Orangen sind nicht die einzige Frucht - Jeanette Winterson - E-Book

Orangen sind nicht die einzige Frucht E-Book

Jeanette Winterson

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Beschreibung

Die temperamentvolle Jeanette wächst als Adoptivkind bei fanatischen Mitgliedern der Pfingstbewegung auf. Für ihre Stiefmutter ist sie eine »Auserwählte«, die mit ihr gegen die sündige Welt kämpft und eine Missionarin für die Kirche werden soll. Doch Jeanette erfährt einen unerwarteten Sinneswandel, als sie sich mit sechzehn in eine junge Frau verliebt. Von ihrer Gemeinde und ihrer Stiefmutter für diese Liebe geächtet und zunehmend unsicher, warum der Glaube über dem Verlangen stehen sollte, verlässt sie schließlich ihr Elternhaus und die Kirche, um selbstbestimmt ihr Glück zu finden.

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INHALT

» Über die Autorin

» Über das Buch

» Buch lesen

» Impressum

» Weitere eBooks der Autorin

» Weitere eBooks von Kein & Aber

» www.keinundaber.ch

ÜBER DIE AUTORIN

Jeanette Winterson, 1959 in Manchester geboren und in Lancashire bei evangelikalen Adoptiveltern aufgewachsen, schrieb mit vierundzwanzig Jahren ihren preisgekrönten Debütroman Orangen sind nicht die einzige Frucht. Es folgten zahlreiche weitere Bücher, mit denen sie zu einer der angesehensten Autorinnen Großbritanniens avancierte. Sie ist mit zwei Romanen auf der Liste der »100 Greatest British Novels« vertreten und wurde 2006 von der Queen zum Officer und 2018 zum Commander of the Order of the British Empire ernannt. 2019 wurde ihr Roman Frankissstein, der ebenfalls bei Kein & Aber erschienen ist, für den Booker Prize nominiert. Jeanette Winterson schreibt regelmäßig für den Guardian und lebt in Manchester und London.

ÜBER DAS BUCH

Mit großer Originalität, Empfindsamkeit und scharfem Witz erzählt Jeanette Winterson die autobiografisch inspirierte Geschichte einer Heranwachsenden, die sich vom religiösen Fundamentalismus ihres Elternhauses löst, um ihre neu entdeckte Liebe zu Frauen nicht verstecken zu müssen.

Die junge, leidenschaftliche Jeanette wächst als Adoptivkind bei fanatischen Mitgliedern der Pfingstbewegung auf. Für ihre Stiefmutter ist sie eine »Auserwählte «, die mit ihr gegen die sündige Welt kämpft und eine Missionarin für die Kirche werden soll. Doch Jeanette erfährt einen unerwarteten Sinneswandel, als sie sich mit sechzehn in eine junge Frau verliebt. Von ihrer Gemeinde und ihrer Mutter für diese Liebe geächtet und zunehmend unsicher, warum der Glaube über dem Verlangen stehen sollte, verlässt sie schließlich ihr Elternhaus und die Kirche, um selbstbestimmt ihr Glück zu finden.

»Werden dicke Schalen verwendet, muss die oberste Schicht sorgfältig abgeschöpft werden, da sich ansonsten ein Schaum bildet, der das Aussehen beeinträchtigt.«

The Making of Marmalade

von Mrs Beeton

»Orangen sind nicht die einzige Frucht.«

Nell Gwynn

GENESIS

Wie die meisten Menschen lebte ich lange bei meiner Mutter und meinem Vater. Mein Vater liebte es, sich Ringkämpfe anzusehen, meine Mutter liebte es, sie auszutragen; egal gegen wen. Sie war in der weißen Ecke, und damit hatte es sich. An den windigsten Tagen hängte sie die größten Laken auf die Leine. Sie wollte, dass die Mormonen an die Tür klopften. In einer Labour-regierten Industriestadt stellte sie vor den Wahlen ein Bild des konservativen Kandidaten ins Fenster. Sie hatte noch nie etwas von gemischten Gefühlen gehört. Es gab Freunde, und es gab Feinde.

Feinde waren: Der Teufel (in seinen vielen Formen)

Die von nebenan

Sex (in seinen vielen Formen)

Schnecken

Freunde waren: Gott

Unser Hund

Tante Madge

Die Romane von Charlotte Brontë

Schneckenbekämpfungsmittel

und ich, zu Anfang; ich war dazugeholt worden, um ihr in ihrem Kampf gegen den REST DER WELT zur Seite zu stehen. Sie hatte eine mysteriöse Einstellung zur Zeugung von Kindern, was nicht etwa daran lag, dass sie es nicht tun konnte, sondern vielmehr daran, dass sie es nicht tun wollte. Sie war sehr verbittert darüber, dass die Jungfrau Maria ihr zuvorgekommen war. Also tat sie das Nächstbeste und besorgte sich ein Findelkind. Mich.

Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der ich nicht gewusst hätte, dass ich etwas Besonderes war. Wir hatten zwar keine Weisen aus dem Morgenland, weil sie nicht daran glaubte, dass es weise Männer gab, aber wir hatten Schafe. Zu meinen frühesten Erinnerungen gehört die, zu Ostern auf einem Schaf zu sitzen, während sie mir die Geschichte des Opferlamms erzählte. Wir bekamen es jeden Sonntag, mit Kartoffeln.

Der Sonntag war der Tag des Herrn, der betriebsamste Tag der ganzen Woche; wir hatten eine Musiktruhe mit einer imposanten Mahagoniverkleidung und einem fetten Bakelitknopf, an dem man drehen konnte, um die Sender einzustellen. Normalerweise hörten wir das Unterhaltungsprogramm, aber sonntags immer BBC World Service, damit meine Mutter die Fortschritte unserer Missionare verfolgen konnte. Unsere Missionskarte war sehr eindrucksvoll. Auf der Vorderseite waren alle Länder zu sehen, und auf der Rückseite gab es eine Zahlentabelle, die einem alles über die einzelnen »Stämme und ihre Eigentümlichkeiten« verriet. Mein Liebling war die Nummer 16, »Die Buzule der Karpaten«. Sie glaubten, dass du Kopfschmerzen bekamst, wenn eine Maus deine abgeschnittenen Haare fand und sich daraus ein Nest baute. Wenn das Nest groß genug war, konntest du sogar verrückt werden. Soviel ich wusste, war noch nie ein Missionar bei ihnen gewesen.

Sonntags stand meine Mutter immer früh auf und ließ vor zehn Uhr niemanden ins Wohnzimmer. Es war ihr Ort für Gebet und Meditation. Sie betete immer im Stehen, wegen ihrer Knie, so wie Bonaparte seine Befehle immer vom Pferd aus gab, wegen seiner Größe. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Beziehung, die meine Mutter zu Gott hatte, viel mit Stellung und Rang zu tun hatte. Sie war durch und durch Altes Testament. Sie hatte nicht viel übrig für das sanfte Lamm Gottes, sie war draußen auf dem Feld, in vorderster Front mit den Propheten und mit einem ausgeprägten Hang zum Schmollen unter Bäumen, wenn die gebührende Vernichtung sich nicht einstellen wollte. Was aber doch relativ oft geschah, ob durch ihren Willen oder den des Herrn, kann ich nicht sagen.

Sie betete immer auf die gleiche Art und Weise. Zuallererst dankte sie Gott dafür, dass er es ihr vergönnt hatte, diesen weiteren Tag zu erleben, dann dankte sie Gott dafür, dass er die Welt diesen weiteren Tag verschont hatte. Dann sprach sie von ihren Feinden, was bei ihr einem Katechismus am nächsten kam.

Sobald »Die Rache ist mein, spricht der Herr« durch die Wand in die Küche dröhnte, stellte ich den Kessel auf. Die Zeit, die ich brauchte, um das Wasser zum Kochen zu bringen und den Tee aufzubrühen, entsprach ungefähr dem letzten Punkt auf ihrer Liste, der Krankenliste. Sie war sehr berechenbar. Ich gab die Milch dazu, sie kam herein, trank einen gewaltigen Schluck und sagte eins von drei Dingen: »Der Herr ist gütig« (mit stählernem Blick in Richtung Hof). »Nennst du das hier etwa Tee?« (mit stählernem Blick in meine Richtung). »Wer war der älteste Mann in der Bibel?«

Für Nummer 3 gab es natürlich eine Reihe von Variationen, aber es war immer eine Bibelquizfrage. Wir hatten in der Kirche jede Menge Bibelquiz, und meine Mutter wollte immer, dass ich gewann. Wenn ich die Antwort wusste, stellte sie mir noch eine Frage, wenn ich sie nicht wusste, wurde sie böse, aber nie für lange, weil wir ja den World Service einschalten mussten. Es war immer dasselbe; wir setzten uns neben die Musiktruhe, sie mit ihrem Tee, ich mit Block und Bleistift, vor uns die Missionskarte. Die ferne Stimme aus der Mitte des Geräts berichtete über Aktivitäten, Bekehrungen und Probleme. Zum Schluss folgte immer eine Bitte um IHRE GEBETE. Ich musste alles mitschreiben, damit meine Mutter am selben Abend ihren Kirchenbericht abstatten konnte. Sie war die Missionsbeauftragte. Der Missionsbericht war für mich immer eine schwere Prüfung, weil unser Mittagessen davon abhing. Wenn alles gutgegangen war, also keine Toten und jede Menge Bekehrungen, machte meine Mutter einen Braten. Wenn die Gottlosen sich nicht nur als widerspenstig, sondern gar als mörderisch erwiesen hatten, verbrachte meine Mutter den Rest des Vormittags damit, sich eins der Gospelalben von Jim Reeves anzuhören, und wir mussten uns mit weichgekochten Eiern begnügen, in die wir Toaststreifen hineintunkten. Ihr Mann war nicht besonders anspruchsvoll, aber ich wusste, dass diese Aussicht ihn deprimierte. Er hätte den Braten sogar selbst gemacht, wäre meine Mutter nicht der festen Überzeugung gewesen, dass sie in unserem Haus die Einzige war, die eine Pfanne von einem Klavier unterscheiden konnte. Sie hatte unrecht, soweit es uns betraf, aber recht, soweit es sie selbst betraf, und das war nun einmal das, was wirklich zählte.

Irgendwie brachten wir diese Vormittage hinter uns, und am Nachmittag gingen sie und ich mit dem Hund spazieren, während mein Vater sämtliche Schuhe putzte. »Man erkennt die Leute an ihren Schuhen«, sagte meine Mutter. »Sieh dir die von nebenan an.«

»Der Alkohol«, sagte meine Mutter grimmig, während wir an dem Nachbarhaus vorbeigingen. »Deshalb kaufen sie alles in Maxi Balls Ramschladen. Der Teufel selbst ist ein Säufer« (manchmal dachte meine Mutter sich ihre Theologie selbst aus).

Maxi Ball war der Besitzer eines Kaufhauses, seine Kleider waren billig, aber sie hielten nicht, und sie rochen nach Industriekleber. Die Verzweifelten, die Gleichgültigen, die Ärmsten wetteiferten samstagmorgens darum, sich herauszupicken, was immer sie konnten, und um den Preis zu feilschen. Meine Mutter wäre lieber verhungert, als sich bei Maxi Ball sehen zu lassen. Sie hatte mir einen abgrundtiefen Abscheu vor dem Laden eingeimpft. Da so viele Leute, die wir kannten, dort einkauften, war das nicht gerade fair von ihr, aber sie war nie besonders fair; sie liebte, und sie hasste, und sie hasste Maxi Ball. Einmal war sie im Winter gezwungen gewesen, zu Maxi Ball zu gehen und sich ein Korsett zu kaufen, und noch am selben Sonntag, bei der Kommunion, löste sich eines der Fischbeinstäbchen und bohrte sich mitten in ihren Bauch. Eine ganze Stunde lang konnte sie nicht das Geringste tun. Als wir nach Hause kamen, riss sie das Korsett in Stücke und verwendete die Fischbeinstäbchen als Stützen für unsere Geranien, bis auf eins, das sie mir gab. Ich habe es immer noch, und jedes Mal, wenn ich versucht bin, an den falschen Ecken und Enden zu sparen, denke ich an dieses Fischbeinstäbchen und sehe mich vor.

Meine Mutter und ich gingen den Hügel hinauf, der sich am Ende unserer Straße erhob. Wir lebten in einer Stadt, die den Tälern gestohlen worden war, einem dichtgedrängten Ort voller Schornsteine und kleiner Geschäfte und Häuser, die Rücken an Rücken standen, ohne Gärten dazwischen. Die Hügel umgaben uns auf allen Seiten, und unserer ging in das Penninische Gebirge über, hin und wieder von einer Farm oder einem Überbleibsel aus dem Krieg durchbrochen. Früher hatte es eine Menge alte Panzer gegeben, aber die Stadtverwaltung hatte sie entfernen lassen. Die Stadt war ein fetter Klecks, und die Straßen erstreckten sich von diesem Klecks ausgehend in das Grün hinein, immer höher hinauf. Unser Haus stand fast am oberen Ende einer langen, sich hinziehenden Straße. Einer gepflasterten Straße mit holprigen Kopfsteinen. Wenn man bis zur Spitze des Hügels klettert und hinunterblickt, kann man alles sehen, genau wie Jesus auf dem Berg, außer, dass es nicht sehr verlockend ist. Weiter rechts war der Viadukt, und hinter dem Viadukt Ellisons Gelände, auf dem ein Mal im Jahr der Rummel stattfand. Ich durfte immer unter der Bedingung hingehen, dass ich meiner Mutter ein Glas schwarze Erbsen mitbrachte. Schwarze Erbsen sehen aus wie Kaninchenkacke, und sie schwimmen in einer dünnen Soße aus Fleischbrühe und Gewürzen. Sie schmecken wunderbar. Die Zigeuner machten schrecklich viel Unordnung und blieben die ganze Nacht auf, und meine Mutter sagte, sie seien Ehebrecher, aber im Großen und Ganzen kamen wir sehr gut miteinander aus. Sie drückten ein Auge zu, wenn gelegentlich einmal ein kandierter Apfel verschwand, und manchmal, wenn nicht viel los war und man nicht genug Geld hatte, ließen sie einen trotzdem eine Runde Autoscooter fahren. Wir trugen zwischen den Wohnwagen immer Kämpfe aus, die Kinder, die so waren wie ich, von der Straße, gegen die Lackaffen aus der Avenue. Die Lackaffen waren bei den Pfadfindern und nahmen nicht am Schulessen teil.

Ein Mal, als ich meine schwarzen Erbsen holen wollte, um nach Hause zu gehen, griff die alte Frau nach meiner Hand. Zuerst dachte ich, sie würde mich beißen. Sie betrachtete meine Handfläche und lachte ein bisschen. »Du wirst nie heiraten«, sagte sie, »du nicht, und du wirst nie zur Ruhe kommen.« Sie nahm kein Geld für die Erbsen und sagte, ich solle schnell nach Hause laufen. Ich lief und lief und versuchte zu verstehen, was sie gemeint hatte. Ich hatte sowieso nicht ans Heiraten gedacht. Ich kannte zwei Frauen, die überhaupt keinen Ehemann hatten; aber sie waren alt, so alt wie meine Mutter. Sie hatten einen Zeitungsladen, und manchmal gaben sie mir mittwochs einen Bananenriegel zu meinem Comic dazu. Ich konnte sie gut leiden und sprach oft mit meiner Mutter über sie. Eines Tages fragten sie mich, ob ich Lust hätte, mit ihnen ans Meer zu fahren. Ich rannte nach Hause, sprudelte die Neuigkeit hervor und war schon damit beschäftigt, meine Spardose zu leeren, um mir einen neuen Spaten zu kaufen, als meine Mutter ein für alle Mal »Nein« sagte. Ich verstand nicht, weshalb, und sie wollte es mir nicht erklären. Ich durfte nicht einmal zurückgehen, um zu sagen, dass ich nicht durfte. Dann bestellte sie meinen Comic ab und sagte, ich könne ihn mir in einem anderen Geschäft abholen, das weiter entfernt war. Darüber war ich sehr traurig. Bei Grimsby’s bekam ich nie einen Bananenriegel. Ein paar Wochen später hörte ich, wie sie es Mrs White erzählte. Sie sagte, die beiden hätten sich auf unnatürliche Leidenschaften verlegt. Ich dachte, sie meine damit, dass sie Chemikalien in ihre Süßigkeiten taten.

Meine Mutter und ich kletterten den Hügel hinauf, bis die Stadt unter uns zurückfiel und wir den Gedenkstein ganz oben auf der Spitze erreichten. Hier oben war der Wind immer sehr heftig, sodass meine Mutter zusätzliche Hutnadeln benutzen musste. Meistens trug sie ein Kopftuch, aber nicht am Sonntag. Wir setzten uns auf den Sockel des Steins, und sie dankte dem Herrn, dass wir den Aufstieg geschafft hatten. Dann extemporierte sie über die Natur der Welt, die Torheit ihrer Völker und den unausweichlichen Zorn Gottes. Danach erzählte sie mir eine Geschichte über irgendeinen braven Menschen, der die Früchte des Fleisches verschmäht und stattdessen für den Herrn gewirkt hatte …

Da war zum Beispiel die Geschichte vom »bekehrten Schornsteinfeger«, einem schmutzigen, verderbten Menschen, der Trunksucht und dem Laster verfallen, der den Herrn fand, als er das Innere eines Rauchfangs auskratzte. Er blieb im Zustand der Verzückung so lange in diesem Rauchfang, dass seine Freunde schon dachten, er sei ohnmächtig geworden. Nach vielen Mühen überredeten sie ihn dazu, wieder herauszukommen; sein Gesicht, so erklärten sie, obwohl vor lauter Ruß und Dreck kaum sichtbar, leuchtete wie das eines Engels. Er fing an, die Sonntagsschule zu leiten, und starb irgendwann später, bestimmt für die himmlische Glückseligkeit. Es gab noch viele andere; am besten gefiel mir der »Halleluja-Riese«, eine Laune der Natur, zwei Meter fünfzig groß, durch die Gebete der Gläubigen auf einen Meter fünfundachtzig geschrumpft.

Hin und wieder erzählte meine Mutter mir die Geschichte ihrer eigenen Bekehrung; sie war sehr romantisch. Manchmal denke ich, wenn der Groschenheftverlag Mills and Boon in seiner Politik auch nur das kleinste bisschen revivalistisch wäre, wäre meine Mutter ein Star.

Eines Abends war sie zufällig in Pastor Spratts Kreuzzug der Himmlischen Herrlichkeit hineinspaziert. Er fand in einem Zelt auf irgendeinem ungenutzten Grundstück statt, und jeden Abend sprach Pastor Spratt vom Schicksal der Verdammten und vollführte Wunderheilungen. Er war sehr beeindruckend. Meine Mutter sagte, er hätte ausgesehen wie Errol Flynn, bloß heilig. Viele Frauen fanden in dieser Woche den Herrn. Ein Teil von Pastor Spratts Charisma stammte aus seiner Zeit als Werbeleiter in der Eisengießerei Rathbone. Er wusste alles über Köder. »Was haben Sie denn gegen Köder?«, sagte er, als der Chronicle ihn mit einem Anflug von Zynismus fragte, wieso er die frisch Bekehrten mit Topfpflanzen beschenkte. »Wir sind schließlich aufgerufen, Menschenfischer zu sein.« Als meine Mutter den Ruf hörte, überreichte man ihr eine Ausgabe der Psalmen und forderte sie auf, zwischen einem Weihnachtskaktus (nicht blühend) und einem Maiglöckchen zu wählen. Sie entschied sich für das Maiglöckchen. Als mein Vater am nächsten Abend hinging, trug sie ihm auf, sich auf jeden Fall den Kaktus geben zu lassen, aber als er endlich an die Reihe kam, waren sie alle weg. »Er kann sich einfach nicht durchsetzen«, sagte sie oft, und nach einer kurzen Pause: »Gott segne ihn.«

Pastor Spratt quartierte sich für den Rest seiner Zeit beim Kreuzzug der Himmlischen Herrlichkeit bei ihnen ein, und in dieser Zeit entdeckte meine Mutter ihr nicht mehr nachlassendes Interesse an der missionarischen Arbeit. Der Pastor selbst verbrachte den größten Teil seiner Zeit draußen im Dschungel und anderen heißen Gegenden, um die Heiden zu bekehren. Wir haben ein Foto von ihm, umgeben von schwarzen Männern mit Speeren. Es steht neben dem Bett meiner Mutter. Meine Mutter hat eine große Ähnlichkeit mit William Blake; sie hat Visionen und Träume, und sie kann einen Strohkopf nicht immer von einem König unterscheiden. Gott sei Dank kann sie nicht malen.

Eines Abends machte sie einen Spaziergang und dachte über ihr Leben und darüber nach, was möglich war. Sie dachte an all das, was sie nicht sein konnte. Ihr Onkel war Schauspieler gewesen. »Ein wundervoller Hamlet«, sagte der Chronicle. Aber Glanz und Tand verwandeln sich in Jahre, und dann sind die Jahre dahin. Onkel Will war als armer Mann gestorben, sie war dieser Tage auch nicht mehr so jung, und die Menschen waren nicht gut. Sie liebte es, französisch zu sprechen und Klavier zu spielen, aber was haben diese Dinge schon zu bedeuten?

Es war einmal eine kluge und schöne Prinzessin, die so empfindsam war, dass der Tod einer Motte sie viele Wochen lang betrüben konnte. Ihre Familie wusste sich keinen Rat mehr. Ratgeber rangen die Hände, weise Männer schüttelten die Köpfe, tapfere Könige zogen enttäuscht von dannen. So geschah es viele Jahre lang, bis die Prinzessin eines Tages, als sie im Wald spazieren ging, auf die Hütte einer buckligen alten Frau stieß, die die Geheimnisse der Magie kannte. Dieses alte Geschöpf erkannte in der Prinzessin eine Frau von großer Energie und Findigkeit.

»Meine Liebe«, sagte sie, »du läufst Gefahr, von deiner eigenen Flamme verzehrt zu werden.«

Die Bucklige erzählte der Prinzessin, sie sei alt und sehne sich nach dem Tod, könne aber nicht sterben, weil sie so viele Verpflichtungen habe. Sie war verantwortlich für ein kleines Dorf einfacher Menschen, denen sie Ratgeberin und Freundin war. Hätte die Prinzessin vielleicht Lust, ihre Nachfolge anzutreten? Ihre Pflichten wären:

1  die Ziegen melken,

2  die Menschen unterweisen,

3  Lieder für ihre Feste komponieren.

Unterstützt würde sie dabei von einem dreibeinigen Hocker und allen Büchern, die der Buckligen gehörten, sowie – und das war überhaupt das Allerbeste – vom Harmonium der alten Frau, einem Instrument von hohem Alter und vier Oktaven. Die Prinzessin versprach zu bleiben und vergaß den Palast und die Motten ganz und gar. Die alte Frau dankte ihr und starb auf der Stelle.

Meine Mutter, die an jenem Abend spazieren ging, träumte einen Traum und bewahrte ihn ins Tageslicht hinein. Sie würde ein Kind haben, es unterweisen, es aufbauen, es dem Herrn widmen:

ein missionarisches Kind,

ein Kind im Dienst Gottes,

ein Segen.

Und so kam es, dass sie an einem ganz bestimmten Tag, irgendwann später, einem Stern folgte, bis er sich über einem Waisenhaus niederließ, und in diesem Haus gab es eine Krippe und in der Krippe ein Kind. Ein Kind mit vielen Haaren. Sie sagte: »Dieses Kind ist mein vom Herrn.«

Sie nahm das Kind mit sich, und sieben Tage und sieben Nächte weinte das Kind, aus Angst und aus Nichtwissen.

Die Mutter sang für das Kind und erstach die Dämonen. Sie wusste, wie eifersüchtig der Geist auf das Fleisch ist.

Solch warmes, zartes Fleisch.

Ihr Fleisch jetzt, ihrem Kopf entsprungen.

Ihre Vision.

Nicht das Rucken unterhalb des Hüftknochens, sondern Wasser und das Wort.

Sie hatte jetzt einen Ausweg, für viele zukünftige Jahre.

Wir standen auf dem Hügel, und meine Mutter sagte: »Diese Welt ist voller Sünde.«

Wir standen auf dem Hügel, und meine Mutter sagte: »Du kannst die Welt verändern.«

Als wir nach Hause kamen, saß mein Vater vor dem Fernseher und sah sich den Kampf zwischen Crusher Williams und dem einäugigen Jonney Stott an. Meine Mutter war wütend; sonntags deckten wir den Fernseher immer zu. Wir hatten ein TATEN DES ALTEN TESTAMENTS-Tischtuch, das wir von einem Mann bekommen hatten, der Häuser entrümpelte. Es war sehr beeindruckend, und wir verwahrten es in einer speziellen Schublade, die ansonsten nichts enthielt, nur ein Stück Tiffany-Glas und ein Pergament aus dem Libanon. Ich weiß nicht, wieso wir das Pergament aufbewahrten. Wir hatten gedacht, es sei ein Teil des Alten Testaments, aber es war der Pachtvertrag für eine Schaffarm. Mein Vater hatte das Tuch nicht einmal zusammengefaltet, und ich konnte gerade noch »Moses empfängt die Zehn Gebote« zusammengeknüllt unter der Beinschraube erkennen. »Das wird Ärger geben«, dachte ich und verkündete meine Absicht, zum Tamburinunterricht zur Heilsarmee hinunterzugehen.

Armer Dad, er war nie ganz gut genug.

An jenem Abend predigte in unserer Kirche ein Gastpfarrer, Pastor Finch aus Stockport. Er war Experte auf dem Gebiet der Dämonen und hielt eine beängstigende Predigt darüber, wie leicht es ist, von Dämonen besessen zu werden. Hinterher war uns allen sehr unbehaglich zumute. Mrs White sagte, ihrer Meinung nach seien ihre Nachbarn besessen, sie würden alle Merkmale an den Tag legen. Pastor Finch sagte, dass die Besessenen zu unkontrollierbaren Wutausbrüchen und plötzlichen Anfällen wilden Gelächters neigen und immer, immer, sehr gerissen sind. Der Teufel selbst, erinnerte er uns, kann als Engel des Lichts in Erscheinung treten.

Nach dem Gottesdienst gab es ein gemeinsames Essen; meine Mutter hatte zwanzig Windbeutel und ihren üblichen Berg Käse-und-Zwiebel-Sandwiches gemacht.

»Eine gute Frau lässt sich an ihren Sandwiches erkennen«, verkündete Pastor Finch.

Meine Mutter errötete.

Dann drehte er sich zu mir um und sagte: »Wie alt bist du, kleines Mädchen?«

»Sieben«, antwortete ich.

»Ah, sieben«, murmelte er. »Wie segensreich, die sieben Tage der Schöpfung, der siebenarmige Leuchter, die sieben Siegel.« (Sieben Igel? Ich war beim »Lesen unter Anleitung« noch nicht bis zur Geheimen Offenbarung vorgedrungen und dachte, er meine damit irgendwelche alttestamentarischen Tiere, die ich übersehen hatte. Ich verbrachte Wochen mit dem Versuch, sie zu finden, für den Fall, dass sie bei irgendeinem Bibelquiz drankommen würden.)

»Ja«, fuhr er fort, »wie segensreich«, und dann bewölkte sich seine Stirn. »Und wie verflucht.« Bei diesem Wort fuhr seine Faust auf den Tisch hinunter und katapultierte ein Käsesandwich in den Klingelbeutel; ich sah, wie es passierte, war aber derartig fasziniert, dass ich völlig vergaß, jemandem Bescheid zu sagen. Sie fanden es eine Woche später beim Treffen der Schwesternschaft. Der ganze Tisch war verstummt, bis auf Mrs Rothwell, die stocktaub und sehr hungrig war.

»Der böse Geist kann SIEBENFACH zurückkehren.« Seine Augen wanderten über den Tisch. (Kratz, machte Mrs Rothwells Löffel.)

»SIEBENFACH.«

(»Will jemand dieses Stück Kuchen haben?«, fragte Mrs Rothwell.)

»Die Besten können zu den Schlimmsten werden« – er nahm meine Hand –, »dieses unschuldige Kind, diese Blüte der göttlichen Verheißung.«

»Nun, dann esse ich es«, verkündete Mrs Rothwell.

Pastor Finch warf ihr einen bösen Blick zu, aber er war kein Mann, der sich so leicht aus der Fassung bringen ließ. »Diese kleine Lilie könnte eine Behausung des Teufels sein.«

»Eh, Roy, sachte«, sagte Mrs Finch besorgt.

»Unterbrich mich nicht, Grace«, sagte er mit fester Stimme. »Ich meine das schließlich nur als Beispiel. Gott hat mir eine Gelegenheit gegeben, und was Gott uns gegeben hat, dürfen wir uns nicht anmaßen zu vergeuden.«

»Es ist bekannt, dass selbst die gottesfürchtigsten Männer plötzlich vom Übel erfüllt werden können. Wie viel mehr also eine Frau und wie viel mehr erst ein Kind. Eltern, achtet bei euren Kindern auf die Anzeichen. Männer, achtet auf eure Frauen. Der Name des Herrn sei gepriesen.«

Er ließ meine Hand los, die jetzt ganz zerknautscht und feucht war.

Er wischte die eigene an seinem Hosenbein ab.

»Du solltest dich nicht so verausgaben, Roy«, sagte Mrs Finch. »Hier, nimm einen Windbeutel, es ist Sherry drin.«

Mir war auch ein bisschen unbehaglich zumute, deshalb ging ich ins Zimmer der Sonntagsschule. Dort gab es Figuren aus Filz, mit denen man Szenen aus der Bibel zusammenstellen konnte, und ich fing gerade an, mich mit einer Neufassung von Daniel in der Löwengrube zu vergnügen, als Pastor Finch hereinkam. Ich versteckte meine Hände in meinen Taschen und senkte den Blick.

»Kleines Mädchen«, fing er an, dann fiel sein Blick auf meine Filzfiguren. »Was ist das?«

»Daniel«, antwortete ich.

»Aber das ist doch ganz verkehrt«, sagte er, völlig entgeistert. »Weißt du denn nicht, dass Daniel gerettet wurde? In deinem Bild wird er von den Löwen aufgefressen.«

»Tut mir leid«, antwortete ich, wobei ich mein bestes, heiligstes Gesicht aufsetzte. »Eigentlich wollte ich Jonas und den Wal machen, aber es gibt keine Wale aus Filz. Ich tue einfach so, als ob die Löwen Wale wären.«

»Du hast aber gesagt es sei Daniel.« Er war misstrauisch.

»Ich habe mich vertan.«

Er lächelte. »Dann wollen wir es mal richtig machen, ja?«, und er tat die Löwen sorgfältig in die eine und Daniel in die andere Ecke. »Wie wäre es mit Nebukadnezar? Wollen wir als Nächstes die Szene ›Staunen in der Morgendämmerung‹ machen?« Und er fing an, die Filzfiguren auf der Suche nach einem König zu durchwühlen.

»Hoffnungslos«, dachte ich, Susan Green hatte sich letzte Weihnachten auf das Tableau der drei Weisen aus dem Morgenland übergeben, und in jeder Schachtel waren immer nur drei Könige.

Ich ließ ihn allein weitersuchen. Als ich in die Halle zurückkam, fragte jemand, ob ich Pastor Finch gesehen hätte.

»Er ist in der Sonntagsschule und spielt mit den Filzfiguren«, antwortete ich.

»Zügele deine Fantasie, Jeanette«, sagte die Stimme. Ich hob den Kopf. Es war Miss Jewsbury; sie redete immer so, ich glaube, es lag daran, dass sie Oboe unterrichtete. Es macht den Mund irgendwie anders.

»Zeit, nach Hause zu gehen«, sagte meine Mutter. »Ich glaube, du hast für einen Tag genug Aufregung gehabt.«

Komisch, was andere Leute alles für aufregend halten. Wir machten uns auf den Weg, meine Mutter, Alice und May (»für dich Tante Alice, Tante May«). Ich trödelte hinter ihnen her und dachte an Pastor Finch und wie grässlich er war. Seine Zähne standen vor, und seine Stimme war piepsig, obwohl er versuchte, sie tief und streng klingen zu lassen. Arme Mrs Finch. Wie hielt sie es nur bei ihm aus? Dann erinnerte ich mich an die Zigeunerin. »Du wirst nie heiraten.« Vielleicht war das gar nicht mal so schlecht. Wir gingen durch die Factory Bottoms, um nach Hause zu kommen. Hier lebten die Ärmsten von allen, festgeschmiedet an die Fabriken. Es gab Hunderte von Kindern und räudigen Hunden. Die von nebenan hatten früher auch hier gewohnt, gleich neben der Kleisterfabrik, aber dann hatte ein Cousin oder irgendwer ihnen ein Haus hinterlassen, gleich neben unserm. »Ein Werk des Teufels, wie es im Buch steht«, sagte meine Mutter, die der festen Überzeugung war, dass diese Dinge uns geschickt werden, um uns zu prüfen.

Ich durfte nicht allein durch die Factory Bottoms gehen, und an jenem Abend, als der Regen anfing, glaubte ich zu wissen, wieso nicht. Falls die bösen Geister irgendwo lebten, dann hier. Wir kamen an einem Geschäft vorbei, in dem es Halsbänder gegen Flöhe und alle Arten von Gift zu kaufen gab. Es hieß Schädlingsbekämpfung Arkwright; ich war einmal drin gewesen, als wir eine Kakerlakenplage hatten. Mrs Arkwright machte gerade die Kasse; sie entdeckte May beim Vorbeigehen und schrie, sie solle reinkommen. Meine Mutter war nicht sehr begeistert, aber dann murmelte sie irgendetwas über Jesus und seinen Umgang mit den Zöllnern und Sündern und schob mich als Erste in den Laden.

»Wo bist du denn die ganze Zeit gewesen, May?«, fragte Mrs Arkwright, die sich die Hände an einem Lappen abwischte. »Ich hab dich mindestens einen Monat nicht gesehen.«

»Ich war in Blackpool.«

»Hoho, bist du zu Geld gekommen, oder was?«

»Drei Mal hintereinander Bingo.«

»Nein!«

Mrs Arkwright war beeindruckt und neidisch zugleich.

Die Unterhaltung ging eine Zeit lang auf diese Weise weiter, Mrs Arkwright beklagte sich darüber, dass die Geschäfte schlecht gingen, dass sie den Laden wahrscheinlich zumachen musste, dass mit Ungeziefer kein Geld mehr zu machen war. »Hoffen wir, dass wir einen heißen Sommer kriegen, das lockt sie aus den Löchern.«

Meine Mutter war sichtlich unglücklich.

»Erinnert ihr euch noch an die Hitzewelle vor zwei Jahren? Damals hatte ich alle Hände voll zu tun. Schaben, Wanzen, Ratten, egal was, ich hab’s vergiftet. Nein, es ist nicht mehr so wie früher.«

Ein oder zwei Augenblicke bewahrten wir ein respektvolles Schweigen, dann hüstelte meine Mutter und sagte, jetzt müssten wir aber wirklich gehen.

»Einen Moment noch«, sagte Mrs Arkwright. »Die hier sind für das Küken.«

Sie meinte mich, und nachdem sie eine Weile hinter der Theke herumgewühlt hatte, brachte sie mehrere Blechdosen in allen möglichen Formen zum Vorschein.

»Es kann seine Murmeln oder was weiß ich reintun«, erklärte sie.

»Danke«, sagte ich lächelnd.

»Eh, es ist in Ordnung, das Küken«, lächelte sie mir zu, und nachdem sie ihre Hand fest an meiner abgewischt hatte, ließ sie uns aus dem Laden.

»Sieh doch, May«, sagte ich und hielt die Dosen hoch. »Tante May«, fauchte meine Mutter.

May begutachtete sie mit mir zusammen.

»›Silberfische‹«, las sie. »›Großzügig hinter Waschbecken, Toiletten und anderen feuchten Stellen verteilen.‹ Oh, sehr schön. Und was ist das hier? ›Läuse, Bettwanzen et cetera Garantiert wirksam, sonst Geld zurück.‹«

Dann waren wir zu Hause. Gute Nacht, May, gute Nacht, Alice, der Herr sei mit euch. Mein Vater war schon im Bett, weil er Frühschicht hatte. Meine Mutter würde noch stundenlang aufbleiben.

Solange ich die beiden kenne, ist meine Mutter immer um vier ins Bett gegangen und mein Vater um fünf aufgestanden. Das war irgendwie ganz schön, weil es bedeutete, dass ich mitten in der Nacht herunterkommen konnte, ohne dass ich mich einsam fühlen musste. Oft machten wir uns Eier mit Speck, und sie las mir ein Stück aus der Bibel vor.

Meine Ausbildung begann folgendermaßen: Sie brachte mir mithilfe des Buchs Deuteronomium das Lesen bei, und sie erzählte mir alles über das Leben der Heiligen, und dass sie im Grunde genommen schrecklich böse waren, und unaussprechlichen Begierden hingegeben. Jedenfalls nicht zur Anbetung geeignet; dies war noch so eine Irrlehre der katholischen Kirche, und ich durfte mich auf keinen Fall von den glatten Zungen der Priester verleiten lassen.

»Aber ich kenne doch gar keine Priester.«

»Das Motto eines Mädchens lautet: ALLZEIT BEREIT.«

Ich lernte, dass es regnet, wenn Wolken mit einem hohen Gebäude zusammenstoßen, beispielsweise einem Kirchturm oder einer Kathedrale; der Aufprall durchlöchert sie, und jeder, der darunter steht, wird nass. Deshalb hieß es früher, als die einzigen hohen Gebäude, die es gab, gleichzeitig heilig waren, dass Reinlichkeit gleich nach Gottesfurcht kommt. Je gottesfürchtiger eine Stadt, desto mehr hohe Gebäude gab es dort, und desto häufiger regnete es.

»Deshalb sind diese heidnischen Gegenden alle so trocken«, erklärte meine Mutter, ihr Blick verlor sich in der Ferne, und ihr Bleistift bebte. »Armer Pastor Spratt.«

Ich lernte, dass alles in der natürlichen Welt ein Symbol des großen Kampfes zwischen Gut und Böse ist. »Denk an die Mamba«, sagte meine Mutter. »Auf kurzen Strecken ist die Mamba schneller als ein Pferd.« Und sie zeichnete das Wettrennen auf ein Stück Papier. Sie meinte damit, dass das Böse für kurze Zeit triumphieren kann, aber nie für sehr lange. Darüber waren wir sehr froh und sangen unser Lieblingslied, Rüstet euch, ihr Christenleute.

Ich bat meine Mutter, mir Französisch beizubringen, aber ihr Gesicht bewölkte sich, und sie sagte, das könne sie nicht. »Wieso nicht?«

»Es wäre fast mein Untergang gewesen.«

»Was meinst du damit?«, drängelte ich, sooft ich konnte. Aber sie schüttelte nur den Kopf und murmelte irgendetwas in der Art, dass ich noch zu jung sei, dass ich bald genug selbst dahinterkommen würde, dass es sehr unerfreulich sei.

»Eines Tages«, sagte sie schließlich, »werde ich dir von Pierre erzählen.« Dann machte sie das Radio an und kümmerte sich so lange nicht um mich, sodass ich wieder ins Bett ging.

Oft fing sie an, mir eine Geschichte zu erzählen, und ging dann mittendrin zu etwas anderem über, sodass ich nie erfuhr, was aus dem Paradies auf Erden wurde, als es aufhörte, vor der Küste Indiens zu liegen, und ich steckte fast eine ganze Woche bei »sechs mal sieben ist zweiundvierzig« fest.

»Wieso gehe ich eigentlich nicht in die Schule?«, fragte ich sie. Ich war neugierig auf die Schule, weil meine Mutter sie immer als BRUTSTÄTTE bezeichnete. Ich wusste nicht, was sie damit meinte, aber ich wusste, dass es etwas Schlimmes war, genau wie UNNATÜRLICHE LEIDENSCHAFTEN. »Sie würden dich nur vom rechten Weg abbringen«, war die einzige Antwort, die ich bekam.

Ich dachte in der Toilette über all diese Dinge nach. Die Toilette war draußen, und ich hasste es, wenn ich nachts hingehen musste, wegen der Spinnen, die aus dem Kohlenschuppen rüberkamen. Mein Dad und ich schienen ständig auf der Toilette zu sein, ich saß dabei auf meinen Händen und summte vor mich hin, und er stand wahrscheinlich. Meine Mutter wurde immer sehr böse. »Komm endlich wieder rein, so lange kann das doch nicht dauern.«

Aber die Toilette war der einzige Ort, an den man sich zurückziehen konnte. Wir schliefen alle im selben Zimmer, weil meine Mutter uns nach hinten heraus ein Badezimmer anbaute, und irgendwann, sobald sie die Trennwand hochgezogen hatte, ein kleines Zimmerchen für mich. Aber sie kam nur sehr langsam voran, weil sie, wie sie sagte, zu viele andere Dinge im Kopf hatte. Manchmal kam Mrs White vorbei, um ihr beim Mörtelmischen zu helfen, aber das endete immer damit, dass die beiden sich Johnny Cash anhörten oder ein neues Flugblatt über »Taufe durch Vollständige Immersion« verfassten. Irgendwann wurde sie tatsächlich fertig, aber das sollte noch drei Jahre dauern.

In der Zwischenzeit ging mein Unterricht weiter; mithilfe der Schnecken und der Samenkataloge meiner Mutter lernte ich eine Menge über Gartenbau und Gartenschädlinge, und mithilfe der Prophezeiungen in der Geheimen Offenbarung und einer Zeitschrift mit dem Titel Die Reine Wahrheit, die meine Mutter jede Woche bezog, bekam ich Einsicht in den Gang der Geschichte.

»Elias ist in unsere Mitte zurückgekehrt«, erklärte sie. Und so lernte ich, die Zeichen und Wunder zu deuten, die der Ungläubige möglicherweise nie verstehen wird. »Das wirst du brauchen, wenn du draußen auf dem missionarischen Feld bist«, erinnerte sie mich.

Dann, eines Morgens, als wir früh aufgestanden waren, um Iwan Popow hinter dem Eisernen Vorhang zu hören, plumpste ein dicker brauner Umschlag durch den Briefschlitz. Meine Mutter dachte, es seien Dankesschreiben all jener, die an unserem Kreuzzug zur Heilung der Kranken im Rathaus teilgenommen hatten. Sie riss ihn auf, und ihr Gesicht wurde lang.

»Was ist?«, fragte ich.

»Es geht um dich.«

»Was ist denn mit mir?«

»Ich muss dich in die Schule schicken.«

Ich flitzte auf die Toilette und setzte mich auf meine Hände; die BRUTSTÄTTE – endlich

EXODUS

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