Optimismus und Overkill - Hans Frey - E-Book

Optimismus und Overkill E-Book

Hans Frey

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Beschreibung

Im dritten Band seiner Reihe entfaltet Laßwitz-Preisträger Hans Frey das widersprüchliche Panorama der SF in der jungen Bundesrepublik (1945-1968). Wie gewohnt bettet er plausibel, sachkundig und spannend-unterhaltsam den Neustart des Genres in den ebenso fortschrittsgläubigen wie angstbesetzten Zeitgeist ein. Die Transformation des alten deutschen Zukunftsromans, die Fandom-Entstehung, der starke angloamerikanische Einfluss und sich verändernde Medien gaben der West-SF eine vitale Dynamik. Vertieft wird das Bild durch eine Fülle wiederentdeckter SF-Originaltexte und zahlreiche Portraits der "Macher". Oft trashig, aber auch anspruchsvoll verwandelte die zeitgenössische SF das Atomthema, den Kalten Krieg, die beginnende Weltraumfahrt u.v.a.m. in wirkmächtige Mythen der Moderne. Heftserien wie UTOPIA, TERRA und PERRY RHODAN, wichtige Verlage und SF-Neuland stehen neben der SF-affinen Mainstreamliteratur. Viele seltene Abbildungen und ein ausführliches Literatur- und Stichwortverzeichnis ergänzen das Werk. Optimismus und Overkill ist ein wichtiges Literaturkompendium.

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Hans Frey

Optimismus und Overkill

© 2021 by Hans Frey (Text)

Mit freundlicher Genehmigung des Autors

© dieser Ausgabe 2021 by Memoranda Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Redaktion: Hardy Kettlitz

Korrektur: Christian Winkelmann

Gestaltung: s.BENeš [http://benswerk.com]

Memoranda Verlag

Hardy Kettlitz

Ilsenhof 12 | 12053 Berlin

Kontakt: [email protected]

www.memoranda.eu

www.facebook.com/MemorandaVerlag

ISBN: 978-3-948616-56-4 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-948616-57-1 (E-Book)

Danksagung

Für Anregungen, Ergänzungen, Tipps und Korrekturen danke ich Uwe Anton, Klaus Bollhöfener, Kurt Denkena, Prof. Dr. Rainer Eisfeld, Prof. Dr. Hans Esselborn, Klaus N. Frick, Christian Hoffmann, Dieter von Reeken, Hermann Ritter, Dr. Jürgen vom Scheidt und Heinrich Stöllner. Mein besonderer Dank gilt Hans-Ulrich Böttcher, Dr.-Ing. Wolfgang Both, Horst Illmer, Klaus Scheffler und Hermann Urbanek für ihr zusätzliches Engagement. Ganz besonders danke ich Udo Klotz für seine großartige Unterstützung. Wie immer ist es mein Verleger Hardy Kettlitz, dem ich für seine freundliche und kompetente Begleitung Dank schulde. Sollte es dennoch Fehler, Mängel u. Ä. im Text geben, so sind sie ausschließlich mir zuzuschreiben.

Hans Frey

Gruß von W. Ernsting (Clark Darlton) an den Autor im April 1966 (siehe auch 6.2.)

Legende

Da im Buch einige Sekundärwerke häufig zitiert werden, wurde zur besseren Lesbarkeit die Quelle mit einem Kürzel gekennzeichnet. Zitate im Text sind mit dem jeweiligen Kürzel versehen.

AA Hans Frey, Aufbruch in den Abgrund. Deutsche Science Fiction zwischen Demokratie und Diktatur. Von Weimar bis zum Ende der Nazidiktatur 1918–1945, Memoranda, Berlin 2020

E Rainer Eisfeld, Die Zukunft in der Tasche. Science Fiction und SF-Fandom in der Bundesrepublik – Die Pionierjahre 1955–1960, Dieter von Reeken, durchgesehene Neuauflage, Lüneburg 2012

FF Hans Frey, Fortschritt und Fiasko. Die ersten 100 Jahre der deutschen Science Fiction. Vom Vormärz bis zum Ende des Kaiserreichs 1810–1918, Memoranda, Berlin 2018

G1 Heinz J. Galle, Wie die Science Fiction Deutschland eroberte. Erinnerungen an die miterlebte Vergangenheit der Zukunft, Dieter von Reeken, Lüneburg 2017

G2 Heinz J. Galle, Volksbücher und Heftromane – Band 1. Der Boom nach 1945. Von Billy Jenkins bis Perry Rhodan, Dieter von Reeken, überarbeitete Neuausgabe, Lüneburg 2018

G3 Heinz J. Galle, Fehlstart ins Atomzeitalter, Dieter von Reeken, Lüneburg 2013

S Heinrich Stöllner, Die Zukunft von Gestern. Science-Fiction-Serien in den Utopia- und Terra-Reihen der 1950er bis 1980er Jahre, Dieter von Reeken, Lüneburg 2019

Vorwort

Mit OptimismusundOverkill liegt nach Fortschritt und Fiasko (Kürzel FF) und Aufbruch in den Abgrund (Kürzel AA) der dritte Band meiner Literaturgeschichte der deutschen Science Fiction vor. Er umfasst den Zeitraum von 1945 bis 1968. Auch hier der Hinweis: die Kenntnis der beiden Vorgängerbände ist für das Verständnis des Buchs nicht unbedingt erforderlich, aber durchaus hilfreich und empfehlenswert.

Zur Methodik

Vorab eine notwendige methodische Bemerkung. Die Unterscheidung zwischen bewusst politisch-ideologischer und einer in erster Linie an der Unterhaltung orientierten SF, die für das Kaiserreich und die Weimarer Republik von hoher Relevanz ist, gilt in der BRD nicht mehr. Sie galt schon bei den Nazis nicht mehr, allerdings aus einem grundsätzlich anderen Grund. In der Hitler-Diktatur gab es keinerlei Meinungsfreiheit. Hier existierte nur eine einzige, alleingültige Ideologie, die ständig bestätigt werden musste. (Das sah dann in der DDR ähnlich aus, ohne einer unzulässigen Gleichsetzung mit den Nazis das Wort reden zu wollen.)

In der BRD gab es wieder freie Medien von rechts bis links, in denen im Prinzip alles gesagt werden konnte, was man für mitteilenswert hielt. Indes hatte sich in der SF die Vorstellung desavouiert, das Genre zur Vermittlung politischer Ideologien zu benutzen. Selbst bei SF-Texten der 1970er-Jahre, die sich bewusst politisch links aufstellten, gibt es keine Beispiele, die mit propagandistischen SF-Hetzschriften zwischen 1890 und 1945 vergleichbar wären. Generell gilt: Die SF der Bundesrepublik enthält von ihren Anfängen bis heute durchaus politisch-ideologische Akzente, Positionen und Appelle (wie das bei jeder Belletristik der Fall ist), von einer ausgewiesenen polemisch-agitatorischen Polit-Literatur als Waffe, wie es sie im »alten« Deutschland auch im Gewand der SF gegeben hat, kann nicht gesprochen werden.

Ein Ausreißer hat die Sachlage (wenn auch nur bedingt) verändert. Der 1992 gegründete HJB-Verlag (d. i. der Verleger Hansjoachim Bernt) wartete mit einer durchaus respektablen und erfolgreichen Neuauflage von Kurt Brands REN DHARK-Serie im Hardcover-Format auf. Allerdings kam es im Anschluss bei neuen Projekten zu diversen Misserfolgen. Offensichtlich wollte sich Bernt neu orientieren. 2007 rief er den Unitall Verlag ins Leben, der seinen Sitz in der Schweiz (!) hat. Damit war ein Abdriften nach rechts außen verbunden. Es ist mehr als zu vermuten, dass das gesamte Manöver dazu diente, rechtsradikale SF wie die Reihen KAISERFRONT, STAHLGEWITTER, STAHLFRONT und ALTERNATIVER BEOBACHTER zu veröffentlichen. Entweder hängt man selbst diesen abstrusen Anschauungen an, oder man ist skrupellos genug, vom aufkeimenden Rechtsextremismus profitieren zu wollen. Wahrscheinlich stimmt beides. Kurt Brand, wenn er es denn wüsste, würde sich im Grab umdrehen (siehe auch Emanuell Möbius, »Wacker an die ›Stahlfront‹«, in: SPIEGEL KULTUR, 12.6.2009).

Nichtsdestotrotz bin ich immer noch der Meinung, dass sich für die bisherige und hoffentlich auch zukünftige BRD-SF aufgrund fehlender Relevanz die Unterscheidung zwischen einer bewusst missionarischen, politisch radikalen Kampf-SF und einer Unterhaltungs-SF, die sich eher nebenbei an Weltanschauungsfragen abarbeitet, erübrigt. Das beinhaltet selbstverständlich, dass in den zu rezensierenden Texten entsprechende Implikationen offengelegt werden, sollten sie denn vorhanden sein.

Zur Literaturauswahl

Noch ein grundsätzliches Wort zur ausgewählten Primärliteratur. Man muss sich vor Augen halten, dass in den 1950er-Jahren ein kleiner, ab den 1960er-Jahren ein großer Boom der westdeutschen SF stattfand, der sich bis in die 80er hinein fortsetzte. Tausende von Titeln überschwemmten den Markt. Selbst wenn man sich auf deutschsprachige Autoren/innen begrenzt, was für eine Literaturgeschichte der deutschen SF legitim ist, verbleibt eine kaum überschaubare Zahl von diesbezüglichen Produkten. Sie sind in Form und Gehalt höchst durchmischt. Vieles ist Dutzendware im Sinne unorigineller Wiederholungen, und vieles entspricht nicht ansatzweise literarischen Ansprüchen. Daneben gibt es interessante, wichtige bis großartige Werke der ersten zwei Jahrzehnte der westdeutschen Nachkriegs-SF, auch wenn sie rar gesät sind.

Um das Buch überschaubar zu halten, musste ich rigoros selektieren. Es werden deshalb nur Werke präsentiert, die in ihrer Art zeittypisch und/oder für die deutsche Genreentwicklung relevant sind. Das schließt mäßige bis schlechte SF ein, weil diese nun einmal zum Bild der westlichen Nachkriegs-SF gehört. Andererseits hebe ich Romane und Geschichten hervor, die nicht nur meiner Meinung nach für die frühe BRD-SF einen wichtigen bis bedeutenden Stellenwert haben. Bei allem bleibt im Vorgehen eine gewisse Subjektivität, die ich nicht abstreite. Das ist mir bewusst. Ich hoffe aber, einer möglichen Willkür durch nachvollziehbare Maßstäbe Einhalt geboten zu haben. Die DDR-SF wird in einem eigenen Band abgehandelt.

Hans Frey, im Februar 2021

ERSTER TEIL: Neubeginn der westdeutschen SF (1945 bis 1960)

I. Zeitzeichen

1. Geschichtlicher Überblick 1945 bis 1960

1.1. Zeittafel

Die Zeittafel bezieht sich hauptsächlich auf die Geschichte der Bundesrepublik. Die Geschichte der DDR wird in einem Folgeband dargestellt.

1945

Am 8. Mai wird die bedingungslose Kapitulation Deutschlands rechtswirksam. Damit sind offiziell der Zweite Weltkrieg wie auch die Herrschaft der Nazis beendet. Ein alliierter Kontrollrat übernimmt die Regierungsgewalt. Das verbliebene deutsche Staatsgebiet wird in eine sowjetische, eine britische, eine US-amerikanische und eine französische Zone aufgeteilt (Berliner Vier-Mächte-Erklärung). Im November beginnen die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse gegen 24 Hauptangeklagte.

1946

In der sog. Ostzone wird die SPD auf Druck der Sowjets mit der KPD zwangsvereinigt. Die neue Partei heißt Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED). 1946 und 1947 entstehen aufgrund des föderalen Gedankens in den drei Westzonen die Bundesländer. Sie haben Staatscharakter und verfügen somit über eigene Regierungen und Parlamente. In der sowjetischen Besatzungszone werden ebenfalls fünf Länder gegründet, die aber keine Teilsouveränität besitzen, sondern als Verwaltungsbezirke für einen künftigen Zentralstaat fungieren sollen. Ausnahme ist Berlin, da die Stadt unter der Kontrolle aller vier Siegermächte steht (Viermächtestatus).

1947

Der US-Außenminister George C. Marshall initiiert ein wirtschaftliches Wiederaufbauprogramm für Westdeutschland und Westeuropa. Der Marshallplan ist geboren. Fast zeitgleich werden die britische und die amerikanische Zone ökonomisch zur »Bi-Zone« vereinigt. US-Präsident Harry S. Truman verkündet die sog. Truman-Doktrin. Diese garantiert jedem Staat die Hilfe der USA, der durch die Sowjetunion oder durch bewaffnete kommunistische Aufstände im Innern bedroht wird. Der Marshallplan, besonders aber die Truman-Doktrin gelten als offizieller Auftakt des Ost-West-Konflikts und des Kalten Krieges.

1948

Im Juni wird durch eine Währungsreform die Deutsche Mark (DM) eingeführt. Am 1. September konstituiert sich der Parlamentarische Rat, um das Grundgesetz zu erarbeiten. Währenddessen wird das Ost-West-Verhältnis immer angespannter. Beginn der Berlinblockade durch die Sowjetunion.

1949

Am 23. Mai tritt das Grundgesetz für den Geltungsbereich der neuen Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Im August erfolgen erstmalig nach 1932 wieder freie Wahlen (Bundestagswahl). Sieger ist die CDU/CSU, und Konrad Adenauer (CDU) wird erster Kanzler der BRD. Wenige Monate später (7.10.) gründet sich in der sowjetischen Besatzungszone die Deutsche Demokratische Republik (DDR) als zweiter deutscher Staat. Die Spaltung Deutschlands ist besiegelt. Die SED wird Staatspartei und herrscht in Abhängigkeit von der Sowjetunion diktatorisch über die DDR.

1950

Die BRD tritt dem Europarat bei, ist aber noch kein vollwertiges Mitglied.

1952

Das Bundesverfassungsgericht verbietet die neonazistische Sozialistische Reichspartei (SRP) als verfassungsfeindlich.

1953

Bei der zweiten Bundestagswahl legt die CDU/CSU erheblich zu und wird damit im strikten Westkurs Adenauers bestätigt. Am 17. Juni gibt es einen Volksaufstand in der DDR, der von sowjetischen Panzern niedergeschlagen wird.

1954

Nach dem Europarat und der Montanunion (1951) gründet sich die Westeuropäische Union. Mitglieder sind Frankreich, Großbritannien, die Benelux-Staaten, Italien und die Bundesrepublik Deutschland.

1955

In den Pariser Verträgen werden der Besatzungsstatus abgeschafft und die Souveränität der BRD anerkannt. Gründung der Bundeswehr, Beitritt zur NATO, Festlegung der Hallstein-Doktrin durch Adenauer (Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik für alle Deutschen). Dem setzt die DDR die Zwei-Staaten-Theorie entgegen. Adenauer gelingt in Moskau die Freilassung der letzten deutschen Kriegsgefangenen und er verschafft sich damit ein zusätzlich großes Ansehen in der Bevölkerung. Wegen des Arbeitskräftemangels kommt es zu einem ersten Abkommen über die Beschäftigung von sog. Gastarbeitern.

1956

Die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) wird vom Bundesverfassungsgericht als verfassungsfeindlich verboten. Dieses vom BVG ausgesprochene zweite Parteienverbot (siehe SRP 1952) war das bislang letzte in der Geschichte der Bundesrepublik (Stand: 2020). 1968 gründet sich als Nachfolgeorganisation die DKP (Deutsche Kommunistische Partei), die aber nie eine politische Bedeutung in der BRD erlangte. Der Saarvertrag zwischen der BRD und Frankreich regelt die Rückkehr des Saarlands in die BRD als neues Bundesland.

1957

Mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge leiten die wichtigsten westeuropäischen Staaten den Schritt zur politischen Einigung Europas ein. Bei der dritten Wahl zum Deutschen Bundestag erringt die CDU/CSU die absolute Mehrheit. Sie und Adenauer sind auf dem Höhepunkt ihrer Macht. In der sog. Göttinger Erklärung sprechen sich achtzehn namhafte Wissenschaftler gegen die atomare Aufrüstung aus. Am 4. Oktober gelingt es den Sowjets erstmalig, einen künstlichen Satelliten, genannt Sputnik, in eine Erdumlaufbahn zu schießen. Das Datum gilt als eigentlicher Beginn der Raumfahrt. Dies löst im Westen einen Schock aus, da er vom Osten überholt wurde.

1958

Die CDU/CSU will die atomare Bewaffnung der Bundeswehr. Durch erheblichen Widerstand in der Bevölkerung (Bewegung »Kampf dem Atomtod«) kommt dieser Beschluss nie zum Tragen.

1959

Mit dem Godesberger Programm nimmt die SPD Abschied vom Heidelberger Programm (1925), das eine klare marxistische Orientierung hatte. Sie versteht sich von nun an nicht mehr als Klassenpartei der Arbeiter, sondern als Volkspartei und erschließt sich damit neue Wählerschichten.

1960

Das Treffen von Kanzler Adenauer mit dem israelischen Ministerpräsidenten Ben Gurion bringt eine erste Annäherung der beiden Staaten nach dem furchtbaren Holocaust.

1.2. Wirtschaftswunder, Spießeridylle, Verdrängung

Die materiellen Folgen des Zweiten Weltkriegs waren im Kern bereits am Ende der 1950er-Jahre so gut wie beseitigt. Die Ökonomie florierte und bewegte sich auf einem Niveau, das wesentlich höher lag als in allen Epochen Deutschlands zuvor. Politisch war die westdeutsche Demokratie stabiler, als es die Kleinstaaterei des 18. und 19. Jahrhunderts, das Kaiserreich, die Weimarer Republik und die Nazi-Katastrophe je gewesen waren, und mental hatten sich viele – das sog. Wirtschaftswunder genießend – in einer kleinbürgerlich-konservativen Pseudo-Idylle wohlig eingerichtet.

Anders verhielt es sich mit den geistig-kulturellen Folgen vor allem der Nazidiktatur. Eine halbwegs offene, geschweige denn ehrliche Auseinandersetzung mit der schrecklichen Vergangenheit, die sich der individuellen wie kollektiven Verantwortung und Schuld stellte, war in der Regel über zwanzig Jahre lang kein Thema. Die Vergangenheit wurde verdrängt und totgeschwiegen. Ansonsten hatte man wieder ein klares Freund- bzw. Feindbild. Neu waren die Freunde aus dem Westen, vor allem das UK, Frankreich und die USA, altbekannt hingegen als Feinde die roten Bolschewisten, denen jede Art von Bösartigkeit zuzutrauen war. Im Inneren wurde die Demokratie im Großen und Ganzen als formale staatliche Organisationsform akzeptiert, als gesellschaftliches Gestaltungsprinzip war sie indes weitgehend unbekannt. Geistige Enge, konventionelle Lebensstile und ignorante Moralvorstellungen beherrschten den Alltag. Der berühmt-berüchtigte »Mief« der Adenauer-Ära ist der saloppe Begriff, der all diese Phänomene in einer treffenden Metapher zusammenfasst.

Wahlplakate zur Bundestagswahl 1957, FDP-Plakat Bundestagswahl 1953

2. Kontinuität und Wandel

2.1. Im Spannungsfeld der Zeiten

Der umgelenkte Strom

Mit der Metapher eines umgeleiteten Stroms kann man den engen Zusammenhang von Kontinuität und Wandel in der Nachkriegszeit anschaulich machen. Die Zäsur der Kapitulation 1945, die in Wirklichkeit eine Befreiung war, kam einem Erdrutsch gleich, der den Strom in ein anderes Bett lenkte. Plötzlich speisten ihn neue Quellen und frische Zuflüsse mit unverbrauchtem Wasser. Wer allerdings einen unmittelbaren Austausch der Fluten erwartet hatte, irrte gewaltig, wurde doch vieles vom früheren Gift und Schlamm weitertransportiert. Es brauchte seine Zeit, um die Sedimente mit einer neuen Wasserqualität nicht nur zu überlagern, sondern spürbar zu verbessern. Nebenbei bemerkt: Bis heute haben sich die politischen Kontaminierungen nicht aufgelöst, sondern sind nach wie vor virulent und sogar stärker geworden.

Wie jedes gesellschaftlich-kulturelle Phänomen schaukelte auch die SF in der Nachkriegsära im historischen Seegang kräftig mit. Die SF der Bonner Republik speziell in den 50er-Jahren war eine Mixtur aus blauäugigen Hoffnungen und großen Ängsten. Vieles atmete den Hauch von Nierentisch und Tütenlampe, ein biedermeierlicher Versuch, die »neue« Moderne in ein Wohnzimmer mit billigen Lammfellimitaten und Sammeltassen-Vitrinen zu sperren. Schon bald wurde das Wohnzimmer gesprengt, denn was sich an Zukunft in der Realität wie auch in der SF herausschälte, erlaubte keine Konservierung. Wer ständig zwischen strahlenden Sternenabenteuern und einer radioaktiv verstrahlten Erde hin und her pendelte, der musste sich neue Strategien ausdenken, um Halt und Orientierung zu finden. In den 1960er-Jahren gab es diese Stimmungsmelange immer noch, sie verschob sich aber zunehmend in Richtung einer reformorientierten Haltung. Noch aber war man nicht so weit.

Die unbewältigte Vergangenheit

Es ist realitätsfremd anzunehmen, mit dem Mai 1945 wäre eine völlig neue Welt entstanden. Selbstverständlich waren die Menschen, die überlebt hatten, dieselben wie vorher. Wer gegen Hitler gewesen war, es aber nicht sagen und zeigen durfte, konnte wieder frei atmen. Sicher gab es auch welche, die sich läuterten. Das Gros der Deutschen aber verhielt sich wie eh und je – man gehörte zu den Trittbrettfahrern, die ihre Fähnchen in den Wind hängten. Eine Sonderrolle spielten die gar nicht so wenigen Altnazis, die von ihrer Ideologie partout nicht lassen wollten. Sie wurden natürlich vorsichtiger, verstellten sich und täuschten andere, besetzten gleichwohl wichtige Posten z. B. in Politik, Wirtschaft und Justiz. Der von einer Mehrheit getragene Trend zur Verdrängung und Verleugnung der Vergangenheit unterstützte jene, die vernagelt wie eh und je faulen Wein in neue Schläuche füllen wollten.

Im Begriff der unbewältigten Vergangenheit kumulierten derartige gesamtgesellschaftliche Erscheinungen. Unausweichlich hatten diese auch für die aufkeimende westdeutsche SF ihre Bedeutung, womit folgende Fragen nach Antworten verlangen. Was wurde in der SF aus der Weimarer Republik und der anschließenden Naziherrschaft übernommen? Was hielt sich hartnäckig? Was wurde abgewandelt? Wo zeigten sich Einstellungen und Entwicklungen, die es vorher noch nicht gegeben hatte?

2.3. Unbewältigte Vergangenheit

Unmissverständlich sei vorab festgestellt: Die o. g. Beispiele, die möglicherweise eine breite, gar bruchlose Weitergabe von nationalsozialistischen Ideologemen in die junge BRD-SF hinein suggerieren, waren Ausnahmen. Ohne Frage gab es derlei Vorstöße, aber sie waren Irrläufer, die isoliert blieben. Als eigenständiger Szenefaktor konnten sie sich nicht verankern.

Keine Ausnahmen waren hingegen viele Erzeugnisse der West-SF in den 50er-Jahren, die man tatsächlich unter das Verdikt der unbewältigten Vergangenheit stellen kann. Sie lavierten in einer Grauzone zwischen ideologischem Bodensatz und den oft ungelenken Versuchen, die neuen Paradigmen doch »irgendwie« zu integrieren.

Das bedeutete einerseits: Alte Denk- und Gefühlsklischees durchzogen eine längere Zeit die Produkte der SF wie ein Miasma. Man kann von einer allgemeinen Ideologiedeponie reden, die in den Köpfen und Herzen hängen geblieben war. Nicht selten schimmerte sie immer wieder durch die Zeilen vieler SF-Romane vor allem beim SF-Leihbuch hindurch. Es wäre falsch und unhistorisch, sie als systematische Infiltration des NS-Weltbilds zu verstehen. Sie müssen aber sehr wohl als diffuses Konglomerat von Versatzstücken gewertet werden, das sich aus einer verhängnisvollen geistig-emotionalen Tradition des »deutschen Denkens« nährte und damit gefährlich blieb. Vor allem in den 1950er-Jahren schleppte die deutsche SF viele Relikte der Vergangenheit unkritisch und z. T. naiv-bedenkenlos mit sich herum – hier war sie nicht anders als andere Genres und die sie umgebende Gesellschaft. So wie die Mehrheit der Menschen im Grunde konservativ bis rechts dachte, aber nicht rechtsextremistisch war, so waren auch viele SF-Autoren gerade der seichten Art im Hamsterrad tradierter Denk- und Gefühlsschablonen gefangen.

Nichtsdestotrotz war man gegenüber der neuen Zeit auch nicht blind. Man registrierte nicht nur eine veränderte Welt, sondern man wollte dem in der Regel sogar Rechnung tragen. Heraus kamen oft Zwitter, die man als ideologische Resteverwertung, aber auch als das Bemühen betrachten kann, sich der Aufklärung anzunähern. Die frühe westdeutsche SF durchlief eine Metamorphose, einen Anpassungsprozess, der Züge von Einsicht wie auch von Opportunismus trug. Zu den sich deutlich von der Nazi-Vergangenheit absetzenden Denkfiguren gehörte: Deutschtümelei und Nationalismus waren out, ja man überschlug sich geradezu in der »Angloamerikanisierung«. Englische Autorenpseudonyme waren bei westdeutschen SF-Schaffenden so gut wie selbstverständlich, und das Romanpersonal trug fast durch die Bank englische Namen. Alte Hass- und Feindbilder wie der Westen (also Frankreich, England und die USA) und »der Jude« verschwanden in der Versenkung. Der Führermythos hatte ausgedient, Diktaturen wurden negativ bewertet. Nicht der Krieg, sondern der Friede galt als höchstes Gut, und eine geeinte Menschheit mit einer demokratischen Weltregierung wurde zum erstrebenswerten Ziel.

Gleichwohl durchsetzte sich das alles mit ambivalenten und problematischen Elementen. Beispielsweise verteufelte man nicht mehr die Demokratie, konnte aber mit ihr so richtig noch nichts anfangen. Das wuchs sich zu Chimären aus, die ungestraft weiter herumgeisterten, so der »rassisch Minderwertige«, die devote Rolle der Frau, eine bornierte Sexualmoral und der Hang zum Autoritarismus. Fast unausrottbar schien der Militarismus zu sein. Der oft leichtfertige Umgang mit Massenvernichtungswaffen und überhaupt die latente Meinung, eine gewaltsame Konfliktlösung sei effektiver als Dialoge und Verhandlungen, verdarb so manches Erzeugnis der Nachkriegs-SF. Man wollte zwar nicht mehr der Aggressor sein, aber unter dem Mäntelchen von Notwehr und Verteidigung knüpfte man ganz offen – sozusagen geadelt durch den Ost-West-Konflikt und den Kalten Krieg – an die tradierten Kommunisten- und Asiatenängste an (die »rote« bzw. die »gelbe« Gefahr), Topoi, die bereits das deutsche Kaiserreich hatten nervös werden lassen.

2.4. Kontinuitäts- oder Transformationsliteratur?

In der SF-Forschung sehen einige Wissenschaftler eine ungebrochene Kontinuität von Weimar über die Hitlerdiktatur bis hinein in die BRD. Andere legen den Schwerpunkt auf differenzierte Einschätzungen und auf neue Entwicklungen.

Drei Stimmen aus der Literaturwissenschaft

Erwartungsgemäß verdammt Manfred Nagl in seiner Untersuchung Science Fiction in Deutschland (1972) in bekannt voreingenommen-apodiktischer Art die westdeutsche Nachkriegs-SF. Martin Schwonkes Bemerkung, die SF insgesamt habe »den Weltkrieg erstaunlich schnell ›vergessen‹« (Schwonke, Vom Staatsroman zur Science Fiction, 1957, S. 81), veranlasst Nagl zu der Feststellung: »Diese Beobachtung gilt auch für die deutschsprachige Science Fiction, und sie wird verständlicher, wenn man davon ausgeht, dass gerade die Bagatellisierung und Rechtfertigung von Kriegen, die Entlastung von Kriegsschuld und Verantwortung zu den eigentümlichen Funktionen der Science Fiction gehören.« (S. 195) Schnell bricht er den Stab, indem er die ganze West-SF zwischen 1945 und 1970 als »technokratische Ideologie für die wissenschaftlich-technische Dienstleistungsklasse« zu entlarven meint (so die Überschrift des Kapitels IV in Science Fiction in Deutschland auf S. 195). Da ich mich in AA 3.1. ausführlich mit Nagl auseinandergesetzt habe, erübrigt sich hier eine weitere Stellungnahme.

Hans Esselborn kehrt auf den Boden der Tatsachen zurück, sieht aber ein eher statisches Moment. »Die Zeit unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg steht im Zeichen der Kontinuität, denn auch beim technischen Zukunftsroman gibt es keine Stunde Null. In Ost- und Westdeutschland ist noch der Einfluss von Dominiks technischem Zukunftsroman maßgebend, obwohl in der DDR seine ideologische Richtung umgepolt wird. Im Westen schreiben viele Autoren weiter, verbergen aber ihre frühere Gesinnung.« (Esselborn, Die Erfindung der Zukunft, S. 236) Nur in der artifiziellen Literatur macht er in dieser Phase zuweilen Gegenläufiges aus (z. B. bei Arno Schmidt).

Hingegen bringt Hans-Edwin Friedrich mehr Dynamik ins Spiel, indem er die frühe West-SF als Transformationsliteratur qualifiziert. »Die fünfziger Jahre sind eine Zeit des Übergangs vom Modell der Dominik-orientierten technischen Utopie zur Rezeption angloamerikanischer SF.« (Friedrich, Science Fiction in der deutschsprachigen Literatur, S. 304)

Perspektiven

In der Gesamtbewertung kommt mir Friedrichs Auffassung der Realität am nächsten. Denn trotz aller historischen Verstrickungen befand sich die SF der 50er-Jahre (und noch mehr die der 60er) in einem Transformationsprozess weg vom alten deutschen Zukunftsroman hin zu einer modernen deutschen SF. Dieser hatte folgende Merkmale:

1. Die international gültige Genrebezeichnung Science Fiction wurde offensiv und gewollt übernommen.

2. Das war kein bloßer Etikettentausch. Man begriff zunehmend, dass die SF inhaltlich und formal mehr umfasste als der deutsche Zukunftsroman der Vergangenheit.

3. Die westdeutsche SF öffnete sich ausländischen SF-Autoren und lernte von ihnen.

4. Erstmalig in der deutschen SF-Geschichte begannen die SF-Anhänger, sich miteinander auszutauschen und zu organisieren.

5. Damit verbunden war eine europäische, ja globale Intention mit der Vorstellung einer einheitlichen »terranischen Zivilisation« – eine zwar einfältige Idee, die sich dennoch wohltuend gegenüber dem Chauvinismus zwischen 1870 und 1945 abhob.

6. Die Erwartungen der Leser an die SF wurden höher.

7. Die alten Topoi der deutschen SF (z. B. der einsame messianische Erfinderingenieur, die Herr-Diener-Konstellation usw.) wurden zunehmend durch Teamarbeit und Freundschaftsverhältnisse ersetzt. Die rein technokratische Orientierung wich der Unwägbarkeit, dem Zufall und nicht berechenbaren Abläufen.

8. In der SF-Szene zeigten sich Versuche, autoritäre Strukturen durch demokratische Verkehrsformen zu ersetzen.

2.5. SF in der DDR – ein eigener Planet

Bis jetzt war von der SF in der DDR, die dort wissenschaftliche Phantastik (WP) genannt wurde, keine Rede, und das wird in diesem Buch auch so bleiben. Dieses Vorgehen hat nichts mit einer Geringschätzung der WP, geschweige denn mit einer ihr unterstellten Bedeutungslosigkeit zu tun. Tatsache ist: Die DDR-SF war eine eigene Welt (siehe den geplanten 4. Band der Reihe).

3. Psychogramm der frühen West-SF

Obwohl es nicht an polemischen Anfeindungen mangelte, lag die SF im Nierentisch-Zeitalter in der Luft. Die Vorarbeit leisteten natürlich die realen Entwicklungen der Industriegesellschaft mit ihren Motoren Wissenschaft und Technik. Ihre kulturelle Verarbeitung in Literatur, Film und bildender Kunst tat ihr Übriges.

3.1. Das mediale Umfeld

Immer mehr Menschen interessierten sich für Dinge, die evtl. kommen würden, und seismografisch registrierten die Medien einen neuen Markt. Druckerzeugnisse entstanden, die es vorher so noch nicht gegeben hatte. Sie alle hatten zwar mit der SF direkt nichts zu tun, bereiteten aber durch ihre Orientierung an Zukunftsfragen den Boden für die SF. Sie verstärkten Stimmungen in der Öffentlichkeit, die die SF gewollt oder ungewollt förderten. Vier Beispiele derartiger Printmedien seien vorgestellt: KRISTALL, HOBBY, ORION und POPULÄRE MECHANIK.

KRISTALL

Vorläufer der heute weitgehend vergessenen Illustrierten KRISTALL waren die stark politisch motivierten NORDWESTDEUTSCHEN HEFTE, die die damaligen Chefredakteure des NWDR Axel Eggebrecht (1899–1991) und Peter von Zahn (1913–2001) nach dem Vorbild des britischen THE LISTENER ab 1946 herausgaben. Der Jungverleger Axel Springer (1912–1985) erhielt die Vertriebslizenz, machte ein einträgliches Geschäft und gründete »so nebenbei« die Zeitschrift HÖRZU, um Werbung für den Rundfunk zu machen, der wiederum kostenlos für die HEFTE warb. 1948 löste sich Springer vom NWDR und gründete die Illustrierte KRISTALL. DIE ZEITSCHRIFT FÜR UNTERHALTUNG UND WISSEN (wechselnde Untertitel). Die KRISTALL präsentierte sich als lockere Mischung aus unterhaltenden Artikeln und vielen großformatigen, attraktiven Fotos und Zeichnungen, die immer wieder die Raumfahrt, aber auch andere Bereiche des modernen Lebens thematisierten.

Allerdings war die KRISTALL nicht ganz so harmlos, wie es sich bis jetzt anhörte, bot sie doch in einem Nebenstrang alten Militaristen die Gelegenheit, die Wehrmacht zu glorifizieren. Nur die Einmischungen Hitlers seien für Niederlagen und »Missgriffe« verantwortlich, die Wehrmacht selbst stehe ohne Makel da, so die Auffassung der einschlägigen Autoren. Dass Springer diese Meinung teilte, glaube ich eher nicht. Ausschlaggebend für ihn waren wohl geschäftliche Gründe (was die Sache nicht besser, sondern schlimmer macht), denn derlei Geschichtsklitterungen verkauften sich bei vielen überlebenden Soldaten gut, die die Verbrechen der Wehrmacht nicht einsehen wollten. Dennoch rechnete sich die Zeitschrift auf Dauer nicht. Ende 1966 wurde das Blatt aus wirtschaftlichen Gründen eingestellt.

HOBBY

HOBBY. DAS MAGAZIN DER TECHNIK hatte einen anderen Charakter als KRISTALL. Es konzentrierte sich gezielt auf ein wissenschaftlich-technisch interessiertes Publikum, das auch selber handwerklich aktiv werden wollte. Zahlreiche Bastel- und Modellbauanleitungen für Flugzeuge, Schiffe etc., die die Hefte enthielten, sprechen eine klare Sprache. Ein weiterer Schwerpunkt waren bebilderte Artikel, die fortschrittsgläubig und technikverliebt entsprechende Sachthemen abhandelten. Dabei ging es nicht nur um die Raumfahrt. Die Atomenergie, die Veränderung des Alltagslebens durch moderne Technologien und auch schon Computer setzten neben anderem weitere Schwerpunkte. Bei einem Magazin, das sich dezidiert der Zukunft zuwandte und dabei des Öfteren recht schräge Zukunftsprognosen wagte, waren bemühte Absetzbewegungen von der SF nicht von vornherein zu erwarten. Trotzdem war es so – das galt zumindest für die 50er-Jahre. So konnte man im Oktober 1957 lesen:

»Seit einigen Jahren tauchen auch im deutschen Sprachraum immer häufiger Romane auf, die die selbstverständlichen Gesetze der Schriftstellerei völlig außer Acht lassen. Sie tragen den Untertitel ›science fiction‹, was wörtlich übersetzt soviel wie ›wissenschaftlicher Roman‹ heißt. Doch wer glaubt, darin ein wenig von der exakten Logik der Naturwissenschaften wieder zu finden, irrt sich gewaltig. Diesen Geschichten wird der Mantel der Wissenschaft oft nur darum umgehängt, um in ihnen alle Dimensionen, die für normale Menschen gelten,(…)ignorieren zu können. Die Wissenschaft wird kurzerhand (und oft in recht primitiver Form) als Schutzschild für dichterische Spielereien benutzt, für Geschichten, die man als normale Romane niemandem vorzusetzen wagen dürfte.« (zit. n. G1, S. 16)

Da hatte der HOBBY-Redakteur wohl übersehen, dass sein eigenes Produkt auf einer Welle schwamm, die gerade durch das Ausklammern der als Wert beschworenen Normalität ihren Reiz bezog. Wahrscheinlich derselbe Journalist echauffierte sich in selbiger Ausgabe über die Atomgegner. »Mit welchen unsinnigen Argumenten wird nach wie vor gegen den Karlsruher Atommeiler und andere in Deutschland im Bau befindliche Atomreaktoren polemisiert und prozessiert. Man kann oft nicht glauben, dass es wirklich Menschen gibt, die so unsinniges Zeug für wahr halten.« Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, macht er die SF-Fans dafür verantwortlich. »Es liegt mir fern, zu behaupten, dass an diesem Dilemma allein die science fictions [sic! H. F.] schuld sind. Sicher aber haben sie zu dieser Verwirrung beigetragen, vor allem bei jungen Menschen.« (zit. n. G3, S. 52/53) Es reichte dem Schreiber offensichtlich nicht, die SF als Genre insgesamt zu diffamieren. Die SF bzw. ihre Leser mussten auch noch dazu herhalten, dass seine Atomgläubigkeit nicht überall auf Gegenliebe stieß.

Das Manöver war durchsichtig. Seinem Magazin sollte der Nimbus einer besonderen Seriosität verliehen werden. Dabei hängte er sich an den Umstand an, dass die SF in den 50er-Jahren noch nicht salonfähig war, sondern sich oft heftiger Kritik und beißender Häme ausgesetzt sah. In der Sache lag er übrigens falsch, weil die damaligen SF-Anhänger durchaus für die sog. friedliche Nutzung der Atomenergie eintraten, allerdings vehement vor der Atombombe warnten. Doch dieses Maß an Differenzierung überstieg wohl das geistige Vermögen eines kleinen HOBBY-Redakteurs.

HOBBY erschien von 1953 bis 1991 hauptsächlich im Ehapa Verlag. Von 1964 bis 1972 wurde die Sonderreihe HOBBY BÜCHEREI im Taschenbuchformat mit insgesamt 31 Bänden herausgegeben. In Band 15 mit dem Titel Report 1998 – so leben wir in 30 Jahren (1968) von Ernst Gehmacher konnte man sich für 4,80 DM über die Ergebnisse der noch jungen Wissenschaft der Futurologie informieren. Immerhin gab der Autor die Hardcore-Position seines früheren Kollegen gegenüber der SF auf, wobei Gehmacher lieber und unexakt von Utopie sprach. Zu Beginn seines Buches blättert er die Utopiegeschichte auf und konstatiert überraschend einsichtig: »Am Anfang waren Träume und Ahnungen.« (Gehmacher, Report 1998, S. 7) So war es über die Jahre zu einem Umdenken breiterer Schichten in Sachen SF gekommen, was auch an der HOBBY-Redaktion nicht spurlos vorüberging.

ORION

Zumindest erwähnt werden soll die Publikation ORION. ZEITSCHRIFT FÜR NATUR UND TECHNIK, die von 1946 bis 1960 herausgegeben wurde. Erster Chefredakteur von ORION war Erich Laßwitz (1880–1959), der Sohn des berühmten Kurd Laßwitz, welcher in der deutschen SF eine überragende Rolle spielt.

POPULÄRE MECHANIK

Die Vierte im Bunde war die Zeitschrift POPULÄRE MECHANIK. DAS NEUSTE AUS TECHNIK UND WISSENSCHAFT. Sie hatte ihren Ursprung in den USA. Am 11. Januar 1902 erschien dort die erste Ausgabe von POPULAR MECHANICS, ein Magazin, das populärwissenschaftlich die neusten technischen Entwicklungen aufbereitete. Schon bald gab es auch Ausgaben in anderen Ländern. Von 1956 bis 1962 war eine Version unter dem Titel POPULÄRE MECHANIK in Westdeutschland erhältlich. Es ging um Themen wie das Auto, neue Geräte oder das Heimwerken, aber auch um Weltraum, Raketentechnik und die Geheimnisse der Erde. Generell bemühte man sich um eine lebensnahe Darstellung. So wurden z. B. Teenager beim Basteln einer Rakete dargestellt. Trotz dieses Konzepts traf POPULÄRE MECHANIK wohl nicht den deutschen Geschmack, sodass der deutschen Ausgabe keine lange Lebensdauer beschieden war. Ungeachtet dessen war die Reihe ebenso wie die anderen Ausdruck einer Gefühlslage, die untergründig die SF beförderte.

Weitere Signa der Zeit

Generell nahm im bundesrepublikanischen Blätterwald die Berichterstattung über wissenschaftliche und technische Entwicklungen erheblich zu. Das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL, Massenillustrierte wie der STERN, die QUICK und die BUNTE ILLUSTRIERTE, aber auch regionale und überregionale Tageszeitungen informierten vermehrt oder gar regelmäßig über erstaunliche Fortschritte, die aus den Laboratorien, Forschungsinstituten, Fabriken, Flug- und Raumfahrtzentren usw. zu vermelden waren. Im akademischen Bereich etablierte sich die schon im Abschnitt über das Magazin HOBBY genannte Futurologie (Zukunftsforschung), die den Anspruch erhob, mit wissenschaftlichen Methoden halbwegs valide Aussagen über die Zukunft machen zu können.

Bezeichnend ist, dass bereits Anfang der 1950er-Jahre eine scharfsichtige und scharfzüngige Fundamentalkritik an sich abzeichnenden Zukunftsoptionen begann, die weit über die übliche Atombombenangst hinausging. Hier lag der Ursprung der späteren Anti-Atom-, Umwelt- und Friedensbewegung. Als Symbol in diesem Bereich kann der Name Robert Jungk gelten, eigentlich Robert Baum (1913–1994). Der Wissenschaftsjournalist und Zukunftsforscher prägte mit seinem Sachbuchtitel Die Zukunft hat schon begonnen