Onlinesüchtig? - Holger Feindel - E-Book

Onlinesüchtig? E-Book

Holger Feindel

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Beschreibung

Online spielen, surfen oder chatten - was wie ein Zeitvertreib oder ein Hobby beginnt, kann außer Kontrolle geraten. Wenn das ständige Onlinesein dazu führt, dass Menschen ihr reales Leben - Freunde, Arbeit, Schlaf und Ernährung - vernachlässigen, dann ist das Internet zu einem existenzbedrohenden Problem geworden. Holger Feindel beschreibt, wie man eine Onlinesucht von normalem Internetgebrauch abgrenzt, wer besonders gefährdet ist und welche Behandlung hilft. Mit vielen anschaulichen Fallbeispielen und konkreten Anregungen begleitet er Betroffene und Angehörige zurück auf den Weg ins Real Life.

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Cover

Haupttitel

Inhalt

Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Holger Feindel

Onlinesüchtig?

Patmos Verlag

Inhalt

Einleitung

Kapitel 1: Onlinesucht – Was ist das eigentlich?

Wie viel ist zu viel?

Körperliche Folgen

Soziale Folgen

Psychische Folgen

Unterscheidung von Realität und Virtualität

Medienkompetenz und Problembewusstsein

Kapitel 2: Verstehen, was bei einer Onlinesucht passiert

Einleitung

Was steckt hinter der Onlinesucht?

Warum gerade das Internet?

Kapitel 3: Nicht mehr hilflos daneben stehen – Was Sie als Angehöriger tun können

Einleitung

Was passiert da eigentlich im Internet?

Wie Sie wieder an sie/ihn herankommen

Wie Sie helfen können

Wo Sie selbst Hilfe bekommen

Kapitel 4: Zurück ins Real Life – Hilfe für Betroffene

Einleitung

Wie Sie feststellen, ob Sie wirklich eine Onlinesucht haben

Wie sieht es mit Ihrer Veränderungsmotivation aus?

… und was mache ich jetzt? Der Weg zurück ins Real Life

Weitere Informationen und Material

Weiterführende Literatur

Hilfreiche Adressen

Material zum Ausfüllen

Material 1

Material 2

Material 3

Material 4_1

Material 4_2

Material 5

Material 6

Material 7

Material 8

Material 9

Material 10

Material 11

Anmerkungen

Einleitung

»Können Sie sich vorstellen, einen Ratgeber für Onlinesüchtige zu schreiben?« Nach einem Fernsehbeitrag über unsere Klinik kam am nächsten Tag diese telefonische Anfrage. Mehrere hundert Patienten hatte ich bis dahin behandelt, über zehn Jahre Erfahrung habe ich mit diesem Krankheitsbild.

Trotzdem: Kann ich das?

Kann ich Menschen helfen, erste Schritte aus dem Problemverhalten herauszugehen, ohne sie vor mir zu sehen? Ohne die Hilfe einer Klinik im Rücken?

Kann ich Menschen helfen, das Problem frühzeitig zu erkennen?

Kann ich Angehörigen helfen, ein besseres Verständnis für die Betroffenen zu entwickeln?

Letztendlich habe ich mir diese Fragen mit Ja beantwortet. In all den Jahren habe ich unendlich viel von meinen Patienten gelernt. Sie ließen mich an ihren Gedanken und Gefühlen teilhaben. Ich konnte lernen, sie und ihre Faszination für die Onlinewelt zu verstehen. Ich sah auch ihr Leid und das ihrer Angehörigen.

Und diese Erfahrungen kann und will ich weitergeben!

Deshalb gilt mein Dank vor allem euch, liebe ehemalige Patienten: Ohne euch wäre dieses Buch nie möglich gewesen!

Weiter danke ich auch Heike Hermann, Dr. Petra Schuhler, Dr. Jörg Petry, Dr. Monika Vogelgesang, Dr. Thomas Brück, Manfred ­Gortner, Dr. Bernd Sobottka, Kristina Feindel, Jonah Feindel, Iris Bähr, Carolin Backes, Dörthe Enck, Ulrike Wenzel-Schütz für ihre Mithilfe und Unterstützung: Mentoren, Wegbegleiter, Inspirationsquellen, Helfer, die zur Entstehung dieses Buchs beigetragen haben.

Die im Buch aufgeführten Namen wurden natürlich verändert, die Inhalte ebenso, um konkrete Rückschlüsse auf einen bestimmten Patienten unmöglich zu machen. Für jedes Fallbeispiel aber, für jedes Zitat stand ein »echter« Patient Pate.

Lassen Sie mich noch eins betonen: Dieses Buch kann keine Therapie ersetzen! Wenn jemand wirklich eine Erkrankung entwickelt hat, dann braucht er medizinische Hilfe. Und Onlinesucht oder Pathologischer Internetgebrauch, wie wir wissenschaftlich korrekter sagen, ist eine Erkrankung! Eine Krankheit, die manchmal ambulant, nicht selten stationär behandelt werden sollte, am besten in einer Einrichtung mit einem spezialisierten Behandlungsangebot (ein bisschen Eigenwerbung muss auch sein). Nehmen Sie das Buch so, wie es gedacht ist: als Möglichkeit, ein besseres Verständnis für die Erkrankung zu entwickeln. Als Hilfestellung für Menschen, die sich noch im Anfangsstadium einer Onlinesucht befinden. Als Begleitung bei weiteren therapeutischen Schritten.

Und wenn der eine oder die andere es tatsächlich schafft, sich mit Hilfe dieses Buchs am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen, dann freut mich das natürlich umso mehr. Im Normalfall empfehle ich aber beim Vollbild der Erkrankung professionelle Hilfe. Und diese Empfehlung wird Ihnen an verschiedenen Stellen im Buch auch immer mal wieder begegnen.

Anmerkung: Zur besseren Lesbarkeit wird im Buch durchgängig der Begriff Onlinesucht verwendet, auch wenn er wissenschaftlich nicht ganz korrekt ist.

Kapitel 1: Onlinesucht – Was ist das eigentlich?

Onlinesucht

Internetsucht

Computerspielsucht

Rollenspielsucht

Chattsucht

Pathologischer (= krankhafter) Computergebrauch

Pathologischer PC-/Internetgebrauch

Dies sind viele verschiedene Begriffe, die alle dasselbe bedeuten: ­Jemand hat die Kontrolle über seinen Mediengebrauch verloren. ­Jemand verbringt viel zu viel Zeit in Onlinewelten und vernachlässigt darüber alles andere.

Aber: Wie viel ist denn nun zu viel?

Sind zwei Stunden am Tag schon zu viel? Sind mehr als drei Stunden am Tag immer krankhaft?

Kennen wir das nicht alle? Mal schnell noch an den Computer, weil man etwas nachsehen will … und eine Stunde später fragt man sich, wo nur die Zeit geblieben ist? Ist das jetzt schon ein Problem?

Besorgte Eltern fragen immer wieder:

»Wo ist denn nun die Grenze, wann ist es nicht mehr normal?«

Auf diese und viele weitere Fragen versuche ich, in diesem Kapitel eine Antwort zu geben. Soweit das möglich ist.

Wie viel ist zu viel?

Thorsten B. beginnt in der 6. Klasse damit, Computerspiele zu spielen, so wie die meisten Jungs in seiner Klasse. Er mag am liebsten Spiele, bei denen er über das Internet zusammen mit anderen spielt, sogenannte Multiplayer. Im Laufe der Jahre steigert sich sein PC-Gebrauch immer mehr, neben den Spielen chattet er auch viel. Spätestens in der 11. Klasse ist sein Gebrauch exzessiv, mehrere Stunden am Tag spielt und chattet er unter der Woche, am Wochenende noch mehr. Trotzdem schafft er noch knapp sein Abitur. In der Übergangszeit, bis sein duales Studium (Studium mit Praxisabschnitten in Unternehmen) beginnt, bleibt er bei den Eltern wohnen und spielt hemmungslos. Seine Eltern begrenzen ihn dabei nicht, lassen ihn völlig in Ruhe. In dieser Zeit wird er in seinem Hauptspiel sehr erfolgreich. Als er dann zum Studium in eine fremde Stadt zieht, fällt es ihm extrem schwer, sich aufzuraffen und zur Uni zu gehen. Das Spiel ist einfach zu faszinierend. Er geht selten zu Vorlesungen. Schließlich merkt er, dass er die Versäumnisse im Studium kaum noch aufholen kann, was dazu führt, dass er umso mehr spielt.

Am Ende verbringt er mehr als fünfzehn Stunden täglich am Computer. Wann immer er den Computer ausmacht, fühlt er sich traurig und verzweifelt, er sieht kaum noch eine Zukunftsperspektive für sich.

Thorsten in unserem Fallbeispiel verbringt mehr als fünfzehn Stunden täglich im Internet. Dass eine so exzessive Onlinenutzung nicht mehr mit einem »normalen Leben« vereinbar ist, leuchtet jedem ein.

Eine genaue Grenze, ab wann viel »zu viel« wird, ist aber sehr schwer, nein, unmöglich festzulegen. Hier müssen immer die Lebensumstände berücksichtigt werden.

Michael F. ist von Beruf »Systemadministrator«. Acht Stunden täglich sitzt er bei seinem Job vor einem Rechner und schlägt sich mit verschiedenen Problemstellungen herum. Allein beruflich kommt er damit auf 40 Stunden online pro Woche. Daneben ist der Computer aber auch sein Hobby. Er spielt ab und zu mal ein Spiel, am liebsten Point & Klick, und programmiert in seiner Freizeit gerne. Hierfür sitzt er auch am Samstag mal drei bis vier Stunden am Computer. Der Sonntag aber gehört ganz seiner Familie, seiner Frau und seinen beiden kleinen Töchtern. Dann machen sie Ausflüge, spielen Brettspiele, gammeln auch einfach mal vorm Fernseher rum. Dienstags und donnerstags abends geht er Fußball spielen in einer Freizeitmannschaft …

Michael verbringt alles in allem circa 50 Stunden in der Woche am Computer. Ist er deswegen onlinesüchtig?

30 bis 35 Stunden Mediengebrauch in der Woche halten Experten für nicht mehr mit einem »normalen Leben« vereinbar. 30 bis 35 Stunden, die nichts mit Schule oder Beruf zu tun haben. 30 bis 35 Stunden Freizeitaktivität im Internet also. Beruflich im Internet verbrachte Zeit darf hier natürlich nicht mitgezählt werden.

Der 23-jährige Thomas K. arbeitet als Geselle in einem Fliesenlegerbetrieb. Seine Arbeit macht ihm viel Spaß, er ist immer pünktlich und arbeitet zuverlässig. Abends nach der Arbeit chattet er in einem sozialen Netzwerk, spielt nebenher auch ein sogenanntes »Browsergame«, wenn niemand »on« ist. Zweimal wöchentlich geht er abends zum Volleyballtraining, dann sind es nur circa zwei Stunden am Computer, ansonsten verbringt er ungefähr vier Stunden im Netz. Am Wochenende, wenn er sonst nichts zu tun hat, chattet und spielt er tagsüber gute acht Stunden, manchmal unterbrochen von einem Spaziergang, einer kleinen Radtour oder einem Telefonat mit seinen Eltern. Samstags abends geht er regelmäßig mit Freunden aus, mal Essen oder in eine Kneipe, auch mal in die Disco. Zwar wünscht er sich langfristig eine Freundin, insgesamt ist er aber sehr zufrieden mit seinem Leben.

Thomas kommt auf wöchentlich über 30 Stunden Freizeitaktivität am Computer. Trotzdem scheinen daraus weder für ihn noch für andere negative Konsequenzen zu entstehen. Können wir dieses Verhalten als krankhaft bewerten? Ich meine nicht!

Frank F. ist ein 38-jähriger Familienvater. Seine Anstellung lastet ihn voll aus, meist macht er Überstunden und arbeitet zehn bis zwölf Stunden täglich. Wenn er abends nach Hause kommt, isst er kurz etwas und setzt sich dann direkt an den Computer. Er spielt ein Onlinerollenspiel, mit Begeisterung und Herzblut. Jeden Abend sitzt er drei Stunden am Computer, sonntags können es auch mal vier oder fünf sein. Seine Frau hat anfangs noch »gemeckert«, er könne doch mal wieder was mit ihr unternehmen oder wenigstens am gemeinschaftlichen Abendessen teilnehmen. Irgendwann hat sie aber aufgegeben. Immer wieder kommt es dazu, dass die noch kleinen Kinder ihren am Computer sitzenden Vater bitten: »Spiel doch noch etwas mit mir« oder: »Kannst du uns vorm Ins-Bett-Gehen noch was vorlesen?« Die Antwort ist immer die gleiche: »Jetzt nicht.« Der Ehefrau brennt sich vor allem eine Szene ein: Sie bittet ihren Mann, kurz auf die Kinder aufzupassen, während sie einkaufen geht. Als sie nach Hause kommt, hört sie schon an der Tür bitter­liches Weinen. Der Kleinste ist die Treppe runtergefallen, hat sich den Arm aufgeschrammt, die Schwester versucht verzweifelt das Kleinkind zu trösten. Von all dem hat ihr Mann nichts mitbekommen, zu versunken war er in seinem Spiel.

Als sie ihm schließlich eines Tages eröffnet, dass sie ihn verlassen wird, fällt er aus allen Wolken.

Frank F. spielt in der Woche klar unter 30 Stunden. Das ist im Vergleich noch relativ wenig. Patienten, die sich in Behandlung begeben, kommen im Durchschnitt auf 60 bis 70 Stunden pro Woche. Trotzdem ist sein Verhalten problematisch und löst ernsthafte Konflikte aus.

Mit diesen Beispielen will ich verdeutlichen, dass im Internet verbrachte Zeit alleine nicht aussagekräftig ist.

Ab wann ist denn Internetnutzung nun krankhaft?

Wie viel Schokolade genau am Tag erlaubt ist, bevor es gesundheitsschädlich ist, hat uns auch niemand beigebracht. Und tatsächlich gibt es auch keine »richtige« Antwort darauf. Es geht um gesunden Menschenverstand, darum, ein gesundes Mittelmaß zu finden.

Die grobe Richtlinie für den Mediengebrauch muss daher lauten:

⇒ Problematisch wird es da, wo mit ernsthaften Beeinträchtigungen zu rechnen ist, wo andere Lebensbereiche vernachlässigt werden, wo LEID entsteht!

Körperliche Folgen

Manuel A. spielt schon viele Jahre leidenschaftlich, aber zeitlich in Maßen offline Rollenspiele. Als er aber im Jahr 2005 ein Onlinerollenspiel beginnt, ufert dies aus, er spielt fast jede freie Minute. Im Spiel findet er Herausforderungen, die er im echten Leben nicht hat, hier erhält er Anerkennung, das Gefühl, gebraucht zu werden und kompetent zu sein. Als Folge kommt es zu Fehlzeiten bei seiner Arbeit, schließlich zum Arbeitsplatzverlust, auch seine langjährige Partnerin trennt sich von ihm.

Daraufhin zieht er sich fast vollständig ins Internet zurück. Aufgrund der ständig angespannten Haltung vor dem PC entwickelt er starke Rückenbeschwerden. Er macht sich kaum noch etwas »Ordentliches« zu essen, ernährt sich nur noch von Fast Food, vernachlässigt auch die Körperhygiene völlig. Von anfangs 70 Kilogramm nimmt er innerhalb von drei Jahren bis auf 130 Kilogramm zu.

Als er in unsere Klinik aufgenommen wird, ist er massiv übergewichtig. Er ist schon nach kurzer Wegstrecke kurzatmig und kaum körperlich belastbar. Auch belasten ihn Flüssigkeitseinlagerung sowie Hautveränderungen an den Unterschenkeln. Das Sehen ist schlechter geworden. Rückenschmerzen sind sein ständiger Begleiter. Das Blutbild zeigt stark erhöhte Fettwerte und Harnsäurewerte, ebenso sind die Blutdruckwerte erhöht.

Im Alter von zehn bekommt Richard seinen ersten Gameboy, mit elf Jahren sein erstes Handy. Mit der Zeit interessiert er sich sehr für Smartphones, schafft als Jugendlicher und junger Erwachsener auch mehrere an. Hierfür verschuldet er sich, hat schließlich keinerlei Übersicht mehr über seine Schulden, kann Produktneuerscheinungen kaum noch erwarten. Er verbringt täglich mindestens zehn Stunden mit Handys, meist mehr. Seine Gedanken sind fast immer beim Handy: Er spielt Spiele, surft im Internet, chattet, schaut Serien und liest mit dem Handy. Ohne geht es nicht mehr. Auf Rat einer Beratungsstelle hin versucht er, zwei Wochen auf sein Handy zu verzichten, hält aber nur zwei Tage durch. Er lässt sich nie wieder in dieser Beratungsstelle blicken. Erst circa eineinhalb Jahre später ist er erneut in der Lage, eine Beratungsstelle aufzusuchen, dann auch nur auf Druck seiner Eltern. Bei der Arbeit schließt er sich immer wieder für mehrere Stunden auf dem Klo ein, um sich dort in Ruhe mit dem Handy beschäftigen zu können. So verliert er einen Job nach dem anderen. Auch vernachlässigt er Beziehungen, hat schließlich keine Alltagsstrukturierung mehr und fühlt sich ohne sein Handy verlassen und einsam. Für ihn ist das Handy zu seinem Ein-und-Alles ­geworden.

Als Richard in unsere Klinik kommt, wird aufgrund zunehmender Schmerzen in den Daumen eine fachärztliche Untersuchung durchgeführt. Es zeigt sich, dass der erst 23-jährige Patient bereits Arthrose in beiden Daumengelenken hat.

Exzessiver Mediengebrauch kann zu vielen verschiedenen körperlichen Beschwerden führen. Ursachen hierfür sind mangelnde Bewegung, falsche Körperhaltung vor dem Computer, Fehlernährung. Viele essen nur noch, was schnell zuzubereiten oder sofort verfügbar ist: Fast Food oder Junkfood. Oft ist es auch einseitige Ernährung. Einer unserer Patienten berichtet, dass er sich über zwei Jahre nur von trockenem Brot und ab und zu von trockenen gekochten Nudeln ohne jede Sauce ernährt hat. Manche vernachlässigen die Ernährung so vollständig, dass sie stark abmagern. Die meisten werden aber übergewichtig. Durch die falsche Ernährung entstehen Fettstoffwechselstörungen.

Auch Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, Augenbeschwerden sind weitere Folgen des exzessiven Internetgebrauchs.

Als ich einen Vortrag vor Ärzten über das Thema halte und dabei ein Video zeige, bei dem Vielspieler beim Spielen gefilmt werden, kommt hinterher eine Augenärztin zu mir und sagt: »Der Mensch blinzelt normalerweise mehrmals in der Minute. Haben sie mal darauf geachtet, wie oft die jungen Menschen in Ihrem Video blinzeln? So gut wie gar nicht!« Und dann malt mir die Augenärztin ihre schlimmsten Fantasien aus, was das alles mit dem Auge macht … So schwer geschädigte Augen sehe ich bei unseren Patienten dann doch nicht. Aber es bleibt dabei: Es besteht die Gefahr, dass das Auge austrocknet und sich entzündet.

Sehr häufig wird auch die körperliche Hygiene vernachlässigt. Der »Avatar« (die Spielfigur im Internet) sieht topp aus, wird gehegt und gepflegt. Das reale Selbst aber ist ungewaschen und ungepflegt, war Jahre nicht beim Friseur.

Fabian F., ein 24-jähriger intelligenter durchaus gutaussehender sympathischer junger Mann, berichtet uns im Erstgespräch, dass er sich seit über zwei Jahren nicht mehr die Zähne geputzt hat.

»Es erschien mir nicht mehr wichtig, die Zeit war mir zu schade dafür. Ich bin ja eh nicht mehr rausgegangen!«

Einer unserer ersten Therapieerfolge ist, dass Fabian sich wieder morgens und abends die Zähne putzt. An einer zahnärztlichen Sanierung kommt er trotzdem nicht vorbei.

Vier Wochen nach seiner Entlassung aus der Klinik schickt er uns eine Mail, die uns sehr freut: Neben vielen anderen Erfolgen ist ihm auch die regelmäßige Zahnpflege weiter geglückt:

»Ich bin es mir wieder wert!«

Insbesondere am Anfang, wenn Schule, Ausbildung oder Beruf noch nicht aufgegeben wurden, wird versucht, dort Zeit abzuknapsen, wo es noch möglich erscheint: am Schlaf! Das führt natürlich immer mehr zu einem Schlafmangel, zu Unkonzentriertheit, auch Reizbarkeit.

Schließlich aber, wenn eh alles egal ist, geht der Tag-Nacht-Rhythmus völlig verloren:

«Manchmal war es zufällig wieder Tag, wenn ich wach war und Nacht, wenn ich geschlafen habe. Oft war es aber auch umgekehrt. Es hat einfach gar keine Rolle mehr gespielt.«

Körperliche Probleme bei exzessivem Internetgebrauch:

RückenschmerzenKopfschmerzenAugenbeschwerden (wie trockenes Auge)SehschwächeSchmerzen in den HandgelenkenSehnenscheidenentzündungenSchwielen an den HandballenDaumengelenksarthroseUnzureichende, ungesunde ErnährungAbmagerungÜbergewichtFettstoffwechselstörungen (zum Beispiel erhöhter Cholesterinwert)Weitere durch Fehlernährung hervorgerufene Blutbildveränderungen (zum Beispiel erhöhter Harnsäurewert)SchlafmangelKonzentrationsproblemeStörung des Tag-Nacht-Rhythmus

Soziale Folgen

Schon als Kind spielt Ferdinand M. regelmäßig Computerspiele. Mit dreizehn Jahren bekommt er seinen ersten eigenen PC, spielt teilweise bis tief in die Nacht hinein. Spätestens mit fünfzehn Jahren ist der PC sein vorrangiges Hobby. Ab sechzehn macht er die ersten Multiplayer- und Lan-Partyerfahrungen. Spätestens ab dem Alter von 21 Jahren sieht er selbst sein Verhalten als »süchtig« an. Ab da stellt er alle anderen Interessen deutlich hinter das PC-Spielen zurück. Er verliert vollständig das Interesse an seinem Studium, geht schließlich nicht mehr hin, spielt lieber online.

Dabei spielt er sehr viele unterschiedliche Spiele. Ein Spiel interessiert ihn so lange, bis er dieses erforscht, die Regeln und die Systematik verstanden hat. Dann wendet er sich einem neuen Spiel zu. Zuletzt spielt er über längere Zeit ein Onlinerollenspiel. Die durchschnittliche tägliche Spieldauer beträgt 14 bis 15, manchmal bis zu 22 Stunden an sieben Tagen in der Woche.

Seine Freunde melden sich anfangs noch regelmäßig bei ihm, wollen ihn mitnehmen zum Kegeln, zum Billardspielen, zum Sport. Er vertröstet sie, erzählt ihnen, dass er keine Zeit habe, das Spielen ist ihm einfach wichtiger. Irgendwann nimmt er die Anrufe nicht mehr entgegen, antwortet nicht mehr auf SMS. Nach einiger Zeit geben die Freunde auf, niemand ruft mehr an. Auch die weiter entfernt wohnende Familie hat kaum noch Kontakt zu ihm, die Wohnung verwahrlost zunehmend, alle Alltagsverpflichtungen werden als störend empfunden. Er öffnet keine Post mehr, bezahlt keine Rechnungen mehr. Als der Strom abgestellt wird, findet er eine schnelle Lösung, den Strom des Nachbarn »anzuzapfen«. Schließlich aber steht bei monatelangem Mietrückstand die Räumungsklage vor der Tür. Ferdinand landet zunächst einmal in der Obdachlosigkeit, und erst hier wird ihm klar, wie weit es inzwischen gekommen ist.

Wie im vorigen Abschnitt beschrieben, sind bei Onlinesüchtigen viele körperliche Beeinträchtigungen die Folge. Wenn man unsere Patienten aber fragt, was für sie das Schlimmste war, was letztendlich den Ausschlag für den Schritt in eine Therapie gegeben hat, dann nennen sie die sozialen Folgen.

Wie in unserem Fallbeispiel oben, beginnt es meistens mit einer Abnahme der »echten«, der »realweltlichen« Kontakte und mit einer Vernachlässigung der Hobbys und Interessen.

Es kommt zu einer zunehmenden Vereinsamung bis hin zu völliger Isolation. Wohlgemerkt: in der realen Welt. In der virtuellen Welt, im Spiel, im sozialen Netzwerk gibt es vielfältige Kontakte. Dort sind mehrere hundert »Freunde« keine Seltenheit.

Clara K. hat 141 Kontakte in ihrer Freundesliste bei einem sozialen Netzwerk. Mit den meisten davon steht sie in regem Austausch. Aus irgendeinem Grund, den sie selbst nicht mehr nachvollziehen kann, hat sie ein falsches Geburtsdatum angegeben, zwei Wochen nach ihrem wirklichen Geburtstag. In einem Jahr kommt es dazu, dass tatsächlich niemand ihr zu ihrem eigentlichen Geburtstag gratuliert. Selbst ihre Mutter hat inzwischen den Kontakt abgebrochen. Als dann zwei Wochen später über 120 Glückwünsche zu ihrem falschen Geburtstag online eintreffen, wird ihr mit einem Schlag klar, dass sie zu niemandem mehr Kontakt hat, der sie wirklich kennt. Noch am selben Tag sucht sie eine Suchtberatungsstelle auf. Dort bekommt sie den Rat, ihren Account bei dem Netzwerk zu löschen. Dies bringt sie aber zunächst nicht übers Herz, denn dann stände sie ganz ohne Kontakte da …

Dieser Schritt gelingt ihr erst einige Monate später in der stationären Therapie.

Trotz ausufernden Internetgebrauchs, versuchen viele Betroffene am Anfang, Schule, Ausbildung oder Beruf noch aufrechtzuerhalten. Irgendwann gelingt das aber nicht mehr. Die Noten werden schlechter. Die Hausaufgaben werden nicht mehr gemacht. Manche schlafen in der Schule ein oder sind übermüdet und unkonzentriert bei der Arbeit. Sie kommen zu spät, die Fehltage bei der Ausbildung häufen sich, am Anfang werden noch Krankschreibungen eingereicht (»Herr Doktor, mir ist so schlecht, ich konnte heute nicht auf die Arbeit gehen, können sie mich bitte krankschreiben?«), später wird das Fernbleiben nicht mehr entschuldigt. Schließlich kommt es zu einem Verlust von Ausbildung und Beruf, zu vorzeitigem Abgang von der Schule. Perspektivlosigkeit!

Auch der Haushalt wird vernachlässigt, Behördengänge unterlassen, Rechnungen nicht beachtet.

In der Regel kommt es früher oder später zu Auseinandersetzungen mit den Eltern oder Partnern. An ein gemeinsames Abendessen oder gemeinsame Unternehmungen ist schon lange nicht mehr zu denken. Eltern sind verzweifelt. Partner stehen mit gepackten Koffern an der Tür.

»Wenn du jetzt nichts änderst, bin ich weg!«

Manchmal ist das der Startschuss zur Veränderung. Manchmal geht es danach noch tiefer in die Isolation.

Soziale Probleme infolge des exzessiven Internetgebrauchs:

Sozialer RückzugZunehmende VereinsamungIsolationVernachlässigung von Hobbys und InteressenSinkende Leistungen / Fehler in Schule und BerufAbbruch der SchulausbildungVerlust von Ausbildungs- oder ArbeitsplatzStreit mit den AngehörigenVerlust des PartnersKontaktabbruch zu nahen AngehörigenVernachlässigung alltäglicher Pflichten wie Haushalt, BehördengängeUngeöffnete PostFinanzielle SchwierigkeitenWohnungsverlust

Psychische Folgen

Wer sich mehr und mehr in virtuelle Welten zurückzieht, verpasst Entwicklungsmöglichkeiten in der realen Welt. Patienten, die anfällig für einen exzessiven Mediengebrauch sind, haben nicht selten ein bestimmtes Profil. Oft haben sie eine Persönlichkeit, die eher durch Unsicherheit und Selbstzweifel geprägt ist (mehr hierzu im nächsten Kapitel: Verstehen, was bei einer Onlinesucht passiert, ab S. 27). Wenn Menschen mit solch einer Persönlichkeitsstruktur nun »gezwungen« sind, sich immer wieder mit anderen zu konfrontieren, sich immer wieder neuen sozialen Aufgaben zu stellen, dann haben sie die Chance, sich zu entwickeln, Unsicherheit und Selbstzweifel irgendwann hinter sich zu lassen.

Im Internet jedoch sind die sozialen Anforderungen ganz andere. Hier finden viele unsichere Menschen ein Angebot, das auf ihre Bedürfnisse genau zugeschnitten zu sein scheint. Sie können sich dort anders darstellen als im persönlichen Kontakt mit Menschen. Hier ist es ihnen möglich, »gefahrlos« zu anderen Kontakt aufzunehmen. Mit einem Sicherheitsnetz (ausführlich hierzu: Warum gerade das Internet?).