. »Aber ist das Zentrum nicht nur eines deiner vielen Hobbys? Wenn du früher oder später davon gelangweilt bist, wirst du es dann nicht bereuen, deinen Abschlussball verpasst zu haben?«

Ich spürte die Wut in mir wie Quecksilber in einem Thermometer hochsteigen. Mom tat meine Interessen immer als »Hobbys« ab. Das hätte sie bei Ethan nie getan. Aber ich wusste, dass es sinnlos war, mich zu beschweren.

Und ich wusste, ich konnte nicht einfach sagen, dass mich der Abschlussball zu sehr an meinen ehemaligen besten Freund erinnerte. Jenen, der mir immer versichert hatte, wir würden auf ewig Freunde bleiben, bevor er berühmt geworden und mich im Stich gelassen hatte. Robbie hatte versprochen, mich niemals zu vergessen und eines Tages zurückzukommen, um mit mir zusammen zum Abschlussball zu gehen. Aber eines dieser Versprechen hatte er bereits gebrochen und ich war nicht so dumm zu glauben, dass er das andere halten würde. Jeder Gedanke an den Abschlussball rief mir nur ins Gedächtnis, dass ich wieder einmal nicht wichtig genug war, um sich an mich zu erinnern.

Hätte ich Mom all das gesagt, hätte sie mich nur missverstanden und gedacht, ich sei wegen eines Jungen verbittert. Also war es besser, diesen Grund für mich zu behalten.

»Hier geht es nicht um den Abschlussball«, beharrte ich. »Sondern darum, das Gemeinschaftszentrum zu retten.«

»Aber warum kannst du nicht einfach ein Kleid deiner Schwestern tragen und hingehen?«

»Warum bestehen eigentlich alle darauf, dass dieser Abschlussball eine Art magische Nacht wäre?«, fragte ich. »Weißt du nicht mehr, wie Sarah nach Hause kam und die ganze Rückseite ihres Kleids mit Bowle bekleckert war? Oder wie wütend du auf Esther warst, weil sie länger wegblieb als ausgemacht? Und Allie kam total aufgelöst nach Hause, weil ihr Absatz abgebrochen war, sie sich den Knöchel verstaucht und den Rest des Abends ihrem Begleiter dabei zugeguckt hatte, wie er mit einer anderen tanzte.«

»Ach Schatz, selbst Allie hat gesagt, dass es nur ein dummer Unfall war und sie trotzdem mit ihren Freunden Spaß hatte.«

Ja, das hatte sie Mom erzählt – aber ich hatte gehört, wie sie sich später in ihrem Zimmer bei Sarah ausweinte.

»Ich würde beim Ball eh nur mit Josie und Max abhängen. Warum dann nicht lieber für lau zu Hause?«

Mom seufzte und ich konnte ihr ansehen, dass ich sie immer noch nicht überzeugt hatte. »Liegt es daran, weil dich kein Junge gefragt hat?«

Ich fand es widerlich, dass Mom das sagte. Genau das Gleiche hatte Caroline behauptet. Der Witz an der Sache war, dass ich ja von einem Jungen gefragt worden war. Vor sieben Jahren. Nicht dass das jetzt noch eine Rolle spielte. »Nein, Mom, es geht nicht immer nur um Jungs!«

»Wenn du nie mit Jungs ausgehst, wie willst du dann deine große Liebe finden?«

»Mom, ich bin erst siebzehn.«

»Ich habe mit siebzehn deinen Vater kennengelernt«, erwiderte Mom.

Ja, so vor tausend Jahren.

Aber ich bekam keine Gelegenheit, etwas zu erwidern, weil es in diesem Moment läutete.

»Gehst du eben an die Tür?«, fragte Mom und begann die Zucchini zu panieren.

»Na klar«, murmelte ich. Es war ja nicht so, als würde meine Mom etwas anderes von mir erwarten, als zu gehorchen.

Ich nahm an, dass es der UPS-Bote war, weil nur er klingelte. Josie und Ethans Freunde schrieben immer nur eine Nachricht, dass sie da waren.

Ich überlegte, was wohl geliefert wurde, und schloss die Tür auf. In dem Moment, in dem ich die Klinke runterdrücken wollte, bekam ich plötzlich ein ganz seltsames Gefühl, bei dem sich meine Nackenhaare aufstellten. Irgendwas sagte mir, dass es doch nicht der UPS-Bote war. Meine Halmeoni mütterlicherseits hatte immer prophetische Träume gehabt und uns gesagt, es würde in der Familie liegen. Esther meinte, das sei alles Blödsinn, aber manchmal bekam ich diese Vorahnungen, bei denen ich an ihre Worte dachte. Und dies war einer dieser Momente.

Als ich die Tür öffnete, breitete sich das seltsame Gefühl wie Wärme in meiner Brust aus. Mit offenem Mund starrte ich Robbie Choi an.

Es war, als hätte ich eine Tür in die Vergangenheit geöffnet, nur dass dieser Robbie Choi nicht mehr pummelig war und wir auch nicht mehr gleich groß waren. Mit meinen eins fünfundsechzig war ich nicht gerade klein, aber dieser Robbie war einen ganzen Kopf größer als ich, mindestens eins achtzig. Aus irgendeinem Grund fielen mir zuerst seine Klamotten auf. Sie waren so viel cooler als die verblichenen T-Shirts und schlecht sitzenden Hosen, die er in der Grundschule getragen hatte. Seine Jeans waren ein bisschen enger, als ich sie für ihn ausgesucht hätte, sahen aber trotzdem gut aus. Und seine Haare. Die gleichen Haare, die ich ihm abrasiert hatte, als wir neun waren, gingen ihm jetzt bis zum Kragen seines Shirts und waren pastellpink. Irgendwie passte das unheimlich gut zu seiner blassen Haut. Er sah damit nicht wie ein Clown aus, sondern es wirkte glamourös.

»Robbie?«, sagte ich. »Was machst du denn hier?«

Er schenkte mir ein breites Lächeln, bei dem tiefe Grübchen aufblitzten, und ich spürte, wie ich unfreiwillig Herzklopfen bekam. Es war das gleiche Lächeln, wegen dem sich Tausende Mädchen augenblicklich in ihn verliebten. Er streckte seine Hand aus. Darin befand sich eine einzelne Rose. »Ich bin hier, um mit dir zum Abschlussball zu gehen.«

4

Das konnte nur ein Traum sein. Robbie Choi stand nicht wirklich vor meiner Tür, um mit mir zum Abschlussball zu gehen.

Es war einfach ein zu großer Zufall. Gerade heute hatte ich an Robbie und den Abschlussball gedacht und jetzt stand er vor mir. Vielleicht behielt meine Halmeoni doch recht und wir besaßen telepathische Kräfte. Vielleicht waren wir sogar Hexen.

Doch wahrscheinlicher hatte all die Sorge um das Gemeinschaftszentrum dazu geführt, dass ich halluzinierte. Aber sogar als ich meine Augen so fest zudrückte, dass ich hinter meinen Lidern kleine Lichtexplosionen sehen konnte, und sie wieder öffnete, stand Robbie noch da.

»Lani?« Der Klang dieses Spitznamens riss mich in die Realität zurück. Nur Robbie hatte mich je so genannt.

»Robbie?« Ich konnte seinen Namen nur erstickt herauspressen.

»Also, krieg ich eine Antwort?«, fragte er mit einem Lächeln, das sein ohnehin schon bildschönes Gesicht noch schöner machte. Als ich immer noch nichts sagte, ließ es ein bisschen nach und er wirkte allmählich unsicher. Oh nein, warum brachte ich nur kein Wort heraus?

»Oder … kann ich wenigstens reinkommen?«, fragte er.