Opfer – Die Wahrnehmung von Krieg und Gewalt in der Moderne - Svenja Goltermann - E-Book

Opfer – Die Wahrnehmung von Krieg und Gewalt in der Moderne E-Book

Svenja Goltermann

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Beschreibung

Ein hochaktueller Essay über ein großes Menschheitsthema: Opfer von Krieg und Gewalt sind in den Medien allgegenwärtig, ob als Bilder von verstümmelten Soldaten, von verängstigten Kindern oder leidenden Zivilisten. Doch wer gilt eigentlich wann und warum als Opfer? Die Historikerin Svenja Goltermann erzählt, wie das Bild des Opfers, das wir heute kennen, sich erst seit dem 18. Jahrhundert herausgebildet hat: Mit den modernen Gesellschaften entstand das Bedürfnis, die Verluste zu zählen und die Toten zu identifizieren. Zugleich sollte der Krieg humanisiert, Kriegsversehrte sollten versorgt, Überlebende und Hinterbliebene entschädigt werden. So wurde der Begriff des Opfers nach und nach ausgeweitet, von Soldaten auf die zivile Bevölkerung, von körperlichen Verletzungen bis zur Anerkennung des Traumas als seelische Wunde. Wer jedoch als Opfer überhaupt benannt und anerkannt wird, war und ist eine Frage von Hierarchien und Macht – und damit ein eminent politisches Problem. Nominiert für den Bayerischen Buchpreis 2018.

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Seitenzahl: 422

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Prof. Dr. Svenja Goltermann

Opfer Die Wahrnehmung von Krieg und Gewalt in der Moderne

 

 

Über dieses Buch

 

 

Ein hochaktueller Essay über ein großes Menschheitsthema: Opfer von Krieg und Gewalt sind in den Medien allgegenwärtig, ob als Bilder von verstümmelten Soldaten, von verängstigten Kindern oder leidenden Zivilisten. Doch wer gilt eigentlich wann und warum als Opfer?

Die Historikerin Svenja Goltermann erzählt, wie das Bild des Opfers, das wir heute kennen, sich erst seit dem 18. Jahrhundert herausgebildet hat: Mit den modernen Gesellschaften entstand das Bedürfnis, die Verluste zu zählen und die Toten zu identifizieren. Zugleich sollte der Krieg humanisiert, Kriegsversehrte sollten versorgt, Überlebende und Hinterbliebene entschädigt werden. So wurde der Begriff des Opfers nach und nach ausgeweitet, von Soldaten auf die zivile Bevölkerung, von körperlichen Verletzungen bis zur Anerkennung des Traumas als seelische Wunde.

Wer jedoch als Opfer überhaupt benannt und anerkannt wird, war und ist eine Frage von Hierarchien und Macht – und damit ein eminent politisches Problem.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Svenja Goltermann, geboren 1965, ist Professorin für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich und Direktorin des dortigen »Zentrum Geschichte des Wissens«. Sie studierte in Konstanz und Bielefeld, habilitierte sich an der Universität Bremen und war Dozentin an der Universität Freiburg. Ihr Buch »Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg« erschien 2009 und wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem renommierten Historikerpreis (2008) und als Historisches Buch 2010 der Zeitschrift »Damals«. Sie ist Mitbegründerin der Online-Plattform www.geschichtedergegenwart.de.

Inhalt

[Widmung]

Einleitung

1. Erfassen, dokumentieren, identifizieren (1800–1914)

Staatlicher Pragmatismus und die behördliche Erfassung der Toten

Tote vermeiden: Hygiene und Statistik des Krieges

Veränderte Praktiken des Trauerns und die Identifizierung des Individuums

2. Völkerrechtliche Bestrebungen: Die »Zivilisierung« des Krieges (1864–1977)

Die Humanisierung des Krieges: Regulieren und experimentieren

Legitime und illegitime Gewalt

Spurensuche: Verstöße gegen das Kriegsvölkerrecht und die Entstehung von Ermittlungskommissionen

3. Geschädigte Körper und der Kampf um Anerkennung (1914–1945)

Die Medizin und das Heer der Überlebenden

Materielle Entschädigung und die symbolische Anerkennung des Opfers

4. Trauma und Moral (1945–2015)

Verschmähte Opfer: Die Viktimologie und die Entstehung der Opferrechte

Die Posttraumatische Belastungsstörung und die Konjunktur der Unschuld

Blockierte Geschichte(n)

Schluss

Dank

Quellen und Literatur

Archive

Gedruckte Quellen

Literatur

Abkürzungen

Register

Für Sylvia Sasse

Einleitung

Fünf Monate, drei Schauplätze. Der erste davon: ein Strand in der Türkei. Es war der 2. September 2015, der Todestag von Aylan Kurdi, eines Kindes, das auf der Flucht aus Syrien im Mittelmeer ertrank, weil das überfüllte Boot kenterte. Seit Monaten hörte man bereits von Flüchtlingen, die bei ihrer Überfahrt ums Leben kamen, und auch später noch sollte man von vielen weiteren hören, die auf ihrer Flucht ertranken oder auf andere Weise starben. Von ihnen erfährt man stets in Form von Zahlen. Die Nachricht von Aylans Tod hingegen ging um die Welt; fast jeder, der Anfang September 2015 eine Zeitung aufschlug oder die Nachrichten verfolgte, kannte den Namen des Dreijährigen. Und man hatte ein Bild von ihm, genauer gesagt: das Foto eines kleinen toten Körpers, der, mit einem roten T-Shirt und einer halblangen dunkelblauen Hose bekleidet, auf dem Bauch und mit dem Gesicht im Sand am Strand lag. In unzähligen Berichten war zu lesen, wie sehr das Foto bewegte, ja erschütterte. Denn es verwies unmittelbar darauf, so schien es, dass unzählige Flüchtlinge Opfer waren: Opfer islamistischer Gewaltexzesse, Opfer eines Bürgerkriegs, Opfer skrupelloser Schlepper oder einer verantwortungslosen Flüchtlingspolitik – das Verschulden wurde verschieden gesehen. In der Woge der Betroffenheit und der Forderungen nach Hilfe, der sich auch Regierungsvertreter in Europa nicht entziehen konnten, spielten diese Differenzen jedoch keine Rolle. Wenige Monate später jedoch war die Bestürzung über die Not, in der sich die Geflüchteten befanden, weithin gewichen – obwohl die Flüchtlingszahlen keineswegs gesunken waren. Vielerorts war die Stimmung sogar gekippt oder blieb ambivalent. Von Ayan, dessen Foto die Not der Flüchtlinge so greifbar hatte werden lassen, wie man zunächst hatte lesen können, war keine Rede mehr.

Ein zweiter Schauplatz: Dubai, am 17. Januar 2016. Muhammed bin Rashid Al Maktoum, Herrscher des Emirats Dubai und Premierminister der Vereinigten Arabischen Emirate, empfing an diesem Tag eine hochrangige Delegation der Vereinten Nationen, präsidiert von ihrem Generalsekretär Ban Ki-moon. Die Probleme, die in diesem Kreis erörtert wurden, waren international höchst relevant: Denn für die humanitäre Versorgung von Menschen, die aufgrund von Kriegen oder anderen Katastrophen in Not geraten waren, fehlten Milliarden. Die Expertengruppe der Vereinten Nationen lieferte dazu in einem Bericht genauere Daten: So sei zwar das Volumen der eingegangenen Mittel zwischen 2000 und 2015 von zwei auf fast 25 Milliarden Dollar pro Jahr angestiegen, hieß es dort, doch fehlten mittlerweile etwa 15 Milliarden US-Dollar pro Jahr, um die in Not geratenen Menschen unterstützen zu können. Die Zahl der Notleidenden war laut Bericht immens: Allein im Jahr 2014 seien täglich 42500 Menschen aufgrund von Gewalt und anderen Konflikten aus ihrer Heimat vertrieben worden; 53000 Menschen pro Tag hätten ihr Zuhause aufgrund von Naturkatastrophen verlassen müssen. Einschnitte in der Versorgung waren zu verzeichnen: Die Nahrungsmittelrationen für die 1,6 Millionen Flüchtlinge aus Syrien etwa hätten im Jahr 2015 reduziert werden müssen. Und auch andernorts ließ sich die humanitäre Unterstützung der Vereinten Nationen für in Not geratene Männer, Frauen und Kinder offenbar nicht mehr hinreichend aufrechterhalten.[1] Als Ban Ki-moon an diesem 17. Januar in Dubai vor die Presse trat, um die wichtigsten Ergebnisse des Berichts zu verkünden, sprach er angesichts der aktuellen Kriege und Notsituationen in der Welt bereits von einem »Zeitalter der Mega-Krisen«. Es sei damit zu rechnen, dass gegenwärtig und in Zukunft etwa 125 Millionen Menschen pro Jahr humanitäre Unterstützung benötigen würden. Das erforderliche Finanzvolumen, das der UN-Generalsekretär verkündete, war so hoch, dass es sogar der International Business Times eine Schlagzeile wert war: »World Needs $ 40 Billion a Year in Humanitarian Aid for Victims of Armed Conflicts, Natural Disasters«.

Ein dritter Schauplatz. Am 25. Januar 2016 wurde Dominic Ongwen dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag vorgeführt – Ongwen war der ehemalige Brigadekommandant der ugandischen Rebellenorganisation Lord’s Resistance Army (LRA), die sich unter der Führerschaft von Joseph Kony dem Ziel verschrieben hatte, einen christlich-theokratischen Gottesstaat zu errichten. Seit den 1980er Jahren terrorisierten die christlichen Fundamentalisten die Zivilbevölkerung. Schätzungsweise 100000 Tote haben sie mittlerweile zu verantworten, mindestens 50000 Kinder sind seither von ihnen verschleppt worden. Dominic Ongwen stand selber im Jahr 2002 an der Spitze eines solchen Terrorkommandos, das seinerzeit in Norduganda mehr als 2000 Menschen tötete. Seit 2005 war er deshalb offiziell zur Fahndung ausgeschrieben – wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der mittlerweile Vierzigjährige soll diese nicht nur angeordnet, sondern teilweise auch selbst ausgeführt haben. Konkret geht es um Mord, Verstümmelung, Sklaverei und Plünderungen, wie die Medien im Vorfeld des Prozessauftakts informierten. In der Neuen Zürcher Zeitung fiel sogar der Begriff »Massaker«, der eindeutig ein Verbrechen benennt.[2] Trotzdem wollte die Tageszeitung Ongwen nicht bloß als Täter charakterisieren; ihr Bericht erschien unter dem Titel »Opfer und Täter zugleich«. Dominic Ongwen war nämlich einst selbst von der LRA verschleppt worden; angeblich war er damals 13 Jahre alt. Von der LRA war er zum Soldaten ausgebildet worden, sie hatte ihn gezwungen, Kindersoldat zu sein. Sein Bruder forderte deshalb öffentlich, den jetzt Angeklagten zu begnadigen, weil er nicht ein Täter sei, sondern ein Opfer, das keine andere Wahl gehabt hätte. Zum Zeitpunkt, da dieses Buch erscheint, ist nicht abzusehen, ob der Internationale Strafgerichtshof dieses Argument in irgendeiner Weise aufgreifen wird. Die hiesige Berichterstattung über Kindersoldaten legt jedoch nahe, dass sich das Befremden darüber hierzulande in Grenzen hält. Kindersoldaten in Afrika gelten in Europa weithin als »Killer, die zuerst mal Opfer sind«.[3]

 

Drei verschiedene »Schauplätze«, in diversen Artikeln in den Massenmedien erwähnt, die auf unterschiedliche Weise über »Opfer« berichten. Man hätte an dieser Stelle andere Geschichten herausgreifen können, in denen jüngst von Menschen – Männern, Frauen oder Kindern – als »Opfern« die Rede war, weil sie entweder eines unnatürlichen Todes starben, physische Gewalt erlitten oder einer anderen massiven Belastung ausgesetzt waren. Man muss nach solchen Erzählungen nicht lange suchen: Erst kürzlich etwa konnte man über diverse Exhumierungen lesen, die dazu dienten, Tote aus längst vergangenen Kriegen oder aus Zeiten des Terrors namentlich zu identifizieren. Diese Leichen bezeichneten die Journalisten dabei stets als »Opfer« – ein Begriff also, der mittlerweile ein weites Dach für viele Tote abgibt: für ehemalige Republikaner in Spanien, von denen heute noch über 500000 als vermisst gelten; für Hunderttausende ehemaliger vietnamesischer Soldaten, die laut Regierungsbeschluss gefunden werden sollen, um sie endlich würdig bestatten zu können; für polnische Antikommunisten, die während des Stalinismus spurlos verschwanden und nun in Massengräbern aufgefunden werden. Und dann ist da noch der gesamte zivile Bereich: Über die Medien erfährt man von Frauen, Mädchen oder auch Jungen, die sexuelle Übergriffe erlitten haben oder sexuell missbraucht worden sind; von Menschen, die Psychoterror, Demütigungen und anderen Formen der Ausgrenzung am Arbeitsplatz oder in den Schulen ausgesetzt sind; von Menschen, die durch Verkehrsunfälle verletzt wurden oder an diesen starben; von Menschen, die den Lärm in den Straßen, die Geräusche von Windkrafträdern oder andere Belastungen aus ihrer Umwelt nicht mehr ertragen. Sie alle erscheinen heute in den Medien als »Opfer«, und sie sind bei weitem nicht die Einzigen.

Die eingangs skizzierten »Schauplätze« stehen mithin für ein Phänomen, das mittlerweile kaum mehr zu bestreiten ist: Opferzuschreibungen sind heute in einem Maße gängig und verbreitet, wie sich dies vor vier Jahrzehnten noch nicht beobachten ließ.[4] Diese Entwicklung wird nicht nur positiv gesehen, wobei die Kritik aus ganz unterschiedlicher Richtung kommt: von Menschen, die selber Gewalt erlitten haben und es leid sind, deshalb nur noch als Opfer angesehen zu werden; von Therapeuten, die in Ratgebern und Schulungskursen für das Konzept der »Resilienz« werben, das im Unterschied zur Opferhaltung Menschen dazu befähige, massive Belastungssituationen besser durchzustehen und schneller zu überwinden; von Kritikern des Wohlfahrts- und Sozialstaats, die gegen geltend gemachte Ansprüche von Geschädigten mobilisieren. Nicht zuletzt legt eine Reihe von Publikationen mittlerweile Zeugnis davon ab, dass diverse Autoren unter dem Eindruck sich multiplizierender Opferzuschreibungen ihrem Unmut an diesem Phänomen Luft machen müssen. An Polemik fehlt es dabei nicht. »Das Opfer ist der Held unserer Zeit«, konstatierte etwa Daniele Giglioli in seinem jüngst erschienenen Buch »Die Opferfalle«. Und provozierend heißt es darin weiter: »Opfer zu sein, verleiht Prestige, verschafft Aufmerksamkeit, verspricht und fördert Anerkennung, erzeugt machtvoll Identität, Anrecht, Selbstachtung. Es immunisiert gegen jegliche Kritik, garantiert eine über jeden vernünftigen Zweifel erhabene Unschuld. Wie könnte das Opfer schuldig, gar für etwas verantwortlich sein?«[5]

Das sind Übertreibungen mit einem wahren Kern. Denn zutreffend ist: Menschen, die sich als Opfer bezeichnen, sind nicht zwingend schwach; der Opferstatus kann eine ausgesprochen machtvolle Position sein. Ebenso stimmt es, dass Opferzuschreibungen und die Generierung von Aufmerksamkeit und Anerkennung eng zusammenhängen. Die Tatsache allein, dass Menschen in Not geraten sind, unterdrückt oder verfolgt werden, reicht dazu oft nicht aus. In der sogenannten westlichen Welt hat sich eine Aufmerksamkeitsökonomie herausgebildet, die eine Selbstbeschreibung als Opfer geradezu voraussetzt, damit die Leiden von Menschen Gehör finden.[6] Und zutreffend ist schließlich auch: Wenn Opferzuschreibungen stattfinden, geht es immer auch, ob implizit oder explizit, um die Frage, wer die Schuld für die geschehene Verletzung trägt. Opferzuschreibungen kreisen stets um das Problem der Verantwortung.

Ist das »Opfer« aber auch der »Held unserer Zeit«? Gewiss nicht. Selbst- und Fremdzuschreibungen als Opfer haben seit geraumer Zeit eine bemerkenswerte Konjunktur, das ist richtig. Doch Menschen, die reklamieren, ein Opfer geworden zu sein (oder dies von anderen behaupten), haben nichts, was sie auch nur in die Nähe eines Helden rücken würde. Der Opferstatus verweist auf das Passive; seine Anerkennung hängt davon ab, dass dem Geschädigten kein eigenes Zutun zugebilligt wird. Lediglich das Opfer, das für etwas erbracht wird – und zu dieser Kategorie gehört auch der Märtyrer –, ist gewissermaßen heldenfähig, weil es ein aktives Moment beinhaltet. Das kann sich auch auf Leiden beziehen. Denn Leiden können für etwas in Kauf genommen werden – aus religiösen oder politischen Gründen oder weil es gesellschaftlich erwartet wird. Allein in der europäischen Geschichte finden sich dazu bis weit in das 20. Jahrhundert hinein zahlreiche Beispiele: Noch während des Ersten Weltkriegs etwa erklärten deutsche Katholiken, das Sterben auf dem Schlachtfeld sei der Wille Gottes; französische Intellektuelle propagierten den Opfertod »pour la France et pour Dieu«.[7] Und selbst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lebte die Figur des heldenhaften Opfers fort: im Gedenken etwa an die französische Résistance oder die italienische Resistenza, in der Nachkriegs-Tschechoslowakei – und keineswegs nur dort – sogar in der offiziellen Erinnerung an die ermordeten Juden. In den dortigen jüdischen Gemeinden hob man deren Widerstand hervor, bezeichnete die Ermordeten gar offiziell als »Gefallene«, da sie eigentlich Kämpfer gegen die Nationalsozialisten gewesen seien. Entsprechend gedachte man ihrer als »Helden«.[8] Die ausschließliche Bezeichnung als Opfer war für viele der überlebenden Juden während des ersten Nachkriegsjahrzehnts mit der Vorstellung von Schande verknüpft. Ähnliches konnte man über Jahrzehnte in der sowjetischen und später russischen Erinnerungskultur in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg beobachten. Das Leitbild war das heroische Opfer, entsprechend gedachte man des aktiven Kämpfers.[9] Und für viele Menschen – vor allem in den asiatischen und afrikanischen Ländern – ist der Begriff des passiven Opfers als Kennzeichnung einer Person, insbesondere eines Mannes, auch heute noch problematisch, da er als Herabsetzung verstanden wird.

Wir haben es also während der letzten Jahrzehnte zwar mit einer rasanten Konjunktur von Opferzuschreibungen zu tun – und dies mutmaßlich in weiten Teilen der Welt.[10] Doch auch die genannten ›anderen Geschichten‹ über heroische Opfer dürfen nicht beiseitegeschoben werden. Denn sie erinnern uns daran, dass Tod und Leid in sehr unterschiedliche Deutungszusammenhänge eingeordnet werden können und diese historisch veränderbar sind.[11] Wer würde heute noch den heldenhaften Opfertod im Ersten Weltkrieg beschwören! Die Toten dieses Krieges werden in den westeuropäischen Staaten längst als dessen Opfer betrachtet. Ebenso ist es heute undenkbar, diejenigen, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden, nicht als Opfer einer verbrecherischen Politik oder eben als Opfer von Gewalt anzusehen – und zwar ohne dass diese Bezeichnung mit einem Stigma behaftet wäre. Heute mag uns das evident erscheinen. Allein die Tatsache dieses Interpretationswandels lässt aber erkennen, dass es bei Gewalt- und Leidenserfahrungen keinen Deutungsautomatismus gibt.

Historiker, die sich mit der Geschichte der Entschädigung beschäftigt haben, wissen das. Auf dem Feld der Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung blieb in den vergangenen fünf Jahrzehnten der Kreis der offiziell anerkannten Opfer alles andere als stabil: Homosexuelle und Zwangssterilisierte zählten lange Zeit gar nicht dazu, Sinti und Roma nur äußerst bedingt. Und all jenen ehemaligen NS-Verfolgten, die in Staaten lebten, mit denen die Bundesrepublik während des Kalten Krieges keine diplomatischen Beziehungen unterhielten, blieb eine offizielle Anerkennung als Opfer seinerzeit ohnehin verwehrt.[12] In der Zwischenzeit haben internationale Organisationen, darunter die Vereinten Nationen, zwar verschiedene Definitionen dazu vorgelegt, wer ein »Opfer« ist, und dabei ein ausnehmend breites Opferverständnis zugrunde gelegt.[13] Doch ist damit keineswegs eindeutig geklärt, wer als Opfer ein Anrecht auf Entschädigung hat.[14] Eher sind scharfe und anhaltende Auseinandersetzungen zu dieser Frage in verschiedenen post-diktatorischen und post-autoritären Staaten zu beobachten. Dazu zählen beispielsweise die Konflikte in Südafrika seit dem offiziellen Ende des Apartheidregimes. Die Opferdefinition der südafrikanischen Truth and Reconciliation Commission, die den Zugang zu Entschädigungsleistungen für Opfer des Apartheidregimes festschrieb, ist seit Mitte der 1990er Jahre von vielen ehemaligen Regiemegegnern als zu eng kritisiert worden. Ihre Proteste halten bis heute an.[15] Sie zeigen paradigmatisch: Opferzuschreibungen waren und sind ein politischer Streitpunkt. Wer offiziell als Opfer anerkannt wird, ist nach wie vor eine Frage der Machtkonstellation.

Es ist gut denkbar, dass sich die Struktur dieser Machtkonstellation gegenwärtig grundlegend verändert. Die sich ausbreitende, oft neoliberal gefärbte Kritik an der »Opferkultur« erweckt zumindest den Eindruck, dass die Konjunktur des Opfers bereits gekippt ist (mutmaßlich etwa in den USA) oder zu kippen beginnt, wie in weiten Teilen Westeuropas.[16] Das hätte nicht nur kulturelle und soziale Auswirkungen, sondern auch konkrete politische Konsequenzen. Das vorliegende Buch versteht sich deshalb als eine Intervention in einen Prozess und in eine Diskussion, die beide dringend der Reflexion bedürfen. Allerdings fokussiert es nicht auf die gegenwärtige Debatte über Opfer. Vielmehr ist es an der Zeit für eine historische Analyse, die danach fragt, wie es für Menschen und Gruppen überhaupt plausibel, vielleicht sogar nötig wurde, sich als Opfer zu beschreiben.

Dass dies alles andere als eine abwegige Frage ist, wird erst in der historischen Langzeitperspektive deutlich. Allein im 19. Jahrhundert – und zuvor allemal – lassen sich noch zahlreiche Beispiele dafür finden, dass Menschen innerhalb und außerhalb Europas massenhaft Not, Unterdrückung und Grausamkeiten erlitten, ohne dass sie deshalb als Opfer von Notlagen oder von illegitimen Zwangs- oder Gewaltsituationen bezeichnet worden wären. Die Vielzahl an Studien, die mittlerweile die Entstehung des modernen Humanitarismus seit dem Ende des 18. Jahrhunderts beleuchten, mag zwar auf den ersten Blick einen anderen Eindruck nahelegen. Immerhin stritten beispielsweise Abolitionisten seit Mitte des 18. Jahrhunderts leidenschaftlich und in wachsender Zahl für die Abschaffung der Sklaverei. Trotzdem lässt sich die Antisklaverei-Bewegung nicht einfach als Ausgangspunkt einer neuen humanitären Empfindsamkeit gegenüber menschlichem Leiden interpretieren und als Ausdruck wachsender Abscheu gegen Gewalt und Unterdrückung.[17] Die Antisklaverei-Bewegung war dafür viel zu disparat, ihre Interessen schwankend; vor allem aber tasteten die Abolitionisten die Vorstellung von der Überlegenheit der weißen »Rasse« und ihrem angeblichen Zivilisierungsauftrag in aller Regel nicht an. Entsprechend gingen auch die Kampagnen gegen die Sklaverei und die koloniale Inbesitznahme des afrikanischen Kontinents, die bekanntermaßen die Ausübung diverser Formen von Gewalt einschloss, nachgerade Hand in Hand.[18] Überhaupt eigneten sich europäische Siedler während des 19. Jahrhunderts Territorien und Besitz in diversen Teilen der nichteuropäischen Welt an, ohne vor Vertreibung und Zwangsdeportation indigener Gemeinschaften zurückzuschrecken.[19] Zehntausende von Indianern verloren ihre Lebensgrundlage, die Siedler ließen Abertausende jämmerlich sterben – und dies alles, ohne dass sich viele Europäer seinerzeit an diesem Leid gestört hätten.[20]

Doch auch auf dem europäischen Kontinent war es bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts alles andere als üblich, Menschen als Opfer von Gewalt, Katastrophen oder sonstigen Notsituationen zu bezeichnen. Man denke an dieser Stelle nur an die Hungernden im Europa des frühen 19. Jahrhunderts. Sie galten seinerzeit als Schande, Hunger als selbstverschuldet.[21] Die einen interpretierten den Hungertod als Strafe Gottes für begangene Sünden, andere folgten den Ideen des Ökonomen Thomas Robert Malthus, der im Rahmen seiner Bevölkerungstheorie davon ausging, dass jemandem, der nicht in der Lage sei, sich selbst und seine Familie zu ernähren, nicht geholfen werden dürfe.[22] Diese Stimmen verstummten selbst während der verheerenden Hungersnot nicht, die Irland infolge von Missernten zwischen 1846 und 1852 heimsuchte und über eine Million Iren – ein Zwölftel der irischen Bevölkerung – das Leben kostete.[23] Proteste gegen die Politik der britischen Regierung, die weiterhin Getreide aus Irland für den eigenen Verbrauch importierte, gab es zwar; ebenso blieben Spenden für die hungernden Iren – in beträchtlichem Maße aus dem Osmanischen Reich – keineswegs aus.[24] Doch die Annahme, dass Hungernde an ihrer Lage moralisch keine Schuld tragen, sondern Opfer einer Situation sind, die sie nicht beeinflussen können und die womöglich sogar andere zu verantworten haben, setzte sich erst seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in größerem Maßstab durch.[25] Das Erstarken einer organisierten Arbeiterbewegung war dafür sicherlich ein Grund. Doch wer erwartet, bereits im 19. die aus dem 20. Jahrhundert bekannte Formel vom Arbeiter als Opfer des Kapitalismus zu finden, wird sich enttäuscht sehen.[26] Für Karl Marx war das »Opfer« im so verstandenen Sinn kein systematischer Kampfbegriff.[27] Der Arbeiter, das Proletariat, war vielmehr aufgerufen, Opfer zu bringen. Das war das revolutionäre Pathos, und es blieb im kommunistischen und sozialistischen Lager bis ins 20. Jahrhundert hinein vernehmbar.[28] Der Kapitalismus, das Finanzkapital, machte demnach zwar Arbeiter zu Opfern – doch wurde ihnen zugleich das aktive Opfer des Klassenkampfes abverlangt.[29]

Und schließlich ist da noch das weite Feld der Kriege. Auch die Art des Sprechens über Menschen, die aufgrund von Kriegsgewalt ihr Leben verloren, hat sich im Lauf der letzten 200 Jahre grundlegend verändert. Im späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts wird man die Rede, Soldaten oder auch Zivilisten seien Opfer des Krieges geworden, kaum finden, obwohl es eine immense Zahl an Menschen gab, die durch Kriegsgewalt verletzt wurden oder ums Leben kamen. Viele mögen sich an dieser Stelle wundern. Das beträchtliche Leid, das mit den französischen Revolutionskriegen und den darauf folgenden Napoleonischen Kriegen zwischen 1792 und 1815 verbunden war, ist heute doch vielen präsent. Wissenschaftliche und populäre Darstellungen dieser Kriege und einzelner Schlachten, in denen insgesamt über vier Millionen Soldaten ihr Leben verloren, gibt es reichlich:[30] Leo Tolstois »Krieg und Frieden« etwa ist seit seiner Veröffentlichung im Jahr 1869 etliche Male verlegt und mehrfach verfilmt worden; auch Francisco de Goyas Radierungen aus dem Zyklus »Los Desastres de la Guerra« (»Die Schrecken des Krieges«), die überwiegend aus der Zeit des Spanischen Unabhängigkeitskrieges gegen Napoleon stammen (aber erst 1863 erschienen), sind vielen geläufig. Doch wer annimmt, diese Repräsentationen des Krieges stünden selbstredend für das zeitgenössische Anliegen, dezidiert Opfer des Krieges in den Blick zu rücken – und dies in kritischer Absicht –, erliegt seinen eigenen Phantasien darüber, wie die Auswirkungen von Kriegsgewalt auf Menschen interpretiert werden sollten. Mit der Sichtweise des 19. Jahrhunderts haben sie wenig zu tun. Zweifellos war auch in Tolstois Augen Krieg grauenvoll. Aber er war aus seiner Sicht eben auch etwas Unvermeidbares, »eine periodisch auftretende Seuche«, die selbst von größten Militärstrategen nicht beeinflusst werden konnte. Insofern ist »Krieg und Frieden« als eine Kritik an Napoleon und dessen maßloser Selbstüberschätzung zu lesen.[31] »Krieg und Frieden«, nach dem für Russland verlorenen Krimkrieg entstanden, zielte zudem darauf, die geschlagene Nation an ihre Erfolge im Krieg gegen Napoleon zu erinnern.[32] Tolstois Kriegsepos war nicht zuletzt deshalb keine grundsätzliche Infragestellung des Krieges. Eine solche gab es selbst bei jenen nicht, die sich während des 19. Jahrhunderts anschickten, den Krieg durch völkerrechtliche Regelungen zu »zivilisieren«.[33] Entsprechend schrieb Tolstoi zwar über »Opfer«, aber eben nur über das Opfer, das seine verschiedenen Protagonisten im Sinne eines schmerzvollen, doch unerlässlichen, notwendigen Verzichts in diesem Krieg zu erbringen hatten.[34]

Goyas Kriegsszenen sind nicht weniger komplex, wenn man diese Radierungen in ihren konkreten historischen und kunstgeschichtlichen Entstehungskontext einordnet. So stehen die grauenhaften Kriegsszenen, die Goya mit großer Eindringlichkeit ins Bild setzte, nicht einfach für das Schicksal einer Zivilbevölkerung, die passiv und unschuldig den Grausamkeiten des Krieges ausgesetzt war. Goyas Motiv war in diesem Fall nämlich ein ganz besonderes Kriegsgeschehen: Im Kampf gegen die napoleonischen Invasoren standen sich nicht mehr reguläre Armeen gegenüber. Vielmehr waren zahlreiche Bewohner Spaniens dem Aufruf gefolgt, zu den Waffen zu greifen und sich den napoleonischen Truppen in einem Partisanenkampf entgegenzustellen. Insofern malte sich Goya, der im Übrigen selber auf den Kriegsschauplätzen nicht zugegen war, buchstäblich die Schrecken eines Krieges aus, der über den konventionellen Krieg hinausging. Kunsthistoriker haben darauf hingewiesen, dass Goyas Darstellung des Partisanen dabei eine ambivalente Haltung gegenüber dieser Figur vermuten lässt – ein Schwanken zwischen Faszination und Erschrecken.[35] In jedem Fall aber war der Partisan als Motiv für Goya unter rein künstlerischen Gesichtspunkten attraktiv. Es diente ihm dazu, sich den gängigen Regeln der künstlerischen Konvention zu entziehen, denen er sich als Auftrags- und offizieller Hofmaler hatte unterwerfen müssen. In diesem Sinne waren »Los Desastres de la Guerra« vor allem ein Akt, durch den sich Goya einen ästhetischen »Freiraum des Irregulären« eroberte.[36]

An Goyas Bilderzyklus und Tolstois »Krieg und Frieden« zeigt sich damit paradigmatisch, wie verkürzt es wäre, in Repräsentationen des Leidens ausschließlich den Hinweis auf das unschuldige, passive Opfer zu sehen. Unser heute gängiges Opferverständnis lässt sich nicht einfach auf andere Epochen (oder auch ferne geographische Kontexte) übertragen. Es ist sogar problematisch, Leidende oder Getötete aus früheren Jahrhunderten auch nur als »Opfer von Gewalt« zu bezeichnen. Das ist keine Frage der bloßen sprachlichen Formulierung. Es geht vielmehr darum, dass das Sprechen über Menschen als Opfer von Krieg und Gewalt mit je spezifischen, historisch wandelbaren Vorstellungen darüber verbunden ist, auf welche Weise diese Menschen in Gewalthandlungen involviert waren, was diese Gewalterfahrung für Männer, Frauen, Kinder bedeutete und wie sie sich auf diese auswirkte, ja wie die Gewalt ihre Gefühle, womöglich sogar ihre weiteren Handlungen beeinflusste. Eine anthropologisch überzeitliche Bedeutung von Gewalt gibt es jedoch nicht. Gewalt muss historisiert werden, und nicht anders verhält es sich mit den Auswirkungen, die man ihr auf das menschliche Leben zuspricht. Dazu gehört auch die Zuschreibung, ein Opfer von Gewalt geworden zu sein. Dieses »Opfer« ist eine Figur, die historisch geworden ist, und sie hat einen historischen ›Ort‹. Dieser liegt, obschon die Figur des Opfers bereits seit der Aufklärung in verschiedenen Kontexten zu finden ist‚ vor allem im 20. und 21. Jahrhundert.

In diesem Buch wird der Geschichte dieser Figur im Sinne ihres Geworden-Seins nachgegangen, um eine Antwort auf die Frage zu finden, warum sich der Opferstatus bis in unsere Gegenwart hinein überhaupt zu einer solch verbreiteten und plausiblen Deutung entwickeln konnte. Allerdings finden Opferzuschreibungen heute in so vielen unterschiedlichen Erfahrungskontexten statt, dass eine thematische Fokussierung zwingend ist. Hier liegt sie auf dem Feld der Kriege – dies jedoch in der Annahme, dass die Figur des Kriegsopfers für Funktions- und Wahrnehmungsweisen des Opfers in der Moderne exemplarisch ist. Mein Erklärungsversuch muss dennoch zwangsläufig ein bescheidener sein; eine umfassende Geschichte des Opfers kann und soll hier nicht erzählt werden.

In konzeptioneller Hinsicht ist mein Ansatz allerdings wenig bescheiden. Denn ich gehe davon aus, dass die katastrophalen Weltkriege des 20. Jahrhunderts allein nicht hinreichend sind, um zu erklären, warum sich Opferzuschreibungen – selbst wenn man ausschließlich auf Kriege blickt – bis zur Jahrtausendwende in einem solchen Maße vervielfältigt haben. Auf der Grundlage von statistischem Datenmaterial zu Kriegen aus allen Epochen und Weltteilen ist jüngst gezeigt worden, dass es keineswegs einen Anstieg der Kriegsgewalt gab, wenn man diese »anhand der Bevölkerungsanteile misst, die am Krieg teilnahmen und in ihm getötet oder verletzt wurden«.[37] Dass diese Daten nicht ganz unproblematisch sind, wird im ersten Kapitel noch deutlich werden. Doch selbst wenn man von Schätzungen ausgeht, liefern sie ein starkes Argument dafür, dass sich keineswegs aus der Größenordnung der Getöteten und Verletzten allein eine besondere Aufmerksamkeit für Menschen ableiten lässt, die Gewalt erlitten haben.

Ich plädiere deshalb dafür, das Phänomen der zunehmenden Opferzuschreibungen, das sich nicht nur auf die Toten, sondern längst auch auf die Lebenden bezieht, neu zu denken, nämlich als die Geschichte einer Wahrnehmungsverschiebung. Um diese zu rekonstruieren, wird im Folgenden ein langer Zeitraum in den Blick genommen, und zwar vom späten 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart hinein. Geographisch liegt der Fokus auf Europa. Damit wird nicht irgendein Ursprung behauptet, an dem sich bereits das heutige Verständnis vom Kriegsopfer finden ließe. Vielmehr geht es um eine Genealogie des passiven Kriegsopfers. Das bedeutet vor allem, einige der wesentlichen Bedingungen für historische Prozesse freizulegen, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Figur und spezifische Wahrnehmungen des Opfers hervorbrachten. Die Blickrichtung unterscheidet sich damit grundlegend von der vieler anderer Studien über Opfer von Krieg und Gewalt, die meist um vergangenheitspolitische Auseinandersetzungen oder das Phänomen der Erinnerung kreisen. Ich setze perspektivisch gewissermaßen früher an, indem ich nach den Vorbedingungen frage, die der Erinnerung von Menschen als Opfer und vergangenheitspolitischen Auseinandersetzungen vorausgehen.

Dabei kommt der Kategorie des »Wissens« eine wichtige Rolle zu. Eine meiner zentralen Thesen lautet, dass die heutige Aufmerksamkeit gegenüber Opfern von Gewalt, auch die Selbstbeschreibung als Opfer, an die Produktion, Verbreitung und Durchsetzung von Wissen gebunden war und ist, darunter vor allem ein juristisches und medizinisches Wissen. Hinweise darauf liefern Studien aus ganz unterschiedlichen Bereichen: etwa zur Geschichte der »Viktimologie«, ursprünglich ein Forschungszweig der Kriminologie, der nach 1945 entstand und seither die Vorstellungen vom »Verbrechensopfer« mehrfach veränderte;[38] oder Untersuchungen zum Konzept des psychischen Traumas, das seit den 1970er Jahren die Wahrnehmung von Leiden erheblich verändert und beträchtlich dazu beigetragen hat, Opferzuschreibungen in Bezug auf (Über-)Lebende zu entstigmatisieren.[39]

Die Kategorie »Wissen« in dieser Weise ernst zu nehmen hat freilich Konsequenzen: Denn »Wissen« ist nicht statisch. »Wissen« hat stets eine Geschichte – und mit ihm die Körper und Psychen, die es hervorbringt und aus denen es hervorgeht. Folgt man diesem Argument, verabschiedet man sich von einem überzeitlichen, essentialistischen Verständnis des »Opfers«. Damit wird keineswegs in Abrede gestellt, dass Menschen Schmerzen empfinden, wenn ihre Körper oder Psychen verletzt werden. Aber es bedeutet, dass körperliche und seelische Leiden in unterschiedliche Deutungszusammenhänge eingeordnet werden können – Deutungszusammenhänge, die sich historisch verändern.

Ich insistiere daher in diesem Buch auf der Historizität von Opfern.[40] In diesem Sinne begreife ich die Figur des Opfers konsequent als das Resultat von historisch veränderbaren Fremd- und Selbstzuschreibungen, die wiederum auf ein spezifisches Wissen Bezug nehmen. Damit ist es auch möglich, den geographischen Schwerpunkt auf Europa zu richten, ohne eurozentrisch zu sein. Der eurozentrische Charakter dieses Zuschreibungsprozesses sollte in dem Buch allerdings deutlich werden.

Die vier Kapitel dieses Buches kreisen um vier paradigmatische Umbrüche, die Voraussetzungen dafür waren, dass sich im Bereich der Kriege ein spezifisches Deutungswissen herausbildete, welches wiederum die Selbst- und Fremdwahrnehmung als Opfer hervorgebracht hat. Das erste Kapitel setzt ein bei den Ansprüchen und Praktiken des Erfassens, Dokumentierens und Identifizierens, die sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts auf den Feldern der Bürokratie, des Rechts und der Medizin entwickelten. Das zweite Kapitel handelt von den Bemühungen um eine »Zivilisierung« des Krieges, die im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzten; das dritte Kapitel wiederum widmet sich den mit dem Ersten Weltkrieg einsetzenden Ausdehnungen und Ausdifferenzierungen von Sozialleistungen. Das vierte Kapitel schließlich befasst sich mit den Effekten des Trauma-Konzepts seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, die weitreichend waren und weiterhin sind: Sie berühren unsere Vorstellung davon, welche Belastungen Menschen zu ertragen in der Lage sind, und sie haben unsere Vorstellungen davon verändert, was Gewalt überhaupt bedeutet und einschließt.

Für die Geschichte der Opferwahrnehmung sind all diese historischen Stufen zentral. Allerdings verlief diese Geschichte weder linear, noch kann sie als eine reine Fortschrittsgeschichte erzählt werden. Zwar war – und ist – die Geschichte des Opfers mit humanitären Anliegen verbunden; sie war – und ist – aber ebenso eine Geschichte der Gewaltlegitimation, und sie ist auf komplexe Weise mit einer Geschichte der Macht verknüpft. Die Figur des passiven Opfers ist insofern ambivalent. Das sichtbar zu machen ist mir ein wichtiges Anliegen. Das Buch steuert damit ein historisches Reflexionswissen über ein Phänomen bei, dessen Zukunft gegenwärtig neu verhandelt wird.

1.Erfassen, dokumentieren, identifizieren (1800–1914)

»C G1 A 38-05« lautet die Signatur einer Akte, die zu einem riesigen Bestand an Akten zum Ersten Weltkrieg und den unmittelbaren Nachkriegsjahren gehört und im Archiv des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in Genf lagert.[1] Ihre Kombination von Buchstaben und Zahlen ist ein Signifikant für Ordnung – einer Ordnungsstruktur im Archiv selbst, aber auch eines Versuchs, ein historisches Ereignis, eine historische Entwicklung zu ordnen: den Ersten Weltkrieg. Dennoch ist die Akte C G1 A 38-05 selbst eine Ansammlung von losen Fragmenten, die in den Jahren zwischen 1915 und 1919 entstanden. Zu ihr gehören einzelne, überwiegend unzusammenhängende Briefe staatlicher und privater Institutionen aus Frankreich, Großbritannien und Deutschland, die sich um Totenlisten verstorbener Soldaten drehen, um Gräberlisten und Grabfotografien, die entweder aus dem Westen oder Osten Europas erbeten wurden oder bereits verschickt worden waren. Dann wiederum stößt man in der Akte auf Zeitungsartikel – Berichte über ehrenhafte Beisetzungen, neu errichtete Friedhöfe für britische, US-amerikanische, französische und deutsche Soldaten oder über Kriegerdenkmäler für Soldaten aus Neuseeland und Australien, die an der Westfront ihr Leben verloren. Auch zwei Fotoalben liegen bei, sorgfältig bestückt mit Aufnahmen von Soldatengräbern, im einen Album deutsche, im anderen englische. Einige dieser Gräber sind erkennbar noch in der Landschaft verstreut, andere bereits auf Friedhöfen angelegt und prächtig dekoriert. Zwischen den Seiten sind Zeichnungen eingeklebt. Es sind Pläne von Friedhofsanlagen, jedes einzelne Grab ist darin ordentlich ausgewiesen und mit einer Nummer versehen. Beigeordnet ist eine einzelne, leicht vergilbte Karte. Irgendjemand hat irgendwann ein Stück des Frontverlaufs zwischen deutschen und französischen Truppen nachgezeichnet; kleine darauf vermerkte Kreuze verweisen auf Gräber, die meisten von ihnen sind mit einer Zahl versehen.

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Soldatengräber des Ersten Weltkriegs[2]

Ein paar Dokumente später sticht ein Artikel heraus, der im Frühjahr 1919 erschien. Er zeigt das Modell eines Klapprahmens aus Karton. Der Begleittext informiert, dass ein solcher Rahmen künftig an alle US-amerikanischen Familien geschickt werde, die einen Angehörigen als Soldat an der Westfront verloren haben. Auf der linken Innenseite sollen Name, Rang und Einsatzort des Gefallenen eingetragen, auf der rechten das Foto seines Grabes eingeklebt werden. Die Aufnahmen würden vom Amerikanischen Roten Kreuz gemacht, das auf Bitten des US-amerikanischen Kriegsministeriums die Aufgabe übernommen habe, jedes bereits identifizierte Grab eines in Frankreich gefallenen US-amerikanischen Soldaten zu fotografieren. Die fotografische Arbeit sei bereits beschleunigt worden, heißt es. Von jetzt an sei mit etwa 7000 Fotografien monatlich zu rechnen.

Briefe, Zeitungsausschnitte, Fotografien, Karten, vom Archiv sortiert – ein Ordnungsversuch. Tatsächlich ist die thematische Schnittstelle unschwer zu erkennen: Ihr Gegenstand ist der im Ausland verstorbene Soldat, seine Grabstätte, die Suche nach ihr. Und dennoch sind diese Dokumente, die selber selten untereinander verknüpft sind, nur versprengte Teile einer ehemaligen Informationsmaschinerie. Sie deuten auf die beträchtlichen Bemühungen hin, die während des Ersten Weltkriegs von verschiedenen Seiten in verschiedenen Ländern unternommen wurden, um die im Einsatz verstorbenen Soldaten zu ermitteln, ihre Gräber zu finden, sie auf Friedhöfe umzubetten und die Angehörigen über den genauen Ort dieser fernen letzten Ruhestätte zu informieren. Sie verweisen auf gewaltige Anstrengungen, die aufgewandt wurden, um nach Möglichkeit jeden einzelnen Toten (oder was von ihm übrig geblieben war) zu identifizieren. Während des Ersten Weltkriegs ging es damit theoretisch um mehr als neun Millionen Soldaten, von denen der weitaus größte Teil auf dem europäischen Kontinent ums Leben gekommen war.[3] Die in der Akte C G1 A 38-05 enthaltenen Dokumente sind damit in erster Linie Überreste eines gigantischen Versuchs, bereits während des Krieges, vor allem aber im Gefolge dieses millionenfachen Gemetzels wieder eine Ordnung herzustellen. Und sie verweisen dabei in erster Linie auf eines: das unvorstellbare Chaos des Todes.

Heute existieren umfassende elektronische Datenbanken, meist angelegt von Organisationen der Kriegsgräberfürsorge, die es Privatpersonen ermöglichen, über das Internet direkt nach Kriegstoten (überwiegend Soldaten) zu suchen und den genauen Ort ihres Grabes oder einer Erinnerungsstätte, die ihren Namen trägt, zu ermitteln.[4] Die Zahl ihrer Einträge geht bereits in die Millionen: die Commonwealth War Graves Commission spricht für die beiden Weltkriege zusammen von mehr als 1,7 Millionen Einträgen, der Volksbund deutsche Kriegsgräberfürsorge von über 4,7 Millionen. Dabei gelten die konkreten Such-, Exhumierungs- und Identifizierungsarbeiten noch nicht einmal als abgeschlossen, vor allem nicht in Osteuropa. Allein der Volksbund hat in dieser Region seit 1991 mehr als 850000 begrabene Kriegstote ausfindig gemacht und umgebettet.[5] Der Kalte Krieg, der die notwendigen bilateralen Abkommen erheblich erschwerte, musste dafür erst zu Ende gehen.

Diese Aktivitäten sind Teil einer umfangreichen Erinnerungsarbeit, die von der Kriegsgräberfürsorge im Auftrag ihrer Regierungen gepflegt wird. Sie stehen aber auch für den Anspruch, dass Staaten in der Lage sein müssen, über den Verbleib ihrer Soldaten Rechenschaft abzulegen und die Familien über den Tod ihrer Angehörigen zu informieren. Auf internationaler Ebene herrscht darüber zumindest theoretisch ein Konsens. Darauf drängte jedenfalls die Generalversammlung der Vereinten Nationen, als sie 1974 in ihrer Resolution 3320 festhielt, der »Wunsch«, das Schicksal von im Krieg vermissten Angehörigen zu kennen, sei ein »menschliches Grundbedürfnis«.[6] Im Jahr 1977 wurde dies mit Artikel 32 des Zusatzprotokolls I zu den Genfer Abkommen von 1949 noch deutlicher formuliert: Er unterstrich nicht mehr den »Wunsch«, sondern sprach bereits von einem »Recht der Familien (…), das Schicksal ihrer Angehörigen zu erfahren«.[7] Mittlerweile ist dieses »Recht«, das sich seinerzeit lediglich auf Informationen über den Verbleib von Soldaten in zwischenstaatlichen Kriegen bezog, sogar noch erweitert worden: Unter dem Stichwort »Recht auf Wahrheit« erstreckt sich der Informationsanspruch seit einigen Jahren auch darauf, ob der Vermisste oder Tote – Zivilisten eingeschlossen – »Opfer« eines Kriegs- oder Menschenrechtsverbrechens geworden ist.[8]

Diese Ansprüche und Normen sind jedoch ein relativ junges Phänomen. Noch im 19. Jahrhundert zeigt sich in Europa und den USA ein ganz anderes Bild: So blieben die Körper von toten Soldaten während des Amerikanischen Bürgerkriegs oft auf Schlachtfeldern liegen, von Plünderern gefleddert und den Tieren überlassen; andere verschwanden namenlos in eilig ausgehobenen Massengräbern.[9] In den von Europäern auf ihrem eigenen und anderen Kontinenten geführten Kriegen sah es bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein nicht anders aus.[10]

Eine grundlegende Änderung dieser Situation zeigten erst Repräsentationen des Todes an, die im Kontext des Ersten Weltkriegs in bislang unbekannter Dimension oder überhaupt erstmals entstanden: die riesigen Soldatenfriedhöfe, die teilweise Tausende von namentlich gekennzeichneten Einzelgräbern umfassten (sofern es sich nicht um Kolonialsoldaten handelte);[11] die Monumente mit ihren langen, eingravierten Namenslisten all jener Soldaten, deren sterbliche Überreste nicht identifiziert werden konnten; schließlich die großen Nationaldenkmäler, Grabmäler des »Unbekannten Soldaten«, die in London, Paris, Belgien und den USA, in Italien und Griechenland, Österreich, Ungarn, der ehemaligen Tschechoslowakei, Rumänien und Jugoslawien errichtet wurden.[12] Darin zeigt sich deutlich das Interesse der jeweiligen Regierungen, öffentlich ihren Anspruch zum Ausdruck zu bringen, nicht nur jeden toten Soldaten namentlich zu erwähnen, sondern auch ihre Leichen zu identifizieren, um jeden einzelnen Toten unter Nennung seines Namens – und damit als Person erkennbar – zu bestatten.

Der Ausgangspunkt für diese Ansprüche war jedoch nicht der Erste Weltkrieg. Ihre Geschichte beginnt früher, teilweise geht sie bis ins späte 18. Jahrhundert zurück. Dabei handelt es sich um eine komplexe Geschichte der Produktion und Verbreitung von Wissen, die um die Herausbildung von Praktiken des Erfassens, des Dokumentierens und des Identifizierens von Kriegstoten kreist. Diese konzentrierten sich während des 19. Jahrhunderts ausschließlich auf die toten Soldaten,[13] vorangetrieben wurden sie von unterschiedlichen Akteuren mit durchaus disparaten Interessen und Bedürfnissen. Dazu gehörten vor allem der Staat und die Bürokratie, Ärzte und sozialreformerische Philanthropen sowie die Angehörigen der im Dienst stehenden Soldaten. Die Geschichte dieser Praktiken ist mit verschiedenen Kontexten verflochten: Sie gehören zu einer Geschichte des entstehenden Rechts- und Wohlfahrtsstaates, aber auch der Bürokratisierung, der Demokratisierung und des Humanitarismus sowie zu einer Geschichte des Todes. Die Praktiken des Erfassens, des Dokumentierens und des Identifizierens erzeugten dabei keineswegs automatisch die Wahrnehmung, dass es sich bei den getöteten Soldaten um Opfer von Kriegen handelte. Sie waren jedoch eine der zentralen Möglichkeitsbedingungen für die Ausbreitung eines Opferdiskurses, mit dem wir bis heute konfrontiert sind.

Staatlicher Pragmatismus und die behördliche Erfassung der Toten

Wann Staaten in Europa ein Interesse daran entwickelten, die Zahl ihrer Kriegstoten zu erfassen, lässt sich nicht genau rekonstruieren. Für Italien, England und Frankreich gibt es Hinweise aus dem 14. und 15. Jahrhundert. Allerdings beschränkte sich die Obrigkeit seinerzeit darauf, die Zählung der gefallenen Adligen anzuordnen, um sie nach ihrem Tod für ihren ritterlichen Einsatz im Kampf zu preisen. Eine genaue Zählung aller Kriegstoten war für Staaten lange Zeit von untergeordneter Bedeutung.[1]

Das ist weniger erstaunlich, als es zunächst den Anschein hat. Immerhin hat selbst ein so unscheinbares Phänomen wie das Interesse an der Zahl eine Geschichte, wie Studien zur Entstehung der Statistik und eines an Zahlen orientierten Tatsachenverständnisses bereits vor einigen Jahren gezeigt haben.[2] Zählen ist kein ›natürlicher‹ Vorgang der Wirklichkeitserfassung, auch nicht wenn es um das Zählen von Menschen geht. Entsprechend sind aus der Frühen Neuzeit zwar einzelne, anlassbezogene und lokal begrenzte Zählungen von Toten – wie etwa zur Kontrolle der Pestepidemien[3] – oder auch von Lebenden bekannt. Man kennt sie meist aus Städten, und das seit dem 15. Jahrhundert.[4] Doch obwohl Städte bereits zu Beginn der Neuzeit die administrative Kompetenz besaßen, häufigere und auch vollständige Zählungen ihrer Einwohnerschaft durchzuführen, taten sie es bis ins 18. Jahrhundert zumeist nicht. Die Vorstellung, dass sämtliche Bewohner einer Stadt oder gar eines Landes als Einheit konzipiert werden könnten, um sie ohne Berücksichtigung des Standes oder des Geschlechts zu zählen und als Zahl zu ›bearbeiten‹, bildete sich während der Frühen Neuzeit erst allmählich heraus.[5]

Dafür war wesentlich, dass Zahlen im 17. Jahrhundert überhaupt zu einem »Fakt« wurden, dem verschiedene Akteure, darunter auch der Staat, zuschrieben, mehr als nur eine zusammenhangslose Einzelbeobachtung zu sein. In England wurde dieser Prozess seit dem 17. Jahrhundert durch die Entstehung der politischen Arithmetik vorangetrieben; in Schweden, den deutschen Staaten oder auch Frankreich entwickelten sich diverse statistische Verfahren, die zunehmend Verwendung fanden. Der frühneuzeitliche Staat, der seine Regierungs- und Verwaltungsinstanzen immer weiter ausbaute, griff vermehrt auf diese Instrumentarien zurück, um das neu entstehende Objekt, die »Bevölkerung« des eigenen politischen Raums, präziser als zuvor erfassen und steuern zu können. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten sich in Europa die Quantifizierung und die moderne Statistik als Mittel, die Bevölkerung zu beschreiben und zu kontrollieren, dann umfassend durchgesetzt. Von nun an wurden Zahlen als Grundlagen für politische Entscheidungen herangezogen.[6] Bereits im Verlauf des Jahrhunderts nährte das Zutrauen in das statistische Denken sogar die noch viel weitreichendere Annahme, Statistik sei »die in exakten Zahlen ausgedrückte Erfahrung«.[7]

Dieses steigende Interesse an der Zahl, durch das diverse Expertengruppen, etwa aus der Ökonomie oder dem Gesundheitswesen, für den Staat wichtig wurden, schloss die Erfassung von Toten mit ein – im Wesentlichen aber nur, sofern dadurch Aussagen über die gesundheitliche Gefährdung der Lebenden zu gewinnen waren. Das Interesse des Staates an der Zahl orientierte sich an den Lebenden und ihrer Bedeutung als staatlicher Ressource.[8] Die Kriegstoten fielen mehrheitlich nicht unter diese Kategorie, erst recht nicht die toten Soldaten, die in der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft für den Staat nicht einmal einen Wert als symbolische Ressource besaßen. Denn die frühneuzeitlichen Armeen bestanden überwiegend aus Söldnern, die fern der eigenen Landesgrenzen rekrutiert wurden. Sofern die finanziellen Mittel vorhanden waren, ließen sich Verluste relativ leicht ausgleichen. Es gab daher zwischen der eigenen Bevölkerungszahl und der militärischen Stärke keinen engen Zusammenhang, der es erfordert hätte, ein besonderes Auge auf die Mortalitätsraten in der Armee zu werfen.[9]

Nichts deutet darauf hin, dass die Wehrpflicht an sich, von Frankreich 1793, von Preußen 1803 und von Bayern 1805 im Kontext der Revolutions- und Befreiungskriege erstmals eingeführt, an dieser Situation etwas geändert hätte. Die später vielbeschworene »Nation in Waffen« war jedenfalls nicht der Ausgangspunkt für ein vermehrtes Interesse des Staates, seine toten Soldaten zählen zu lassen. Die Wehrpflicht beförderte zwar das Interesse an der Quantifizierung, zunächst allerdings vor allem, um die Wehrtauglichkeit in der gesamten Bevölkerung zu berechnen. Die Herausbildung der Militärstatistik während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist in diesem Kontext zu sehen.[10] Ansonsten aber führte die Wehrpflicht für die Staaten zunächst einmal zu einem komfortablen Rekrutierungspotential, das den tatsächlichen Bedarf der Armee überstieg. Daher konnten wohlhabende Staatsbürger sowohl in Frankreich als auch in den deutschen Ländern sich selbst oder ihre Söhne vom Wehrdienst freikaufen.[11] Und aus demselben Grund strich man die Namen der Soldaten, die sich nach Schlachten nicht wieder einfanden oder an Krankheiten starben, einfach aus den Bestandslisten der Truppen. Man zählte die Verbliebenen, um zu bemessen, wie groß die Verluste waren, die wieder ausgeglichen werden mussten.

Trotzdem zeigte der Staat seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in einigen westeuropäischen Ländern zunehmend ein Interesse daran, exaktere Daten über tote Soldaten zu erhalten. Mit einer Wertschätzung des Menschenlebens an sich hatte dies allerdings nichts zu tun. Ebenso wenig stand dahinter das humanitäre Bedürfnis, die Angehörigen eines Soldaten direkt über seinen Tod zu informieren. Derartige moralische Gründe waren für den Staat bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhundert kaum relevant. Der Grund war ein anderer: Im Kontext der Revolutions- und Befreiungskriege sahen sich Regierungen aufgefordert, in die materielle und symbolische Bewältigung der Kriegsfolgen einzugreifen, namentlich durch Veränderungen im Erbrecht, im Bereich der Fürsorgeleistungen für Hinterbliebene und in der Praxis des öffentlichen Gedenkens. Allerdings handelte es sich dabei noch nicht um eine generelle Entwicklung, sondern um situative und auf einzelne Länder begrenzte Maßnahmen, die während des 19. Jahrhunderts variantenreich in anderen Ländern wiederkehrten. Dies führte aber durchaus dazu, dass die Bürokratie des sich herausbildenden Rechts- und Verwaltungsstaates die Namen der verstorbenen Soldaten zuverlässiger als bislang erfassen musste.[12]

Im Falle Großbritanniens lässt sich genau datieren, wann dieser Punkt erreicht war. Die befehlshabenden Offiziere erhielten dort im Jahr 1797 die Anweisung, die Namen aller Kriegstoten an das Kriegsministerium zu übermitteln, denn die Regierung sah sich genötigt, die Versorgung für die Hinterbliebenen ihrer Matrosen und Soldaten zu verbessern. Die gestiegene finanzielle Belastung der Gemeinden, die darauf zurückzuführen war, dass durch den Krieg immer mehr Familien verarmt waren, spielte dabei eine gewisse Rolle. Mehr noch fiel aber ins Gewicht, dass Großbritannien im Krieg gegen Frankreich einen beispiellosen Rekrutierungsbedarf hatte, den es nicht decken konnte. Hunderttausende mussten zusätzlich als Soldaten gewonnen werden.[13] In Anbetracht der miserablen Bedingungen bei der Armee und der Flotte fanden sich jedoch bei weitem nicht genügend Männer bereit, dort ein Leben lang Dienst zu tun. In der zurückliegenden Zeit hatte die Regierung solche Defizite noch mit Hilfe von Zwangsrekrutierungen ausgeglichen. Da die bürgerlichen Rechte jedoch zunehmend in den Fokus öffentlicher Debatten gerückt waren und sich ihr gesellschaftlicher Stellenwert verschoben hatte, war dieses Instrument problematisch geworden. Die Regierung konnte ihr Problem unter diesen Bedingungen nur lösen, indem sie neue Anreize schuf. Sie verkürzte die Dienstzeiten und verbesserte die Bezahlung. Vor allem ergriff der Staat Maßnahmen, die den Soldaten und Matrosen eine bessere materielle Unterstützung ihrer Familien während ihrer Abwesenheit oder im Todesfall ermöglichten.[14]

Auch andere Länder West- und Mitteleuropas, wie Frankreich, Preußen, Württemberg oder Baden, drehten an der Schraube für die Hinterbliebenenversorgung. Sie verbesserten die rudimentär vorhandenen Unterstützungsleistungen für Angehörige von Offizieren und weiteten diese teilweise auf die Hinterbliebenen der Mannschaftssoldaten aus.[15] Frankreich ging dabei sicherlich am weitesten, doch wurden sowohl der Kreis der Begünstigten als auch die Höhe der Zuwendungen mehrfach geändert. So entschied die französische Regierung im Jahr 1803, nur noch denjenigen Witwen eine Pension zukommen zu lassen, deren Männer während einer Schlacht gefallen oder innerhalb von sechs Monaten ihren Kriegswunden erlegen waren. Da die meisten Soldaten an Krankheiten starben, war der größte Teil der Hinterbliebenen damit nicht mehr antragsberechtigt.[16] In anderen Ländern handelte es sich in der Regel ohnehin nur um einmalig gezahlte Leistungen, selbst wenn es um die Hinterbliebenen der Offiziere ging. Preußen beispielsweise billigte diesen lediglich ein sogenanntes Gnadengehalt zu, was bedeutete, dass das Gehalt des Verstorbenen noch einen Monat nach dessen Ableben von seiner Familie bezogen werden konnte. Eine analoge Regelung für drei Monate gab es in Baden unter dem treffenden Namen »Sterbequartal«. Unterstützungsleistungen für die Hinterbliebenen der ›einfachen‹ Soldaten gab es ebenfalls, sie bemaßen sich allerdings an deren deutlich geringerem Sold.[17]

Die staatlichen Eingriffe in das Militärversorgungs- und Fürsorgewesen brachten den meisten Hinterbliebenen allenfalls eine geringfügige Entlastung. Trotzdem war für viele von ihnen erstmals eine Situation geschaffen, in der sie überhaupt ein Gesuch auf eine Fürsorgeleistung stellen konnten. Mehr als ein erster, ja dürftiger Schritt vonseiten des Staates, um Witwen und Waisen verstorbener Soldaten vor existentieller Not zu bewahren, war zum Auftakt des 19. Jahrhunderts aber nicht getan. Tatsächlich mussten mehr als hundert Jahre vergehen, bis die meisten Länder in Europa die Hinterbliebenenversorgung ihrer Soldaten auf einigermaßen solide Füße stellten. Substantielle Änderungen erfolgten im Grunde erst im Kontext des Ersten Weltkriegs.

Dieser Entwicklung mussten einschneidende Veränderungen vorausgehen. Die zentrale Frage, die sich über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg stellte, blieb zunächst nämlich, ob die nominell Antragsberechtigten überhaupt davon erfuhren, dass ihr im Dienst der Armee oder der Flotte stehender Ehemann, Sohn, Bruder oder Vater irgendwo in der Ferne ums Leben gekommen war. Angesichts der Tatsache, dass heute Zahlen über die Toten der Revolutions- und Napoleonischen Kriege genannt werden, die als plausibel gelten, gerät das leicht außer Acht. Allein Großbritannien verzeichnete nach 22 Jahren Krieg etwa 315000 tote Soldaten und Matrosen,[18] in der Französischen Armee sollen mehr als 900000 Männer ums Leben gekommen sein.[19] Mindestens weitere 3,5 Millionen tote Soldaten verteilten sich auf andere Länder, die an diesen Kriegen beteiligt gewesen waren – so heißt es. Doch der weitaus größte Teil dieser Männer galt lediglich als »vermisst«: Niemand hatte sie als Tote gesehen oder ihren Tod offiziell bescheinigt.[20] Vor allem aber fehlte es an institutionalisierten Strukturen, welche die Weitergabe einer Todesnachricht an die Angehörigen hätten gewährleisten können. In Russland gab es sie offenbar gar nicht.[21] In den west- und mitteleuropäischen Ländern sah es nur wenig besser aus. Preußen sah zumindest vor, die Namen der verstorbenen Soldaten vorübergehend durch einen Aushang in den Städten und Dörfern bekanntzumachen. Strenggenommen war dies ein verwaltungstechnischer Akt. Er tat der Verordnung Genüge, dass es den Angehörigen nach dem offiziell bestätigten Tod des Soldaten während einer Frist von vier Wochen möglich sein sollte, ihren Anspruch auf die einmalige Zahlung des Gnadengehalts geltend zu machen.[22] Wie viele Namen von verstorbenen Soldaten seinerzeit jedoch überhaupt bei den zuständigen Behörden eingingen, lässt sich bislang nicht einmal annähernd genau abschätzen.

Die Maschinerie zur Beschaffung von Informationen über tote Soldaten war dennoch um 1800 in einer ganzen Reihe von Ländern in Gang gekommen. Wurden die Maßnahmen ausgeweitet, wie etwa in Großbritannien, generierten sie einen zusätzlichen Bedarf an Daten. So hatte die britische Regierung ihre Offiziere zunächst nur angewiesen, die Namen der verstorbenen Soldaten an das Kriegsministerium zu übermitteln. Als die Regierung zwölf Jahre später, im Jahr 1809, ein neues Verfahren einführte, das Hinterbliebenen nun tatsächlich auch die Möglichkeit bot, um die Überlassung der Habe des Verstorbenen zu ersuchen, benötigten die Behörden umfassendere Angaben. Daher waren die Offiziere nun gehalten, die Behörden darüber zu informieren, wie hoch die Schulden des Soldaten waren und wie umfangreich sein Vermögen; außerdem mussten die genauen Todesumstände mitgeteilt und die Person angegeben werden, die der Soldat als nächsten Angehörigen genannt hatte.[23]

Ähnliche Anforderungen bekamen die Lazarette zu spüren, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts zur wichtigsten Instanz der Informationserfassung über den Verbleib von Soldaten avancieren sollten. Offizielle Verordnungen aus der Zeit der Koalitionskriege leiteten diese Entwicklung ein. Sie verlangten von den Lazaretten, die Angaben über die Verstorbenen weitaus umfassender festzuhalten, als es bisher in den Totenbüchern üblich gewesen war. Diese waren bis dato nur die Grundlage, um die sogenannte Lazarettökonomie zu berechnen, und ein Mittel, um die Arbeit der Feldschere zu überprüfen.[24] Der neue Bedarf an Information, der zur Regulierung der Hinterlassenschaften nötig geworden war, erweiterte den epistemischen Status dieser Listen, erforderte damit aber auch umfassendere und andere Daten über die Toten. Die neuen Verordnungen machten darüber genaue Vorschriften, vom vollständigen Namen über den Geburtsort, den letzten Dienstgrad und die genauen Umstände des Todes bis hin zu Angaben über die Habseligkeiten, die der Verstorbene bei seiner Ankunft im Lazarett besessen und eventuell mit ins Grab genommen hatte. All das war nun eigens auf einem Totenschein festzuhalten, »auf einem halben Bogen ausgefertigt«. Die Verwendung eines gedruckten Formulars, das den Lazaretten dafür an die Hand gegeben wurde, sollte sicherstellen, dass »eine völlige Gleichheit hierbei stattfinde und die Schreiberei vermieden werde«.[25] Damit die Angaben durch die Behörden effizient weiterverarbeitet werden konnten, waren Lesbarkeit und Übersichtlichkeit, insbesondere aber auch selektierte Informationen erforderlich. Das institutionelle Bedürfnis war mithin ausschlaggebend dafür, welche Angaben über den verstorbenen Soldaten als bedeutungsvoll erachtet und für wert befunden wurden, als Information weitergegeben zu werden.

Die einmal angekurbelten staatlichen Maßnahmen im Bereich der Hinterbliebenenversorgung, die Erbfragen und Eigentumsregelungen berührten und Zivilstandsklärungen eine zusätzliche Dringlichkeit verliehen, blieben nicht ohne Einfluss darauf, wie Informationen über verstorbene Soldaten gesichert wurden. Allerdings ließ sich die Erfassung dieser Informationen allein auf der Grundlage von neuen Dekreten und Formularen noch lange nicht erfolgreich durchsetzen. Tatsächlich handelte es sich um einen langwierigen, zähen Prozess. Die Versorgung der staatlichen Behörden mit den notwendigen Personendaten funktionierte vorerst nirgendwo so, wie es die Vorschriften verlangten. Die britischen Offiziere etwa machten ihre Angaben oft nicht sorgfältig genug, sofern sie überhaupt Berichte schickten.[26]