Vision und Verfall - Hans Frey - E-Book

Vision und Verfall E-Book

Hans Frey

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Beschreibung

In Vision und Verfall analysiert Laßwitz-Preisträger Hans Frey die Science Fiction der DDR. Unterhaltsam und ohne jede Besserwisserei führt er durch eine untergegangene Welt und enthüllt einen weitgehend unbekannten Erzählkosmos. Selbst diejenigen, die schon Kenntnisse haben, werden Überraschungen erleben. Der Autor nähert sich nicht nur dem Kern der DDR-SF, sondern er vermag auch Erstaunliches über ihre Entwicklungsgeschichte zu berichten. Reproduziert eine Diktatur in der Regel stets dieselben Klischees, so kommt der Autor in diesem Fall zu einem anderen, verblüffenden Ergebnis. Statt Stasis entfaltete sich eine von der Obrigkeit ungewollte Evolution. Wie das möglich wurde, wird anhand von Hintergründen, Strukturen, Personen, Werkbeschreibungen, seltenen Illustrationen und einem ausführlichen Literaturverzeichnis spannend belegt. Diese Art der SF, so Frey, hat es nur in der DDR gegeben. Wer an deutscher Literatur interessiert ist, dem erschließt das Buch neue und ungeahnte Erkenntnisse.

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Hans Frey

Vision und Verfall

© 2023 by Hans Frey (Text)

Mit freundlicher Genehmigung des Autors

© dieser Ausgabe 2023 by Memoranda Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Korrektur: Tina Klinkner

Gestaltung: s.BENeš [http://benswerk.com]

Memoranda Verlag

Hardy Kettlitz

Ilsenhof 12 | 12053 Berlin

Kontakt: [email protected]

www.memoranda.eu

www.facebook.com/MemorandaVerlag

ISBN: 978-3-948616-82-3 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-948616-83-0 (E-Book)

Danksagung

Für vielfältige Unterstützung bedanke ich mich herzlich bei Dr. Wolfgang Both, Thomas Braatz, Hardy Kettlitz, Udo Klotz, Ralf P. Krämer, Ralf Neukirchen, Klaus Scheffler, Erik Simon, Angela Steinmüller, Dr. Karlheinz Steinmüller und Dr. Markus Tillmann.

Hans Frey

Inhalt

Inhalt

Legende

0. Einführung

0.1. Persönliche Notizen

0.2. Science Fiction oder wissenschaftliche Phantastik?

0.3. Zwei allgemeine Gedanken zur DDR

ERSTER TEIL: Rahmenbedingungen

I. Prolog: Das utopische Dilemma

1. Vision und Verfall

1.1. Utopie und DDR

1.2. Das Wesen der DDR-SF

1.3. Kleine Geschichte der Utopie

1.4. Ein Schlüsselroman: Von Träumen und Albträumen

II. Philosophisch-politische Grundlagen

2. Denkgebäude und Ideologien

2.1. Karl Marx – Gesellschafts- und Geschichtstheorie

2.2. Der Marxismus-Leninismus

2.3. Der sozialistische Realismus

III. Zur SF-Theoriediskussion in der DDR

3. Zwischen Dogma und Eigenständigkeit

3.1. Zensierte Zukunft und listenreiche Serpentine

3.2. Die SF unter Beschuss

3.3. Phantasie, die neue Produktivkraft

3.4. Ein Reflex auf Friedrich Engels

3.5. Wegweisende Balanceakte

3.6. Neue Ufer

ZWEITER TEIL: Entwicklungsgeschichte

IV. Werden und Vergehen

4. Zur Methodik: Der Literaturkompass

4.1. Das Vier-Phasen-Modell

4.2. Alte Schemata, neue Ansprüche

5. Ouvertüre

5.1. Die Zeitreise beginnt

5.2. Zeittafel 1945 bis 1949

5.3. Vorgeplänkel

5.4. Deus ex machina

6. Die erste Phase: Hoffnung und Illusion

6.1. Zeittafel 1950 bis 1959

6.2. Der utopische Produktions- und Betriebsroman

6.3. Kommunistische Megaprojekte

6.4. Ultrasymet und Gigantum

7. Die zweite Phase: Das rote Universum

7.1. Zeittafel 1960 bis 1969

7.2. Der sozialistische Weltraumroman

7.3. Abenteuer im All, Aliens und ein Hauch Kritik

7.4. Der außerirdische Klassenkampf

7.5. Präastronautik

7.6. Die Rückkehr zur Erde

8. Die dritte Phase: Zeit der Wandlungen

8.1. In der politischen Sargassosee

8.2. Zeittafel 1970 bis 1979

8.3. Neue Fakten

8.4. Neue Befindlichkeiten

8.5. Neue Themen

8.6. Neuer Favorit

9. Die vierte Phase: Die Ära der postutopischen Vielfalt

9.1. Zeittafel 1980 bis 1990

9.2. Die Überwindung des Perspektivbewusstseins

9.3. Die letzten Panorama-Utopien

9.4. Utopische Nischen

9.5. Ein Stern am Himmel der DDR-SF

9.6. Literaturrebellion

9.7. Die inversiven Welten des Timothy Truckle

9.8. Auf dem absteigenden Ast

9.9. Vom Ende einer Epoche

DRITTER TEIL: Besondere Aspekte

V. Innenansichten

10. SF-Kinder- und Jugendbuchliteratur

10.1. Fließende Grenzen

10.2. Leipziger Messe im Land Utopia

11. Mainstream und SF

11.1. DDR-»Hochliteratur« und SF

11.2. Saiäns-Fiktschen

12. DDR-SF und ausländische SF

12.1. Das Verhältnis zur SF des Ostens

12.2. Das Verhältnis zur SF des Westens

12.3. DDR-SF in der Bundesrepublik

13. Ausgewählte Themenkreise

13.1. Robotrons Kinder

13.2. Mensch oder Molluske?

13.3. Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung

13.4. Geschlechterrollen und die Angst vor der Lust

13.5. Gab es eine DDR-Fantasy?

VIERTER TEIL: Strukturen und Personen

VI. Erinnerungen an die Zukunft

14. Zur Sekundärliteratur

14.1. Akademische Literatur

14.2. Sachbücher und Artikel

14.3. Lexika und Bibliografien

15. Medien I: Presse, Hefte, Comics, Bücher

15.1. Presse

15.2. Hefte

15.3. Comics

15.4. Bücher und Taschenbücher

16. Medien II: Radio, Fernsehen, Film

16.1. Radio und Fernsehen

16.2. Film

17. Die Verlags- und Publikationssituation

17.1. SF-Verlage

17.2. Auflagen, Verkaufszahlen, Verbreitungsgrad

17.3. Die Situation der Autor/innen

18. Das SF-Fandom

18.1. Porträt eines deutschen SF-Fans

18.2. SF-Klubs

18.3. Aufstieg und Fall des Stanisław-Lem-Klubs Dresden

18.4. Der Freundeskreis SF Leipzig (FKSFL)

18.5. Berlin und der Klub Andymon

18.6. Fanzines

18.7. tranSFer und ALIEN CONTACT

19. Das Who is Who der DDR-SF

19.1. Personalia

19.2. Weitere wichtige Namen aus der DDR-SF-Szene

FÜNFTER TEIL: Bilanz und Epilog

20. Versuch einer Bilanz

20.1. Trennendes und Gemeinsames

20.2. Noch einmal: Zum Wesenskern der DDR-SF

20.3. Die DDR-SF als literarisches Experiment

21. Epilog

21.1. Epilog I: Die DDR in der SF-Alternativweltliteratur

21.2. Epilog II: Meinungsfreiheit und Zensur

Anhang

I. Literaturverzeichnis

I.1. Primärliteratur

Legende

Zur besseren Lesbarkeit wurden besonders oft zitierte Werke mit einem Kürzel versehen.

AKS Angela und Karlheinz Steinmüller, Vorgriff auf das Lichte Morgen. Studien zur DDR-Science-Fiction, mit einer Bibliographie von Hans-Peter Neumann, Ausgabe Erster Deutscher Fantasy Club e. V., Passau 1995

F1 Hans Frey, Fortschritt und Fiasko. Die ersten 100 Jahre der deutschen Science Fiction 1810–1918, erschienen im Imprint Memoranda bei Golkonda, München – Berlin 2018

F2 Hans Frey, Aufbruch in den Abgrund. Von der Weimarer Republik bis zum Ende der Nazidiktatur 1918–1945, Memoranda Verlag, Berlin 2020

F3 Hans Frey, Optimismus und Overkill. Von der jungen Bundesrepublik bis zu den Studentenprotesten 1945–1968, Memoranda Verlag, Berlin 2021

SIS Erik Simon und Olaf Spittel (Hrsg.), Die Science-fiction der DDR. Autoren und Werke. Ein Lexikon, Verlag Das Neue Berlin, Berlin 1988

Allgemeine Bemerkung:

Bei den zahlreichen Darstellungen von Einzelwerken wurde weitgehend darauf verzichtet, Biografisches und sonstige Rahmendaten zum/r Autor/in einzufügen. Das geschieht teilweise ausführlich in »Das Who is Who der DDR-SF« (Kapitel 19).

0. Einführung

0.1. Persönliche Notizen

Vorbehalte und neue Erfahrungen

Eigentlich wollte ich dieses Buch aus vermeintlich guten Gründen gar nicht schreiben. Die Science Fiction der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) war für mich ein wildfremder Planet, von dem ich keine Ahnung hatte. Ich würde mich hoffnungslos verirren und rettungslos untergehen, so meine Befürchtung.

Das war für mich auf die SF bezogen eine neue Erfahrung, da ich mich, seit frühester Jugend der »Zukunftsliteratur« verfallen, im Lauf der Zeit immer besser mit der angloamerikanischen, der westeuropäischen, aber auch und vor allem mit der deutschsprachigen SF auskannte. Daraus entstand 2016 die Idee, in mehreren Bänden eine Literaturgeschichte der deutschen SF zu schreiben. Glaubt man zahlreichen mir keineswegs verpflichteten Kritikern, dann sind aus Fortschritt und Fiasko (2018), Aufbruch in den Abgrund (2020) und Optimismus und Overkill (2021) offensichtlich vorzeigbare und relevante Bücher geworden.

Wie schreibt man über ein Gebiet, von dem man nichts weiß?

Indes brauten sich genau an diesem Punkt dunkle Wolken zusammen, denn mein deutschsprachiger Horizont bezog sich auf die West-SF. Doch jetzt stand unabweisbar die DDR-SF vor der Tür und forderte ihr Recht – unmöglich, sie zu ignorieren, zumal ich den Anspruch erhoben hatte, eine systematische Literaturgeschichte der deutschsprachigen SF vorzulegen.

Schon bei der Konzipierung von Optimismus und Overkill war mir bewusst geworden, dass ich den DDR-Teil der deutschen SF nicht als fünftes Rad am Wagen behandeln durfte. Ebenso wäre eine durcheinandergewürfelte Darstellung der West- und Ost-SF in einem einzigen Buch zum Torso verkommen, der weder dem einen noch dem anderen Bereich gerecht geworden wäre. Es bot sich nur eine Lösung an. Ich musste die DDR-SF und ihr engeres Umfeld in einem in sich geschlossenen, eigenständigen Band abhandeln.

Doch was macht ein Autor, der von der DDR-SF so gut wie nichts kannte? Es half alles nichts. Ich krempelte, wenn ich es in einer ungelenken Metapher sagen darf, meine geistigen Ärmel hoch und begann, mich mit der SF-Literatur der DDR intensiv zu befassen. Zu meiner großen Überraschung stellte sich bei meinen ersten Gehversuchen heraus, dass man die DDR-SF bereits weit umfangreicher, akribischer und präziser aufgearbeitet hatte als gedacht – im Gegensatz zur übrigen deutschsprachigen SF. Eine der wesentlichen Herausforderungen bei meinen ersten drei Büchern hatte ja gerade darin bestanden, in dem teils faktisch vergessenen Textwust, teils heillos verworrenen Durcheinander der Szene eine greifbare und plausible Struktur herauszuarbeiten. Hätten mir wichtige Ratgeber und mein Vorwissen nicht geholfen, wäre das nicht gelungen.

Die Wanderung durch den gepflegten Mischwald der DDR-SF lief demnach deutlich geordneter ab als die Expedition durch den dampfenden Dschungel der BRD-SF und deren historischen Vorgängern. In der DDR gab es eine überschaubare SF-Primärliteratur, der eine ebenso überschaubare SF-Sekundärliteratur gegenüberstand. Natürlich hatte ich mich auch hier durch diverse Bücherberge und ein Getümmel von mir zuvor völlig unbekannten Namen zu kämpfen, doch detaillierte Landkarten und kompetente Reiseführer warteten bereits darauf, gehört und gelesen zu werden. Der wildfremde Planet nahm Kontur an.

Die Entdeckung einer anderen SF-Welt

Über die Gründe des genannten Unterschieds zwischen West- und Ost-SF wird noch viel zu sagen sein. Verraten sei jetzt schon, dass dies keineswegs nur an den diktatorischen DDR-Verhältnissen lag. Selbstverständlich spielten sie eine wesentliche Rolle, aber die einsinnige Zurückführung auf staatliche Gängelung, die automatisch zu engeren bis engsten Spielräumen führt (was ja stimmt), greift in diesem Fall trotzdem zu kurz. Sie trübt den Blick auf das originäre Flair und die Ernsthaftigkeit der wissenschaftlichen Phantastik, die eine ganz eigene Sorte der SF hervorgebracht hat. Das tendenziell anarchische Chaos der BRD-SF im Berichtszeitraum war zwar bunter (vor allem in den Covern), sollte aber nicht unkritisch und vorschnell als überbordende Vielfalt gefeiert werden. Neben Highlights und bemerkenswerten Texten, in denen sich tatsächlich Vielfalt und Innovation widerspiegelten, erging sich ein beträchtlicher Teil gerade der frühen westdeutschen SF in unoriginellen Wiederholungen (siehe F3).

Lange Rede, kurzer Sinn: Die Herausforderung, die ich an mich selbst gestellt hatte, entpuppte sich im Gegensatz zu meinen ursprünglichen Befürchtungen als machbar. Besser noch! Sie eröffnete mir eine weitere, unerwartete SF-Welt, die mir zumeist Freude bereitet hat. Auch davon soll in diesem Buch die Rede sein.

Warum ein »Wessi«-Buch über die DDR-SF?

Angesichts des vorhandenen, ausgezeichneten Materials über die DDR-SF, geschrieben von Szene- und Sachkennern, die zumeist selbst aktiv dabei gewesen waren, stellt sich die Frage, warum sich ausgerechnet ein »Wessi« bemüßigt fühlt, dem ein weiteres Buch hinzuzufügen. Wird so aus dem »Wessi« wieder einmal der berüchtigte »Besserwessi«? Meine Antwort hat mehrere Facetten.

Einerseits kann eine Literaturgeschichte der deutschsprachigen SF nicht an 40 Jahren DDR-SF vorbeigehen, indem sie lediglich auf andere Sekundärwerke verweist. Es muss schon deutlich mehr sein!Andererseits ist es für eine Annäherung an die Wahrheit bereichernd, wenn ein Mensch »von außen« seine Sicht der Dinge einbringt. Möglicherweise verschafft das auch denen, die bereits in der DDR dabei waren, Erkenntnisse, die man ohne einen Blick über den Tellerrand nicht gehabt hätte.Drittens habe ich das Buch natürlich nicht nur für Menschen aus Ostdeutschland geschrieben, sondern für alle, die an deutschsprachiger SF interessiert sind. Ich behaupte, dass gerade für westdeutsche Leser/innen das Buch gewinnbringend ist. Sie werden ein neues Universum kennenlernen und das eine oder andere Aha-Erlebnis haben. Sicher ist: Eine wesentliche Erweiterung des literarischen Horizonts wird auf keinen Fall schaden.Schließlich ist es generell spannend zu erfahren, wie das Genre in einem abgeschotteten Land seine Identitäten gefunden hat und wie sich trotz erzwungener Abkapselung Verbindungen und Überschneidungen mit dem vor der Tür liegenden Gegenuniversum (genannt BRD) ergeben haben. Auch das ist ein großes, aufregendes Abenteuer.

0.2. Science Fiction oder wissenschaftliche Phantastik?

Das Bemühen der DDR, sich vom Westen abzugrenzen, bekam natürlich auch die ostdeutsche SF zu spüren. Zudem gab es beim großen Vorbild Sowjetunion den Begriff SF nicht. Hier sprach man von wissenschaftlicher Phantastik. Wen wundert’s, dass sich auch die DDR-SF wissenschaftliche Phantastik (WP) nannte. Je offizieller es zuging, desto verpönter war das Label Science Fiction. Natürlich war bekannt, dass sich im angloamerikanischen Westen schon seit Ende der 1920er-Jahre und in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg die Genrebezeichnung Science Fiction durchgesetzt hatte. Deshalb wurde auch in der DDR erst verhalten, dann im Laufe der Jahrzehnte zunehmend von SF gesprochen – neben utopischer Literatur oder einfach Zukunftsliteratur. Der Siegeszug des Etiketts SF war schon wegen seiner unabweisbaren internationalen Gültigkeit einfach nicht zu bremsen.

Er begann zögerlich in der DDR in den 1970er-Jahren. Hervorstechend ist hier der Beitrag von Adolf Sckerl zur Vorbereitung des Schriftstellerkongresses 1973, wo er versuchte, das Label Science Fiction in der DDR zu etablieren. Der Vorstoß scheiterte indes durch die zeitgleiche Zerschlagung des Stanisław-Lem-Klubs in Dresden, die die öffentliche Diskussion erstarren ließ (siehe 18.3.). In den 1980er-Jahren wurde die Bezeichnung SF auch in der DDR »marktbeherrschend« und zwar vorwiegend in der Schreibweise Science-fiction. So gab es 1982 den von Erik Simon und Olaf R. Spittel herausgegebenen Vorläuferband zum späteren SF-Lexikon, der im Titel plakativ von Science-fiction in der DDR sprach (Verlag Das Neue Berlin) – und das mit Genehmigung der Zensur! Allerdings war die schmale Broschüre nicht frei verkäuflich, sondern sollte bei ausländischen Autorentreffen als Verteilmaterial dienen. Das erste Mal bei allgemein zugänglichen DDR-Büchern, bei denen SF im Untertitel auftauchte, war das Jahr 1984. Es handelte sich um die Storysammlung Windschiefe Geraden von Angela und Karlheinz Steinmüller. Das Lexikon von Simon und Spittel trat schlussendlich 1988 ganz offen und ungeniert mit Science-fiction auf. Gleichwohl reichte der Namensstreit bis in die 1980er-Jahre hinein.

Ich für meinen Teil halte es mit den Vorgängerbänden. Ich verwende durchgehend den Begriff Science Fiction bzw. das Kürzel SF, außer in Passagen, in denen mir die Begrifflichkeit WP aus historischen oder sonstigen Gründen angebracht erscheint.

0.3. Zwei allgemeine Gedanken zur DDR

Die DDR – das ungeliebte Kind

Kaum bekannt ist: Bis auf Ulbricht und seine Getreuen wollte die DDR niemand haben. Das galt (nicht überraschend) für den Westen, aber interessanterweise auch für den Osten. Bemüht man die Eltern-Kind-Metapher, muss man feststellen, dass gerade die Mutter der DDR, die Sowjetunion, dieses Kind ursprünglich ablehnte und später dann eher unwillig mit sich herumschleppte. Bleibt man im Bild, könnte man als unfreiwilligen Vater Adolf Hitler nennen, denn er war es, der neben seinen ungezählten anderen Verbrechen den Ruin des deutschen Reiches und damit die Spaltung Deutschlands bewirkte. Objektiv gesehen ist der unsägliche Diktator selbst in diesem Fall der eigentliche Verursacher des gesamten historischen Desasters.

Während Hitler vermoderte, begannen die Siegermächte mit der Neuordnung der Welt. Dabei hatte der ebenfalls schreckliche Diktator Stalin ursprünglich alles andere als einen zweiten deutschen Staat im Sinn. Vielmehr wollte er im Angesicht des heraufziehenden Ost-West-Konflikts mit allen Mitteln die Eingliederung Deutschlands in den Westen verhindern. Noch 1952 war er bereit gewesen (siehe die sog. Stalin-Note), ein vereintes Deutschland mit freien Wahlen zuzulassen. Die unabdingbare Voraussetzung: Deutschland hätte nach dem Vorbild Österreichs strikt neutral sein müssen. Wäre der Vorschlag zum Zug gekommen, wäre damit die Auflösung der zu dieser Zeit erst gut zwei Jahre jungen DDR unvermeidlich gewesen. Stalin hätte also aus geostrategischen Gründen ohne ein Wimpernzucken die DDR geopfert. Adieu, Sozialismus! Wie wir alle wissen, kam es anders. Weder die Westmächte noch der erste Bundeskanzler Adenauer stimmten zu. Adenauer war trotz aller anderslautender Beteuerung die Westintegration wesentlich wichtiger als die deutsche Einheit. Immerhin. Langfristig gesehen war die Entscheidung der BRD für den Westen richtig gewesen. Die DDR wiederum hatte es, wie es meist bei ungeliebten Kindern der Fall ist, in ihrem Leben schwer. Das mag auch eine Rolle bei Gorbatschows Entscheidung gespielt haben, der deutschen Einheit zuzustimmen.

Die DDR – ein kurzes Geschichtsexperiment

Die DDR hat 40 Jahre lang bestanden. Im historischen Maßstab ist das für einen Staat eine lächerlich kurze Zeit. Nichtsdestotrotz bewegt sich die DDR damit erstaunlicherweise in einer Kontinuität deutscher Staatsgründungen, schaut man auf die letzten 150 Jahre der deutschen Geschichte. Das Kaiserreich überlebte 47 Jahre, die Weimarer Republik lediglich 15 Jahre und das großmäulig auf mindestens 1000 Jahre Dauer prophezeite Nazireich sage und schreibe nur zwölf Jahre – was andererseits zwölf Jahre zu viel waren. Die Bundesrepublik Deutschland hat es in ihrem Bestehen mittlerweile schon auf über 70 Jahre gebracht. Auch das ist geschichtlich gesehen bei Weitem noch keine stolze Zahl. Gleichwohl geht die Bundesrepublik schon jetzt als eindeutiger Sieger aus dem Rennen der neueren deutschen Staatsversuche hervor. Da ich nicht erkennen kann, dass es ernsthafte Erosionserscheinungen gibt, die die Existenz auch der neuen BRD nach 1990 mittel- oder gar kurzfristig infrage stellen, kann man begründet von weiteren Jahren ihres Bestehens ausgehen. Wenn dem so sein sollte, fände ich das gut.

Hans Frey, im Frühjahr 2023

ERSTER TEIL:

I. Prolog: Das utopische Dilemma

1. Vision und Verfall

1.1. Utopie und DDR

»Utopien sind geschichtsmächtig. (…) Ohne Kenntnis ihrer Utopien lässt sich auch die Geschichte der DDR nicht verstehen. (…) Nicht allein die Bajonette der exportierten ›Revolution‹, nicht allein pure totalitäre Macht hielt es zusammen, eine sich mit der Zeit herausbildende, von vielen geteilte Zukunftsvision, die an die allgemeine Fortschrittseuphorie der Moderne anknüpfte, sorgte für geistig-ideologischen Zusammenhalt« (AKS, S. 3).

Mit diesen Worten verweisen Angela und Karlheinz Steinmüller auf die Tatsache, dass es gerade in den 1950er- und 1960er-Jahren eine gewisse Anzahl von Menschen in der DDR gab, die jenseits von egoistischen Wünschen und engen Interessenskonstellationen der Meinung war, dass die neue DDR endlich das so lang ersehnte »bessere« Deutschland repräsentierte, in der trotz aller Mängel und Entbehrungen der erste, geschichtlich einmalige Versuch auf Staatsebene unternommen wurde, eine Gesellschaft der »Freien und Gleichen« (Marx) aufzubauen. Ohne Frage war dies eine echte utopische Vision, die ungeahnte Kräfte und ein zähes Durchhaltevermögen mobilisierte – und zwar auch ohne pausenlose Propaganda oder gar Gehirnwäsche.

Ab den 70ern und dann verstärkt in den 80ern kippte die sowieso schon durchwachsene Stimmung spürbar um, als der Widerspruch zwischen den öffentlichen, gebetsmühlenartig wiederholten sozialistischen Parolen und der gesellschaftlich-politischen Realität die Glaubwürdigkeit des SED-Staates immer mehr untergrub. Dieser Widerspruch leitete neben anderen Faktoren, die vor allem ökonomischer Art waren, den Verfall ein.

Der Hinweis auf Menschen, die – zumindest am Anfang – in der DDR ein hoffnungsvolles Signal sahen, soll nicht die Verfehlungen, ja Verbrechen der SED-Diktatur und das persönliche Leid von Verfolgten und Drangsalierten in der DDR verniedlichen oder kleinreden. Sie soll aber auf jene aufmerksam machen, die ehrlich und aus Überzeugung angetrieben von einem prinzipiell humanen Motiv eine Welt erstrebten, in der alle Menschen glücklich sein konnten. Auch das gehört zur geschichtlichen Wahrheit.

Das unterschied diese Weltsicht fundamental von der Meinung überzeugter Nazis und entsprechend Infizierter. Die Nazigläubigen sahen nur sich und ihre Gruppe. Andere, die nicht dazugehörten (weil sie willkürlich von den selbst ernannten Auserwählten ausgeschlossen worden waren), waren ihnen egal oder mussten isoliert, eingesperrt, als Sklaven benutzt oder gar vernichtet werden, und das war immerhin in deren Vorstellung die überwiegende Mehrzahl der Menschheit. Auch aus diesem Grund war und ist die zeitweise, vor allem in rechtskonservativen BRD-Kreisen beliebte Gleichsetzung des Naziregimes mit der DDR-Diktatur inhaltlich und historisch falsch. Ohne jede Frage war die DDR ein Unrechtsstaat. Gleichwohl wurde sie von den Monstrositäten der Nazis um ein Vielfaches übertroffen.

Umso erschreckender ist, dass aktuell besonders in den östlichen Bundesländern Rechtsradikalismus und Neonazismus einen neuen Nährboden gefunden haben. Das hat sicher etwas zu tun mit der Ignoranz der damaligen DDR-Führung gegenüber rechtsextremen Erscheinungen im eigenen Land wie auch mit der verunglückten, z. T. einen Flächenschaden anrichtenden »Wiedereingliederungspolitik« nach der Wende. Eine Entschuldigung für die Umtriebe der Unbelehrbaren ist das nicht.

1.2. Das Wesen der DDR-SF

Ausgehend von der umfassenden Bedeutung der Utopie in der DDR beginnt Vision und Verfall ohne Umschweife damit, eines der wesentlichsten Ergebnisse der Untersuchung schon am Anfang offenzulegen. Selbstverständlich wird es im Verlauf der Arbeit detailliert begründet und belegt. Dennoch erscheint mir dieses Vorgehen nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar geboten, weil besagtes Resultat zum konstituierenden Merkmal, sozusagen zum innersten Wesen der DDR-SF gehört.

Ich spreche von der Tatsache, dass sich die DDR-SF immer mit ihrem eigenen Staat auseinandergesetzt hat, oder exakter gesagt, mit der diesem Staat zugrunde liegenden Staats-, Gesellschafts- und Geschichtsutopie! Dieses Utopiekonstrukt und das geistig-emotionale Ringen um seine Folgen ist das zentrale Motiv der DDR-SF.

Der Unterschied zur westdeutschen SF

Derartige Einsichten gewinnen noch mehr an Kontur, stellt man der westdeutschen SF die Frage nach ihrem einheitlichen Wesenskern. Unbestritten gab es Schwerpunkte, Trends, Vorlieben, Motivstrukturen, Topoi und Moden, die im Wesentlichen vom jeweils herrschenden Zeitgeist und seinen Strömungen bestimmt waren. Gleichwohl gab es den einen Nukleus, der letztlich alle Ausprägungen vom Einzelwerk bis zu den Subgenres bestrahlte und beeinflusste, in der BRD nicht.

Bis auf die Grundanforderungen, die die SF als Genre stellt, war die westdeutsche SF in sich zu diversifiziert, zu individualistisch, man kann sogar sagen zu flatterhaft, um sich auf einen Ursprung reduzieren zu lassen. Selbst der übermächtige Einfluss der angloamerikanischen SF auf die BRD-SF war zwar ein entscheidender Treibstoff, aber nicht der Motor. Der Motor wiederum war die Summe seiner Teile, die ineinandergriffen und funktionierten, von sich aber nicht behaupten konnten, das Herz zu sein. Der inhaltliche Wesenskern der West-SF bestand darin, keinen gehabt zu haben. Meine These lautet: Die deutschsprachige Science Fiction des Westens erschuf sich einen Raum – natürlich zeitbedingt möbliert –, der sich um alles Mögliche, aber nicht oder nur wenig und dann zumeist nur rudimentär um Systemantagonismen, geschweige denn um eine intensive Utopiedebatte kümmerte. Das ist der entscheidende Unterschied zu 40 Jahren DDR-SF.

Ein Erklärungsversuch

Hat die klare Orientierung der DDR-SF etwas mit Kollektivismus, Kommandostrukturen oder einer verordneten Gleichmacherei zu tun gehabt? Diese Vermutung ist nicht falsch, aber auch nicht ganz richtig. In Wirklichkeit war die WP trotz aller Domestizierung in ihrer Art vielschichtig, vielseitig und kreativ. Gerade ihre Entwicklung in den 70ern und 80ern liefert dafür zahlreiche Belege.

Den eigentlichen Grund für die Utopiefixierung der DDR-SF sehe ich in einem bemerkenswerten Umstand. Es war offensichtlich so, dass sich – abgesehen von Opportunisten, die um des eigenen Vorteils willen alles abnickten – eine große Zahl der SF-Schaffenden in der DDR für die Auseinandersetzung mit einer fundamentalen Utopie tatsächlich interessierte. Selbstredend wirkte sich das höchst unterschiedlich aus. Stimmten die Begeisterten mehr oder weniger unkritisch zu, sahen andere Raum für verbessernde und korrigierende Varianten. Dritte betrachteten das vorgegebene Ideal distanziert und skeptisch. Vierte schließlich nahmen eine bewusste Oppositionshaltung gegenüber den offiziellen Zukunftsvisionen ein. Trotzdem ging kaum jemand achtlos an der Utopie vorbei, und es gab nach meinem Überblick keine namhafte Person in der Szene, die das allgemeine Wertesystem der Marx’schen Lehre grundsätzlich verwarf. Es war die Macht der nicht eingelösten utopischen Versprechen, die den Verfall nicht nur beschleunigten, sondern auch mit bewirkten (siehe auch 20.2.).

1.3. Kleine Geschichte der Utopie

Ob man meiner hier formulierten These, die mit großer Wahrscheinlichkeit für das gesamte »sozialistische Lager« zutrifft, nun zustimmt oder nicht, ein genauerer Blick auf den Utopiebegriff lohnt sich allemal. Wie definiert sich Utopie? Wie entstand sie? Was sind ihre Implikationen, und in welchem Verhältnis steht sie zur Science Fiction? Was ist mit ihrem Gegenstück, der Dystopie? Eine literarische Spurensuche ist angesagt. Sie kann an dieser Stelle natürlich nur in verkürzter Form geschehen. Dennoch, so hoffe ich, trägt sie dazu bei, den Kontext transparenter zu machen (zur Geschichte des Utopiebegriffs siehe auch Friedrich, Science Fiction in der deutschsprachigen Literatur, S. 128 ff.).

Kurzdefinition und methodische Einordnung

Die Utopie ist eine Literaturrichtung, die in bewusster Absetzung von der politisch-sozialen Realität, in der sich der/die jeweilige Autor/in befindet, einen idealen Staat bzw. ein perfektes Gemeinwesen mit einem makellosen Wertesystem und einer vorbildlichen Gesellschaft beschreibt.

Zur besseren methodischen Handhabung nenne ich den Teil der SF, dessen Schwerpunkt in der Darstellung von »guten« bzw. »schlechten« Zukunftsgesellschaften liegt, Social Science Fiction. Dieser Begriff erlaubt es, die enge innere Verwandtschaft beider Subgenres herauszustellen und sie in einem Themenkreis zusammenzufassen. Das beinhaltet, dass ich die Utopie/Dystopie als Teil der Science Fiction ansehe und nicht als ein von der SF getrenntes Genre.

Nach einer anderen Kategorisierung kann man auch als »neutralen« Oberbegriff die Utopie nehmen, die sich dann aufteilt in einen eutopischen und einen dystopischen Zweig – so z. B. bei Karsten Kruschel in seinem SF-Sachbuch Spielwelten zwischen Wunschbild und Warnbild (1995). Utopie meint hier zunächst nur den Teil der SF, der sich in erster Linie mit erdichteten Gesellschaften befasst. Spezifiziert ist dann die Eutopie die Schilderung einer idealen Gesellschaft, während die Dystopie eine Gesellschaft imaginiert, wie sie auf keinen Fall sein sollte. Auch diese Sichtweise ist legitim und brauchbar.

Allerdings bevorzuge ich mein Konzept der Social Science Fiction, weil Thomas Morus, der Erfinder der Utopie, den Begriff sofort mit der Positivvariante verkoppelt hatte. Erst viel später – und zwar mit der Entstehung der SF als Genre – kam die Dystopie hinzu, womit sie genau genommen eine originäre Erfindung der SF ist.

Nachrichtlich zu verstehen ist der Hinweis auf den Vorschlag der Politikwissenschaftlerin Dr. Isabella Hermann, vorgetragen auf dem Elstercon September 2022, nicht mehr von Utopie, sondern von Anti-Dystopie zu sprechen. Es bleibt einer Diskussion an einem anderen Ort überlassen, die neue Überlegung inhaltlich auszuloten.

Wurzeln

Die Wurzeln der Utopie liegen unter anderem in der griechischen Antike. Neben der historisch diffus bleibenden Gestalt des Jambulos (evtl. 2. Jahrhundert v. u. Z.), der als erster Verfasser eines utopischen Reiseberichts gilt, warf Platon, neben Aristoteles der zweite Geistesriese der griechischen Philosophie, auch hier einen schweren Stein ins Wasser. In seiner Schrift Politeia (dt. Der Staat) kreierte er einen aus seiner Sicht vorbildlichen Staat, der für uns heute allerdings mehr abschreckende Züge hat. Ein Korrektiv zu Platons bierernster und problematischer Vorstellung waren die satirisch-utopischen Schriften von Lukian von Samosata (2. Jahrhundert n. u. Z.). In der Spätantike und dem europäischen Mittelalter gab es dann utopische Entwürfe auf christlicher Grundlage. Sie alle schwärmten von einem Reich Gottes auf Erden und stilisierten theokratische Staatsvorstellungen zum allein selig machenden Heil. Die eigentlichen, für die spätere SF interessanten Utopien tauchten indes nicht zufällig zu Beginn der Neuzeit auf (ab 1500).

Das utopische Triumvirat

Der Begriff Utopie war eine Erfindung des englischen Humanisten Thomas More, latinisiert Thomas Morus (1478–1535). Entsprechend heißt sein Roman Utopia (1516). Wörtlich übersetzt bedeutet Utopia »Nirgend-Ort« (Ou-topos), aber auch »Schöner Ort« (Eu-topos).

Der Italiener Tommaso Campanella, eigentlich Giovanni Domenico (1568–1639), war mit seinem Werk Der Sonnenstaat. Idee eines philosophischen Gemeinwesens (1623) der zweite große Utopist dieses Zeitabschnitts. Campanella malte das Bild einer brachialen, im Grunde kommunistischen Gesellschaft – und das alles noch ohne Marx, Engels, Lenin und Stalin.

Der dritte im utopischen Triumvirat des 16. bzw. 17. Jahrhunderts hieß Francis Bacon (1561–1626), ein brillanter Denker, Wissenschaftler, Schriftsteller und Politiker. Mit seiner Utopie Nova Atlantis oder Neu-Atlantis (sie entstand um 1623, erschien aber erst posthum 1627) erschuf er das bedeutsamste Werk der Proto-SF, Abteilung Utopie.

Zur Begriffsklärung: Als Proto-SF bezeichne ich Werke, die zwischen 1500 und 1800 in Teilen oder überwiegend Elemente der späteren SF enthalten, aber noch kein eigenes Genre bilden. Das geschah erst ab 1800.

Das utopische Muster

Sehen wir uns zunächst an, was alle drei Protagonisten gemeinsam hatten, um dann erkennen zu können, worin Bacon seine Mitstreiter überflügelte. Gemeinsam war allen dreien das grundlegende utopische Muster. Dazu gehören der Ort (die einsame Insel, auf der das soziale Experiment ungestört von Außeneinflüssen stattfinden kann), der Gegenstand (die ideale Gesellschaft als erdichtetes Gebilde) und die Absicht, nämlich durch einen Bruch mit der eigenen politisch-sozialen Realität derselben den Spiegel vorzuhalten und zur Besserung aufzurufen.

Bacon kam der späteren SF am nächsten

Auch Bacon begann mit dem typischen utopischen Schema. Gleichwohl trat bei ihm gegenüber Morus und Campanella ein weiteres, entscheidendes Element hinzu.

Neu-Atlantis

Ein schiffbrüchiger Seemann landet auf der allseits bekannten einsamen Insel, die diesmal Bensalem heißt. Dort entdeckt der Protagonist ein erstaunliches Sozialgebilde, den Orden der Wissenden, vor 2000 Jahren von König Salomon gegründet. Bensalem entpuppt sich als riesiges Forschungslabor. Letztlich geht es also in Nova Atlantis um die Hervorhebung von Wissenschaft und Technik als entscheidende Faktoren gesellschaftlicher Innovation. Bacon formulierte als Erster die Ideale des wissenschaftlich-technischen Zeitalters und die Bedingungen der modernen Wissensgesellschaft – und das vor 400 Jahren! Sein berühmter Satz »Wissen ist Macht« ist heute noch eine allgemeingültige Maxime.

Bedeutungswandel

Für die weitere Entwicklung ist Louis-Sébastien Merciers 1771 erschienenes Buch L’an deux mille quatre cent quarante (dt. Das Jahr 2440) hervorzuheben. Mercier (1740–1814) schuf den ersten Zeitreiseroman und ersetzte erstmalig in der Utopie den Raum durch die Zeit. In der späteren SF fanden und finden Utopien fast durchweg in der Zukunft statt. Ebenso veränderte sich im Laufe der Zeit der Ort. Nicht mehr die Insel, sondern z. B. ein anderer Planet ist nun Bühne des Geschehens. Was blieb, war die beabsichtigte Wirkung der Utopie.

Parallel dazu erfuhr der Begriff Utopie einen Bedeutungswandel. Ursprünglich bezeichnete er nur eine bestimmte literarische Richtung. Namentlich im 19. Jahrhundert wurde Utopie zu einem politischen, aber auch umgangssprachlichen Begriff, bei dem ein verächtlicher Unterton mitschwang (Utopie als Spinnerei). Das zeigte sich nicht nur auf konservativer Seite, sondern auch auf Seiten der politischen Linken. Wenn Marx und Engels ihren »wissenschaftlichen« Sozialismus scharf von den Vorstellungen der »utopischen« Sozialisten abgrenzten – davon wird noch mehr zu berichten sein –, schlugen sie sich zur Fraktion der Antiutopisten, obwohl sie selbst, ohne es wahrhaben zu wollen, lupenreine Utopisten waren.

Fast zeitgleich fand seit den 30er-Jahren des 19. Jahrhunderts ganz im Sinne des Vorreiters Mercier die schon genannte Verzeitlichung des Begriffs statt, d. h. die Utopie, die vordem nur eine allgemeine, statische Idee verkörperte, bekam einen Zukunftsbezug. Teilweise war damit auch die Dynamik einer Verwirklichungsabsicht bzw. sogar eines Verwirklichungsversuchs verbunden.

Gattungsgeschichtlich wurde die Utopie im deutschsprachigen Raum als eine Art Zwitter aus Staatstheorie und Prosa angesehen, wobei literarische Qualitäten kaum beachtet wurden. Bezeichnend ist, dass 1845 der Staatswissenschaftler Robert von Mohl (1799–1875) den Begriff »Staatsroman« einführte, unter dem dann die verschiedenen Utopien subsumiert wurden. Hier liegt auch der Grund für den weitverbreiteten Irrtum, die Utopie sei eine von der SF abgesonderte Literaturrichtung.

Mit Gustav Landauers (1870–1919) Werk Die Revolution kündigte sich 1907 die Wende zu einem positiv bestimmten Utopiebegriff an. Von da an wurde Utopie gerade auch in intellektuellen Kreisen als zielführende Vision verstanden, die gegen die Kräfte der Beharrung und der Reaktion das gewünschte Neue setzt. Auch heute noch hat das Wort Utopie seinen pejorativen Beigeschmack nicht verloren, wird aber gleichzeitig als positiv konnotierte Bezeichnung verwendet.

Zusammenfassend kann gesagt werden: Ausgehend von einigen antiken Vorbildern hatte sich über eine Phase christlich motivierter Gottesstaatsschwärmereien ab dem Zeitalter der Renaissance der traditionelle utopische Staatsroman herausgebildet, der neben seinem Kern, der politisch-sozialen Idealvorstellung, auch zunehmend mit wissenschaftlich-technischen Elementen angereichert wurde. Am Ende der Proto-SF stand die Überführung dieser Tradition in die SF (vor allem durch ihre Verzeitlichung). Hier vereinigte sie sich mit den Wurzeln anderer literarischer Gattungen zu einem eigenständigen Genre.

Eine der berühmtesten SF-Utopien der Moderne ist Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887 (dt. 1890), engl. Looking Backward 2000–1887 (1888) des US-Amerikaners Edward Bellamy (1850–1898). In der deutschen SF stechen Auf zwei Planeten (1897) von Kurd Laßwitz, Freiland (1890) von Theodor Hertzka, Utopolis (1931) von Werner Illing und Das Automatenzeitalter (1930/31) von Ri Tokko (d. i. Ludwig Dexheimer) hervor – siehe auch F1, 6.4. und 7.1. sowie F2, 1.3. und 8.6.

Dystopie und die Ambivalenz der Utopie

Besonders interessiert ist die SF an dem Gegenteil der Utopie, nämlich der Anti-Utopie oder Dystopie. Dystopien sind nicht, wie einige behaupten, der Endpunkt der Utopie – auch nach den großen SF-Dystopien erschienen immer wieder neue SF-Utopien –, sondern Korrelate, die bei der Beschreibung von Gesellschaftsmodellen den negativen Aspekt in den Vordergrund stellen oder verabsolutieren.

Gewichtet man beide Teile der Social Science Fiction, stellt man fest, dass sich die SF weit ausgiebiger mit der dunklen Zwillingsschwester der Utopie befasst. Das ist gar nicht so verwunderlich. Dramaturgisch lassen sich dystopische Szenarien weit aufregender und spannender gestalten als utopische Entwürfe, die nach den ersten Aha-Effekten schnell in eine gepflegte Langeweile abzudriften drohen.

Die weltweit berühmtesten Dystopien sind zweifellos George Orwells 1984 (1949) und Brave New World (1932) von Aldous Huxley, das in Deutschland erstmalig 1932 mit dem Titel Welt – wohin? und 1950 als Wackere neue Welt erschien, in der DDR unter dem Titel Schöne neue Welt. Daneben gibt es eine überwältigende Fülle von weiteren SF-Dystopien.

Zu korrigieren ist der Glaube, dass jede SF automatisch utopisch ist. Natürlich gibt es derartige Werke. Kunde von Nirgendwo von William Morris (erste Buchausgabe 1892) ist z. B. eine lupenreine Utopie, die zugleich ein Gegenentwurf zu Bellamy ist. Dagegen ist Jewgenij Samjatins Wir (1920) eine lupenreine Dystopie. Tatsächlich aber gibt es in einem weit größeren Teil der SF utopische und dystopische Strukturen nicht in Reinkultur, sondern als Parallelstränge. Utopie und Dystopie sind oft wie spezielle Muster neben anderen in den SF-Teppich eingewoben.

Hier erklärt sich, warum die SF generell nicht als utopische Literatur bezeichnet werden kann, weil dies einen Automatismus unterstellt, den es nicht gibt. Die Utopie ist ein wichtiger Zubringer der SF – nicht weniger, aber auch nicht mehr! Die SF als Genre hat das utopische Muster assimiliert, ohne in ihrer Gesamtheit eine ausschließlich utopische Literatur zu sein. Logischerweise kann die SF demnach auch ganz ohne Utopie auskommen. Das vielleicht berühmteste deutschsprachige Beispiel dafür ist Bernhard Kellermanns Der Tunnel (1913). Der Text ist fraglos pure SF, gleichzeitig aber a-utopisch, da er trotz einer beißenden Kapitalismuskritik keine Gesellschaftsalternative anbietet (a-utopisch bitte nicht mit antiutopisch verwechseln).

Gleichfalls muss die Vorstellung, Utopien seien von vornherein etwas »Gutes«, richtiggestellt werden. In Wirklichkeit sind Utopien oft zweischneidige Schwerter. In der Tat ist es die Absicht der Utopie, die Welt zu verbessern. Das bedeutet aber nicht, dass die angepriesenen Mittel dafür geeignet sind. Die Dystopien hingegen gelten gemeinhin als Warnung, ohne zu bedenken, dass ihre Alternativen, falls sie welche haben, oft auch nicht unproblematisch sind (siehe z. B. Schöne neue Welt). Anders ausgedrückt: Die zumeist ehrenwerte Absicht der Texte darf nicht unbedingt mit den objektiven Ergebnissen gleichgesetzt werden, die sie bei einer Realisierung zeitigen würden. Die SF enthüllt das der Utopie innewohnende Janusgesicht, genauso wie die Dystopie keineswegs frei ist von Doppeldeutigkeiten. In dem SF-Roman Der Traummeister von Angela und Karlheinz Steinmüller wird das sehr anschaulich und zudem literarisch hochwertig auf den Punkt gebracht.

1.4. Ein Schlüsselroman: Von Träumen und Albträumen

Wie in der allgemeinen Belletristik gibt es in der SF zuweilen Schlüsselromane, in denen sich wie in einem Brennglas historische Epochen mythisch-metaphorisch bündeln. Für die Weimarer Republik hatte ich in diesem Sinn die SF-Romane Utopolis (1931) von Werner Illing und Metropolis (1926) von Thea von Harbou ausgemacht und sie als Prolog dem zweiten Band vorangestellt (F2, S. 14 ff.). Eine ähnliche Rolle spreche ich dem Roman Der Traummeister (1990) von Angela und Karlheinz Steinmüller für die DDR zu. Er dient deshalb als Prolog zum vorliegenden vierten Band der Reihe.

Verpasste Chance

Leider umgibt die Editionsgeschichte des Werks eine gewisse Tragik, die kurz erläutert werden soll. Es wäre durchaus möglich gewesen, dass Der Traummeister bereits 1988 hätte erscheinen können. Tatsächlich kam er 1990 auf den Markt, zu einer Zeit also, als die DDR faktisch schon Geschichte war und die Buchläden sturzflutartig mit West-SF überschwemmt wurden. Zu allem Verdruss waren es auch noch Banalitäten – z. B. hatte der Grafiker die Abgabe von Farbtafeln für das Buch verbummelt, auf die der Verlag wartete –, die die folgenschwere Verzögerung verursachten. Durch die verspätete Veröffentlichung verpasste das Buch einen neuralgischen Moment der Geschichte. 1988 wäre der Titel in der noch bestehenden DDR wahrscheinlich zur Sensation geworden, die eine große Nachfrage ausgelöst hätte. 1990 hatte sich der Wind gedreht. Das wankelmütige Publikum reagierte plötzlich auf ganz andere Anreize, und der Verlag blieb auf einem Großteil der Auflage sitzen. Der Traummeister versank im Meer der von heute auf morgen möglich gewordenen Wahlfreiheiten. Wahlfreiheiten sind natürlich gut. Die traurige Folge war nur, dass hervorragende Werke wie DerTraummeister nicht mehr die ihnen gebührende Wertschätzung erfuhren.

Interpretation

Grundlage meiner Besprechung ist der Band 4 (2020) der von Erik Simon herausgegebenen Steinmüller-Werkausgabe im Memoranda Verlag. Gegenüber der Erstausgabe von 1990 fügte das Autorenduo dem Text ein endgültiges Schlusskapitel hinzu. Weitere Anhangtexte sowie eine Karte der fiktiven Stadt Miscara ergänzen das Buch. Insgesamt ist Der Traummeister eingebettet in einen in sich zusammenhängenden Erzählkosmos, der weitere Bände und Storys umfasst. Einen ausgezeichneten Überblick bietet Erik Simons Aufsatz »Das Steinmüller-Universum« (in: Das Science Fiction Jahr 2019).

Der Traummeister

Vor tausend Jahren wurde der Planet Spera von hoch technisierten Abgesandten der Erde besiedelt (die Miscarer nennen sie »dieGroßenAlten«). Die Vorgeschichte wird im Band 3 der genannten Werkausgabe mit dem Titel Spera (erstmals 2004 bei Shayol, Neufassung 2018 beim Golkonda-Imprint Memoranda) erzählt. Sie fächert in Einzelerzählungen die Geschichte der irdischen Kolonie auf. Demnach fallen die Kolonisten im Laufe der ersten Jahrhunderte in die Barbarei zurück, um dann eine dem europäischen Mittelalter ähnelnde Entwicklungsstufe zu erreichen.

An den Ereignissen in der unabhängigen Stadtrepublik Miscara, die von einem aus Patriziern bestehenden Rat regiert wird, schildern die Autoren den Versuch, wieder den Sprung in eine technisch-industrielle Zivilisation zu schaffen. Eine ganz und gar ungewöhnliche, ja phantastische Methode soll Miscara dabei helfen. Sogenannte Traummeister versorgen nachts die Bevölkerung mit motivierenden, anstachelnden und zukunftsweisenden Träumen, die ihr tagsüber die Kraft geben, eine entbehrungsreiche Aufbauarbeit zu leisten. Das Wirken der Traummeister bedeutet indes, dass die Menschen das eigenständige Träumen verlernen. Schließlich wird das Träumen sogar ganz abgeschafft, da es, so die Doktrin, überflüssig geworden sei. Der Traummeister Nerev hat nämlich mit der Formel »Fleiß und Industrie« den Schlüssel zu einer rein rationalistischen und prosaischen Betrachtung der Dinge gefunden – so glauben es jedenfalls Nerev und der Rat.

Hatte Spera eine tausendjährige Geschichte im Blick gehabt, so ist es in der Fortsetzung Der Traummeister nur ein Jahr, in dem sich dramatische Veränderungen abspielen. Der amtierende Rat, der schon seit einiger Zeit mit Sorge beobachtet, dass die Entwicklung durch eine allgemeine Lustlosigkeit und einen eingerissenen Schlendrian stagniert, verspricht sich von der Nutzung der alten Traumtechnik einen Belebungsschub. In dieser Situation taucht ein geheimnisvoller Fremder namens Kilean auf, der das Zeug zu einem Traummeister hat. Kilean wird zum neuen Traummeister ernannt und bezieht den sogenannte Traumturm in der Mitte der Stadt.

Die Patriziertochter Glauke, die als allgegenwärtige Ich-Erzählerin durch den Roman führt, wird ihm als Mittlerin, Aufpasserin, Beeinflusserin und Geliebte zur Seite gestellt. Der Rat ist nämlich keinesfalls gewillt, Kilean freie Hand zu lassen. Im Gegenteil will er ihm durch eine »Richtschnur für lotrechtes Träumen« (S. 76 ff.) die gewünschten Inhalte vorgeben. Glaukes Aufgabe ist es unter anderem, dem schlafenden Kilean Stichworte ins Ohr zu flüstern, damit dieser sie zu Träumen für alle umformt.

Indes kann der neue Traummeister, der sich zu Beginn selbst noch im Stadium des Experimentierens befindet, die ihm zugedachte Rolle nur unzulänglich erfüllen. Zu fordernd und mächtig schieben sich immer wieder seine eigenen Vorstellungen über das, was geträumt werden soll, in den Vordergrund. Die Unzufriedenheit des Rates über seine Arbeit wächst in gleichem Maße wie die Unzufriedenheit Kileans über die ausbeuterischen Ungerechtigkeiten der Stadtgesellschaft. Nach kurzer Zeit nehmen Kileans Wünsche überhand, und er entfesselt die Mittal, das Zwischenreich der Traumbilder. Chaotische Zustände, blutige Ausschreitungen und die Entmachtung des alten Rates sind die Folge.

Der Traummeister entwirft ein Manifest, das eine makellose, rundum humane Utopie proklamiert (S. 183 ff.). In der Idee der gläsernen Stadt metaphorisiert sich die Vision. Glauke übernimmt derweil eine politische Führungsrolle in einem Rat, dem jetzt jeder angehören kann. Schnell offenbart sich ein grundlegender Widerspruch. Im Schlaf leben die Menschen in der blitzblanken, funkelnden, gläsernen Stadt. Am Tag aber müssen sie in einer grauen, staubigen Stadt aus Stein ihrer mühseligen Arbeit nachgehen. Hatte man anfangs noch im Vertilgen der Vorräte geschwelgt, so bedrängen zunehmend Engpässe und Mangelwirtschaft die Bevölkerung. Unter dem Verdikt der Gleichheit werden die Anordnungen und ihre Durchführung immer rücksichtsloser. Dazu trägt eine Geheimabteilung bei (wir würden Stasi sagen), die übrigens schon unter dem alten Regime existiert hat und Kakerlaken-Dienst genannt wird. Alle werden ausspioniert, selbst die führenden Ratsmitglieder.

Der sich radikalisierende Kilean vermischt immer stärker Traum und Wirklichkeit miteinander, und die Abhängigkeit der Menschen von Kileans Chimären wächst stetig. Ordnungsstrukturen lösen sich auf. Das Leben nimmt albtraumhafte Züge an. Glauke, den verhängnisvollen Weg erkennend, will Kilean davon abhalten, stößt aber auf taube Ohren. Nach vergeblichen Anläufen, das Unheil abzuwenden, flieht die in Ungnade gefallene Patriziertochter, die Kilean immer noch liebt und auf Versöhnung hofft, in die sengend heiße Wüste.

Als sie nach Miscara zurückkehrt, ist alles verloren: der Traumturm zerstört, Kilean verschwunden und die Stadt am Ende. Was mit Glauke und Kilean weiter geschieht, bleibt offen. Miscara aber hat endgültig ausgespielt. Aus dem Anhangtext »Miscara – die Stadt hinter der Wüste. Eine Handreichung« erfährt man, dass der kleine Staat auf eigenen Antrag hin seine Eigenständigkeit aufgegeben hat und Teil des Nachbarlandes Grunelien geworden ist.

Im Rahmen der Interpretation soll vorab gefragt werden, ob es sich bei Der Traummeister überhaupt um einen SF-Roman handelt oder nicht doch um Fantasy. Sicher, das Hintergrundszenario mit der Planetenbesiedlung und der aufgezeichneten Entwicklung der planetaren Bevölkerung ist SF. Freilich entstehen erste Zweifel, denkt man an das pseudomittelalterliche Ambiente mit einer Stände- und Gildengesellschaft, an die Adelsgeschlechter und an ab und zu auftauchende Artefakte, die mit einem magischen Nimbus umgeben sind. Es hat sogar, so lässt sich dem Erzählten an mehreren Stellen entnehmen, in Miscaras Vergangenheit Drachen gegeben. Die Unsicherheit verstärkt sich bei den Traummeistern, die an sagenumwobene Zauberer erinnern. Zudem gibt es für die Methode zur Traumübermittlung nirgendwo eine Erklärung. Überhaupt wandelt man über weite Strecken des Textes durch eine atavistische Welt mit einer bewusst altertümlichen Sprache. Vollends irritiert das Abgleiten in die sog. Mittal (nach den Steinmüllers die Mittal, also feminin), ein ominöses, entrücktes mentales Zwischenreich, in dem die Welt auf dem Kopf steht, die Naturgesetze nicht mehr gelten und sich neben Paradiesen auch Dämonen, Monster und Schreckenswelten materialisieren. Ist das nicht pure Fantasy? Ehe die Frage beantwortet wird, will ich mich zunächst intensiver mit dem Wesen des Romans befassen.

Strukturell bewegt sich das Werk auf zwei Inhaltsebenen. Auf der ersten Ebene ist Der Traummeister eine ebenso brillante wie verschlüsselt-subtile Kritik an den Verhältnissen in der DDR. Das Schwanken zwischen Vision und Verfall, zwischen großer Menschheitsutopie und verheißungsloser, trister Realität kann auf Dauer nicht funktionieren. Der Versuch der Herrschenden, per Staatsdoktrin Denken, Fühlen und Handeln der Menschen zu bestimmen, und der gleichzeitige Umstand, dass so wenig davon tatsächlich »unten« ankommt bzw. sich in etwas gar nicht Beabsichtigtes verkehrt, entkleidet derartige Bemühungen jeglicher echter Sinngebung und lässt sie zur einhämmernden Propaganda verkommen. Parallelen zwischen Miscara und der DDR sind nicht zu leugnen. An anderer Stelle nennen die Steinmüllers die DDR eine »schlechte Parodie auf ein nicht aufgegebenes Ideal« (AKS, S. 43).

Die Geschichte der Traummeister ist demnach die Geschichte vielfältiger Versuche, dem Ideal, an das man sich hartnäckig klammert, stets neues Leben einhauchen zu wollen. Der vorläufig letzte Schritt besteht in einem radikalen politischen Kurswechsel, eingeleitet durch den Traummeister Nerev. Die Wertebasis der Staatsutopie wird reduziert, indem die Formel »Fleiß und Industrie« die abgenutzten Tagträume ersetzt und das Träumen selbst abschafft. Ist es zu weit hergeholt, im vorletzten Traummeister Nerev Lenin zu erkennen, der mit seinem Ausspruch »Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung« im Grunde Nerev die Worte in den Mund legt? Nebenbei: Es war der große H. G. Wells, der 1920 die Gelegenheit bekam, Lenin (d. i. Wladimir Iljitsch Uljanow, 1870–1924) interviewen zu können. Wells nannte ihn anschließend den Träumer im Kreml.

Nerevs Rezept trägt eine gewisse Zeit, doch das Ende ist vorprogrammiert. In der aktuellen Romanzeit weiß die Stadtregierung sehr wohl, dass sich die Industrie-Formel verbraucht hat. Der Rat will das Ruder herumreißen, indem er die nächtliche Suggestion aus blanker Berechnung heraus wieder einführt. »Für die Ratsherren und Ratsdamen haben die Träume eine überaus wichtige politische Funktion zu erfüllen. Sie sollen die Bürger von der staubigen Realität ablenken und für die Belange der Stadt mobilisieren. (…) Wilde Eigenwilligkeiten haben da keinen Platz!« (»Nachwort«, in: Der Traummeister, S. 309).

Um auch den Traummeister zu kontrollieren, wird für ihn eine Direktive erlassen. Die Steinmüllers: »Wer will, kann in der ›Richtschnur für lotrechtes Träumen‹ die Prinzipien des sozialistischen Realismus erkennen. Wir mussten sie nur aus dem steifen ostdeutschen Politdeutsch in die nicht minder steife miscarische Amtssprache übersetzen. (…) Der Traum im Dienst der Propaganda« (ebd., S. 310). Gleichwohl hat Kilean, der neue und letzte Traummeister, alles andere als eine Steigerung der Produktion im Sinn. Mit den besten Absichten erstrebt er die ideale Gesellschaft – und stürzt damit Miscara zuerst ins Chaos und dann in den Untergang. »Philosophen, die von der Wahrheit ihres Gesellschaftsmodells absolut überzeugt sind und die die Menschen gegen ihren Willen beglücken wollen, sind womöglich die schlechtesten Herrscher« (AKS, S. 44).

Kileans missglückte somnambule Missionierungen stoßen die Tür zur zweiten Inhaltsebene des Buchs auf, die unterhalb der Dekuvrierung des SED-Staates liegt und sich erst bei genauerer Lektüre erschließt. Diese Ebene geht über die DDR-Kritik hinaus und bekommt so eine allgemeine politisch-kulturelle Bedeutung. Sie beinhaltet die desillusionierende Erkenntnis, dass jede Utopie über Schattenseiten verfügt, also stets Elemente in sich trägt, die allen edlen Ansprüchen zum Trotz etwas Dunkles, Antihumanes und Destruktives hervorbringen kann. Je unnachsichtiger eine Utopie der Realität aufgezwungen wird, mögen ihre Versprechungen auch noch so verlockend sein, desto weniger wird sie dem Ideal entsprechen, vor allem dann nicht, je rigoroser die Mittel zu ihrer Durchsetzung sind. Jede Utopie trägt eine Dystopie im Bauch, die auf ihre Geburt lauert.

Nichtsdestotrotz stimmt es aber auch, dass der Mensch Utopien braucht, will er sich in der unüberschaubaren Totalität des Seins Orientierung verschaffen. Menschenzugewandte Utopien können also durchaus etwas Gutes haben, vorausgesetzt, man spricht ihnen keine alleingültige Wahrheit zu. In dieser Lesart entpuppt sich Der Traummeister neben der Entblößung eines verunglückten Utopieverständnisses und seines politischen Missbrauchs als ein kluges und tiefsinniges Nachdenken über Wert und Unwert der Utopie an sich. »Entgegen den Wünschen des Lektorats lautete unser Fazit (das der Steinmüllers, H. F.), dass ein jeder seine eigenen Träume haben muss – ein Abschied von der perfekt vorgedachten, nie auf alle Menschen zugleich passenden Utopie und zugleich eine gewisse Vorahnung der kommenden Umwälzungen« (AKS, S. 41)..

Zum Abschluss sollen noch drei Einzelaspekte behandelt werden. Der erste Aspekt: Ist Der Traummeister ein Science-Fiction- oder ein Fantasy-Roman? Festgestellt wurde: Die beiden konstituierenden Hauptthemen des Buchs sind die DDR-Kritik und die Utopiekritik. Unter diesen Aspekten ist DerTraummeister Social Science Fiction vom Feinsten. Polternde Orks, grantelnde Zwerge und zusammenphantasierte Belanglosigkeiten mit magischem Schnickschnack kommen nicht vor. Vielmehr konfrontiert der Roman die Lesenden mit einer politischen und philosophischen Auseinandersetzung von großer Relevanz. Der SF-Gehalt von Der Traummeister liegt insbesondere in seinem Modellcharakter. Die verfremdete Welt ist zugleich eine realitätsbezogene Welt, die neben beißender und dennoch feinsinniger politische Kritik ein Podium bietet, auf dem grundlegende Fragen des sozialen Zusammenlebens diskutiert werden. Indem sich die Inhalte also deutlich vom gängigen Regelwerk der Fantasy absetzen, rückt der Roman umso mehr in den Bereich der SF.

Allerdings muss eingeräumt werden, dass vor allem das zentrale Motiv des Traumes, gesteigert durch umfangreiche Passagen, die das albtraumhafte Wirken der sog. Mittal beschreiben, Grenzen zwischen SF und Fantasy fließend macht.

In der SF-Literaturtheorie wird zuweilen mit dem unbestimmten Begriff der Science Fantasy operiert, der eine Mischform der beiden Genres zu erfassen versucht. Ob uns diese eher akademische Debatte allerdings weiterbringt, sei dahingestellt.

Der Roman Der Traummeister ist, so denke ich, keine Fantasy, lupenreine Science Fiction ist er aber auch nicht. Der Traummeister ist in vielerlei Hinsicht ein Sonder- und Ausnahmefall; kryptisch, literarisch, phantastisch und doch in seinem Kern fast erschreckend wirklichkeitsnah. Nach meinem Eindruck kann man den vermeintlichen Zwiespalt sogar plausibel auflösen. Das Autorenpaar wählte in der Form des Werks – vor allem dann, wenn es um das psychische Erleben der Romanfiguren geht – Ausdrucksweisen der klassischen Phantastik, während Inhalte und Botschaften rational und wissenschaftlich bleiben.

Damit kommt man zu einem entscheidenden zweiten Gesichtspunkt. Augenfällig ist der poetische, mit zarten lyrischen Elementen angereicherte Stil des Werks. Seine ebenso filigrane wie kraftvolle Sprache, die die Atmosphäre einer versunkenen anachronistischen Welt durch ein sorgfältig gewähltes Vokabular lebendig macht, seine aus dem Vollen schöpfende Wortgewalt und die Fülle origineller Metaphern machen das Buch zu einem Sprachkunstwerk. Man sollte sich Zeit oder besser gesagt Muße gönnen, um diese Seite von Der Traummeister angemessen genießen zu können.

Die Zentralfiguren des Romans sind die Patriziertochter Glauke und der unselige Kilean. Glauke repräsentiert die Praktikerin, die in einem Mix aus Kalkül, eigenen Wünschen und gesundem Menschenverstand stets nach Kompromissen und pragmatischen Lösungen sucht. Dagegen ist Kilean der von einem glühenden Sendungsbewusstsein erfüllte Ideologe, der meint, die Wahrheit gepachtet zu haben. Dabei ist Kilean kein machtlüsterner Unmensch. Der letzte Traummeister will das Beste für alle Menschen, vergaloppiert sich aber und wird so streckenweise zu einem Besessenen. Das Fazit der Autoren: »Kilean und ganz Miscara müssen sich wachkämpfen, (…), sich von der übermächtigen Gewalt des einheitlichen Traumes, der zum Alb geworden ist, befreien« (S. 307). Leider kommt die Erkenntnis zu spät. Schließlich ist nicht unwichtig, dass Glauke und Kilean bei allen Konflikten ein Liebespaar sind, dessen Liebe sich allerdings nicht erfüllt. Sie werden getrennt, und ihr Schicksal verschwindet im Dunkeln. Ich deute das so, dass Wirklichkeit und Traum, Pragmatismus und Utopie, nüchterne Überlegung und Wunschdenken beim Menschen weit enger miteinander verbunden sind, als man gemeinhin denkt. Gleichwohl bleibt der Konflikt zwischen den Polen ungelöst.

Der Traummeister ist eines der wichtigsten SF-Werke aus der Spätphase der DDR. Fokussiert man es gar auf die Verschmelzung von sezierend-politischer und tiefschürfend-philosophischer Kritik, gegossen in die Form eines artifiziellen Romans, so ist es das bedeutendste Werk dieser Ära. Dass ausgerechnet am Ende der DDR und der DDR-SF ein literarischer Diamant steht, der innuce alles zusammenfasst, was beide geistig-ideologisch ausgemacht hat, entbehrt nicht einer doppelten, durchaus widersprüchlichen Gefühlslage. Natürlich waren gerade auch die Steinmüllers ehrlich froh über das Ende eines Regimes, das die heute für selbstverständlich gehaltenen Freiheiten nicht zugelassen hatte. Dennoch kann man die im Roman mitschwingende bedauernde Melancholie nicht beiseiteschieben. Sie beruht jedoch nicht auf einer verschrobenen DDR-Nostalgie, sondern auf der bitteren Einsicht, dass wieder einmal ein utopisches Experiment gescheitert war. Was als grandiose Vision begonnen hatte, lief in einem elegischen Abgesang aus.

II. Philosophisch-politische Grundlagen

Das Wechselspiel zwischen Vision und Verfall in der DDR-Geschichte führt zu übergreifenden Fragen. Was waren die Säulen der Vision? Woher kamen sie? Wieso entfalteten sie eine derartige Kraft? Und: Warum zerbröckelten die Säulen? Woran zerbrach die Utopie? Was waren die Gründe ihres Scheiterns? Der Traummeister gab bereits wichtige Aufschlüsse. Nun soll es um faktenanalytische, nicht um vornehmlich belletristische Kontexte gehen.

2. Denkgebäude und Ideologien

Mit einiger Berechtigung kann man unterstellen, dass die philosophisch-politischen Grundlagen, auf denen das Staatswesen der DDR beruhte, vielen heutigen Menschen wenig oder überhaupt nicht mehr bekannt sind. Man begnügt sich mit pauschalen Bewertungen wie Diktatur, Bespitzelung, der Mauer als Symbol des Eingesperrtseins, maroder Mangelwirtschaft und der Vorstellung einer grauen, freudlosen Republik. In all dem steckt durchaus Wahrheit, aber oft eben nur eine oberflächliche, banalisierende, versatzstückhafte, z. T. verzerrte Wahrheit. Für ein vertieftes Begreifen des Zusammenhangs reicht das allemal nicht. Es ist deshalb notwendig, relevante Bedingungsfaktoren dieser historischen Sturmflut wieder in Erinnerung zu rufen. Kenntnisse über die europäische Sozialgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte, philosophisch-politische Wurzeln und den Marxismus in seinen Varianten sind hilfreich, um einen Begriff von den geistigen Ursachen zu bekommen, die die DDR überhaupt erst möglich gemacht haben.

Selbstredend kann ich nicht auf wenigen Seiten die ungeheure Fülle des Stoffs auch nur halbwegs umfassend darstellen. Trotzdem! Ich nehme das Wagnis an und versuche, den Lesenden wenigstens den Eindruck eines grundstürzenden Prozesses verständlich zu machen. Im Übrigen ist es niemandem verboten, sich mithilfe einschlägiger, zumeist qualifizierter Literatur, die es zuhauf gibt, zusätzlich und detaillierter sachkundig zu machen.

2.1. Karl Marx – Gesellschafts- und Geschichtstheorie

Wirtschaftliche und soziale Hintergründe

Im 19. Jahrhundert war in den europäischen Staaten die soziale und politische Lage sehr vieler Menschen katastrophal. Das Elend war unbeschreiblich, und die Armutsbevölkerung wurde schikaniert, entrechtet und regelrecht ausgeplündert. Die gegen Ende des 18. Jahrhunderts aufbrechende industrielle Revolution, im Wesentlichen verursacht durch die Nutzung der Dampfmaschine, hatte viele Handwerker entwurzelt, sodass sie in den wie Pilze aus dem Boden schießenden Fabriken Arbeit suchen mussten. Eine Landflucht komplettierte den Zustrom in die sich industrialisierenden Regionen und Städte. Aus beiden Strömen rekrutierte sich der neue »Stand« der Arbeiter, der im damaligen Sprachgebrauch zur Arbeiterklasse wurde.

Die Umbrüche wurden sehr wohl registriert, veranlassten jedoch die politischen und ökonomischen Eliten nicht zum Umdenken. Bessergestellte, Wohlhabende bis hin zu den wirklich Reichen und Mächtigen reagierten mit Ignoranz oder zynischer Verachtung. Sensiblere Menschen waren indes nicht bereit, derlei Zustände zu dulden. Sie bemühten sich, die Verhältnisse zu verbessern oder sogar grundlegend zu ändern, und initiierten öffentliche Aktionen gegen das Unrecht. So entstanden soziale Bewegungen, die in Deutschland ab 1863 im Aufkommen der Sozialdemokratie kumulierten (der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein als Keimzelle der SPD). Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 war die SPD die einzige deutsche Linkspartei und unangefochtene Repräsentantin der deutschen Arbeiterbewegung.

Politische Hintergründe

Ab 1914 veränderte sich die Situation dramatisch. Es gab Abspaltungen, die 1917 zur USPD (Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands) und schließlich zur Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) um die Jahreswende 1919/20 führten. 1922 kehrte die USPD wieder zur SPD zurück. Von da an bekämpften sich die linksreformerische SPD und die linksextreme, antidemokratische KPD. Im Zuge ihrer Stalinisierung in der Weimarer Republik entwickelte sich die KPD – neben den Nazis – zur härtesten Kontrahentin der Sozialdemokratie. Als Hitler 1933 an die Macht kam, hatten beide Arbeiterparteien desaströs verloren. SPD und KPD wurden verboten und gingen in den Untergrund. Aus Teilen der KPD-Emigranten in Moskau entstand die sog. Gruppe Ulbricht, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zur treibenden Kraft der SED und der DDR werden sollte.

Zur Person

Im 19. Jahrhundert kamen die führenden Personen der Arbeiterbewegung aus den unterdrückten Schichten selbst, vereinzelt aber auch aus dem privilegierten Bürgertum. Eine weitere (kleine) Gruppe stellten Intellektuelle und Wissenschaftler, unter denen Marx unter dem Aspekt der historischen Wirksamkeit sicherlich die herausragendste Persönlichkeit ist. Der aus Trier stammende Karl Marx (1818–1883), der sein Leben lang von dem Wuppertaler Unternehmer Friedrich Engels (1820–1895) als Freund, Sponsor, Mitstreiter und Inspirator begleitet wurde, wuchs in einer jüdischen Anwaltsfamilie auf. Seine Eltern konvertierten nach einigen Jahren zum Protestantismus. Der junge Marx entdeckte während seines Jura-Studiums sein brennendes Interesse für die Philosophie und setzte sich vor allem mit dem damals einflussreichen Hegelianismus auseinander, der den Charakter einer preußischen Staatsphilosophie angenommen hatte. 1843 heiratete Karl Marx Jenny von Westphalen (1814–1881), die Tochter einer geadelten Beamtenfamilie. Sie stand bis zu ihrem Tod treu an seiner Seite. Marx überlebte sie nur zwei Jahre.

Geistiger Vorläufer I: Georg Wilhelm Friedrich Hegel

Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) war ein bedeutender Vertreter des deutschen Idealismus und Namensgeber des Hegelianismus. Ausgehend von dem überragenden Philosophen Immanuel Kant (1724–1804), dessen Erkenntnistheorie den menschlichen Geist erforschen wollte, abstrahierte Hegel diesen zu einer universalen Entität, die er Weltgeist nannte – was immer das auch sein sollte. Er kam zu der Auffassung, Natur und Geschichte seien durch das Schreiten des Weltgeistes durch die Geschichte vom »An-sich-Sein« zum »Für-sich-Sein« erklärbar. Das zeige sich daran, so Hegel, dass die unbewusste Natur den bewussten Menschen schafft. Der Geist kehrt zu sich selbst zurück, indem er sich seiner gewiss wird. Insofern ist alles auf Vernunft und deren Entfaltung ausgelegt – grundlegendes Werk Die Phänomenologie des Geistes (1806/07).

Hegel prägte den für uns krude klingenden Satz: »Alles, was ist, ist vernünftig.« Angesichts des ungeheuren Elends und Leids in der Historie schütteln wir hier verständnislos den Kopf. Bei Hegel handelte es sich aber nicht um die Bewertung einzelner Ereignisse, sondern um die Qualifizierung eines universalen Prozesses, der stetig und unaufhaltbar die Welt vernünftig mache. Damit verband er einen Freiheitsbegriff, der nichts mit Libertinage zu tun hat, sondern bejahende Einsicht in das Notwendige bedeutet.

Hegel und die Dialektik

Wie kann besagter Prozess überhaupt funktionieren? Hegel wählte als Methode die Dialektik, eine schon bei dem antiken griechischen Naturphilosophen Heraklit (um 520 v. u. Z. bis um 460 v. u. Z.) zu findende Vorstellung von der Einheit der Gegensätze. Hegel interpretierte den Weltlauf als Kampf der Gegensätze und fand damit ein in seinen Augen grundlegendes Bewegungsgesetz, das angetrieben vom ominösen Weltgeist alles bestimmt.

Die Dialektik produziert als These Widersprüche, die zur Antithese werden. Aus dem Pro und Kontra kristallisiert sich die Synthese heraus, die auf einer höheren Ebene die alten Widersprüche aufhebt. Die Synthese kann aber wiederum zur These werden, die eine nächste Antithese gebiert. Beide verschmelzen schließlich erneut zur Synthese. Dieser Vorgang ist aber keine Endlosschleife. Irgendwann hat die Synthese ein Entwicklungsniveau erreicht, das alle Widersprüche ein für alle Mal beseitigt. In der Tat war Hegel der Meinung, dass er bereits in dieser »Endzeit« lebe, da der preußische Staat das ideale Gemeinwesen sei und sich somit ein Ende der Geschichte ankündige. Für ihn war seine Zeit die Moderne, womit er den uns heute geläufigen Begriff prägte.

Hingewiesen sei noch auf einen Umstand, der bei Hegel nicht unbedingt zu erwarten ist. Der Preuße, der eigentlich über den Wassern schwebte, machte sich auch Gedanken über die junge industrielle Revolution. Er erkannte bereits die zerstörerischen Auswirkungen der maschinellen Produktion auf die Arbeiter (»Abgleiten in den Stumpfsinn«) und beschrieb etwas, was Marx später als Entfremdung bezeichnete. Da Hegel aber nur die reine Geistesarbeit als echte Arbeit ansah, versandete bei ihm dieser Ansatz. Marx hingegen griff ihn auf und machte ihn zu einem zentralen Kritikpunkt am Kapitalismus.

Geistiger Vorläufer II:Ludwig Feuerbach

1841 trat der Philosoph und Anthropologe Ludwig Andreas Feuerbach (1804–1872) mit seinem Buch Das Wesen des Christentums an die Öffentlichkeit. Er wurde schlagartig berühmt und übte großen Einfluss auf den Vormärz aus – so wird der Zeitabschnitt nach dem Ende der Herrschaft Napoleons um 1815 bis zur (missglückten) Deutschen Revolution von 1848 genannt. Sein Buch beinhaltet eine ätzende Religionskritik. Die Kernthese Feuerbachs, der nur die materielle Welt und den realen Menschen gelten lässt, besteht in einer Entmystifizierung des Gottesbilds, indem er es auf das Bild zurückführt, das sich der Mensch von sich selber macht. Die Religion ist also kein von übernatürlichen Wesenheiten geoffenbartes Wissen, sondern ein Produkt des Menschen, das (auch) als Instrument der Unterdrückung und Einschüchterung dient, solange der Mensch das eigentliche Wesen der Religion nicht durchschaut hat.

Der Einfluss von Feuerbach und Hegel auf Marx

Nichts beschreibt den Einfluss Feuerbachs auf Marx besser als die umgangssprachlich bekannte Marx’sche Formel »Religion ist Opium fürs Volk« – korrekt lautet das Zitat »Religion ist das Opium des Volkes«. Damit war für Marx eine weitere Auseinandersetzung mit der Religion erledigt – außer in ihrer Funktion als Waffe der Reaktion, was auch für seine Epigonen galt. Es ist die konsequente Diesseitsorientierung von Marx, die zum Erbe Feuerbachs gehört.

Ungleich tiefgreifender und wichtiger war der Einfluss Hegels auf Marx. Von ihm übernahm er die Dialektik, gedacht als eine ebenso kontinuierliche wie unaufhaltsame Fortschrittsdynamik, und das Konzept der Entfremdung des Menschen. Es ist dieses Menschenbild, das Marx im Innersten antreibt. Die desaströseste Folge des Kapitalismus sei, dass er den Menschen quasi von sich selbst abspalte und ihn daran hindere, sein Menschsein zu entfalten. Die vornehmste Aufgabe bestehe also darin, den Menschen von der Entfremdung zu befreien. Auch bei Marx gibt es demnach das Hegel’sche Prinzip des An-sich-Sein zum Für-sich-Sein, allerdings ganz anders, als es Hegel gedacht hatte.

Der junge Revoluzzer nahm sich vor, Hegel »vom Kopf auf die Füße zu stellen«. Damit meinte er, die abstrakten, abgehobenen, nur auf einen diffusen Geist bezogenen Ideen Hegels in die reale, materielle Welt zu übertragen. Marx hatte sich mit diesen ersten Auseinandersetzungen das Rüstzeug für seinen Aufstieg zu dem wohl wirkmächtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts erworben.

Marx, der Wissenschaftler

Neben seiner symbiotischen Beziehung zur Philosophie trieb Marx seine Studien weiter und konzentrierte sie auf die Kritik der politischen Ökonomie. Sein Ehrgeiz war es, die verborgenen Bewegungsgesetze des herrschenden Wirtschaftssystems, des Kapitalismus, offenzulegen. Dabei gelangen ihm bemerkenswerte Entdeckungen.

Er erkannte den zyklischen Ablauf der Ökonomie mit den regelmäßig auftretenden Krisen und Zusammenbrüchen. Er erkannte den Hang des Kapitals zur Konzentration und zur Monopolisierung. Er entlarvte den Fetischcharakter der Ware, die nicht an sich einen Wert hat, sondern nur dann, wenn der Mensch ihr einen Wert z. B. in Geld zumisst. Und er definierte, dass nicht das Bewusstsein des Menschen das Sein bestimmt, sondern sein biologisches und gesellschaftliches Sein das Bewusstsein. Damit kreierte er eine originelle Variante des sog. Ideologieproblems und erschuf die Unterscheidung zwischen »Unterbau« und »Überbau«. Der Unterbau ist die reale, materielle Existenz, der Überbau die verschiedenen Vorstellungen, die sich Menschen von der sie umgebenden Wirklichkeit machen. Das Marx’sche Konstrukt eröffnete meiner Meinung nach erstmalig einen plausiblen Zugang zu der Wechselwirkung, die zwischen dem objektiven Ist einer Gesellschaft und den kunterbunten Anschauungen besteht, welche sogar zu ausgefeilten ideologischen Systemen werden können. Da Marx dem Überbau, also den Ideen, die im geistigen Klima einer Gesellschaft herumschwirren, einen eigenen Wert zugesteht (auch sie können wesentliche Entwicklungen beeinflussen), kann seine Weltsicht nicht als mechanistisch bezeichnet werden – was man von späteren Varianten durchaus behaupten könnte.

Kapitalismus und Vergesellschaftung

Was ist überhaupt Kapitalismus? Im Gegensatz zu früheren Formen der Ökonomie (Schatzbildung) ist das Kapital nicht einfach nur gehortetes Geld, um Konsummöglichkeiten zu steigern, sondern ein Investitionsmittel. Geld wird dann zum Kapital, wenn es dem Zweck dient, neues Produktivvermögen zu schaffen. Man kann auch etwas plakativer sagen: Profite werden gemacht, um sie zur Gewinnung neuer Profite einzusetzen. So entsteht tendenziell ein unersättliches System der Profitmaximierung, das keine Grenzen kennt.