Orchidee oder Löwenzahn? - W. Thomas Boyce - E-Book

Orchidee oder Löwenzahn? E-Book

W. Thomas Boyce

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Beschreibung

Ein psychologisches Sachbuch über das Thema, warum wir Menschen uns unterschiedlich entwickeln. Menschen sind rätselhaft: Während der eine wie eine Orchidee feinfühlig auf alle Widrigkeiten reagiert, ist der andere robust und kommt problemlos wie ein Löwenzahn mit allen Herausforderungen zurecht. Der international renommierte Kinder-Psychologe W. Thomas Boyce hat dieses Phänomen jahrzehntelang untersucht. Seine weltweit anerkannte Forschung zeigt, dass das Zusammenspiel von genetischen Voraussetzungen und Umwelteinflüssen darüber entscheidet, wie Menschen mit den Anforderungen ihrer Umwelt fertig werden und Stress verarbeiten. Diese Erkenntnisse helfen uns zu erklären, warum wir so geworden sind, wie wir heute sind. Und sie motivieren Eltern, über die Erziehung ihrer Kinder nachzudenken und die passenden Bedingungen zu schaffen, damit sie alle die gleichen Chancen bekommen und zu starken und gesunden Persönlichkeiten heranwachsen – ob sie nun eine verletzliche Orchidee oder ein widerstandsfähiger Löwenzahn sind.

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Seitenzahl: 417

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W. Thomas Boyce

Orchidee oder Löwenzahn?

Warum Menschen so unterschiedlich sind und wie sich alle gut entwickeln können

Aus dem Englischen von Claudia Van Den Block

Knaur e-books

Über dieses Buch

Menschen sind rätselhaft: Während der eine wie eine Orchidee feinfühlig auf alle Widrigkeiten reagiert, kommt der andere problemlos wie ein Löwenzahn mit allen Herausforderungen zurecht. W. Thomas Boyce hat dieses Phänomen jahrzehntelang untersucht. Seine weltweit anerkannte Forschung zeigt, dass das Zusammenspiel von genetischen Voraussetzungen und Umwelteinflüssen darüber entscheidet, wie Menschen mit den Anforderungen ihrer Umwelt fertig werden. Diese Erkenntnisse helfen uns zu erklären, warum wir so geworden sind, wie wir heute sind. Und sie helfen Eltern, für ihre Kinder die passenden Bedingungen zu schaffen, damit sie zu starken und gesunden Persönlichkeiten heranwachsen – ob sie nun eine verletzliche Orchidee oder ein widerstandsfähiger Löwenzahn sind.

Inhaltsübersicht

WidmungEinleitung1 Eine Geschichte von zwei KindernDie nicht zufällige Verteilung von Krankheit und UnglückGeschichten von Orchideen und Löwenzähnen2 Der Lärm und die MusikZwei Arten von DiagrammenFrühe Studien und das Problem des »Lärms«Die »Musik« der individuellen Variation3 Zitronensaft, Feueralarm und eine unerwartete EntdeckungDie Kränksten und die GesündestenDie Biologie der SchüchternheitSchmetterlingsflügel und FitnessAffen und Bösartigkeit4 Eine Orchestrierung für Orchideen und LöwenzähneZeig mir dein OhrErste Klasse im Mittleren WestenAuf in die PubertätFeueralarm, Lärm und Igor Strawinsky5 Woher kommen Orchideen (und Löwenzähne)?Von Beginn anEs steht in den Sternen – oder in den Genen?Entweder-oder oder Sowohl-als-auch?Die Wurzeln einer Orchidee, die Samen eines LöwenzahnsDas Übel von Löchern in den Zähnen»Markierungen« auf unseren GenenWo sich alles zusammenfindet6 Keine zwei Kinder wachsen in derselben Familie aufIch habe einfach keine Zeit, den Nachwuchs abzulecken!Leben, die sich verändern, und Gehirne, die wachsen»Was stimmt mit Sammy nicht?«7 Die Güte und die Grausamkeit von KindernNatürliche Selektion … im Kindergarten?Wer bekommt die Bananen?Geringer Status, größere ProblemeDie »Mikrogesellschaften« der KindheitHaseya und JacobDer unbesungene Heldenmut der VorschullehrerOrchideen, Löwenzähne und die Erfordernisse des Lebens in geschichteten Gesellschaften8 Die Gärten der Kindheit bestellen1. Neues vermeiden und Routinen schaffen2. Viel Aufmerksamkeit und Liebe schenken3. Empfänglich sein für Unterschiede4. Ein Fundament der Duldsamkeit und Freiheit schaffen5. Den schmalen Grat zwischen Schutz und Herausforderung finden6. Die Macht des Spiels nutzen9 Der Bogen des Lebens für Orchideen und LöwenzähneLöwenzähne, die auf Wiesen wuchsenLöwenzähne, die in Asphaltritzen keimtenOrchideen, die im tropischen Regenwald gediehenOrchideen, die in eisigen Bürogebäuden in Alaska wuchsenLernen vom Leben junger Menschen10 Die Sünden der Väter und die GnadeMary und ihre MutterDie Augen von Fledermäusen und die Hälse von GiraffenVerborgenes ErbeGnade und die Hoffnung auf RuhmNachwortSeismologie und EmpfindsamkeitBleivergiftungSchutz vor TraumataDie grundlegenden IrrtümerMeine Schwester und ichSchluss – Die Orchidee und der Löwenzahn, ein vollständiges ParadiesNachbemerkung von Robert ColesNachwort von T. Berry BrazeltonDankGlossar
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Für Jill, Andrew und Amy

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Einleitung

Was, wenn die Kinder, um die wir uns am meisten Sorgen machen, die mit dem vielversprechendsten Potenzial wären? Was, wenn die Jugendlichen, deren Leben von Rebellion und Problemen gezeichnet ist, die mit der leuchtendsten und kreativsten Zukunft wären? Was, wenn scheinbar kummervolle und problematische Kindheiten unter ermutigenden und unterstützenden Bedingungen Erwachsene hervorbrächten, die nicht nur ein normales Leben und passable Leistungen, sondern tiefe, reiche Beziehungen und inspirierte Ergebnisse zuwege brächten? Was, wenn die sehr echte Belastung der ungewöhnlichen Zerbrechlichkeit eines Kindes in fassbare Vorteile menschlicher Resilienz umgewandelt werden könnte, sofern man einfühlsam auf das Kind eingeht? Was, wenn, kurz gesagt, die offensichtlichen Schwächen und Irrungen im jungen Leben einiger Menschen durch die Alchemie von sorgenden Familien oder Gemeinschaften und durch transformative Pflege getilgt werden könnten?

Dieses Buch handelt von genau solchen überraschenden Erlösungen. Es ist das Ergebnis aus der Forschung über kindliche Entwicklung und aus einer beinahe ein Menschenleben langen sorgfältigen Beobachtung von einem einst jungen Kinderarzt, der aufgrund von Segen und Glück Vater, Großvater und schließlich ein grauhaariger, gut durchgezogener Berater für Kinder und Familien wurde. Die Geschichte, die sich zugleich wissenschaftlich und persönlich präsentiert, ist mein Geschenk der Ermutigung und Hoffnung an alle, die Kinder unterrichten, schützen, versorgen, erziehen oder sich um sie sorgen, aber auch an jene, die seit ihrer Kindheit angestrengt nach dem Grund ihrer eigenen Mühsal mit menschlichen Unterschieden suchen. Sollte Ihr Leben in gewisser Weise meinem gleichen, so haben Sie sich unaufhörlich Sorgen um das Wohlergehen Ihrer Kinder und um deren Zukunft gemacht und viel darüber nachgedacht, inwiefern ihr Streben und ihre Prüfungen möglicherweise auf die Ihren zurückgehen könnten. Sie waren sicher aus dem Häuschen angesichts ihrer Triumphe und Leistungen, lebten für ihre Zuneigung, waren stolz auf das, was sie geschafft haben, grübelten aber weiterhin über ihre Probleme und Sorgen.

Als unsere Schwiegertochter mit unserem ersten Enkel schwanger war, wurden meine Frau Jill und ich eines Nachts vom schrillen Klingeln des Telefons am Nachttisch aus dem Tiefschlaf gerissen. Unser Sohn rief aus fast 5000 Kilometer Entfernung aus Brooklyn, New York, an. Seine geliebte junge Frau, die beinahe am Ende des zweiten Schwangerschaftstrimesters war, konnte wegen wiederkehrender starker stechender Schmerzen in Leiste und Becken nicht schlafen. Die beiden waren beunruhigt, insbesondere, da Babys und Schwangerschaften ja Neuland für sie waren. Nachdem wir uns den Schlaf aus den Augen gerieben hatten, widmeten Jill (Krankenschwester) und ich uns einer etwas vernebelten, aber einigermaßen vorsichtigen Anamnese dieser Schmerzen. Wir versuchten mehr über deren Sitz, Charakter und möglichen Grund herauszufinden.

Unsere Hauptsorge, die wir aber für uns behielten, war, dass der Schmerz eine frühe Wehentätigkeit und somit eine vorzeitige Geburt in der 33. Schwangerschaftswoche mit allen dazugehörigen Risiken für Mutter und Kind ankündigen könnte. Als wir jedoch Genaueres erfuhren, waren wir recht zuversichtlich, dass es sich um eine Überbelastung eines Muskels handelte, die wohl darauf zurückzuführen war, dass eine zierliche Frau mit einem überdimensionierten Bauch sich zu abrupt im Bett umdrehte. Wir beruhigten das junge Paar, dass der Schmerz wahrscheinlich von selbst verschwinden würde und dass ein Wärmekissen und Bettruhe sicher dabei helfen würden. Im Anschluss an das Telefonat drehte ich mich zu Jill um und bemerkte erschöpft, dass es zwar wirklich wunderbar sei, dass unsere beiden Kinder Partner gefunden und ihre eigenen Familien gegründet hätten, dies jedoch auch den unvorhergesehenen Nebeneffekt habe, dass wir uns nun um doppelt so viele Menschen Sorgen und Gedanken machen müssten. Wir hatten mit Unterbrechungen bereits fast 30 Jahre über die vertrackten Krankheiten und Schrammen unserer eigenen zwei Kinder gebrütet und sinniert, und nun hatten wir noch drei hinzubekommen – eine Schwiegertochter, einen Schwiegersohn und einen 32 Wochen alten Fötus –, um die wir uns auch sorgen mussten! Zwar sehr gern, aber eben doch sorgen.[1]

Doch das waren größtenteils alltägliche, nicht weiter bemerkenswerte Sorgen – die Art, die die normativen Landminen normaler Elternschaft bilden: das zweijährige Kind, das sich beim Fallen die Lippe aufreißt, während es in das Waschbecken urinieren will; der Fünfjährige, der sich einsam und allein in seiner Vorschulgruppe[2] fühlt; der Grundschüler, der in einem Schuljahr fünf Jacken und vier Vorhängeschlösser verliert; der Zwölfjährige, der von »Freunden« gemobbt wird, die ihn wiederholt zwingen, in einen Mülleimer zu steigen; die 15-Jährige, die offene Einladungen zu Partys verteilt, während ihre Eltern nicht in der Stadt sind, und so deren Groll und Ärger auf sich zieht. Das sind die banalen Vergehen, mit denen es beinahe alle Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder schon in der ein oder anderen Form zu tun hatten. Auch wenn sie im Rückblick bisweilen zum Lachen sind, können sie in dem Moment beträchtlichen Verdruss und eine ordentliche Portion Kummer bewirken.

Der Schmerz aber eines Elternteils, dessen Sohn oder Tochter auf Abwege zu geraten droht, ist von einem ganz anderen Kaliber. Zusehen zu müssen, wie ein Kind gefährlich vom Weg abkommt und allmählich unter den oftmals unumkehrbaren Konsequenzen der Abkehr von einem gesunden Leben zu leiden beginnt, ist die Art von Sorge, die man als Eltern geradezu körperlich spürt. Ein »Knoten im Magen«, Verzweiflung und Furcht erzeugen eine leichte Übelkeit und rauben einem den Schlaf, spuken einem bei der Arbeit im Kopf herum und höhlen selbst die stärkste Ehe durch schlechte Kommunikation, Bissigkeit und Enttäuschung aus. Zusehen zu müssen, wie das eigene Kind in düsteren Gefilden schlimmer psychischer Probleme versinkt, in Sucht, Schulversagen oder Kriminalität, ist eine fast unbeschreibliche Pein. Auch wenn ich diese Art von Sorge nie als Elternteil erleben musste, war ich beinahe mein ganzes Leben lang direkt und unauslöschlich mit einer solchen Seelenqual konfrontiert – durch meine Schwester, von der ich noch erzählen werde.

Eines der glühendsten Ziele dieses Buches ist es, den gepeinigten Eltern, Geschwistern, Lehrern und anderen, die ihre Zuversicht in das wiederherstellbare Versprechen eines Kindes verloren haben und/oder deren Glaube an das Gute in einem Kind und dessen Potenzial erschüttert wurde, Trost und Hoffnung zu schenken. Denn dem hintergründigen Titel dieses Buches – der Metapher von »Orchidee und Löwenzahn« – wohnt eine tiefe und oft hilfreiche Wahrheit über den Ursprung von Leid und die Erlösung im Leben eines Individuums inne. Die meisten Kinder sind mehr oder weniger wie ein Löwenzahn; sie gedeihen und blühen beinahe überall, wo sie hingepflanzt werden. Wie bei Löwenzähnen ist bei dieser Mehrheit der Kinder ihr Wohlergehen praktisch durch ihre gute und starke Konstitution abgesichert. Es gibt aber auch andere, diejenigen, die, ähnlich wie Orchideen, verwelken und verkümmern, wenn man ihnen keine sorgsame Pflege angedeihen lässt, die aber – wiederum wie Orchideen – Kreaturen von außergewöhnlicher Schönheit, Komplexität und Eleganz werden können, wenn sie Mitgefühl und Freundlichkeit erleben.

Während eine weitverbreitete, doch durchaus ungenügende Weisheit besagt, dass Kinder entweder »verletzlich« oder »belastbar« gegenüber den Herausforderungen des Lebens sind, hat unsere Forschung und die von anderen immer mehr gezeigt, dass der Gegensatz von Verletzbarkeit und Belastbarkeit ein falscher (oder zumindest irreführender) Dualismus ist. Es ist eine fehlerhafte Dichotomie, die Schwäche oder Stärke jeweils Untergruppen von Jugendlichen zuordnet und damit eine tiefere Wahrheit verschleiert, nämlich dass Kinder sich einfach in ihrer Empfindlichkeit und Empfindsamkeit gegenüber der sie umgebenden und fördernden Lebensbedingungen unterscheiden, wie Orchideen und Löwenzähne. Und das ist das erlösende Geheimnis dieser Geschichte: dass Orchideenkinder mit ihren Misserfolgen und ihrem Scheitern leicht diejenigen werden können, die auf ganz einzigartige Weise aufblühen und gedeihen.

Aber es gibt andere Gründe, warum Sie, als Leser, die wissenschaftliche Geschichte, die dieses Buch erzählt, vielleicht erkunden wollen. Vielleicht sind Sie Eltern und kämpfen bei der Erziehung Ihrer höchst unterschiedlichen Kinder gerade mit der enttäuschenden Erkenntnis, dass nicht alles bei jedem Kind funktioniert. Vielleicht haben Sie ein Kind, das in der Schule oder im Leben enorm zu kämpfen hat – trotz Ihres Gefühls, dass dieses Kind ein bemerkenswerter und vielversprechender junger Mensch ist. Oder Sie sind eine Lehrkraft und suchen nach Methoden, um das verwirrende Sammelsurium an Kindern, das sie unterrichten (und managen!) sollen, besser zu verstehen. Vielleicht sind Sie aber auch jemand, für den die Metapher von Orchidee und Löwenzahn eine persönliche Bedeutung hat, die Sie schon immer gefühlt, jedoch nie verstanden haben.

Auf den folgenden Seiten werde ich die wissenschaftlichen Erkenntnisse und entsprechende Handlungsvorschläge vorstellen, die nicht nur für das Leben von Orchideenkindern, sondern auch für das von Löwenzahnkindern relevant sind. Löwenzahnkinder mögen einem geringeren Risiko ausgesetzt sein als Orchideenkinder, aber auch sie verfügen über eine einzigartige Kombination physiologischer und psychologischer Eigenschaften, und ein Verständnis dieser Neigungen kann zu mehr Bewusstsein, Erfolg und Zufriedenheit führen. Und auch Löwenzahnkinder sind den grausamen Launen des Schicksals ausgesetzt. Wie wir durch die Beobachtung von Pflanzen in der Natur wissen: Egal wie robust oder resistent eine Spezies sein mag, alle können zu jedem Zeitpunkt ihres Lebens verkümmern. Auch wenn also dieses Buch als Ausgangspunkt die Empfindsamkeit von Kindern gegenüber ihrer sozioemotionalen Welt hat, prägen unsere Herkunft und unsere Sensibilität uns bis weit in unser Erwachsenenleben und sogar bis ins Alter. Das macht uns Menschen nicht nur zu einer Spezies, die nicht unverwundbar ist, sondern auch zu einer mit mächtigen, wiederkehrenden Möglichkeiten zur Regenerierung und Erneuerung.

Meine bescheidene, aber ernst gemeinte Absicht ist es, in den folgenden Kapiteln einer breiten Leserschaft nützliches Wissen und Hilfestellung anzubieten. Wir werden uns den frühen Ursprüngen der Forschung widmen, die Stress und Not mit Kindesentwicklung und psychischer Gesundheit in Verbindung setzt. Wir werden sehen, wie es zu den ersten Einblicken in die gewaltigen Unterschiede bei neurobiologischer Empfindsamkeit in sozialen Kontexten kam, und dabei erkennen, wie stark wissenschaftliche Entdeckungen oft auf Zufall und Glück basieren. Ich werde beschreiben, was über die Ursprünge in der Entwicklung von Orchideen- und Löwenzahnkindern bekannt ist, warum keine zwei Kinder jemals in genau derselben Familie aufwachsen und wie das Fachgebiet der Epigenetik unser Verständnis vom Zusammenwirken von Genen und Umwelt als bestimmende Faktoren unseres Seins und Werdens revolutioniert. Ich werde die aktuell vorliegenden Belege dafür zusammenfassen, inwiefern die Unterschiede zwischen Orchideen- und Löwenzahnmenschen sich auf die Gesundheit und das Entstehen von chronischen Krankheiten, auf das Erreichen von Entwicklungs- und Bildungsschritten und auf positive Reaktionen auf präventive Interventionen auswirken. Ich werde darlegen, was man über die Zuwendung, Stärkung und Ermutigung eines Orchideenkindes weiß – ob es sich um das eigene Kind, einen Schüler, Patienten oder einen selbst handelt – und wie das großartige Potenzial einer Orchideenperson in den sozialen Kontexten entfaltet werden kann, die wir gestalten und schaffen. Für Orchideenkinder ist die Welt bisweilen ein furchterregender und überwältigender Ort, aber mit Liebe und Unterstützung können sie, wie wir zu unserer großen Überraschung feststellen durften, genauso gut oder besser abschneiden als ihre Löwenzahngefährten. Letztlich ist es nicht die Verletzlichkeit, sondern die Empfindsamkeit, die ein Orchideenkind bestimmt, und wenn es die richtige Unterstützung erhält, kann es zu einem Leben voller Freude, Erfolg und Schönheit aufblühen.

Bei meinen Ausführungen darüber, was jemanden zu einer Orchideenperson macht, werde ich auch über diejenigen unter uns nachdenken, die eher ein Löwenzahnmensch sind, und werde aufzeigen, wie wichtig solche Individuen sind, damit, wie George Eliot formulierte, »die Welt immer besser wird«.[3] Wenngleich sie sich auf mehreren Ebenen unterscheiden, haben Löwenzahnkinder ihre eigenen Bürden zu tragen und Prüfungen zu bestehen, und es ist wichtig, dies zu verstehen und zu definieren. Auch werden wir entdecken, dass unter den nützlichen Kategorien der »Orchidee« und des »Löwenzahns« die tiefere Wahrheit eines Kontinuums liegt, eines Spektrums von verschiedenen Empfindsamkeiten gegenüber der Welt, in dem wir alle einen bestimmten Platz einnehmen. Letztlich ist es gerade die bemerkenswerte Komplementarität von Orchideen und Löwenzähnen, die wir erhalten wollen. Und vergessen wir nicht den Nutzen und häufig die Liebe des einen für den anderen, die Symmetrie und die Gegenseitigkeit ihres Zusammenklangs im menschlichen Diskurs und in der Geschichte sowie ihre Koevolution als unterschiedliche, aber gleichermaßen überzeugende Lösungen für die tiefen Dilemmas, die das Leben aufwirft.

Schließlich, und auf einer weiteren, globaleren Ebene, leben wir heute in einer Zeit der wiederauflebenden – und zu unseren Lebzeiten vielleicht nie in dieser Form da gewesenen – Missachtung, was die Sorge um und den Schutz der empfindlichsten und machtlosesten Menschen der Welt betrifft. In immer mehr Ländern weltweit – am meisten vielleicht in meinem eigenen Land, den USA – werden die Schutzlosen gemobbt und verspottet; den Armen wird die Schuld an ihrer Armut zugeschoben, die Obdachlosen werden als faul und unfähig beschimpft, Menschen, die vor Gewalt fliehen, werden abgewiesen, die einfachen Menschen werden ignoriert und die »Schwächsten von ihnen« zurückgewiesen und vergessen. Weltweit wendet man sich leider immer schneller ab von der Bedrängnis und den Notlagen der am meisten marginalisierten, entrechteten und verletzlichen Menschen. Auch wenn Orchideenkinder, wie wir auf den folgenden Seiten sehen werden, besonders empfänglich und sensibel für die Art und Weise sind, wie wir unseren Nachwuchs behandeln und schützen, so sind auf einer übergeordneten Ebene der menschlichen Gesellschaft alle Kinder die »Orchideen« der Weltbevölkerung.

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1 Eine Geschichte von zwei Kindern

Es ist ein Wunder

dass Blume

für Blume sich emporstreckt

gleichermaßen lieblich –

als könnten Spiegel

der Perfektion

niemals

zu oft gezeigt werden –

Stille hält sie –

in diesem Raum.

William Carlos Williams, Das purpurrote Alpenveilchen

 

 

Dies ist die Geschichte einer Erlösung: eine Geschichte von Kindern, die sich wie Orchideen und Löwenzähne enorm darin unterscheiden, wie empfindsam sie auf Umweltbedingungen reagieren; eine Geschichte, die sich allmählich, aber kontinuierlich aus 25 Jahren Labor- und Feldforschung entwickelte; eine Geschichte, in die der Autor sehr involviert ist, sowohl wissenschaftlich als einer der Forscher, aus deren Arbeit sie stammt, als auch persönlich als eines der Kinder, für das sie lange, bevor es überhaupt eine »Geschichte« gab, die man hätte erzählen können, schmerzlich und unausweichlich zur Realität wurde.

Die Geschichte von der Orchidee und dem Löwenzahn beginnt mit zwei rothaarigen Kindern, eines davon ich selbst, die in den 1940er-Jahren mit einem Altersunterschied von etwas mehr als zwei Jahren in eine kalifornische Familie der Mittelschicht geboren wurden. Sie erlebten eine gespiegelte, beinahe ein Zwillingskindheit. Beide Kinder genossen eine Erziehung voller Liebe, Hoffnung und optimistischer Erwartungen der Nachkriegsgeneration. Sie waren einander jeweils der beste und treueste Spielgefährte, waren sich in Naturell und Sensibilität so ähnlich, wie Geschwister es nur sein können. Doch in einem Schlüsselmoment, in dem es im kollektiven Gefüge der Familie drunter und drüber ging, trennten sich die Wege der beiden Kinder: einer führte zu schulischem Erfolg, tiefen Freundschaften, einer langen und engagierten Ehe und einem beinahe unverschämt glücklichen Leben; der andere ging bergab in eine sich stetig verschlimmernde psychische Störung, Einsamkeit und schließlich eine Psychose und Verzweiflung.

Meine jüngere Schwester Mary war ein sommersprossiges Mädchen mit einem gewinnenden Wesen, das sich zu einer jungen Frau von strahlender Schönheit entwickelte. Engelsgleich in Gesicht und Körperbau, nahm sie alle für sich ein, die sie sahen und kannten – mit einem lebhaften Lächeln, das Grübchen auf ihre Wangen zeichnete, einer scheuen Zurückhaltung und einem Scharfsinn, der in ihren jungen, blauen Augen aufblitzte. Mitten in der Pubertät hatte sie ihren Namen von »Betty« zu Mary geändert, was man als verzweifelten Versuch verstehen konnte, mit einem »Reset«-Knopf ihrer vergehenden Jugend Einhalt zu gebieten, indem sie mit einem anderen Namen von vorn anfing. Ihr Weg nach unten in ein Leben voller Leiden und Unvermögen verdeckte die beachtliche Auslese ihrer häufig versteckten, aber wirklich außergewöhnlichen Talente. Sie hatte das Auge eines Künstlers und eine beinahe intuitive Gabe, schöne und bezaubernde Räume zu sehen und zu kreieren. In einem anderen Leben wäre sie vielleicht eine Designerin oder berühmte Innenausstatterin geworden, und selbst heute schmücken viele ihrer liebevoll gehüteten Gemälde, Stühle, Dekorationen und Spielereien die Häuser ihrer Brüder, Tochter, Nichten und Neffen. Aber Marys größte, vielleicht am wenigsten sichtbare Stärke war ihre enorme Intelligenz, die immer deutlicher hervortrat, als sie heranwuchs und schließlich studierte. Sie brachte ihr einen Bachelor-Abschluss an der University of Stanford und einen Master-Abschluss an der University of Harvard ein. Bei ihren Professoren galt sie nicht nur als gewissenhafte und vielversprechende Studentin, sondern auch als eine junge, talentierte Wissenschaftlerin voller ungewöhnlicher Ideen und gesegnet mit einem klaren Geist. Mary war definitiv das intelligenteste, kreativste und schlaueste Mitglied unserer Familie, und ihr älterer Bruder war nur ein Abglanz ihrer erstaunlichen Geistesschärfe und ihres Weitblicks. Von ihrem Naturell und ihrer Neigung her war sie introvertiert und schüchtern, doch in ihrer späten Kindheit hatte sie ein Talent dafür entwickelt, die Aufmerksamkeit und die Zuneigung anderer Kinder zu erlangen und innige und erfüllende Freundschaften zu pflegen. Viele ihrer Freundschaften aus der Grundschulzeit konnte sie in ihr Erwachsenenleben retten, trotz der traurigen, fortschreitenden gesundheitlichen Probleme, die sich kurz darauf anbahnten.

Das rotlockige Baby, das meine Eltern in meinem dritten Lebensjahr mit nach Hause brachten, wurde also meine erste, beste Freundin, die treue, immer verfügbare Spielgefährtin, mit der ich viele Stunden im Spiel, bei raffinierten Geschichten und eleganten Fantastereien verbrachte. Selten waren wir die Gesellschaft des anderen leid, und so spannen wir gemeinschaftlich unendliche Geschichten von Abenteuern und Intrigen für unsere Rollenspiele und fütterten unseren Hunger nach magischem, fantasievollem Spiel. Ich bewunderte ihren Einfallsreichtum, als sie es bei einer unvergesslichen Mittagsruhe fertigbrachte, den Inhalt einer kleinen Schachtel Rosinen komplett in ihre Nase zu stopfen, eine Rosine nach der anderen. Dieses unglückliche Abenteuer erbrachte uns eine Fahrt in die Arztpraxis. Dort wurde Mary mit einer langen, glänzenden Pinzette, die unglaublich tief in der Stupsnase einer Dreijährigen verschwand, von unzähligen, verschleimten Rosinen befreit. Immer wieder regte ich mich lautstark über ihre Neigung zur Übelkeit bei langen Autofahrten auf, bei denen man sich darauf verlassen konnte, dass sie sich auf den Sitz zwischen uns übergab, einmal auch auf mich und einmal, und das nahm ich ihr wirklich übel, auf mein geliebtes »Indianerzelt« (es hieß so, weil ich die Worte »Tipi« und »Wigwam« noch nicht kannte). Ich sorgte mich um ihre Sicherheit und rannte ihr einmal am Strand zu Hilfe, als sie eng umschlossen von einem aufblasbaren Schwimmreifen auf einer umgedrehten Boje festsaß – ihr Hinterteil und ihre Beine ruderten in der Luft, und sie spie Fontänen von Salzwasser, als sie auftauchte. Sie und ich, wir waren gleichermaßen Gefährten wie Geschwister, eine gleichberechtigte Partnerschaft von großartigem, lautem Spiel ohne Grenzen, mit wenigen Regeln und auf beiden Seiten einer Hingabe für hanebüchene Fantasie. Auch wenn ich es damals nicht sagen konnte, ich liebte sie wirklich so sehr, wie ein Fünfjähriger seine Schwester nur lieben kann, und sie liebte mich.

Als unser kleiner Bruder dazukam, beinahe ein Jahrzehnt nach der Geburt meiner Schwester, schwelgten wir in den geteilten Freuden, großer Bruder und große Schwester zu sein, und verehrten gemeinsam mit unseren Eltern dieses unerwartete, rotschopfige Baby. Eine Weihnachtskarte von 1957, im zweiten Lebensmonat unseres Bruders Jim, fängt diese Zärtlichkeit der umringenden Familie so gut ein, dass sie seither als »Karte mit der Anbetung der Heiligen Drei Könige« gilt. Mary und ich wuchsen sogar noch enger zusammen durch unsere geteilte, manchmal rivalisierende, aber immer gemeinsame Freude über die Ankunft eines neuen Babys. Als unser Geist und unser Körper sich mit dem Einsetzen der Pubertät allmählich veränderten, traten wir in die Adoleszenz mit einer so engen und zugewandten Beziehung, wie Geschwister sie nur haben können – mit einer reichen Geschichte, voller Liebe für die Familie und voller geteilter Empfindsamkeit gegenüber dem Wesen der Welt und dem Charakter und Sinn unseres Lebens.

Und dann zog es uns den Boden unter den Füßen weg. Unsere Familie zog 800 Kilometer nach Norden, in die San Francisco Bay Area, wo unser Vater – als Seniorstudent – an der Universität Stanford in Pädagogik promovieren würde. In den Monaten vor der Entscheidung für einen Umzug hatte er eine schwere Depression, er erlitt, wie man damals sagte, einen »Nervenzusammenbruch« und saß tagelang wie festgewachsen auf unserer Couch im Wohnzimmer. Durch die Depression konnte er nicht mehr arbeiten, er war in einer sichtbaren und verstörenden Gefühllosigkeit gefangen, mit bitteren Tränen und der Unsicherheit, wie es weitergehen würde. Dennoch zogen wir in den Norden um, wo das gesamte uns bekannte soziale, physische und pädagogische Umfeld wegfiel. Wir trieben orientierungslos in einem Meer der Neuheit dahin, gefordert und schockiert von uns unbekannten sozialen und geografischen Landschaften. Das Viertel, in dem wir nun spielten, war unkartiert und uns völlig fremd, die Schulen, die wir besuchten, waren bevölkert von Massen namenloser Kinder; und selbst unsere Familie fühlte sich in diesen neuen, stürmischen Gewässern steuerlos und ohne Anker an. Sowohl Mary als auch ich gingen auf uns fremde Schulen, und nach einem oder zwei Jahren machten wir mit dem sogar noch eigenartigeren (und feindseligeren) Territorium der Mittelschule Bekanntschaft. Unsere Mutter, die genug mit der Versorgung eines Säuglings zu tun hatte, bemühte sich redlich, das abzufangen, was auf uns einprasselte, da unser junges Leben auf den Kopf gestellt wurde. Doch ihre eigene Stütze, unser Vater, wurde immer mehr in einen Strudel von Promotion, Seminaren und Studentenverpflichtungen hineingerissen. Die Ehe unserer Eltern, ständig getrübt von Uneinigkeit und Zwist – über das Familieneinkommen, die Disziplin der Kinder, widerstreitende Meinungen und eingebildete Kränkungen –, nahm eine unheilvolle Wendung hin zu mehr körperlichen, schlimmen Streiten. Zwei geliebte Großeltern und zwei Onkel starben; wir zogen erneut um, diesmal noch näher zum Campus von Stanford; und nach seiner Promotion nahm unser Vater eine Stelle an, die ihn noch mehr forderte und aufrieb.

Keines dieser eng aufeinanderfolgenden Ereignisse im Familienleben einer jungen Familie auf der Schwelle in die 1960er-Jahre war außergewöhnlich schwer oder in seiner Heftigkeit oder Schädlichkeit bemerkenswert. Nein, viele Familie halten regelmäßig mindestens genauso schlimme und weitreichende Brüche und Stressfaktoren aus, und manche haben unglaubliche Widrigkeiten erlebt, die nur die glücklichsten Familienmitglieder überlebten. Aber die Anhäufung dieser Vielzahl wenngleich banaler Ereignisse erwies sich als höchst traumatisierend für meine Schwester. Nach dem zweiten Umzug und Marys Einschreibung an der örtlichen Mittelschule entwickelte sie eine schlimme, systemische körperliche Krankheit, die einige Monate lang nicht diagnostiziert werden konnte. Wiederkehrende Fieberschübe, Ausschläge am ganzen Körper, die kamen und wieder verschwanden, und die Schwellung von Milz und Lymphknoten legten zunächst den Verdacht auf Leukämie oder eine Lymphknotengeschwulst nahe und zogen einige Krankenhausaufenthalte und schmerzhafte, invasive Tests nach sich. Aber schließlich schmerzten ihre Gelenke und schwollen an, und die Krankheit wurde als Morbus Still erkennbar, eine ungewöhnlich schwere Form juvenilen Rheumas. Unsere Eltern nahmen Mary von der Schule, und sie verbrachte ein ganzes Jahr in Bettruhe, wurde mit Aspirin, Steroiden und Kalt-warm-Wechsel-Therapie behandelt, um die aufbegehrenden Gelenke zu lockern und zu beruhigen. Als ihr großer Bruder sah ich verstört und mit Unbehagen zu, wie Marys Leben sich in einem Schlafzimmer am Ende des Flurs aufdröselte. Zwar sollte sie ihr Leben lang immer wieder von Arthritis geplagt werden, aber am Ende des Jahres hatte sie sich so erholt, dass sie zu einem normalen Leben zurückkehren konnte.

Doch leider kehrte das normale Leben nicht zu ihr zurück. Stattdessen deutete sich an, dass nun etwas in ihrer Psyche aus den Fugen geriet. Mary hörte auf zu essen und nahm ab, zog sich von ihren Freunden zurück und erhielt schließlich die Diagnose Anorexia nervosa, auch Magersucht genannt – eine Essstörung, von der vor allem heranwachsende Mädchen betroffen sind. Immer wieder kehrte sie ins Krankenhaus zurück, für Therapie und Zwangsernährung, sie wurde an verschiedenen Internaten eingeschrieben, die laut ihrer Psychiater möglicherweise therapeutische Vorteile aufwiesen, aber sie rutschte weiter in einen Strudel von Depression, Schlafstörungen, Rückzug von sozialen Kontakten und zunehmend ungewöhnlichem Verhalten und Denkweisen hinein. Am Ende der Highschool hatte sie die schreckliche Verdachtsdiagnose Schizophrenie im Gepäck – wohl die schlimmste Diagnose, die Eltern für ihr Kind bekommen können, abgesehen vom Tod des Kindes.

Trotzdem trug Marys intrinsische Genialität sie weiter zu einem vielversprechenden, wenn auch unsicheren Grundstudium an der Universität Stanford, wo sie trotz der wiederkehrenden Kämpfe mit ihrer geistigen Gesundheit ungewöhnlich brillierte. Rückblickend stellten ihre vier Jahre in Stanford die aussichtsreiche Landschaft einer steilen akademischen Karriere vor einem ebenso steil in den geistigen Abgrund führenden Horizont dar. Nach ihrem Abschluss und einer kurzen Periode in San Francisco, während der sie sich dem Jurastudium widmete, wurde sie zum Masterstudiengang der Theologie an der Harvard Divinity School zugelassen. Dort hoffte sie, persönliche religiöse Erfahrungen und deren Gemeinsamkeiten und Konvergenzen mit psychiatrischen Symptomen zu erforschen. Doch ihre eigenen psychotischen Symptome – vor allem die feindseligen, giftigen Stimmen und die Phasen von Katatonie, während derer sie sich nicht bewegen oder sprechen konnte – führten zu immer schlimmeren Beeinträchtigungen. Sie wurde mehrmals in die Psychiatrie eingewiesen, hatte eine Reihe sexuell freizügiger One-Night-Stands und wurde schließlich schwanger. Die Schwangerschaft gipfelte in einer schweren, langen Geburt, und ihre süße Tochter wurde mit fetaler Asphyxie und Epilepsie geboren. Heute ist sie eine 38-jährige Frau mit Behinderung. Trotz der Schwierigkeiten, ein behindertes Kind großzuziehen, während sie mit ihren eigenen schweren und beeinträchtigenden Behinderungen zu kämpfen hatte, war Mary eine fürsorgliche, zugewandte Mutter, die ihre Tochter in einer liebevollen und aufmerksamen Atmosphäre erzog. Marys geistige Beeinträchtigungen sorgten jedoch weiterhin für Chaos und Verzweiflung in ihrem Leben; und ihr Leben als Erwachsene wurde eine zunehmend unwahrscheinliche Ansammlung von Trümmern, die so gerade noch von der Hartnäckigkeit ihrer Familie und ihrer eigenen resoluten Entschlossenheit, nicht aufzugeben, zusammengehalten wurden.

Die nicht zufällige Verteilung von Krankheit und Unglück

Warum haben manche Kinder zu kämpfen und sind andere erfolgreich? Warum strotzt das Leben mancher Menschen nur so vor himmelschreiendem Unglück und das von anderen vor Zufriedenheit und Glück? Warum werden manche Menschen krank und sterben in jungen Jahren, während ihre Altersgenossen bis ins hohe Alter gesund weiterleben? Ist das einfach Glück und Zufall, oder handelt es sich um frühe Muster einer Entwicklung, die gesetzmäßige Pfade zu Glück oder Katastrophe anzeigen? Warum hat das Leben meiner Schwester sie einer wachsenden Verzweiflung und einer anhaltenden, sich langsam anbahnenden Katastrophe ausgesetzt, während mein Leben zu unvorhergesehenen und größtenteils übermäßigen Erfolgen führte? Das waren die Fragen, die meine Fantasie antrieben, meine Ausbildung als junger Kinderarzt inspirierten und mich schließlich dazu brachten, dass ich die deutlichen Unterschiede in der Entwicklung von Kindern und ihrer Gesundheit verstehen wollte, die großen Einfluss darauf haben, wie wir als Erwachsene werden und was für ein Leben wir führen.

Wir wissen heute aus der Forschung der Epidemiologie – der Wissenschaft von der Verteilung von Krankheiten innerhalb menschlicher Populationen –, dass es tatsächlich verlässliche und höchst ungleichmäßige Muster von Krankheit und Gesundheit gibt. Diese Tatsache hat unser Grundverständnis von den Herausforderungen des Fachgebiets Public Health (Bevölkerungsgesundheit) geprägt. Etwa eines von fünf Kindern erleidet die Mehrheit aller physischen und psychischen Krankheiten, die über einen bestimmten Zeitraum innerhalb einer pädiatrischen Bevölkerungsgruppe auftreten.

Das am meisten replizierte Ergebnis in der Forschung zu Kindergesundheit: 15 bis 20 Prozent der Kinder erkranken an mehr als der Hälfte aller Krankheiten und psychischen Störungen ihrer pädiatrischen Bevölkerungsgruppe und sind für die Mehrzahl der insgesamt in Anspruch genommenen Gesundheitsleistungen verantwortlich.

Genau dieses eine von fünf Kindern ist verantwortlich für die Inanspruchnahme von mehr als der Hälfte aller Gesundheitsleistungen und einem Großteil der Mittel, die für Gesundheitsleistungen zur Verfügung stehen. Dasselbe Ungleichgewicht findet man auch bei der Verteilung der Krankheiten in Bevölkerungsgruppen von Erwachsenen, und es gibt Belege dafür, dass Kinder, die übermäßig von Krankheit heimgesucht werden, Erwachsene werden, die ebenfalls über Gebühr leiden. Bemerkenswert ist, dass dies für Kinder rund um die Welt, aus reichen und armen Nationen, in sozialistischen wie kapitalistischen Systemen und auf jedem Kontinent, im Osten wie im Westen und auf der Nord- wie auf der Südhalbkugel zutrifft. Die Bedeutung dieser Beobachtungen für die Bevölkerungsgesundheit ist offensichtlich: Wenn wir diese ungleiche Verteilung verstehen und dagegen vorgehen könnten, könnten wir möglicherweise mehr als die Hälfte der biomedizinischen und psychiatrischen Krankheiten in der Bevölkerung eliminieren und die Gesundheitskosten drastisch senken. Anders gesagt: Wir könnten eine ausgeglichenere Gesellschaft schaffen, die aus glücklicheren und gesünderen Menschen besteht. Wir könnten auch die Heranbildung stärkerer Familien mit weniger physischen und psychischen Leiden fördern und dafür sorgen, dass Eltern wie Kinder eine hoffnungsvollere und optimistischere Zukunft haben.

Schlechte Gesundheit bei Kindern und Morbidität bei Erwachsenen sind also keinesfalls zufällig verteilt. Stattdessen häuft sich Krankheit ungleichmäßig bei einigen wenigen Leidgeplagten wie meiner Schwester und so vielen anderen. Daher gibt es systematische und große Unterschiede in den Krankheitszahlen von Subgruppen von Kindern, und diese Unregelmäßigkeit ist offenbar weder allein durch die Anlage (also die Gene) noch die Umwelt (Lebensweise und Umwelteinflüsse) bedingt, sondern ergibt sich aus einem permanenten und systematischen Wechselspiel von beidem. Für ein Verständnis dieser Interaktionen werden wir zu gegebener Zeit auch an die vorderste Front der jungen und aufstrebenden Wissenschaft der Epigenetik und darüber hinaus kommen. Aber zunächst gehen wir noch einmal zurück zu den ersten Andeutungen, warum Kindergesundheit so unausgewogen verteilt ist und wer die unglücklichen und übermäßig kranken Kinder eigentlich sind.[1]

Auch wenn ich Typologien von Kindern oder stark vereinfachten Gegensätzen skeptisch gegenüberstehe, haben meine Kollegen und ich in einem breit angelegten Forschungsprogramm herausgefunden, dass Kinder verschiedene Muster bei inneren biologischen Reaktionen auf ihre Umwelt haben. Wenn ich das, was wir später noch als wissenschaftliche Ergebnisse genauer betrachten, kurz umreiße, lässt sich sagen, dass sich diese Reaktionen in zwei Kategorien einteilen lassen. Manche Kinder weisen, wie der Löwenzahn, eine bemerkenswerte Fähigkeit auf, in beinahe jedem Umfeld zu gedeihen. Ein Löwenzahn kann praktisch überall, wo der Samen landet – von fruchtbaren Bergwiesen bis hin zu Rissen im städtischen Bürgersteig –, wachsen und aufblühen. Andere Kinder sind, wie eine Orchidee, ausgesprochen empfindlich gegenüber ihrer Umwelt. Bei sorgsamer Pflege wachsen sie zu wunderbaren, komplexen, ungewöhnlich kreativen Wesen mit großem Potenzial heran, aber sie verkümmern und verwelken unter widrigen Bedingungen, wenn sie vernachlässigt werden oder ihnen Schaden zugefügt wird.

Die Herkunft der Metapher von Orchideen- und Löwenzahnkindern war meiner kurzen Interaktion vor fast 20 Jahren mit einem alten Schweden zu danken, der eine meiner Vorlesungen an der Universität Stanford besuchte. Nach meinem Vortrag kam ein runzliger alter Mann mit buschigen Augenbrauen und einem gedrehten, wurzelähnlichen Spazierstock langsam den Gang des Vorlesungssaals nach vorn, streckte mir drohend und mich beinahe aufspießend den Stock entgegen und sagte: »Sie sprechen über maskrosbarn!« Ich entgegnete, ich hätte keine Ahnung, dass ich über Maskrosbarn spräche, und wüsste nicht einmal, was das sei. Maskrosbarn, so erklärte er, ist eine idiomatische schwedische Bezeichnung für Kinder, die, wie der Löwenzahn, überall gedeihen – eine Art von grenzenloser »Blühe, wo du gepflanzt bist«-Fähigkeit. Inspiriert von dieser reizvollen und ausdrucksstarken Redewendung, dachten wir uns dann einen schwedischen Neologismus für das Gegenstück aus: orkidebarn oder »Orchideenkind«.

Orchideenkinder, die empfindlicher auf die Umstände reagieren, sowohl im Labor als auch im realen Leben, sind der Ursprung eines Großteils unserer kollektiven Qual, Kummer und Sorge als Eltern, Lehrer und Angehörige des Gesundheitswesens. Diese Kinder – und ihre erwachsenen Pendants, die Freunde und Kollegen, um die wir uns häufig sorgen – können, wenn sie nicht richtig verstanden und unterstützt werden, großen Schmerz und Enttäuschung in der Familie, der Schule und in der Gesellschaft verursachen.

Geschichten von Orchideen und Löwenzähnen

Zwei Geschichten von Kindern illustrieren gut, mit welchen Herausforderungen Orchideenkinder zu kämpfen haben. Die erste handelt von einem zehnjährigen Jungen (nennen wir ihn Joe) aus einem abgelegenen Bezirk, der vom Hausarzt ins Krankenhaus geschickt wurde, damit man ihn dort auf ein mögliches Magengeschwür hin untersuche. Als behandelnder Kinderarzt hörte ich als einer der Ersten dort seine Geschichte und untersuchte ihn. Joe hatte krampfartige starke Schmerzen direkt über dem Magen auf der linken Seite des Bauchraums. Andere Symptome hatte er nicht, und er verneinte explizit Veränderungen oder Blut im Stuhl, Erbrechen oder eine Veränderung des Schmerzes vor oder nach einer Mahlzeit. Die gesamte Diagnostik – Röntgenaufnahmen, Stuhl- und Urinprobe sowie Blutuntersuchung hinsichtlich Entzündungen oder Anämie – war völlig unauffällig.

Ich dachte, dass es sich um Episoden psychosomatischer Schmerzen handeln müsse, die von Schwierigkeiten in der Familie oder der Schule herrühren könnten, und suchte intensiv nach einer Dysfunktion. In der Schule war alles in Ordnung, und obwohl Joe aufgrund seiner Schmerzen häufig fehlte, gab es keine Hinweise darauf, dass er sozialen oder Lernstress im Schulleben hätte. Er hatte gute Freunde, war ein begabter Schüler mit guten Noten und verstand sich mit seinem Lehrer. Dann befragte ich Joe bei verschiedenen Gelegenheiten ausführlich über sein Leben zu Hause, über die Beziehung seiner Eltern, über möglichen Missbrauch durch einen oder beide Elternteile und eventuelle Sorgen oder Probleme in der Familie. Das Ergebnis war eindeutig: Es gab keine ungewöhnlichen oder verdächtigen Aussagen über das Familienleben.

Dann widmete ich mich den Eltern – beide waren während des gesamten Krankenhausaufenthalts anwesend und verfolgten alles aufmerksam. Hatte Joe irgendwelche Sorgen oder Bedenken bezüglich eines Elternteils? Wie war ihre Beziehung? Gab es Gewalt oder Konflikte? Hatten sie irgendwelche Vermutungen über den Ursprung seiner Schmerzen? Nichts. In den drei oder vier Besprechungen mit den Eltern tauchte kein einziges psychologisches oder beziehungsrelevantes Problem auf, das wir an die Entstehung von Joes Schmerzen knüpfen konnten. Also verabreichten wir ihm – ohne jeglichen Hinweis auf ein Magengeschwür – Säureblocker, woraufhin die Schmerzen prompt nachließen. Nach einigen Tagen im Krankenhaus, in denen es Joe immer besser ging, entließen wir den Jungen und übergaben ihn zur weiteren Therapierung an seinen Hausarzt.

Drei Monate später erhielt ich einen Anruf vom Bezirksstaatsanwalt. Ob ich irgendeinen Grund gehabt hätte, Gewalt oder Misshandlungen seitens des Vaters zu vermuten, da »gestern nach dem Abendessen« die Mutter ins Schlafzimmer gegangen sei, eine versteckte Pistole geholt und ihrem Mann eine Kugel in den Kopf gejagt habe, genau zwischen die Augen. Monate später sprach ein Richter die Mutter frei, sie habe aus Notwehr gehandelt, da ihr Mann sie und das Kind fortgesetzt und unbarmherzig psychisch und physisch gequält hatte. Die Mutter hatte einen Punkt erreicht, an dem es für sie kein Zurück mehr gab und an dem ihr die Tötung ihres Mannes als einziger Ausweg erschien. Mir hatte dieses entscheidende Puzzlestück der Familiengeschichte gefehlt, weil ich es versäumt hatte, die Eltern getrennt zu befragen. Die ärztliche Untersuchung erbrachte keine sichtbaren Spuren von Kindesmisshandlung, und Joe und seine Mutter konnten mir aus Angst vor der Rache, die folgen würde, wenn sie in Anwesenheit des Vaters über den Missbrauch sprechen würden, nicht von ihrer Not erzählen. Im Rückblick war Joe höchstwahrscheinlich ein klassisches Orchideenkind – treibend im übermächtigen Schrecken der Gefahr für seine Mutter und sich selbst, psychisch wehrlos den Gefühlen ausgesetzt, die der Missbrauch hervorrief, verlagerte er unbewusst den Schmerz in die einzig sichere und akzeptable Form: körperliche Beschwerden. Joes Geschichte ist auch ein Mahnmal, wie wir alle auf die eine oder andere Weise am Rand eines großen Unglücks leben, gefangen zwischen der unangenehmen Sicherheit einer geheuchelten Realität und der schrecklichen Wahrheit der wirklichen und gefährlichen Welt.

Eine zweite Geschichte über das Leben als Orchideenkind verbirgt sich in den Darstellungen zweier Jungen, die eine auf einer kunstvollen und unvergesslichen Fotografie, die andere in einem zeitlosen Buch. Wichtig ist, dass beide »Bilder« auch auf eine andere Dimension von Orchideenkindern hinweisen – ihre verborgenen Stärken und ihre ungewöhnliche Empfindsamkeit. Der eine Junge, dessen Bild an einem Nachmittag des Jahres 1988 von Paul D’Amato fotografisch festgehalten wurde, erschien auf dem Cover des Magazins DoubleTake. Ein etwa zehnjähriges Kind steht in einem zerknitterten blauen Hemd mit verschränkten Armen da, unangreifbar, von einer chaotischen Gruppe leicht aggressiver, wilder präpubertierender Jungen aus blickt er nach außen. Für mich war diese Fotografie schon immer eine beinahe perfekte Darstellung eines Orchideenkindes und der sozialen Umgebung, mit der solche Kinder häufig zu kämpfen haben. Das Kind steht ruhig, empfindend und offen da, zugleich verletzlich und stark, am Rand einer wütenden, zersplitterten Gesellschaft von Altersgenossen. Die Fotografie scheint eine Art paradoxes Nebeneinander der sturen, gleichgültigen Marginalität zu der Gruppe und eines brodelnden Kessels der Gefühle von Einsamkeit, Verletzlichkeit, Zurückhaltung und Resilienz zum Ausdruck zu bringen.

Porträt eines Jungen, bei dem es sich sicher um ein Orchideenkind handelt (im Vordergrund), in Interaktion mit einer Gruppe anderer Jungen auf einem Gelände in Portland, Maine. © Paul D’Amato.

Es ist das gleiche zwiespältige Bild, das William Golding in Worten statt in Pixel in seinem Romanklassiker Herr der Fliegen darstellt, einem Roman über das Heranwachsen und über den Verlust der Unschuld. In diesem Roman begegnen wir einem der Protagonisten, Simon, der in Kriegszeiten mit einer zunehmend bösartigen Gruppe britischer Schuljungen auf einer Insel landet, nachdem ihr Flugzeug über unbekanntem, feindlichem Gebiet abgeschossen wurde. Die Jungen werden sich rasch bewusst, dass es eine kollektive Bedrohung gibt: ein schattenhaftes »Tier«, das sich genau an der Grenze ihrer Wahrnehmung verbirgt. Simon, mit Sicherheit ein Orchideenkind, ausgesetzt in einer fremden Welt, wird folgendermaßen beschrieben:

Er war ein hagerer, lebhafter Junge. Seine Augen schauten unter einem Dach störrigen Haares hervor, das ihm schwarz und strähnig ins Gesicht hing. […]

Er hatte das brennende Verlangen zu reden; aber vor der Versammlung zu sprechen war für ihn etwas Schreckliches. […]

»Vielleicht«, sagte er zögernd, »vielleicht gibt’s doch ein wildes Tier.« Die Versammlung schrie wild auf und Ralph erhob sich voller Erstaunen. »Du, Simon? Du glaubst an sowas?« »Ich weiß nicht«, sagte Simon. Sein Herz schlug würgend. […]

Simon rang nach Worten, um das Hauptübel der Menschheit darzustellen.[4]

Während sowohl D’Amatos Junge als auch Goldings Simon beispielhafte Verkörperungen der Verletzlichkeit von Orchideenkindern sind, illustrieren beide auch die bemerkenswerten und häufig verborgenen Stärken solcher Kinder. Gerade die zartfühlende, mutige Präsenz dieser Kinder brauchen wir so dringend in unserem Zusammenleben und in unserer Gesellschaft. Sie können, wie Familientherapeut Salvador Minuchin lehrte, der »identifizierte Patient«[5] – auch »Indexpatient« genannt – sein, der für eine dysfunktionale und missbrauchende Familie geopfert wird. Anders ausgedrückt, ihre zarte Empfindsamkeit bewirkt, dass sie emotional und physisch die Belastung der schädlichen Umstände absorbieren. Wie wir bei Joe und seiner Familie sehen konnten, werden Indexpatienten – häufig, aber nicht ausschließlich Kinder – im Kontext eines verwobenen und beeinträchtigten Familiensystems zu einer Art metaphorischer »Christusfigur«, die die Last des Leidens und der Schmerzen auf sich nimmt und für die Familie »stirbt«, um so für das Überleben der Familie und die Unveränderlichkeit ihrer traurigen, aber zwanghaften Dysfunktion zu sorgen. Meine Kollegen und ich entdeckten im Lauf von 25 Jahren Forschung aber auch, dass genau dieselbe außergewöhnliche und biologisch verankerte Empfindsamkeit, die solche Kinder so derart anfällig für die Gefahren und Widrigkeiten des Lebens macht, sie auch empfänglich für dessen Geschenke und Versprechen sein lässt. Darin liegt ein spannendes und lebensspendendes Geheimnis: Orchideen sind keine gebrochenen Löwenzähne, sondern eine andere, subtilere Blumenart. Den Kämpfen und Schwächen der Orchideen wohnt eine unerwartete Stärke und erlösende Schönheit inne.

Orchideenkinder überstehen – auch als Erwachsene, zu denen sie heranwachsen – häufig Bedrohungen in Familie, Schule und Leben, von denen andere nur am Rand etwas mitbekommen. Wie die namensgebenden Blumen sind sie gesegnet und belastet mit einer außerordentlichen Empfindsamkeit für die bewohnte, lebende Welt, haben sie Schwächen, die ihre Existenz und Gesundheit gefährden können, sowie verborgene Kapazitäten für ein Leben von Schönheit, Ehrlichkeit und bemerkenswerten Leistungen. Doch glauben Sie nicht, dass diese innere Empfindsamkeit für die Welt die äußeren Bedrohungen und Gefahren, die wir aus langer Erfahrung kennen, verdrängen oder ausschalten könnten: die schädlichen Einflüsse von Armut und Stress, Krieg und Gewalt, Rassismus und Unterordnung, Toxinen und Krankheitserregern. Die Stärke und die Gesundheit von Orchideen wie auch von Löwenzähnen wird von diesen und vielen anderen Bedrohungen der Welt gefährdet, und Kinderarmut ist nach wie vor der bestimmendste Faktor von schlechter Gesundheit über das gesamte Leben hinweg.[6] Aber die »besondere Sensibilität« von Orchideen für solche Bedrohungen ist generell größer als die von Löwenzähnen.[7]

Weder wie ungleich sie der Umwelt ausgesetzt sind, noch wie anfällig sie in ihren genetischen Unterschieden sind, ist allein für das extreme Ungleichgewicht zwischen Löwenzähnen und Orchideen verantwortlich, sei es bei Krankheit, Störungen oder Schicksalsschlägen. Vielmehr ist ein solches Ungleichgewicht das Ergebnis einer Wechselwirkung von Umwelt und Genen – dieser sich abzeichnenden wissenschaftlichen Erkenntnis werden wir uns in einem folgenden Kapitel noch ausführlicher widmen. Während sowohl Umwelt als auch Anlage eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Orchideen- oder Löwenzahnkindern spielen, wissen wir mittlerweile, dass ihr Wechselspiel auf der Ebene von Molekülen und Zellen einen fundamentalen, entscheidenden Aspekt der Biologie solcher Kinder kalibriert: wie empfänglich und sensibel sie auf die Umwelt reagieren, in der sie aufwachsen und sich entwickeln.

Auch wenn mein wissenschaftliches Interesse für die bemerkenswert unterschiedlichen Bahnen, in denen Entwicklung und Gesundheit von Kindern verlaufen, von Statistiken und Daten angetrieben wurde, so hatte mein persönliches Engagement für die Wissenschaft ihre tiefen Wurzeln in dem erstaunlichen Auseinanderklaffen meines Lebensweges und dem meiner Schwester Mary. Ich war der Löwenzahn, sie die Orchidee. Es sind also die eng miteinander verwobenen Geschichten eines zukünftigen Kinderarztes und seiner Schwester –, die für die Leser das Tor zu einer neuen Wissenschaft bilden und gewissermaßen auch erklären, wie Kinder einer einzigen Familie so auseinanderdriftende Lebenswege haben können. Zwar barg Mary aufgrund ihrer zarten Empfindsamkeit in sich das Potenzial für weit bedeutendere Leistungen und Erfolge, als ich sie je erbrachte, doch sie wurde von den Tragödien und Kümmernissen des Lebens überwältigt, sodass dieses Potenzial nie aufblühen konnte. Mit der Realität von Familienzwist, Enttäuschung, Verlust und Tod konfrontiert, kümmerte meine Schwester auf einem steinigen Boden dahin, der ihrem Löwenzahnbruder praktisch nichts anhaben konnte. Und genau wie der Löwenzahn sich die Widerstandskraft, die er angesichts einer solchen Wirklichkeit aufbringt, nicht an die eigene Fahne heften kann, war Mary nicht persönlich für die Irrungen verantwortlich, in die ihr trauriges Leben schließlich abdriftete. Wäre sie zu einer anderen Zeit oder in einer anderen Familie aufgewachsen, wäre sie vielleicht eine brillante Predigerin, berühmte Theologin geworden oder hätte eine spirituelle Bewegung angeführt, mit der sie Tausende Leben berührt hätte. Sie hätte vielleicht ein großartiges Leben voller Freude und Feste geführt, erfüllt von guten Taten und bewegenden Ideen. Und hätte sie durch die Wundertaten von Fürsorge und Schutz auf diesen erlösenden und reichen Lebensweg gefunden, hätte niemand geahnt, dass der Abgrund so nah lag.

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2 Der Lärm und die Musik

Eine schreiende, schwangere Frau in einem einmotorigen Flugzeug, das von einem Buschpiloten des Zweiten Weltkrieges durch einen Schneesturm geflogen wird – das war kein Zuckerschlecken. Jede Faser und jeder Tropfen meiner klebrigen Löwenzahnmilch wurde dabei auf die Probe gestellt. Wir schrieben das Jahr 1978, ich war mit 32 Jahren noch neu als Kinderarzt, und ich hatte keine Ahnung, wie dieser Tag enden würde.

Zwei Stunden zuvor, um fünf Uhr morgens, wurde ich vom Klingeln des Telefons aus unruhigem Schlaf gerissen. Es war das Crownpoint-Indian-Health-Service-Krankenhaus am trockenen, vergessenen Ostrand des Stammeslandes der Navajo Nation. Als einziger Kinderarzt im Umkreis von 80 Kilometern war ich für alle ernsten medizinischen Notfälle zuständig, die etwas mit Kindern zu tun hatten, ob geborenen oder ungeborenen. Zu Fuß machte ich mich auf den kurzen Weg von Jills und meiner Dienstwohnung am Fuß eines mit Sträuchern bewachsenen Tafelbergs in New Mexico zum Krankenhaus mit seinen 30 Betten und ging geradewegs auf die »Entbindungsstation«: ein einziger, einigermaßen sauberer Raum mit einem Tisch mit Steigbügeln und einer offiziellen Fotografie von Jimmy Carter, der präsidial auf die Geburtsvorgänge herabblickte (er sah immer etwas peinlich berührt aus).

Dort wurde ich mit einem winzigen, fünf Zentimeter großen Fuß eines Frühchens konfrontiert, der sich, wie eine Narzisse im Frühling, aus der Vagina einer etwa 20-jährigen Mutter schob. Sie hatte keine vorgeburtlichen Termine wahrgenommen und bereits zwei Kinder. Laut ihrer Schwangerschaftsdaten war sie in der 33. Schwangerschaftswoche, aber ihr Bauch war größer, als er zu diesem Zeitpunkt sein sollte. Wir brachten sie in einen Raum mit Ultraschallgerät und entdeckten, dass sich noch ein weiteres Baby in ihrem Bauch befand.

Das Crownpoint-Hospital war – zumindest vor 40 Jahren – nicht gerade der Ort, an dem man hochgefährdete Frühchenzwillinge entbinden wollte. Ich nahm also das Telefon und eine Liste mit Krankenhäusern mit einer Neonatologie-Station in der – wenn auch weiteren – Umgebung und rief sie der Reihe nach an, das nächste zuerst. Doch sie alle hatten bereits so viele Neugeborene, dass sie völlig ausgelastet waren. Meine letzte Hoffnung galt schließlich dem Kinderkrankenhaus der University of Colorado, und ich vernahm mit großer Erleichterung, dass sie dort meine noch immer ungeborenen Navajo-Zwillinge übernehmen könnten.

Ich weckte den Kollegen, der in unserem kleinen Ärzteteam die meiste Erfahrung in Geburtshilfe hatte, und bat ihn, mich am »Airport« zu treffen – einer Sandpiste, die von Salbei und Fuchsschwanz befreit und, so gut es mit einem winzigen Kompaktbagger eben geht, planiert worden war. Unser Team setzte sich aus fünf gerade erst ausgebildeten Ärzten zusammen, allesamt noch grün hinter den Ohren, für die diese Anstellung in Crownpoint die erste richtige Erfahrung als Mediziner war, wenn man einmal von unterschiedlich langen Praktika bei der Facharztausbildung absah. Wir waren ein bunt gemischter Haufen von Neulingen, unerfahren und ängstlich, zusammengehalten von der Kameradschaft junger Ärzte allein in der amerikanischen Dritten Welt. Gil, mein schläfriger, aber bereitwilliger Kollege bei dieser frühmorgendlichen Mission, kam am Flughafen an, dann ein älterer Pilot, der sich »Ole Bob« oder etwas in der Art nannte und das ähnlich alte Flugzeug fliegen würde.

Wir betteten die junge Frau (nennen wir sie Serena, als Zeichen ihrer erstaunlichen Gemütsruhe bei all dem, was noch folgen sollte) auf eine Krankentrage hinter dem Piloten. Gil postierte sich an der Fußseite der Trage, und ich als Zuständiger für den einzigen Baby-Beatmungsbeutel und die Sauerstoffflasche setzte mich neben Serena. Wir hoben ab in einen wunderschönen Morgenhimmel mit den leuchtenden Farben eines typischen New Mexicoer Sonnenaufgangs. So weit, so gut.

Während wir auf eine Höhe von etwa 3000 Meter aufstiegen, sah es ganz so aus, als würde alles gut gehen: Gil überwachte die Lage der Babys in Serenas Geburtskanal, ich war bereit, die Beatmung der Neugeborenen zu übernehmen, sollte es doch vor der Landung zur Geburt kommen, und Ole Bob brachte uns gen Norden zu den schneebedeckten Rocky Mountains, wobei er das Geschehen im Flugzeug hinter sich mit regelmäßigen angstvollen Blicken über die Schulter im Auge behielt. Aber als wir uns der Grenze zu Colorado näherten, gerieten wir in einen gewaltigen Schneesturm. Der Himmel über uns wurde schwarz, die Sicht nach vorn war von undurchdringbarer weißer Körnigkeit, und beim Blick nach unten sah man wie durch Milchglas auf ein endloses Meer weißer Berge und weiter Ebenen. Das Flugzeug wurde durchgeschüttelt wie ein Eichhörnchen im Maul eines Hundes, stürzte nach unten, stieg in einem schwindelerregenden Auf und Ab wieder auf und stellte für Ole Bobs ohnehin schon zittrige Steuerung eine enorme Herausforderung dar.

Bei Serena, die die Aussicht auf die Geburt ihrer Zwillinge mitten im turbulenten Luftraum und betreut von unerfahrenen Ärzten gewiss in Angst und Schrecken versetzte, setzten Presswehen ein, und Gil, der unerwartet reisekrank wurde, wand und übergab sich. Das Flugzeug verwandelte sich in eine schwankende Waschmaschine im Schleudergang voll umherfliegendem Erbrochenen, Fruchtwasser und Urin, die Ole Bob mutlos, aber unerschütterlich ihrem Ziel entgegensteuerte.